Der Flug des Fasans - Volker Buchloh - E-Book

Der Flug des Fasans E-Book

Volker Buchloh

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Zwei Rockerbanden haben sich in Duisburg das kriminelle Geschäft mit Prostitution, Drogen und Waffenhandel untereinander aufgeteilt. Mikael Knoop muss in diesem Umfeld den Tod einer sonderbar hergerichteten Prostituierten ermitteln. Die sprichwörtliche Verschwiegenheit dieser Kreise erschwert seine Ermittlungen enorm. Durch Tricks und Eintauchen in den Morast des Duisburger Straßenstrichs erfährt Knoop, wie menschenverachtend Frauen hier zur käuflichen Liebe gezwungen werden. In einer parallellaufenden Ermittlung wird der Tod von 5 Prostituierten und einem Mann untersucht. Alle 6 Personen sind durch Zufall in einem Sammelbehälter der Duisburger Müllverbrennungsanlage gefunden worden. Entsetzt erkennt Knoop einen Gefährten aus alten Tagen, der ihn, als der junge Knoop zu entgleisen drohte, auf den richtigen Weg gebracht hat. Als Knoop die entstellte Leiche sieht, ist für in klar, den Mistkerl zur Strecke zu bringen. Weil auch hier das Rockermilieu vermutet werden muss, gelingt es Knoop, quasi als Kenner der Szene, Mitglied in dieser Ermittlungskommision zu werden. Dabei darf er über die frühreren Beziehungen zum Opfer nichts verlauten lassen, um seine persönliche Interessenlage nicht offenzulegen. Seine Arbeit mündet in einen Strudel der Gefühle. Einerseits ermittelt er Seiten seines alten Kumpels, die ihm früher nicht bewußt waren. Andererseits hat er gegenüber seinen Kollegen Vorteile, weil Knoop weiß, welche Ermittlungsrichtung erfolgversprechend ist und welche nicht.

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Seitenzahl: 853

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Expose:Der Flug des Fasans

Zwei Rockerbanden haben sich in Duisburg das kriminelle Geschäft mit Prostitution, Drogen und Waffenhandel untereinander aufgeteilt. Mikael Knoop muss in diesem Umfeld den Tod einer sonderbar hergerichteten Prostituierten ermitteln. Die sprichwörtliche Verschwiegenheit dieser kriminellen Kreise erschwert seine Ermittlungen enorm. Durch Tricks, Beziehungen und das Eintauchen in den Sumpf des Duisburger Straßenstrichs erfährt Knoop, wie menschenverachtend Frauen hier zur käuflichen Diensten gezwungen werden.

In einer parallellaufenden Ermittlung wird der Tod von fünf Prostituierten und einem Mann untersucht. Alle sechs Personen sind in dem Sammelbehälter der Duisburger Müllverbrennungsanlage durch Zufall entdeckt worden. Der Zweck, sich auf diese Weise der Leichen zu entledigen, liegt auf der Hand. Wie aber die Täter die Sicherheitsumzäunung der Anlage überlistet haben, stellt die Ermittler vor eine schwere Aufgabe.

Entsetzt erkennt Knoop in dem Mann einen Kumpel wieder, der ihm als strauchelnden Jugendliche auf den „richtigen“ Weg gebracht hat. Als Knoop die entstellte Leiche seines Freundes sieht, ist es für ihn unumstößlich, diesen Mistkerl dingfest zu machen. Weil auch hier als Ursprung das Rockermilieu vermutet werden muss, gelingt es Knoop, quasi als Kenner der Szene, auch in dieser Ermittlungskommission Mitglied zu werden. Dabei darf er über die frühere Beziehung zum Opfer nichts verlauten lassen, um seine persönliche Interessenslage nicht offenzulegen. Wenn er nicht aufpasst, dann droht ihm Minmum die Suspendierung.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2014. Alle Rechte liegen beim Autor

Impressum

Flug des Fasans

Volker Buchloh

Copyright © 2014 Volker Buchloh

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-2599-2

Trilogie

Zweites Buch

Duisburg Rheinhausen, 17. April

Der Mann stöhnte leise im Rhythmus seiner Bewegungen. Als sich sein Unterleib verkrampfte, hielt er nichts zurück. Deswegen war er ja schließlich hierher gekommen. Er machte noch ein paar Bewegungen, um das Gefühl abklingen zu lassen. Er merkte, wie sein Glied erschlaffte, da zog er es zurück. Ohne auf die Frau zu achten, die unter ihm lag, richtete er sich auf. Er stopfte alles in den Reißverschluss seiner Hose, murmelte etwas Unverständliches und verließ den Raum.

