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Ein schneller Schnitt mit der scharfen Klinge, und das Blut ergoss sich aus der aufklaffenden Kehle. Es floss durch eine handbreite Furche in den Boden und verschwand unter dem Teppich aus Sträuchern und Schlingpflanzen, der die ganze Ruinenstadt bedeckte.
Blutgeruch stieg in die schwüle Luft auf. Wie Nebel waberte er hinaus über die Grenzen der uralten Stadt und hinein in den dichten Dschungel - wo dessen seltenste Bewohner den Duft des Blutes wittern sollten ...
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Seitenzahl: 137
Cover
Impressum
Im Tal der toten Tiger
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-1629-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Im Tal der toten Tiger
von Timothy Stahl
Vor einiger Zeit, im Nordosten Indiens
Ein schneller Schnitt mit der scharfen Klinge, und das Blut ergoss sich aus der aufklaffenden Kehle. Es floss durch eine handbreite Furche in den Boden und verschwand unter dem Teppich aus Sträuchern und Schlingpflanzen, der die ganze Ruinenstadt bedeckte.
Blutgeruch stieg in die schwüle Luft auf. Wie Nebel waberte er hinaus über die Grenzen der uralten Stadt und hinein in den dichten Dschungel – wo dessen seltenste Bewohner den Duft des Blutes wittern sollten …
Toomaj wohnte zum ersten Mal einem solchen Ritual bei. Er wusste nicht, worum es dabei ging. Obwohl er zur Bruderschaft gehörte. Er war ihr jüngstes Mitglied, und das in jeder Hinsicht: Alle anderen waren älter als Toomaj, und er war erst seit wenigen Wochen hier.
Er hatte in der Bruderschaft den Platz übernommen, der durch den Tod seines Großvaters frei geworden war. Der Leichnam des alten Mannes war in sein Heimatdorf zurückgebracht worden, und als letztgeborener Sohn seiner Familie hatte Toomaj mit den Gesandten gehen müssen. So verlangte es die Tradition.
Toomaj hatte weder diese Tradition noch die Bruderschaft gekannt. Es handelte sich um einen geheimen Bund, dessen Aufgaben nur den Angehörigen und ganz wenigen Außenstehenden bekannt waren. Es kursierten Gerüchte darüber in den Dörfern, aus denen jeweils eine vor Urzeiten auserwählte Familie immer ihren jüngsten Spross abtreten musste. Aber wirklich Genaues wusste niemand.
Für einen zwölfjährigen Jungen wie Toomaj war die Situation, in der er sich unversehens wiederfand, gleichermaßen beängstigend wie aufregend
Einerseits war ihm elend zumute, weil man ihn buchstäblich von einer Stunde auf die nächste seiner Familie und seiner vertrauten Umgebung entrissen hatte. Andererseits war sein Leben in der Folge zum Abenteuer geworden. Im Kreis der Bruderschaft und in der verborgenen Ruinenstadt erlebte und entdeckte er ständig Neues.
Und dieser Abend nun war ein besonderer Höhepunkt: Heute, so hatte es geheißen, sollte Toomaj erfahren, zu welchem ehrenvollen Zweck die Bruderschaft dereinst gegründet worden war und wie man ihn nach wie vor erfüllte.
Die Zuckungen der kopfüber aufgehängten Kuh verebbten. Der Druck, mit dem das Blut aus dem durchgeschnittenen Hals sprudelte, ließ nach. Und im nächsten Moment hing sie vollends reglos an dem Querbalken des galgenartig anmutenden Gerüsts, das eigens für ihre Opferung aufgestellt worden war.
Allein die Tatsache, dass ausgerechnet eine Kuh geopfert wurden, bewies Toomaj, dass es um etwas Großes gehen musste. Die Kuh galt den meisten Hindus als heilig und war im wörtlichen Sinne unantastbar. Sie wurde gleichgesetzt mit Vishnu, dem Herrn des Lebens, denn sie gab dem Menschen alles, was er brauchte, um zu leben.
