1,99 €
Niemand sah sie kommen. Die Ratten bewegten sich in der Erde voran, krabbelten immer weiter in die Höhe.
Tief im Fels der Steilwand, die vom Ufer aufstieg, zwängten sie sich durch Löcher und Risse, die selbst für ihre geschmeidigen, biegsamen Leiber fast zu schmal waren. Unten vom Meer aus hätte es sicher auch einen leichteren Weg nach oben gegeben. Aber sie nahmen diesen. Als sei er ihnen befohlen worden ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 156
Cover
Impressum
Die Ratten kommen!
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock/Fotorawin; Cindi L
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2769-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Ratten kommen!
von Timothy Stahl
Der Sturm hatte sich über der Nordsee ausgetobt. Letzte Sturzwellen donnerten gegen die steinige Inselküste und trugen aus der Dunkelheit über dem wogenden Meer etwas heran – einen führerlosen Fischkutter, der am Ufer zwischen die Felsen pflügte.
Knarrend neigte sich das verkeilte Boot in der Brandung hin und her. Das Schaukeln erweckte den Eindruck, als versuchten die drei Toten an Deck sich herumzuwälzen und aufzustehen …
Am Nachthimmel riss die schwarze Wolkendecke auf. Im Schein des hervorlugenden Mondes sahen die drei Leichen noch bleicher aus, als sie es ohnehin schon waren. Zahlreiche kleine Wunden hoben sich von der kalkig weißen Haut ab, teils noch frisch und blutig rot, teils schon dunkel verkrustet.
In den Schatten auf dem Deck und im unbemannten Steuerhaus glitzerten schwarze Knopfaugen, denen das Mondlicht einen silbrigen Schimmer verlieh. Starr hatten diese vierbeinigen Passagiere des Kutters ausgeharrt, jetzt rührten sie sich wieder. Ihre pelzigen Leiber glänzten, als sie sich ins Licht wagten. Sie sammelten sich und strömten zum Bug hin. Hornige Krallen trippelten über den harten Holzboden. Wie eine graubraune Welle ergossen sie sich vorne angelangt über die Bordwand.
Die Ratten verließen das gestrandete Schiff. Formlos wie der Schatten einer Wolke, die am Mond vorüberzog, huschte die dunkle Rattenschar über die wie Trümmer verstreuten Felsbrocken. Dann waren die Tiere verschwunden. Ein Beobachter wäre vielleicht der Täuschung erlegen, das steinige Ufer hätte sie einfach aufgesaugt wie ein schwarzer Schwamm.
Aber es gab keinen Beobachter. Es war keine Menschenseele da.
Trotzdem stießen die Ratten auf jemanden …
***
Vor vielen Jahren schon war er bis zur Neige entkräftet in einen Halbschlaf gefallen. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte man seinen Zustand am ehesten mit einem Koma verglichen. Aber er war kein Mensch. Ein Mensch wäre an seiner Stelle längst tot gewesen. Doch auch für ihn mochte seine Situation irgendwann in den endgültigen Tod führen.
Dennoch, die Hoffnung, dass seine Misere eines Tages doch noch ein gutes Ende nehmen könnte, hatte ihn nie ganz verlassen. Und heute schien dieser Tag gekommen zu sein! Ihre geballte Präsenz, die Ausstrahlung ihrer großen Anzahl, weckte ihn. Er schlug die Augen auf, und obgleich es stockfinster um ihn war, hatte er den Eindruck, ein Licht zu sehen – im bildlichen Sinne nur, denn wirkliches Licht war Gift für ihn und seinesgleichen.
Er freute sich auf eine Weise, die einem Geschöpf seiner Art eigentlich fremd war. Womöglich lag es an einem Rest Menschlichkeit, der vielleicht noch irgendwo in ihm steckte – auch wenn jeder, der ihn je in Aktion erlebt hatte, geschworen hätte, es sei nichts Menschliches an ihm.
