Der Fluch des Wolfes - Timothy Stahl - E-Book

Der Fluch des Wolfes E-Book

Timothy Stahl

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Beschreibung

Dramatisch, mitreißend und hochspannend - "Der Fluch des Wolfes" ist der Auftakt einer Mysterythriller-Serie, die man nicht mehr aus den Händen legen kann! Der Fluch der Wolfes. Ein einziger Augenblick hatte Leon Talbots Leben auf den Kopf gestellt, mehr noch, es zerstört. Was daraus geworden ist, ließ sich nicht mehr Leben nennen. Es ist ein unseliges Dasein, ein Fluch. Wenn er hungrig wird oder Lust bekommt zu töten, wächst das Böse in ihm unaufhaltsam. Er muss diesem Leben ein Ende bereiten - nachdem er unter Einfluss dieses Fluches dem Leben so vieler anderer ein Ende bereitet hatte ... Ein Serienkiller, der San Francisco in Angst und Schrecken versetzt, entpuppt sich als Werwolf. Er verletzt den jungen Police Detective Brandon Hunt, der daraufhin ebenfalls zum Ungeheuer mutiert ... Erlebe die Wiedergeburt von "Wölfe", die Serie mit Kult-Potenzial von Timothy Stahl. Einmal angefangen, wirst du nicht mehr aufhörenn können! Du möchtest wissen wie es weitergeht? Die anderen Bände der "Wölfe"-Serie findest du unter: Band 2: Der Bund der Wölfe Band 3: Die Jagd des Wolfes Band 4: Der Kerker der Wölfe Band 5: Der Friedhof der Wölfe Band 6: Der Herr der Wölfe

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Inhalt

Cover

Über die Serie

Über diesen Band

Über den Autor

Impressum

Der Fluch des Wolfes

Vorschau

Wölfe – Die Serie

»Gewöhn dich lieber dran, dass das Leben oft schlimmer ist als jeder Film, Junge«, hatte ihm sein Freund und Kollege Detective Dave Allred gesagt, bevor sie das Hotel betraten. Wie recht der Alte damit haben sollte, konnte sich Brandon Hunt nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen vorstellen ...

Seitdem ein brutaler Serienmord die Bevölkerung rund um San Francisco in Angst und Schrecken versetzt, ist Detective Brandon Hunt dem Killer auf den Versen. »Das Tier« betiteln die Tageszeitungen die Bestie, die Ihre Opfer auf grausame Weise tötet und nur einzelne Körperteile zurücklässt. Wer oder was ist im Stande so etwas zu tun? Brandon Hunt verfolgt das Ungeheuer und weiß noch nicht, welche tragende Rolle er selbst spielen soll – in der Geschichte, die eine ganze Spezies in eine neue Zeit bringen wird ...

Erlebe die Wiedergeburt von »Wölfe« – eine hochspannende Mysterythriller-Serie von Timothy Stahl, in dem Brandon Hunt seiner Bestimmung folgt, die sein Leben völlig auf den Kopf stellen wird.

Band 1: Der Fluch des Wolfes

Band 2: Der Bund der Wölfe

Band 3: Die Jagd des Wolfes

Band 4: Der Kerker der Wölfe

Band 5: Der Friedhof der Wölfe

Band 6: Der Herr der Wölfe

Über diesen Band

Band 1: Der Fluch des Wolfes

Ein einziger Augenblick hatte Leon Talbots Leben auf den Kopf gestellt, mehr noch, es zerstört.

Was daraus geworden ist, ließ sich nicht mehr Leben nennen. Es ist ein unseliges Dasein, ein Fluch.

Wenn er hungrig wird oder Lust bekommt zu töten, wächst das Böse in ihm unaufhaltsam. Er muss diesem Leben ein Ende bereiten – nachdem er unter Einfluss dieses Fluches dem Leben so vieler anderer ein Ende bereitet hatte …

Ein Serienkiller, der San Francisco in Angst und Schrecken versetzt, entpuppt sich als Werwolf. Er verletzt den jungen Police Detective Brandon Hunt, der daraufhin ebenfalls zum Ungeheuer mutiert. Sein erstes Opfer: seine Freundin Rowena McGee, von der anschließend nur die rechte Hand gefunden wird …

Über den Autor

Timothy Stahl, geboren 1964 in den USA, wuchs in Deutschland auf, wo er unter anderem als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Jugendzeitschrift tätig war. 1999 kehrte er nach Amerika zurück. Seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf. Mit seiner Horrorserie WÖLFE gehörte er zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags. Außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Er lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Las Vegas, Nevada.