Hier setzte man sich nun über all das hinweg und rührte eines dieser unberührbaren Tiere nicht nur an, nein, man tötete es, vergoss sein Blut und schien auch nicht vorzuhaben, sein Fleisch zu verzehren, um ihm wenigstens diese letzte Ehre zu erweisen. Stattdessen …
Auf die Frage, was man stattdessen beabsichtigte, wusste Toomaj keine Antwort. Und er wagte nicht danach zu fragen. Denn sämtliche Brüder um ihn herum – ein Dutzend Männer unterschiedlichsten Alters, die alle das gleiche Wickelgewand aus Schwarz und Goldgelb trugen – waren so still, als würden sie nicht einmal atmen.
Nur Hari, der Älteste im Bund, der Weise, der Mahatma, summte vor sich hin. Eine sonderbare Weise, unmelodisch und doch ins Ohr gehend, lockend auf eine Art, wie Toomaj sie noch nie gehört hatte. Wie das Lied eines Vogels, das einen gleichsam zwang, innezuhalten und zu lauschen.
Das Blut des toten Tieres schoss unterdessen nicht mehr durch die Bodenfurche. Es war ein Rinnsal daraus geworden, wie von Regenwasser, das nach einem Wolkenbruch von Blättern tropfte und über den Boden rann, bevor es darin versickerte. Und der Kupfergeruch war in der feuchtwarmen Luft nur noch zu erahnen.
Toomaj riss sich los von dem seltsam hypnotischen Bild des trägen Blutbächleins und ließ vorsichtig den Blick umherwandern. Er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken, indem er sich zu schnell, zu auffällig bewegte.
Sie standen im Zentrum der alten Stadt. Die weite, hofartige Innenfläche wurde von Ruinen gesäumt – ineinander geschachtelte und übereinander gestapelte Flachbauten, abgebröckelte Vordächer, von zerbröselnden Säulen kaum noch gehalten, dazwischen Türme unterschiedlicher Größe. Alles aus Stein und Lehm, und alles wie mit einem grünen Fell aus verschiedensten Pflanzen bewachsen.
Wer hier ursprünglich einmal zu Hause gewesen war, wusste Toomaj nicht. Vielleicht wusste das niemand mehr. Irgendwann war dann wohl die Bruderschaft eingezogen, und da mochte die Stadt schon lange verlassen gewesen sein.
Toomajs Gedanken wollten in diese Richtung davongaloppieren, um Ideen nachzugehen, was sich an diesem Ort vor undenklicher Zeit abgespielt haben könnte. Aber der summende Gesang des Ältesten lotste ihn von diesen Abwegen zurück ins Hier und Jetzt.
Toomaj sah über die Grenzen der Stadt hinaus. Doch wo der Blick bei Tag zumindest ein Stück weit in den Dschungel hineinreichte, fiel er nun, in der Nacht, wie auf eine Mauer aus Schwärze.
Auch die anderen blickten dorthin und versuchten etwas zu erkennen. Im Gegensatz zu Toomaj wussten sie jedoch, wonach sie Ausschau hielten. Ihre gespannte Erwartung schien die Luft zu erfüllen und derart zu verdichten, dass Toomaj das Gefühl hatte, sie sei kaum noch zu atmen.
Zugleich nahm er die Gerüche, die in der Luft lagen, stärker wahr: Nasse Erde, faulendes Holz, Blütendüfte von süß bis herb und über allem der ewige Geruch von Regen. Wie verloren zwar, aber auch ungewöhnlich laut hörte Toomaj vereinzelte Tierstimmen – hier ein Pfeifen, dort ein Krächzen, irgendwo ein Keckern …
Auch Toomaj wartete auf etwas – auf das Gefühl, dass da etwas kam. Dass etwas sich der Ruinenstadt näherte, sie vielleicht umschlich und beobachtete, um herauszufinden, ob es sicher sei, sich zu zeigen – oder ob es sich lohnte.
Toomajs Blick strich über die schwarze Wand des Dschungels. Er drehte sich im Kreis, und auch in die anderen kam jetzt Bewegung. Unruhe entstand.
Und die Spannung ließ nach. Denn genau wie Toomaj sahen auch die anderen nichts. Keinen Schatten, der sich im Dschungeldickicht bewegte und damit seine Anwesenheit verriet. Kein Glitzern von Augen, die von dort herüberspähten.
Was sich heute Nacht auch ereignen sollte, es geschah nicht. Enttäuschung löste die spürbare Angespanntheit ab.