Er fing seine abdriftenden Gedanken ein und konzentrierte sich. Er rief nach ihnen. Sie sollten zu ihm kommen! Nur, besaß er noch genug Kraft, dass sie ihn überhaupt hören konnten? Und hatte er ausreichend Macht, um ihnen zu befehlen?
***
Niemand sah sie kommen. Die Ratten bewegten sich in der Erde voran, krabbelten immer weiter in die Höhe. Tief im Fels der Steilwand, die vom Ufer aufstieg, zwängten sie sich durch Löcher und Risse, die selbst für ihre geschmeidigen, biegsamen Leiber fast zu schmal waren. An manchen Stellen wurde ihnen ein wahrer Kraftakt abverlangt, wenn sie sich nur an ihren Krallen hängend hochziehen mussten, um wieder festen Boden unter den nackten Pfoten zu haben.
Kein Mensch würde je erfahren, warum die Ratten diese Strapazen auf sich nahmen, statt umzukehren. Unten vom Meer aus hätte es sicher auch einen leichteren Weg nach oben gegeben als den im Inneren der Felswand. Aber sie nahmen diesen. Als sei er ihnen befohlen worden …
Immer enger wurden die Sprünge im Gestein und Erdreich. Hier und da mussten die zuvorderst kletternden Tiere den Weg nach oben frei wühlen, damit sie und ihre nachfolgenden Artgenossen hindurchschlüpfen konnten. Lose Erde und kleine Steine rieselten durch das senkrechte Labyrinth aus Spalten in die Tiefe und gingen ganz unten, wo auch ein Mensch noch Platz gehabt hätte, prasselnd wie schwerer Regen nieder.
In völliger Lichtlosigkeit gruben sich die Ratten stoisch weiter und immer weiter hinauf. Dank ihrer Tasthaare konnten sie sich auch bei Dunkelheit orientieren. Sie fanden immer wieder neue Ritzen, die sich weit genug verbreitern ließen, um ein weiteres Stück voranzukommen.
Und dann waren sie endlich da.
Auf dem Boot, das sie tagelang mit drei Toten geteilt hatten, waren die Ratten auf den Geschmack gekommen – auf den Geschmack von Fleisch und Blut, und damit verbanden sie den Geruch des Todes.
Jetzt, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten, waren sie von all dem regelrecht umfangen!
Natürlich wussten die Ratten weder, was ein Friedhof war, noch dass sie sich unter einem solchen befanden. Sie schmeckten, rochen und spürten nur, dass der süße Duft von verwesenden Leichen, den sie auf dem Kutter kennen und schätzen gelernt hatten, nun überall um sie herum war.
Aber nicht alles, was da ringsum begraben lag, war wirklich tot. An einer Stelle erschnupperten die Ratten noch eine Abart von Leben. In einem der Gräber regte sich etwas. Und genau dieses Grab zog die Tiere an, als würden sie nach dort gerufen …
Sie wühlten und drängten sich durch den zerklüfteten Erdboden zu der Stelle hin und verfielen sogleich in erregtes Fiepen.
Alter und Fäule hatten den ehemals dicken Holzboden des Sargs rissig gemacht! Und so konnten die Ratten zu dem »Toten« hineinkriechen.
***
Jared Fergusson liebte diese Viertelstunde des Tages. Es gab einfach nichts, was buchstäblich erleichternder war, als sich am Morgen, wenn der erste Schwung Arbeit getan, gemütlich aufs die Toilette zurückzuziehen.
Vor gar nicht langer Zeit wären ihm diese Gelöstheit und die Fähigkeit, ihr Genuss abzugewinnen, jedoch beinahe abhandengekommen. Er schauderte noch jetzt, wenn er daran zurückdachte. Rasch konzentrierte er sich auf das vielstimmige Blöken seiner Schafe draußen auf der Weide und das Bellen seiner drei Hütehunde, Shetland Sheepdogs, die zuverlässig aufpassten, wenn Herrchen sich zur Frühsitzung zurückzog.