Der Ort roch muffig, aber auch nach Schweiß und anderen Körperausdünstungen. Es war ein Kellerraum, der aber nur halb in den Boden gebaut worden war. Wahrscheinlich aus Kostengründen. Das einzige Licht drang durch die Kellerfenster auf der einen Seite des Raumes und einer schwach leuchtenden Lampe an der Decke. Wer durch die Scheiben der Fenster blickte, der sah nur den festgetrampelten Boden eines Hinterhofs, der wohl nicht mehr benutzt wurde. Unkraut aller Art wuchs sogar in der Ascheschicht eines Trampelpfads. Die Düsternis der Räumlichkeit wurde durch die verdreckten Wände mit hervorgerufen. Irgendwann, aber bestimmt nicht in den letzten zwanzig Jahren, waren Sie mal geweißt worden. Inzwischen hatte sich Staub und Dreck auf ihren Poren niedergelassen. Stellen, an denen der Putz abgefallen war, waren nie repariert worden.

Das Halbdunkel innerhalb der vier Wände schuf hellere und dunklere Bereiche. In dem von den Fenstern abgewandten eher dunklerem Teil waren Matratzen unordentlich aufeinander geschichtet. Sie waren aus billigem Schaumstoff gefertigt. Einen anderen Überzug als den industriell vorgesehenen gab es nicht. Im helleren Bereich lag ein einzelnes Unterbett. Auch hier gab es keinen Bezug. Man hatte die Matratze einfach auf den verdreckten Kellerboden geworfen. Auf der Schaumgummifläche lag eine Frau. Die wirrverteilten schwarzen Haare verdeckten ihren Kopf. Unterhalb ihres Bauchnabels war sie nackt. Der Oberkörper steckte in einer Weste, die jedoch nicht gänzlich zugeknöpft war. Zwar trug sie einen BH, aber dieser war nach oben gerutscht und gab teilweise deren Brüste frei. Die Beine der Matrone waren gespreizt und blieben unverändert so liegen.

Der junge Mann, der nun den Raum betrat, wippte in seinen Knien, so als ginge es zu einer Tanzveranstaltung. Er reichte dem Mann einen Zehneuroschein, den dieser wortlos annahm und in seine Tasche stopfte. Der junge Mann öffnete seine Hose und ließ diese auf seine Füße fallen. Dann griff er nach seinem Glied und bewegte es mehrmals hin und her. Er schaute auf den unbekleideten Unterleib der Frau. Es war eine Ausländerin. Dann kniete er sich auf die Matratze und begann, an dem BH der Frau zu fummeln. Sofort meldete sich der Mann, der breitbeinig daneben stand. Obwohl nur wenig Licht einfiel, konnte man den zu einer Glatze geschorenen Kopf sofort erkennen. Er trug ein T-Shirt, dessen Farbe und Beschriftung man in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte. Darüber hatte er eine ärmellose Lederjacke gezogen. Die zahlreichen Metallnieten glitzerten bei jeder Körperbewegung. Er machte diese Art Arbeit gerne. Einmal war sie nicht anstrengend. Dann behinderte sie seine krumme Hand nicht. Instinktiv schaute e auf sein Handgelenk, das nach links abgeknickt war. Die Folge eines Motorradunfalls vor vier Jahren.

„Hey Mann, dat kostet aber extra - ´nen Fünfer.“

Der Junge schaute in die hingehaltene Hand, zögerte etwas. Dann schüttelte er seinen Kopf. Er spielte wieder mit dem Glied, dann drang er in die Frau ein. Seine Hüfte bewegte sich wie ein Dampfhammer. Die Frau unter ihm bewegte nur ihre Lippen. Was sie sagte, konnte keiner verstehen. Wahrscheinlich sie selbst nicht einmal. Der junge Liebhaber atmete heftig.