Schließlich verklang das dumpfe Summen des Ältesten der Bruderschaft, und im selben Augenblick verstummten vorerst auch alle Laute aus dem Dschungel.
»Vielleicht«, sagte Mahatma Hari leise und doch für jedermann hörbar, »genügt eine Kuh nicht mehr als Opfer.«
Die hellen Augen in seinem dunklen, faltenreichen Gesicht bewegten sich von links nach rechts, ein letzter Blick hinüber ins Dickicht. Er fand ebenso wenig, wonach er suchte, wie die anderen zuvor.
»Früher«, erinnerte der alte Mann, dessen silbergraue Haare wie zu Zöpfen verfilzt waren, »opferten wir ihnen nicht das Heiligste, das wir hatten … sondern das Kostbarste.«
Ein paar der älteren Brüder, die nur unwesentlich jünger sein konnten als der Mahatma, nickten mit stoischer Miene.
»Euer Kostbarstes?«
Die Frage fiel wie ein Stein in die Stille.
Und Toomaj begriff einen Moment lang gar nicht, dass er es gewesen war, der sie gestellt hatte. Erschrocken über seine eigene Dreistigkeit schlug er sich die Hand vor den Mund, um zu ersticken, was ihm die Neugier womöglich noch entlocken wollte.
Zwar richteten sich alle Blicke auf ihn, doch ließen sie den Zorn vermissen, den Toomaj darin erwartet hatte. Dafür las er etwas anderes in den Augen seiner Brüder – etwas, das er nicht recht deuten konnte. War es Wehmut? Oder sogar Schmerz? Ein Schmerz, der nicht den Körper, sondern die Seele peinigte?
Mahatma Hari winkte ihn zu sich. Toomaj trat gehorsam zu ihm und senkte betreten den Kopf. Er hob ihn erst ein wenig, als er die dürre Hand des Ältesten spürte, die ihm übers Haar strich, das Toomaj so lang trug, dass man ihn in jüngeren Jahren mitunter für ein Mädchen gehalten hatte.
»Ja, Toomaj«, sagte der Mahatma gedankenschwer, »unser Kostbarstes.«
Ein knochiger Finger legte sich unter Toomajs Kinn und hob sein Gesicht an, bis sein Blick den des Alten kreuzte. Auch in dessen Augen stand jene wehe Traurigkeit.
»Früher«, sprach Mahatma Hari weiter, »opferten wir unsere Kinder.«
Seine Worte wehten wie vom Wind getragen davon, und vom Dschungel her schien ihnen ein kalter Hauch zu antworten.
Toomaj schauderte.
***
Heute, im Nordosten Indiens
Der ganze Dschungel schien zum Leben erwacht zu sein und auf der Seite von Istaris Verfolgern zu stehen!
Die junge Frau hatte jedenfalls den Eindruck, als hätte sich die Natur gegen sie verschworen – jede Wurzel im Boden wurde zur Stolperfalle, jeder Zweig schien nach ihr zu peitschen, und das Unterholz wucherte so dicht, dass es sie wie mit Krallenhänden festhielt, wenn sie doch versuchte, hindurchzukommen.
Istaris Kleidung hatte schon vor ihrer Flucht nur noch aus stinkenden Fetzen bestanden. Jetzt rannte sie fast nackt durch die Nacht. Dorniges Strauchwerk hatte ihr die letzten Stoffreste vom Leib gerissen. Und ihre zerschnittenen Fußsohlen schmerzten bei jedem Schritt, als trete sie in glühende Kohlen.
Trotzdem hämmerte in der jungen Frau nur ein einziges Wort, immer wieder: Weiter! Weiter! Weiter …
Und noch schaffte sie es, bei jedem »Weiter!« einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nur wie lange noch?
Eigentlich waren ihre Kräfte bereits aufgezehrt. Schon als Gefangene hatte Istari sich kraftlos gewähnt. Trotzdem hatte sie die Gelegenheit zur Flucht ergriffen, als sie sich unversehens geboten hatte. Ohne zu überlegen, war sie erst losgeschlichen und dann davongelaufen.
Seitdem rannte sie. Wie lange schon? Es kam ihr wie Stunden vor. Aber das konnte nicht sein. Dafür hätten die Kräfte, die sie zu ihrer Überraschung doch noch in sich gefunden hatte, nie und nimmer gereicht.