Und schon war die Welt wieder in Ordnung. Die düsteren Gedanken an die kurze Zeit, als ihn die Welt des Kapitalismus zu vereinnahmen und ihm die Lebenslust zu verderben drohte, verzogen sich wie Regenwolken, die von der Sonne weggelacht wurden.
Jared seufzte wohlig, machte es sich auf der alten Holzbrille bequem und schaltete seinen Tablet-Computer ein. Wenn die Schafe versorgt waren, nutzte er diese schon rituellen fünfzehn Minuten des frühen Tages stets, um sich mittels verschiedener E-Papers über das Geschehen auf der Welt zu informieren.
Er mochte sich zwar quasi an ihr Ende – Mainland nämlich, die größte Insel der Shetlands – zurückgezogen haben, aber was draußen vor sich ging, interessierte ihn trotzdem noch. Und sei es nur, um sich bestätigt zu fühlen, dass es richtig gewesen war, der großen, weiten Welt Goodbye zu sagen und das Erbe seines Onkels in der einsamen Weite der Nordsee anzunehmen.
Dieses Erbe, eine kleine Schaf-Farm auf der Insel Mainland über hundert Meilen nördlich des schottischen Festlands, war genau zur richtigen Zeit gekommen. Jared war zu der Zeit noch App-Entwickler gewesen. Mit Kommilitonen an der University of Glasgow hatte es begonnen, erst nur als Hobby, doch als sich lohnende Erfolge eingestellt hatten, waren drei von ihnen – darunter auch Jared – verrückt genug gewesen, das Studium an den Nagel zu hängen und eine eigene, »professionelle« App-Schmiede zu gründen. »Professionell« nur deshalb, weil steuerrechtlich und unternehmenstechnisch alles auf ordentliche Füße gestellt wurde.
Das tägliche Chaos war jedoch geblieben: Sie hatten weiterhin inmitten von leeren Pizzakartons und Fast-Food-Verpackungen in einem Labyrinth aus Monitoren und Kabeln gearbeitet. Und weiterhin auch mit großem Erfolg. So groß, dass es nicht lange gedauert hatte, bis einer der Branchen-Riesen angeklopft und ihnen ein Kaufangebot gemacht hatte, dass sie nicht ablehnen konnten – jedenfalls nicht als drei junge Kerle, die kaum wussten, wie viele Nullen die Summe, die man ihnen da anbot, eigentlich hatte.
Der Deal war groß genug gewesen, um annehmen zu dürfen, dass der Anteil der Kaufsumme jedem von ihnen genügen könnte, um für den Rest des Lebens keine größeren Finanzsorgen mehr fürchten zu müssen.
Obendrauf hatte es noch eine bleibende Beteiligung am Unternehmen gegeben. Sprich, sie durften und sollten sogar weiterarbeiten, neue Apps entwickeln, alte verbessern – nur eben jetzt unter dem Dach eines großen Unternehmens. Aber auch nicht mehr inmitten von Pizza- und Hamburgerschachteln. Krawatte und Anzug mussten auch ab und zu sein, immer dann, wenn große Kunden aufliefen. Und die kreuzten immer öfter auf.
Damit war für Jared das Ende gekommen. Alles, was ihm an seiner Arbeit Spaß gemacht hatte, war dahin. Es war, wie er feststellen musste, weniger die Arbeit als solche gewesen, sondern das Drumherum, die Ungebundenheit, das Gefühl, wirklich sein eigener Herr zu sein.
Just da war Onkel Albert gestorben und hatte ihm, seinem einzigen Nachkommen, die Schafzucht auf Mainland vermacht. Jared hatte die Chance erkannt und ergriffen, und nun war er wieder glücklich. Mit einer Arbeit, in die ihm keiner dreinredete, an einem Ort, an dem er sich wohlfühlte, weil er frei war – und wo niemand am Morgen an die verdammte Klotür klopfte und fragte, wo er denn bliebe, alle anderen säßen schon am Konferenztisch!