„Hey, ist das nicht geil?“ Sein Kopf senkte sich zu ihrem Ohr. „Komm, sag mir, du bist geil auf mich. Bin ich nicht der Beste?“

Die Südländerin lag völlig apathisch dar. Nur ab und zu bewegten sich ihre Lippen.

„Komm, sag doch, wie geil du auf mich bist. Ich merke doch, wie es dir gefällt, was ich mit dir mache.“ Er stöhnte laut, um seine eigene Geilheit anzustacheln.

Bewegungslos lag der Körper der Dirne auf der Matratze. Langsam erhob sich ihre Hand, um sich kraftlos an ihrer Stirne zu kratzen. Danach sank die Hand erschöpft auf die Unterlage zurück. Ihre Augen waren meist geschlossen, so als wollen sie die Realität nicht wahrnehmen, die der Körper scheinbar willenlos akzeptierte. Wenn sie doch einmal ihren Blick an die schmutziggraue Kellerdecke richtete, dann sah man die Ausdruckslosigkeit in den Pupillen.

Mit lautem Geschrei ergoss der Freier seinen Samen in die Scheide. So als ob nichts geschehen wäre, machte er weiter. Der Glatzkopf trat kräftig gegen die Wade des jungen Mannes. Schmerzhaft zog dieser sein Knie an.

„Ist ja schon gut Mann.“ Er stand sofort auf, zog seine Hose hoch und gürtete sie fest. Während er den Raum verließ, zog er den Reißverschluss seiner Hose hoch. Er trat in den langen Gang eines Kellerkomplexes. Die gemauerte Wände waren auch hier nur unvollständig verputzt und genau so dreckig wie der Kellerraum. In den Fugen hatte sich Staub und Schmutz angesammelt. An der Decke des langen Ganges baumelten in große Entfernung zwei nackte Glühbirnen in ihrer Fassung. Das Licht, welches sie spendeten, war über alle Maßen dürftig. Die Männer, die hier in der Schlange standen, schien dies nicht zu stören. Mitten im Gang warteten zwei Freunde auf ihn. Der blonde Zwölfjährige wirkte ein wenig verschüchtert in der unbekannten Umgebung. Der um einen halben Kopf größere mit Pickelgesicht und roten Haaren trat unruhig mit den Füßen auf der Stelle.

Der jugendliche Freier zeigte seinen rechten Bizeps. „Boh, war dat toll. Der hab´ ich es aber gegeben. Habt Ihr gehört, wie die gestöhnt hat. Und als die gekommen ist, da hat die mir ins Ohr geflüstert, wie geil ich sie gemacht habe.“ Die zwei Jungen schauten ihn ehrfürchtig an.

Der eine mit den rotgefärbten Haaren schluckte mehrmals. „Meinst du, ich könnte auch mal...?“ Er machte mit der Faust das Zeichen für schmutzigen Sex.

Der Chinese hinter ihm raunzte ihn an: „Kleiner, stell dich bloß hinten an.“ Er machte die typische Handbewegung, indem der Daumen die Richtung angab. Die Wartenden hinter dem Chinesen nickten und grummelten aggressiv.

In den Kellerraum war ein Ausländer getreten. Mit ihm betrat ein Geruch von Knoblauch und ranzigem Käse den Raum. Zu welcher Nationalität man ihn zählte, konnte man nicht sagen. Aber ein südländischer Typ war er allemal. Er hatte schütteres graues Haar. Sein magerer Körperbau belegte, er steckte nur wenig Geld in die Ernährung seines Körpers. Er trug ein Sakko, welches am linken Ärmel winkelförmig eingerissen war. Das weiße Hemd war am Halse nicht verschlossen und hatte lange Zeit kein Waschpulver mehr gesehen.

„Warum habt Ihr heute nur eine?

Das Muskelpaket schaute ihn wütend an. Dann bequemte er sich doch zu einer Antwort. „Wir tauschen aus.“

Die Augen des Alten zeigten freudigen Glanz „Ich möchte auch lecken und ein Stück Papier.“ Seine Stimme klang emotionslos.