Timothy Stahl

Der Fluch des Wolfes

Mysterythriller

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Covergestaltung: Timo Wuerz

E-Book-Erstellung: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-1141-9

www.bastei-entertainment.de

Durch das schmutzige Fenster sah Leon Talbot über die Oakland Bay Bridge hinüber zu den Lichtern des Financial Districts. Verloren und schemenhaft zeichneten sie sich im Abendnebel ab, der aus der Bucht aufstieg. Unwirklich und unerreichbar fern schien der Ort, an dem er gearbeitet und gelebt hatte. Als sei San Francisco nicht mehr seine Stadt, als hätte sie ihn ausgestoßen.

Talbot trat vom Fenster weg, während Nacht und Nebel draußen den letzten Rest Tageslicht schluckten. Er ließ sich auf dem Rand des Bettes nieder, das so muffig roch wie der Rest des Zimmers. Das Lied war vorbei, und ehe die Stimme eines Moderators oder ein Werbespot den Nachklang des Songs aus Talbots Kopf vertreiben konnte, schaltete er das Radio aus.

What a difference a day makes …

Rau summte er leise die Melodie mit, die noch hinter seiner Stirn umhergeisterte. Sein Blick fiel in den Spiegel, der neben der Zimmertür hing.

Die Veränderung, die er auf dem fleckigen Glas sah, hatte etwas länger gedauert als ›24 little hours‹. Sie war im Laufe der vergangenen Wochen schleichend erfolgt, und heute erkannte Talbot sich kaum noch wieder. Sein Gesicht war abgezehrt, blass und unrasiert. Unter den Augen lagen dunkle Ringe, wie mit schmutzigem Finger aufgemalt. Mit hängenden Schultern hockte er da, niedergeschlagen und kraftlos.

Nein, es war nichts mehr übrig von dem energiegeladenen jungen Aufsteiger, der vor drei Jahren aus einem Nest an der Ostküste nach San Francisco gekommen war, um bei einem der Hightech-Unternehmen Karriere zu machen, die mehr und mehr mit dieser Stadt gleichgesetzt wurden.

Was er auch geschafft hatte.

Er hatte stets gewusst, wo er hinwollte, und war bereit gewesen, hart dafür zu arbeiten. Zwar stand er noch nicht ganz oben auf der Erfolgsleiter, aber er konnte nach der verhältnismäßig kurzen Zeit doch sehr zufrieden sein mit dem, was er erreicht hatte.

Leon Talbot nickte seinem Spiegelbild zu, das ihn wie das Gesicht eines Fremden anstarrte. Ja, er war mit seinem ganzen Leben zufrieden gewesen. Immer hatte alles perfekt geklappt …

Aber vielleicht war alles ein bisschen zu perfekt gewesen.

Vielleicht, dachte Leon Talbot jetzt, da er auf dem Bett des Hotelzimmers saß und den kurzläufigen Revolver aus dem Hosenbund zog, vielleicht hatte ich bisher zu viel Glück – zu viel Glück auf einmal. Vielleicht habe ich mein ganzes Lebensglück zu schnell aufgebraucht …

Er wog die Waffe in der zitternden Hand und betrachtete sie, als könne sie ihm einen anderen Ausweg verraten.

Aber er wusste, dass es keinen anderen Weg gab. In den vergangenen Tagen und Wochen war ihm klar geworden, was mit ihm geschah. Er hatte alle nur denkbaren Möglichkeiten in Erwägung gezogen und dann doch wieder verworfen.

Er hatte keine Chance.

Wäre er doch vor fünf Wochen bloß nicht nach Kanada gereist, um sich seinen Yuppie-Traum vom grandiosen Abenteuerurlaub zu erfüllen – eine Woche lang allein durch die Wildnis, nur mit dem Nötigsten bepackt. Er hatte wissen wollen, ob er das Zeug dazu hatte, ob es in ihm steckte, auch abseits des beruflichen Parketts seinen Mann zu stehen.

Und fast hätte er es geschafft.

Aber dann hatte ihn dieses … Ding angegriffen. Dieses Tier, von dem er heute wusste, dass es ein Wolf gewesen war. Und nicht irgendeiner, kein normaler Wolf, sondern …

Er unterdrückte ein schmerzhaftes Schluchzen, das ihm in der Kehle hochstieg, und schüttelte den Kopf. Heiße Tränen brannten ihm an den entzündeten Augenlidern.