Jared stutzte. Durch das kleine, halb offen stehende Fenster in der Wand hinter sich hörte er, wie sich am Blöken der Schafe etwas veränderte. Es klang … unruhiger. Und dieses Gefühl schien von einem Tier aufs andere überzuspringen, wie eine Welle durch die Herde zu laufen. Dann bellten die Hunde, lauter und auf ihre Art energischer als zuvor, und die Schafe verstummten halbwegs.
Der junge Farmbesitzer – Jared war gerade dreißig geworden – lauschte noch einen Moment lang, dann widmete er sich wieder seiner morgendlichen Zeitungslektüre. Im Glasgower Lokalteil des Heralds fand er eine kleine Meldung, dass seine alte Firma umgezogen war. Ein Foto zeigte einen lichtdurchfluteten Raum, dessen Wände nur aus Glas zu bestehen schienen. Jared wurde ganz schwummrig. Wie sollte man in so einem sterilen Umfeld kreativ sein? Unvorstellbar! Da war ja sein kleines Klo hier inspirierender.
Er sah sich grinsend um in dem schmalen Raum, der so niedrig war wie der Rest des Cottages, und dachte kurz daran, die alten Kollegen per Skype zu kontaktieren, um ihnen sein Beileid auszudrücken – da hielt er abermals inne. Stocksteif und wie mit leer gepustetem Kopf saß Jared da, horchte, hörte auch etwas, und wusste doch nicht, was es war.
Zum einen war etwas mit den Tieren draußen, ja. Die Unruhe schien zurückgekehrt zu sein, wie ein Wolf, der sich zwar einmal in die Flucht hatte schlagen lassen, den der Hunger aber doch wieder hertrieb.
Aber da war noch etwas anderes. Im Haus. Und zwar buchstäblich im Haus! In seinen Mauern. Da rumorte es. Beinahe wie im Gedärm eines Menschen, der etwas gegessen hatte, das er nicht vertrug und das herauswollte, heraus musste …
Jared wurde es auf einmal eng in seiner Haut. Sie schien sich zusammenzuziehen und auch kälter zu werden.
Jetzt krieg dich mal ein!, mahnte er sich. Aber er kriegte sich nicht ein. Im Gegenteil.
Verdammt, was war denn nur los? Es war doch nicht zum ersten Mal, dass dieses Häuschen komische Geräusche machte. So eine alte Bude machte immerzu irgendwelche Geräusche! Da knarrte Holz, da pfiff der Wind unters Dach, da gurgelte es in den Wasserleitungen.
Aber es hatte sich noch nie etwas bewegt. In den Wänden oder in den Rohren. Da krabbelte und trappelte es auf einmal! Und dieses Geräusch selbst bewegte sich, es ging hin und her, hierhin und dorthin.
Und dann schrie Jared auf! Weil sich unter ihm etwas bewegte. Wasser platschte und spritzte ihm aus der Kloschüssel kalt an den nackten Hintern. Und im selben Moment stach etwas spitz wie eine Nadel hinein!
Er sprang auf, fuhr herum, blickte nach unten – und sah sich angestarrt. Von einer Ratte!
Sie hockte in der Kloschlüssel, wie zum Sprung geduckt, sah aus dunklen Augen zu ihm hoch, zuckte mit der Schnauze, bleckte ihre ekelhaften Zähne … und an denen glänzte es rot. Von seinem Blut!
Das verdammte Viech hatte ihn in den Hintern gebissen!