„Fünfzehn“, beschied ihn der Aufpasser. Er hielt seine Hand hin. Die vereinbarte Summe wechselte ihren Besitzer. Von einer Küchenrolle riss die Lederjacke ein Blatt ab und reichte sie dem Kunden. Während er damit das Geschlecht der Frau säuberte, wollte der Glatzkopf wissen: „Wie viele sind noch draußen?“

„Ich glaube fünfzehn.“ Unbeteiligt roch er ausgiebig an der Scheide, dann setzt er seine Säuberungsaktion weiter fort. Die Bewegungen der Zunge hinterließen bei der Frau keinen Eindruck. Der Unterleib des Freiers machte langsame kreisförmige Bewegungen. Der Aufpasser multiplizierte ein paar Zahlen. Er war enttäuscht. Nurwenig mehr als vierhundert Euro würde er bei einer Matratze heute nur verdienen können. Er verzog unwillig sein Gesicht. Und davon würde er fünfzig auch noch als Miete abgeben müssen. Kein guter Tag heute. Inzwischen hatte der Alte den Reißverschluss geöffnet und sein Glied platziert. Seine Bewegungen waren dem Aufseher zu langsam. Wütend trat er mehrmals gegen dessen Schuhe.

„Hey Alter, mach´ hinne. Oder es kostet einen weiteren Zehner.“

Der Alte arbeitete schneller. Mit fast erstickender Stimme murmelte er: „Oh du meine Blume, meine Tochter. Du bereitest mir solche Freude. Danke, weil ich dich glücklich machen darf.“ Aus seinem Penis tröpfelte etwas Ejakulat.

Als der Alte aus dem Kellerraum fortgegangen war, rückte die Schlange einen Schritt nach vorne. Nun stand der Mörder auf Platz Vierzehn.

Die Schritte der Springerstiefel hallten in dem Gang wieder. Die spärliche und weitentfernte Beleuchtung warf groteske Schatten der Person an die Kellerwände. Das ungeputzte, schmierige Ziegelmauerwerk schluckte das meiste des ausgestrahlten Lichtes. Dem Mann mit den Springerstiefeln war dieser Zustand bekannt. Dieser Ablauf gehörte zu seinen täglichen Pflichten. Trotzdem fluchte er leise. Dieser Teil seiner Arbeit gehörte nicht zu seiner Lieblingsbeschäftigung. Wenn er die eine oder andere der Nutten hätte bumsen können, dann hätte er auch noch ein wenig Spaß bei diesem Job. Aber in eine Spalte einzudringen, in der der Abschaum von Rheinhausen abgespritzt hatte, das widerte ihn zu tiefst an. Wer weiß, was für Krankheiten er sich dabei holen würde. Sollten die Miststücke doch daran sterben, er nicht. Bei diesem Gedanken griff er sich in den Schritt und bewegte langsam seine Hand. Lust verspürte er schon. Er verspürte immer Lust. Deswegen war er auch zu dem Spitznamen >Phallus< gekommen. Er empfand diese Bezeichnung als Ehre. Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass es außer Bumsen noch was Sinnvolleres im Leben geben könnte. Aber nicht hier und nicht jetzt. Nicht bei dieser Sorte Schlampen. Er überlegte und entschied sich, im Anschluss an seinen Job bei Arnika vorbei zu schauen. Arnika arbeitete im vereinseigenen Bordell in der Humboldtstraße. Hier musste er zwar zahlen, bekam aber als Mitglied fünfzig Prozent. Arnika war für ihn die Richtige. Sie war schon etwas in die Jahre gekommen. Was ihr als Jugend fehlte, musste sie mit anderen Dienstleistungen ausgleichen. Und auf solche Dienstleistungen, da bestand er. Genau wie das, was er nun in seiner Hand spürte.

Vor einer Stahltüre blieb er stehen. Das Licht oberhalb dieser Türe war extra dazu angebracht, damit man das Schloss der Türe gut sehen konnte. Sicherheitsmaßnahme sozusagen. Er verscheuchte seine lüsternen Gedanken. Hier durfte er keinen Fehler machen. Der Boss würde ihn mit Stumpf und Stiel in den Boden rammen. Er stellte das Tablett auf einen Hocker, bevor er die Türe aufschloss. Er öffnete den Eingang und vergewisserte sich, keiner stand im Eingangsbereich. Die Beleuchtung im Zimmer war genau so armselig wie die im Gang draußen. Dann ergriff er das Tablett und stellte es auf eine Anrichte, die als Küchenzeile an der Wand stand. Immer wieder schaute er sich dabei um.