Nein, nicht einmal jetzt, da er alles wusste, da alles offensichtlich war, ging ihm das verfluchte Wort von den Lippen. Nicht einmal in Gedanken konnte er es formulieren. Nicht einmal jetzt – da er selbst einer war!

Etwas wie ein Fieberschauer packte Leon Talbot, schüttelte ihn durch, und der Revolver drohte, ihm aus den Fingern zu rutschen. Er umklammerte ihn wie einen Anker, als könnte die Waffe ihm Halt in der Wirklichkeit bieten, körperlichen wenigstens. Denn seine Gedanken kehrten erneut zurück nach Kanada, in jene Nacht, in der ihn irgendetwas geweckt hatte.

Es war ein Geräusch, womöglich auch Instinkt, der ihn vor einer Gefahr warnen wollte. Andernfalls wäre der Wolf im Schlaf über ihn hergefallen und hätte ihn vermutlich auf der Stelle getötet.

Rückblickend schien dies ihm die bessere Alternative …

Aber so war es nun mal nicht gelaufen.

Er war aufgewacht, hatte den angreifenden monströsen Wolf gesehen, hatte sich zur Wehr gesetzt und es geschafft, das Untier in die Flucht zu schlagen.

Die Verletzungen, die er bei der kurzen, aber heftigen Auseinandersetzung davongetragen hatte, waren nicht allzu schlimm gewesen.

Herrgott, er hatte sich nach dem Kampf mit dem Wolf sogar wie ein Held gefühlt!

Fast hatte er es ein wenig bedauert, dass seine Wunden so schnell verheilten. Er hatte sie eigentlich im Fitness-Center seinen Kollegen zeigen wollen, wenn er ihnen die Story von seinem Kampf mit dem Wolf erzählte. Doch als er wieder in San Francisco eintraf, waren die Verletzungen kaum noch zu sehen gewesen.

Und so hatte es begonnen …

An die ersten beiden Morde konnte er sich nicht erinnern. Sein erstes Opfer, eine Praktikantin aus dem Büro, hatte er in der Tiefgarage der Firma getötet. Das zweite Opfer war ebenfalls eine junge Frau gewesen, die er auf dem Heimweg von der Kneipe, wo sie als Bedienung gearbeitet hatte, erwischt hatte.

Seit diesem zweiten Mord nannten die Medien den unbekannten Täter nur noch »das Tier«, weil er tödliche Wunden riss wie ein Raubtier und vom Fleisch seiner Opfer fraß. Von offizieller Seite schloss man nicht aus, dass tatsächlich ein mordendes Tier in San Francisco sein Unwesen trieb. Auf ein bestimmtes hatte man sich dabei allerdings nicht festgelegt. Die Polizei hielt sich mit Auskünften über die Mordfälle überhaupt sehr bedeckt. Es hieß, man ermittle in alle Richtungen und wolle die Arbeiten nicht gefährden, indem man zu viele Details bekannt gab.

Natürlich war auch der Begriff »Werwolf« gefallen, vor allem in den weniger seriösen Zeitungen des Landes und den Nachrichten der lokalen TV-Sender, die jeder Mücke hinterherhechelten, aus der sie einen Elefanten machen konnten. Durchgesetzt hatte sich diese Theorie natürlich nicht, und mittlerweile war sie auch wieder ad acta gelegt worden. Wer glaubte denn schon ernsthaft an Werwölfe?

Bis vor etwa vier Wochen war auch Leon Talbot in dieser Hinsicht ein ungläubiger Thomas gewesen. Bis er auf sehr schmerzhafte Weise eines »Besseren« belehrt worden war.

Heute fragte er sich, warum man nicht viel öfter vom Treiben von Werwölfen hörte und las. Er konnte doch unmöglich der Einzige sein, der von diesem Fluch befallen war …

Mittlerweile gingen sechs Morde auf sein Konto. Und an die letzten vier Opfer konnte er sich erinnern. Mehr noch, er musste sich fortwährend an sie erinnern. Er versuchte, die schrecklichen Bilder zu unterdrücken, sie zu verdrängen. Aber sie kehrten immer wieder zurück und suchten ihn ständig heim wie ein Albtraum, für den die Grenze zwischen Schlaf und Wachsein keine Gültigkeit hatte.

Es war, als wachse der Wolf in ihm. Fast wie ein Tumor. Als würde sich das Ungeheuer, das in ihm hauste, seiner selbst in immer stärkerem Maße bewusst. Und dieses andere, neue Bewusstsein schien auf Talbots eigenes abzufärben, als begännen beide miteinander zu verschmelzen – ohne jedoch wirklich ganz eins zu werden.