***
Jared wollte zur Tür zurückweichen, vergaß jedoch, dass ihm die heruntergelassene Hose um die Fußknöchel hing. Er stolperte. Der Raum war aber zu klein, um darin hinzufallen. Jared fing sich an den Wänden ab, rappelte sich auf, und als er wieder zur Toilette hinsah, da kauerte die Ratte vorne auf der Brille, blinzelte zu ihm her und gab sich den absurden Anschein, sie grinse ihn an.
Irgendetwas vor sich hin stammelnd zerrte Jared seine Hose hoch, drehte sich herum und stürzte hinaus. Die Tür schmetterte hinter ihm ins Schloss.
»Uff!«, stöhnte er. Geschafft! Trotzdem entfernte er sich vorsichtshalber noch weiter von der Tür – und nahm aus dem Augenwinkel erneut Bewegung wahr.
Sein Blick schweifte durch die Diele, fiel dabei durch die offenen Türen in die Räume dahinter. In die Küche, ins Wohnzimmer, in seine kleine Schlafkammer und das winzige Badezimmer … und sie waren überall. Ratten. Wo er auch hinsah. Dort auf der Couch saß eine, da neben dem Herd, im Bad auf dem Wannenrand, in der Kammer auf seinem geblümten Kopfkissen … Sie waren überall im Haus.
Also gab es für ihn nur eines – er musste hier raus!
Mit drei ausgreifenden Schritten war er an der Haustür, mit einem weiteren draußen. Doch dort, auf dem Hof, waren sie auch. Überall bewegte sich etwas. Wo kamen die Biester auf einmal her? Und was wollten sie? Was sollte das alles?
Jared hörte die Hunde. Sie gebärdeten sich wie toll. Hinter dem Haus, wo die Weiden lagen, von hier aus nicht zu sehen. Er wollte ums Haus herumlaufen, nachsehen, was da hinten los war, doch eigentlich konnte er es sich längst vorstellen. Auch dort mussten Ratten aufgetaucht sein, so viele, dass die Hunde ausrasteten.
Was also sollte er tun? Er konnte die Ratten kaum mit bloßen Händen verscheuchen. Verdammt, die hässlichen Viecher, die ihm schon immer zuwider gewesen waren, hatten sich in seinem Haus eingenistet und ihn förmlich daraus vertrieben. Ihm blieb nur eines übrig: Er musste weg hier und Hilfe holen.
Jared blickte zum Werkzeugschuppen hinüber, den er auch als Garage für sein Auto nutzte. Er musste in die Stadt fahren, nach Lerwick, einen Kammerjäger finden und herschicken.
Oder er konnte einfach einen anrufen. Sein Smartphone hatte er einstecken, er konnte die Infos, die er brauchte, im Internet suchen … und dabei inmitten der Ratten stehen bleiben? Nein, ganz bestimmt nicht!
Er würde sich wenigstens in den Schutz seines Autos flüchten. Dann wollte er weitersehen. Fühlte er sich dort sicher genug, würde er Hilfe verständigen und ausharren, bis sie kam. Wenn nicht …
Etwas schoss auf ihn zu! Geradezu riesengroß tauchte plötzlich der Kopf einer Ratte vor seinem Gesicht auf. Das Biest attackierte ihn, sprang ihn an.
Jared schlug mit dem Tablet zu, das er noch in der Hand hielt. Wie mit einem Tischtennisschläger traf er das Tier und drosch es beiseite. Quiekend wie ein Ferkel flog die Ratte davon – während die nächsten schon heranhuschten.
Als wären seine Füße Magnete, die nur auf Ratten wirkten, wuselten die Nager auf Jared zu. Er hörte das Kratzen ihrer Krallen auf dem gepflasterten Hof, und das Geräusch jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Aber es wirkte auch wie ein Startschuss!
Jared lief los. Oder vielmehr stakste und hüpfte er wie ein Storch auf glühenden Kohlen über den Hof, jeder Schritt ein Versuch, den angreifenden Ratten auszuweichen. Den meisten entging er auch. Ein paar erwischten ihn allerdings auch. Sie verhakten sich mit ihren Klauen im Stoff seiner Hose und seines T-Shirts. Hier und da spürte er den scharfen Schmerz, wenn ihm die dornenspitzen Zähne ins Fleisch drangen.