Der Raum hatte die Maße von ungefähr sechs mal sechs Metern. Da aber der Raum sechs Frauen Platz bot, war dies wenig genug. Aber die Schlampen brauchten nicht mehr. Die Frauen hatten sich beim Geräusch des Aufschließens auf ihre Lagerstätten zurück gezogen. Sie wussten, bei Nichtbefolgen drohten Schläge. Und damit sparte ihr Bewacher in keinster Weise. Ja es bereitete ihm satanisches Vergnügen, auch noch dann zuzulangen, wenn es eigentlich nicht mehr notwendig war. Aber dennoch huschte der Blick des Mannes immer wieder durch den Raum, denn man konnte ja nie wissen, ob es nicht anders kam. Die Nutten waren hier eingesperrt, bis sie ihre Unkosten abgearbeitet hatten. So sagte man es ihnen jedenfalls. Zu diesen Kosten gehörte nicht nur der Transfer von Bulgarien hier her, auch die Ablösesumme  und die Schmiergelder an den Grenzen. Auch für Miete und Verpflegung sollten diese Schlampen bezahlen. Auch seine Handreichungen waren nicht kostenlos. Und der Boss wollte dazu noch Gewinn machen. Da kam einige Arbeitszeit zusammen, damit sich so etwas bezahlt machte. Schon möglich, wenn dabei die Vorstellungen über die Dauer des Arbeitsverhältnisses unterschiedlich war. So konnte man nie ausschließen, ob die Fotzen sich nicht abgesprochen hatten, ihrerseits das Arbeitsverhältnis zu kündigen, und einfach abhauten. So etwas durfte nicht passieren. Nichts durfte passieren, das nach draußen drang. Dann hatte er schlechte Karten. Mit dem Boss war nicht zu spaßen.

Durch den Lichtschacht zweier vergitterter Kellerfenster fiel zusätzliche Helligkeit in den Raum. Davon profitierten aber nur die oberen beiden Liegestätten. Die darunter befindlichen Lager lagen im Halbdunkel. Es war also eine Frage der Durchsetzungsfähigkeit, welche der Frauen hier oben liegen durfte. Nur die Robustesten konnten diesen kleinen Vorteil für sich in Anspruch nehmen.

Phallus stellte die Konservendosen neben das Servierbrett. Dann drehte er sich zur anderen Wand um. Unter einem hockerähnlichen Möbel zog er einen Behälter hervor. Angewidert verzog er seine Lippen. Er fluchte über den Gestank, der sich schnell im Raum verbreitete. Hastig stülpte er wieder den Deckel über den Eimer. Bevor er ihn aufhob, fixierte er erneut die Frauen. Aber alles blieb ruhig. Er wuchtete den Behälter hoch. Dabei vermied er jeden unnötigen Körperkontakt mit dem Gefäß. Im Gang stellte er das Behältnis auf einen Rollwagen.

Als die Türe wieder geschlossen wurde, sprangen die Frauen wie elektrisiert auf und eilten zu der Anrichte. Eine korpulente Frau, die ihre langen dunklen Haare zu zwei Zöpfen geflochten hatte, führte das Kommando. Eine spindeldürre Gestalt öffnete den Wasserhahn. Ein spärlicher Wasserfluss füllte einen großen Topf, der ihr von einer Rothaarigen gereicht wurde. Eine Kleinwüchsige mit kurzen schwarzen Haaren öffnete die gelieferten Dosen und füllte den Inhalt in die bereitgestellten Töpfe. Ein mobiler Elektroherd mit zwei Platten wurde angestellt. Abwechselnd rührten die Frauen den Topfinhalt. Jede musste probieren. Es ging aber nicht darum, die Feinheit des erwärmten Gerichts abzustimmen. Die Frauen wollten nicht warten, weil sie Hunger hatten. Es ging quasi um eine extra Portion bei der Essenszuteilung. Nur eine der Frauen machte die Aufregung nicht mit. Sie blieb im Bett liegen. Ihre geschlossenen Augen wollten die Realität nicht wahrnehmen.