Zwei Seelen wohnten in seiner Brust. Und die eine, seine, litt Höllenqualen unter der Präsenz des Parasiten und konnte sich nicht wehren.

Deshalb hatte er diesen Entschluss gefasst. Er musste seine Seele befreien, sie erlösen. Und es gab nur einen Weg. Er musste ihn gehen, um ihr noch größeres Leid zu ersparen. Und um zu verhindern, dass er noch größere Schuld auf sich lud, indem er den Wolf in sich tatenlos gewähren ließ.

Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb Leon Talbot diese verzweifelte Flucht gewählt hatte.

Er wollte auch nicht der Polizei in die Hände fallen. Er wusste nicht, ob sie ihm schon auf den Fersen waren. Dennoch hatte er vorsichtshalber seine Wohnung vor einigen Tagen verlassen. Seither zog er in den weniger feinen Gegenden der Bay Area von einem schäbigen Hotel oder Motel ins nächste.

Er wollte auch nicht, dass seine Familie herausfand, was mit ihm los war. Die Schmach, dass er ein Serienmörder war und die Medien über sie herfielen wie Aasgeier, musste er ihnen ersparen.

Vor allem aber wollte Leon unter keinen Umständen warten, bis der Wolf ihn am Ende dermaßen vereinnahmte, dass ihm das Töten nichts mehr ausmachte oder er gar Gefallen daran fand.

Denn er konnte spüren, dass seine Entwicklung in diese Richtung ging, unaufhaltsam. Wie eine Vision, an deren Richtigkeit es keinen Zweifel gab, sah er vor sich, was aus ihm werden würde: ein Monster, in dem nichts Menschliches, nichts Gutes mehr steckte.

Und damit einher würde der Wahnsinn gehen. Auch den konnte Leon bereits spüren. Schleichend, als sei er selbst ein Tier auf Beutefang, näherte sich ihm der Irrsinn, umkreiste ihn, berührte ihn, machte ihn sich gefügig …

Leon Talbot fröstelte abermals. Er riss sich zusammen – so gut er eben konnte.

Nein, es war nicht zu spät. Es musste nicht so enden. Noch konnte er sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Er hielt es ja schon in den Händen.

Er senkte den Blick und sah wieder auf den Revolver hinab.

Es war an der Zeit, es zu tun. Jetzt oder nie. Er musste einen Schlussstrich ziehen unter dieses irrsinnige, blutige und letzte Kapitel seines Lebens.

Er durfte nicht länger zögern. Die Zeit mochte ihm schon davonlaufen. Denn der Wolf, das Tier in ihm, konnte jede Minute erwachen und ihn zum siebten Mord zwingen.

Er wusste nie im Voraus, wann der Wolf aus ihm hervorbrechen würde. Es geschah ohne Ankündigung, so überraschend, schnell und brutal, dass er nichts dagegen tun konnte.

Aber immerhin wusste er jetzt, dass die Verwandlung nichts mit dem Vollmond oder den Mondphasen generell zu tun hatte. Zumindest diese landläufige Meinung entstammte lediglich Romanen und Filmen.

Die Transformation folgte scheinbar überhaupt keinem bestimmten Zeitplan oder sonst einem Muster. Vielleicht kam der Wolf immer dann, wenn er Hunger hatte – womit er nicht nur das natürliche Hungergefühl meinte, sondern auch die schiere Lust am Töten. Denn das genoss der Wolf ebenso sehr wie das Fressen selbst.

Talbot wusste das, weil er das Empfinden des Ungeheuers teilte, wenn es sich erst einmal seines Körpers bemächtigt hatte. Nur mit der Schuld, dem schlechten Gewissen, den grauenvollen Erinnerungen ließ ihn der Wolf danach allein.

Allein war er auch jetzt.

Noch, denn der Wolf schlief.

Und diese Gelegenheit musste und wollte Leon nutzen.

Mit beiden Händen fasste er den Revolver. Seine Armmuskeln schmerzten. Das war weniger eine Folge seiner jüngsten Verwandlung in einen Wolf vor vier oder fünf Tagen, sondern weil es einen wahren Kraftakt bedeutete, die Waffe zu heben. Es war, als hinge ihm jemand mit ganzem Gewicht und aller Macht an den Armen, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten.