Dass sie jetzt noch lief – wenn sie inzwischen auch mehr stolperte –, war fast ein noch größeres Wunder, als es die verborgenen Kraftreserven gewesen waren, die ihr Körper freigesetzt hatte, als es in der Not darauf ankam.
Istari war überzeugt, dass sie sich längst nicht mehr aus eigener Kraft vorwärtsbewegte. In ihr war irgendein Automatismus in Gang geraten, der sie antrieb – ein geheimer Motor, dem irgendwann der Sprit ausgehen würde.
Hoffentlich erst, wenn ich zu Hause bin!, flehte Istari stumm und doch so laut, dass die Götter sie einfach hören mussten.
Dabei wusste sie gar nicht, ob sie nach Hause lief. Bei Dunkelheit im Dschungel, da gab es keine Richtungen und Pfade. Dennoch, Istari hatte das sonderbar instinktive Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Auch wenn sie im Grunde nichts sah. Genau genommen hätte sie bei jedem dritten Schritt gegen einen Baum rennen müssen. Aber das tat sie nicht. Zwar wich sie nicht jedem Baum aus, aber doch so vielen, dass sie einigermaßen vorankam.
Nur nicht schnell genug! Ihre Häscher mussten ihr immer noch auf den Fersen sein.
Ein Ast schlug ihr ins Gesicht und verfehlte knapp ihr Auge. Reflexhaft riss Istari den Kopf zur Seite, geriet aus dem Tritt, verlor die Balance und fiel hin. Der Aufprall trieb ihr schmerzhaft die Luft aus den schmerzenden Lungen.
Übermächtig war das Verlangen, kurzerhand liegen zu bleiben. Und fast schien es, als bliebe ihr gar nichts anderes übrig. Die Kraft, sich hochzustemmen, ließ sich nicht mehr zusammenkratzen. Istari schaffte es nur gerade noch, sich schwerfällig auf den Rücken zu wälzen.
Kaum lag sie da wie ein umgedrehter Käfer, wanderten ihre Hände über ihren kugelrunden Bauch und tasteten nach Anzeichen des Lebens, das in den vergangenen Monaten darin herangewachsen war.
Da war … nichts. Istari schluckte. Hieß das, der Sturz eben war zu hart gewesen, hart genug, um dem ungeborenen Wesen womöglich das Genick zu brechen?
Ihr Tasten wurde fieberhafter. Ihre Finger schienen überall zugleich zu sein. Nein, hier nichts, da nichts …
Mit bebenden Lippen sog Istari die schwüle Luft ein, in der Hoffnung, ihr Verdacht würde sich bewahrheiten und das in ihr werdende Leben wäre zu Tode gekommen, ehe es das Licht der Welt hatte erblicken können.
Dann traf ein Tritt ihre flache Hand! Istari fuhr zusammen, und ihre Hand zuckte hoch, als hätte sie eine heiße Kochstelle berührt.
Die schwangere junge Frau schluchzte. Das Balg lebte. Die Götter hatten kein Einsehen mit ihr.
Nein, still!, mahnte sie sich hastig. So durfte sie nicht denken. Nicht wenn sie sich das Quäntchen göttlicher Gunst, das ihr immerhin zuteil geworden war, bewahren wollte. Und das wollte sie, natürlich wollte sie das! Sie hoffte doch, dass es genügte, sie nach Hause zu führen …
Wäre es doch nur nicht so behaglich gewesen, wo sie jetzt lag. Kein Bett, so kam es ihr vor, hätte im Moment bequemer sein können als das weiche Erdreich unter ihr, in das ihr Körper sich förmlich hineinschmiegte.
Eigentlich wollte sie gar nicht aufstehen. Wenigstens jetzt nicht. Nur ein paar Minuten liegen bleiben, zu Atem kommen, ein bisschen Kraft schöpfen, und dann würde sie sich schon aufraffen und weiterlaufen. Aber erst …
Istari fielen die Augen zu, und sie hatte das wohlige Gefühl, hinein zu sinken in den feuchtwarmen Boden. Es war eine Rückkehr in den Mutterschoß.
Irgendwo knackte ein Ast, laut wie ein Schuss, und Istari war so schnell auf den Füßen, dass sie sich gar nicht erinnern konnte, überhaupt aufgestanden zu sein!