Wieder wurde der Schlüssel ins Schloss gesteckt. Schnell zog die Rothaarige die Töpfe von der Platte und folgte den anderen zu den Etagenbetten. Das Gesicht des Mannes erschien im Türspalt. Der entleerte Behälter wurde in die Toiletteneinrichtung geschoben. Ein Tritt mit dem Fuß arretierte diesen. Dann verschwand Phallus, ohne ein Wort zu sagen. Das Schließen der Türe war das erneute Startsignal für die Frauenschar. Die Töpfe wurden wieder auf die Kochstelle geschoben. Bald erfüllte ein Duft von Hackbraten und Rotkohl den kärglichen Raum. Die Korpulente nahm die Verteilung der Speisen vor.

„Und, kriegt die Ali auch etwas? Wenn die nicht will, dann opfere ich mich gerne“, sagte die schrille Stimme der Rothaarigen auf Bulgarisch. Sie zog ihren Pullover vor der Brust zusammen, bevor sie ihre Schale ergriff.

„Halt die Fresse, du Luder.“ Die korpulente Frau machte Anstalten, die Rothaarige mit der Kelle zu schlagen.

Diese wich in Richtung der Bettgestelle zurück. Hastig tauchte sie dabei den Löffel in das Essen und stopfte sich den Mund voll.

„Hey, du dumme Kuh!“, bellte die Korpulente. „Wann wirst du es endlich schnallen. Die Ali kratzt sonst ab, wenn du der alles wegfrisst. Den Ärger bekommen wir dann alle, nicht nur du.“ Sie ergriff ihre Schüssel. Befriedigt stellte sie fest, sie konnte sich wieder eine größere Portion zuteilen.

Alle fünf Frauen saßen nun auf der Bettkante der beiden unteren Betten. Schweigend schaufelten sie sich alles in den Mund und schluckten mehr als sie kauten. Solange jede mit ihrer Portion beschäftigt war, konnte sie den anderen nichts wegnehmen. Nur das schmatzende Geräusch gierig herunter geschlungenen Essens erfüllte den Raum. Die Portion für diejenige, die man Ali genannt hatte, blieb derweil auf der Anrichte stehen. Die Betreffende machte aber keine Anstalten, sich ihre Portion zu holen. Die Kleinwüchsige war zuerst fertig. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, rülpste laut und leckte dann die Essensspuren an den Fingern mit der Zuge ab.

„Du Olga“, wandte sie sich an die Korpulente, „soll ich die Ali füttern?“

Die anderen kicherten. „Die Suwa hat wieder ihren sozialen Tick.“ Es war die Bohnenstange, die mit gehässiger Stimme das Ansinnen kommentierte. „Dafür kommst du bestimmt noch in den Himmel.“ Dann lachte sie über ihren eigenen Witz.

Suwa machte einige Kreuzzeichen hintereinander. „Lästere du nur. Dein Platz in der Hölle ist dir sicher, dumme Sau.“ Sie stand auf, ergriff die für Ali gefüllte Schale und ging auf das linke Gestell zu, wo Ali in der unteren Etage teilnahmslos lag. „Verpisst euch!“

Die Frauen erhoben sich. Eine fragte: „Wer spült?“ Eine andere antwortete: „Immer die, die fragt.“

Suwa stellte das Geschirr auf den Boden. Sie ergriff Alis Beine und zog diese von der Matratze. Dann zog sie den Oberkörper nach vorne. Ali murmelte etwas, was man nur als Ablehnung verstehen konnte. Als aber Suwa ihr den ersten Löffel zwischen ihre Zähne drückte, gab sie ihren Widerstand auf. Teilnahmslos kaute sie das, was man ihr eintrichterte. Nachdem sie Zweidrittel ihrer Ration verspeist hatte, ließ sie sich zurückfallen und kauerte sich zusammen wie ein Embryo. Hastig schaufelte Suwa den Rest der Mahlzeit in ihren Mund, bevor irgendjemand etwas sagen konnte.y

„Die macht nicht mehr lange.“ Suwa erhob sich, um Schüssel und Löffel abzuspülen. Aber keiner hörte ihr zu.