Endlich, nach einer halben Ewigkeit, wie ihm schien, befand sich der Revolver auf Höhe seines Gesichts. Er drehte ihn, legte den Daumen um den Abzug, und die kleine Mündung berührte seine bebenden Lippen, kalt wie der Kuss einer Toten.

Er öffnete den Mund und schob den kurzen Lauf hinein, schmeckte Pulverschmauch, Öl, Metall.

Talbot schloss die Augen, presste die Lider so fest aufeinander, dass es wehtat.

Ihm kam in den Sinn, dass Werwölfe angeblich nur mit Silberkugeln zu töten waren. Ob auch das nur eine Erfindung von Schriftstellern und Filmemachern war?

Gleich würde er es wissen …

Sein Daumen am Abzug krümmte sich, zuckte und – verharrte.

Leon Talbot schlug die Augen auf.

Jemand kam!

Er hatte zwar nichts gehört und natürlich auch nichts gesehen. Aber er spürte es. Mit Sinnen, die nicht die seinen, nicht die eines Menschen waren.

Der Wolf war erwacht. Geweckt von dem oder denen, die sich da näherten und zu ihm wollten. Sie waren zu diesem Zimmer unterwegs.

In diesem Augenblick übernahm der Wolf vollends die Kontrolle!

Es war wie immer.

Talbot hatte das Gefühl, als explodierte ihm das Herz in der Brust und als raste mit einem Mal die doppelte Menge Blut durch seine Adern. Dann war ihm, als zerreiße sein Fleisch und als breche jeder Knochen in seinem Leib. Ein Gefühl, als würde ihn von innen her ein wildes Tier anfallen und mit Zähnen und Klauen zerfetzen.

Starr richtete er den Blick auf den Revolver in seinen Händen, auf den Daumen am Abzug. Verzweifelt bemühte er sich, in dem Chaos, das in ihm tobte, den einen Gedankenbefehl herauszufiltern, der den Schuss abfeuern, der ihn erlösen und den Wolf dieses Körpers berauben sollte.

Aber es war zu spät. Das Tier war schneller, raubte ihm den Körper und tat damit, was es wollte, formte ihn neu.

Talbot litt Schmerzen, die so gewaltig, so alles verzehrend waren, dass sie ihm nicht einmal Kraft zum Schreien ließen.

Er sah, wie sich seine Hände verwandelten, wie sie zu ungelenken Pfoten wurden, die den Revolver nicht länger halten konnten. Die Waffe entglitt ihnen und fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden.

Und Leon Talbot fiel hinterher und krümmte sich unter Qualen, die denen seiner Opfer um nichts nachstanden.

Nicht weit entfernt …

… schlüpfte jemand beinahe so mühelos in seine zweite Haut, wie andere sich neue Kleider überzogen.

Die Schmerzen, die mit der Verwandlung einhergingen, wenn Fleisch und Knochen mürbe wurden und sich mit feuchtem Knirschen verformten, hatte Morgan im Laufe vieler Jahre zu verdrängen gelernt.

Ebenso hatte er gelernt, den Prozess, der einst scheinbar endlos gedauert hatte, zu beschleunigen. Anders als damals wurde er heute binnen weniger Herzschläge vom Menschen zum Wolf – und nur dann, wenn er es wollte.

Auch das hatte sich im Vergleich zu früher geändert. Das und vieles mehr.

Was sich nicht änderte, war der moralische Konflikt, in den er jedes Mal stürzte, wenn er ausgeschickt wurde – wenn es, wie es im Jargon des Rudels hieß, einen Renegaten auszuschalten galt, ehe dieser die ganze Rasse in Gefahr brachte.

Morgan selbst nannte es anders.

Er nannte es Brudermord.

Trotzdem hatte er sich nie geweigert, seine Pflicht zu erfüllen. Aus Loyalität dem Last One ebenso wie aus Verantwortungsgefühl seinem Volk gegenüber.

Morgan war berufen, und die Kraft oder auch nur der Wunsch oder Wille, diesem Ruf zuwiderzuhandeln, lagen nicht in seiner Natur – weder in seiner menschlichen noch in seiner wölfischen.

So machte er sich, ohne zu zögern, auch heute Nacht auf, um jenen Einen, der zwar von derselben Art, aber doch aus der Art geschlagen war, zu töten, bevor er zum Verräter am Volk der Wölfe werden konnte.

Detective Dave Allred stoppte den zivilen Dienstwagen, einen dunkelroten Ford Crown Victoria, neben dem Eingang des Hotels, das laut der schmutz- und smogverklebten Leuchtreklame über der Tür schlicht »The Inn« hieß.