Sie lauschte. Das Knacken wiederholte sich nicht. Still war es jedoch auch nicht. Irgendwo dort im Dunkeln bewegte sich etwas. Man suchte nach ihr. Um sie zurückzuholen an jenen schrecklichen Ort, an dem sie Dinge erlitten hatte, wie sie in den schlimmsten Albträumen nicht vorkamen. Weil auch Träume aus dem schöpfen mussten, was ein menschlicher Geist sich vorstellen konnte.
Aber was Istari durchgemacht hatte, das konnte sich nicht nur kein Mensch ausmalen, das würde ihr obendrein kein Mensch glauben!
Um diese Probe aufs Exempel zu machen, müsste sie allerdings erst einmal wieder einem Menschen begegnen. Und die Chance darauf war jetzt und hier, irgendwo im nächtlichen Dschungel von Arunachal Pradesh und möglicherweise immer noch fern ihres Heimatdorfs, erbärmlich gering.
Und doch, es gab sie, diese Chance. Denn noch lebte Istari, noch war sie frei, noch hatte man sie nicht wieder erwischt.
Also lief sie weiter. Von Baum zu Baum, stützte sich dagegen, stieß sich davon ab, wankte zum nächsten, schlug lang hin, stand wieder auf, immer weiter …
Bis es nicht mehr weiterging.
***
Arunachal Pradesh, Bundesstaat im Nordosten Indiens
»Kein Zweifel, hier sind wir richtig«, meinte Ella Sundström, und Vimal Banerjee neben ihr nickte.
Der Inder hielt das Foto so, dass die Schwedin die abgebildete Grube auf einen Blick mit jener vergleichen konnte, an deren Rand sie hier, mitten im Dschungel, standen. Ein annähernd quadratisches Loch im Boden, jeweils gut drei Meter tief, lang und breit.
Aus dem Boden der Grube ragten ein Dutzend oben zugespitzter und annähernd armdicker Holzpfähle. Dazwischen verstreut lagen zerbrochenes Geäst, vertrocknete, großflächige Blätter und altes Stroh.
So weit stimmten Foto und Wirklichkeit überein. Der drastische Unterschied bestand darin, dass das große, tiefe Loch zu Ella Sundströms und Vimal Banerjees Füßen leer war – und das auf der Fotografie nicht: Auf dem Bild lag darin ein toter Tiger.
Tot war dieser Tiger ohne Frage. Mehr als die Hälfte der Holzpfähle hatten seinen Leib durchbohrt, die Spitzen ragten blutig verschmiert in die Höhe. Blut lief auch über die Zunge des Tieres, die ihm aus dem halb offenen Maul hing. Die grünen Augen stierten glanzlos ins Nichts.
Ein grässlicher Anblick, besonders machte den Tiger jedoch etwas anderes: Sein Fell war weder goldgelb noch rotbraun und dunkel gestreift – es war zur Gänze schwarz.
Wenn man genau hinsah, konnte man auf dem Bild verschiedene Schattierungen ausmachen und erkennen, dass das Tier schwarz und gewissermaßen noch »schwärzer« gestreift war.
Ella Sundström fragte sich, ob der Fotograf diesen Effekt bewusst eingefangen hatte oder ob ihm nur der Zufall zu Hilfe gekommen war. Sollte ersteres der Fall sein, galt dem Mann ihre Hochachtung – sie war selbst vom Fach und konnte beurteilen, was nötig war, um ein derart beeindruckendes Foto zu schießen.
Dennoch überwog die Abscheu in ihr, wenn sie das Bild betrachtete, immer noch, obgleich es inzwischen etliche Monate her war, dass sie darauf gestoßen war. Weltweit hatten Zeitungen und Magazine es publiziert, keines allerdings an prominenter Stelle. Dazu war selbst der grausame Tod eines solch außergewöhnlichen Tieres in der heutigen Welt nicht mehr bedeutsam genug.
Hier und da hatte man die Veröffentlichung mit den Worten von Experten garniert. Daraus wusste Ella, dass schwarze Tiger zwar ebensolche Launen der Natur waren wie weiße Tiger, nur kam die genetische Mutation, die ein schwarzes Tier entstehen ließ, noch seltener vor.