Früher, 2010

Die Schüler waren außer Rand und Band. Jeder hatte etwas zu sagen, jeder hatte einen Gesprächspartner, der zudem häufig wechselte. Man schubste sich gegenseitig, rannte dann davon. Nur der flinkste konnten diesen Attacken ausweichen und fügte durch sein Siegesgeschrei einen weiteren Lärmpegel hinzu. Der Sportlehrer ließ die Jungs eine Zeitlang gewähren. Sie mussten ihre unerschöpfliche Energie einfach loswerden. Wichtig war für ihn nur, diese Kanalisierung überschüssiger Kräfte musste gefahrfrei geschehen. Alle hatten diszipliniert bei den Leichtathletikübungen mitgemacht, hatten sich im Weitsprung, Sprint und Kugelstoßen geübt. Nun sollte zum Abschluss der Sportstunde ein kleines Fußballspiel stattfinden. Fußball war erfahrungsgemäß die beliebteste Sportart aller Schüler. Der Lehrer wusste aus Erfahrung, dies als Belohnung in seinem Unterricht einzusetzen. Dies war, wenn man so wollte, eine sportliche Investition in die nächste Sportstunde. So war er sich sicher, in der nächsten Woche würde die Motivation, wieder am Sportunterricht teilzunehmen, riesig sein. Tat er so etwas nicht, dann war die Rate derjenigen groß, die leider ihr Sportzeug vergessen hatten. Beim Fußballspielen durfte jeder mitmachen, allerdings nur im Sportdress. Die Jungs waren im Alter zwischen elf und zwölf Jahren, ein Alter, in dem man sie noch formen konnte.

Ein kurzer Pfiff mit der Trillerpfeife stellte automatisch die Ruhe her, die nur von einem Jubelschrei unterbrochen wurde, als er den Zweck der restlichen Sportstunde bekannt gab. Der Lehrer bestimmte zwei Schüler, von denen er wusste, sie beherrschten diese Sportart hervorragend. Ihnen gestattete er das Vorrecht, jeweils eine Mannschaft bilden zu dürfen. Ein Münzwurf bestimmte den ersten Entscheider. ER war der Dritte, der in eine Mannschaft gewählt wurde. Diese Rangfolge war eine Frage der Qualifikation der fußballerischen Fähigkeiten, wollte doch jede Mannschaft, um eine reelle Siegesschance zu haben, die fähigsten Mitschüler im Team haben. Die noch zur Wahl Stehenden traten vor Spannung auf der Stelle, konnten sie doch kaum erwarten, auserwählt zu werden. Die gewählten Klassenkameraden sprachen sich mit ihren Team ab, welche Aufgabenverteilung man vornehmen sollte, denn der Lehrer stand als Trainer hierbei nicht zur Verfügung.

Das Spiel dauerte nun fast eine Viertelstunde. Die Mannschaft, in der ER spielte, lag mit einem Treffer zurück. Sein Mannschaftsführer hatte den Fehler gemacht, nur gute Stürmer auszuwählen. An die Hintermannschaft hatte er nicht gedacht. So hatten halt die weniger guten Stürmer hinten zu verteidigen. Eine fatale Entscheidung, wie sich bald zeigte, denn die Stürmer der Gegenmannschaft waren auch nicht schlecht und hatten diesen Nachteil auszunutzen verstanden. Nun lief ein Angriff über den linken Flügel. Kurt war der Kleinste der Klasse, aber auch der Flinkste. Mühelos trickste er zwei, drei Gegenspieler aus und erreichte so die Mitte der gegnerischen Hälfte. Bevor ihm die Luft ausging, flankte er den Ball in die Nähe des Strafraums. ER war auf der Mittellinie parallel zum Ball mitgelaufen. Die Flanke kam ziemlich genau in seine Nähe. Nach drei, vier Schritten hatte ER den Ball erreicht und schnell unter seine Kontrolle gebracht. ER lief Richtung Tor, weil die Entfernung für einen Schuss noch zu weit war. Zwei Verteidiger befanden sich zwischen ihm und dem Torwart. Der erste, der auf ihn zulief, war Jürgen, der Knochenbrecher. Er wurde von seinen Mitschülern so gehänselt, weil er alles wegsäbelte, was er erreichen konnte. Er war etwas dicklich, hatte aber das Vermögen, seine gewaltige Masse schnell zu beschleunigen. Das war alles, was er konnte. Fußballerische Technik war seine Sache nicht. Wenn Jürgen einem entgegen kam, dann verließ manchem der Mut, weiter zu stürmen. Statt dessen suchte dieser dann meist einen Mitspieler, um den Ball anzugeben. Bei dieser überhasteten Abgabe geschahen meist Fehler, die den Ruf von Jürgen begründeten. ER schaute sich um. Keiner seiner Kumpel war anspielbar. Keiner schrie, um auf seine freie Position aufmerksam zu machen. Kurt war zurückgefallen. ER war auf sich alleine gestellt. Aus einem inneren Impuls heraus stürmte er weiter. Jürgen, der auf die Furcht seiner Abschreckung gesetzt hatte, zögerte eine Sekunde zu lange. Durch eine geschickte Körpertäuschung konnte ER das Leder an Jürgen vorbeispielen. Ohne dass sein Gegner den Ball auch nur berühren konnte, trieb er den Ball vorwärts. Den ausgestreckten Fuß übersprang ER dabei elegant. Der zweite Verteidiger hatte auf die abschreckende Wirkung von Jürgen nicht vertraut und verstellte ihm dadurch den Weg zum Tor. Mit einer geschickten Ballverlagerung, ER hatte selbst nicht gewusst, wie Er diese beherrschte, schaltete ER auch den zweiten Verteidiger aus. Eigentlich hätte er nun schießen müssen. ER wusste nicht, welcher Teufel ihn auf einmal ritt. Als der Torwart todesmutig auf ihn zu stürmte, entschloss ER sich, anders als sonst üblich vorzugehen. Er schoss den Ball seitwärts an diesem vorbei. Bis dieser gebremst und sich Richtung seines eigenes Tores zurück bewegt hatte, erreichte ER den Ball und führte ihn wie ein Jongleur über die Torlinie.