Irgendwie gelang es ihm aber doch, sie alle wieder von sich zu pflücken und die zappelnden Leiber mit den wie besessen zuschnappenden Mäulern davonzuschleudern. Doch ekelte ihn jedes Mal aufs Neue vor der Berührung, wenn er eine der pelzigen Kreaturen anfassen und seine Hand darum schließen musste, um es entweder von seiner Kleidung oder, viel schlimmer, von seiner Haut loszureißen.
Endlich fiel er keuchend gegen das zweiflügelige Schuppentor. Es war nur mit einem Riegel gesichert. Im Nu hatte Jared eine Hälfte einen Spaltbreit aufgezogen, gerade so weit, dass er hineinschlüpfen konnte.
Es war düster im Schuppen. Der kleine Bau hatte links und rechts nur je zwei Fenster, und die waren klein und schmutzig. Das Morgenlicht, das hereindrang, reichte gerade, um etwas mehr als Umrisse erkennen zu lassen. Es schimmerte auf der dunklen Lackierung des Toyota Hilux, den Jared sich als junger Schafzüchter angeschafft hatte und der, wie es sich für ein Farmfahrzeug gehörte, ordentlich mit Schlamm verklebt war.
Das bisschen Licht im Schuppen zeigte ihm, dass er auch hier drinnen nicht allein war. Sie waren schon da. Zwei besonders fette Ratten hockten unterhalb der Fahrertür des Pick-up-Trucks.
Jared Fergusson wollte schon rückwärtsgehend nach hinten ausweichen und auf der anderen Seite um den Wagen herum, als er mit der Ferse gegen etwas Weiches stieß – das ihm noch im selben Augenblick hart in die Achillessehne biss!
***
Wer ihn nicht kannte und zum ersten Mal so sah, wie er da in der schwarzen Kutte am offenen Fenster seiner Klosterzelle stand, der hätte Father Iain für einen zwar sehr alten, aber immer noch gesunden Mann gehalten. Doch dieser Schein trog.
Der junge Mönch, der als steter Helfer des greisen Abtes Iain abgestellt war und die Klause mit ihm teilte, seufzte schwer. Es tat Bruder Aelvin im Herzen weh, den Abt von Lachlann Abbey so zu sehen und doch zu wissen, dass diese Gestalt nur noch die Hülle jenes Mannes darstellte, der er einmal gewesen war.
Aelvin hatte ihn selbst noch so kennengelernt, als er vor zehn Jahren – er war gerade sieben und durch einen Unfall elternlos geworden – im Kloster ein neues Zuhause gefunden hatte. Erst später hatte die Demenz wie ein Dämon von Father Iain Besitz ergriffen und seinen Geist aufgezehrt, bis nur noch der Leib übrig geblieben war.
Bruder Aelvin, der jüngste Mönch im Kloster Lachlann, seufzte noch einmal, weniger tief diesmal. Denn ganz so schlimm war es ja nicht. Was Father Iain einst ausgemacht hatte, war nicht vollends ausgelöscht. Manchmal schien etwas davon, eine Art Echo, in dem alten Abt widerzuhallen und sich in Form irgendeiner Geste oder Regung zu äußern. Das konnte ein Blick sein, ein Lächeln oder auch einmal ein ganzer Satz, der Sinn ergab und in Bezug zum gegenwärtigen Geschehen stand.
Nur war dies nicht eigentlich noch schlimmer?, dachte Bruder Aelvin, und das nicht zum ersten Mal. Die bloße Vorstellung, dass etwas von Father Iain noch irgendwo in diesem Körper steckte, sich aber kaum noch bemerkbar machen konnte? Wie ein Gefangener in einer Kerkerzelle, den man vergessen hatte?