Der Beifall der Mannschaftskameraden war überschwänglich. Jeder wollte ihn umarmen, jeder klopfte ihm dabei auf den Rücken. ER war schon manchmal umarmt worden, aber zum ersten Male empfand ER irgend etwas anderes als sonst. Vielleicht war es das Glücksgefühl oder die diesmal überschwängliche Umarmung, oder eine Kombination von allem. ER fühlte sich elektrisiert. Sein gesamter Körper war auf einmal ein Spannungsfeld. Für eine kurze Zeit lang wünschte er sich, diese Umarmungen mögen nie enden. Als dies dann doch geschah, folgte eine riesige Enttäuschung, die ER sich nicht erklären konnte. Benommen taumelte ER zurück in die eigene Hälfte. Keinem fiel auf, wie ER in den verbleibenden zehn Minuten kaum noch Einsatz zeigte. Das Gefühl, eine solche Elektrisierung erfahren zu haben, hielt noch an als der Unterricht Stunden später beendet war.

Duisburg Rheinhausen, 18. April

Zu dieser frühen Stunde sah der Kellergang so aus, wie er ihn am Abend betreten hatte. Hier unten war ein Ort, der scheinbar keine Zeit kannte. Alles blieb so, wie es war. Der einzige Unterschied bestand darin, morgens waren sie zu Dritt. Morgens stand keine Versorgung auf ihrer Verpflichtungsliste. Frühstück gab es nur im Viersternehotel, pflegte er zu feixen, um dann fortzufahren, wir haben aber nur einen Stern. Die Frauen wurden zur Arbeit abgeholt. Da jeder nur zwei Frauen beaufsichtigen und managen konnte, war diese Zahl naheliegend. Außerdem war es einschüchternd, von mehreren Männern beaufsichtigt zu werden. Morgens mussten sie ja die Frauen aus ihrem Zimmer rausholen und zu den Bumssälen bringen, wie die Arbeitsplätze auch bezeichnet wurden.

Der Mann, der diese Frauen managen und versorgen musste, ging voraus. Er hörte auf den Namen Schädel. Sein Kopf hatte eine übertrieben eckige Form. Keinem Härchen gestattete er, darauf zu wachsen. Dies unterstrich noch deren eckige Kontur. Schädel legte Wert darauf, eine sportliche Figur zu halten. Er war der Kleinste von den drei Männern. Er legte Wert auf sein Kampfgewicht, wie er immer betonte. Der Klang seiner Springerstiefel mischte sich mit denen der anderen.

Die beiden hinteren Männer hätten, was ihre Figur betraf als Zwillinge durchgehen können. Zwar nicht gleich groß, mussten beide Anabolika geschluckt haben, um diese Masse an Muskeln zu erhalten. So aufgepumpt wirkten sie. Sie unterhielten sich über die Geschehnisse des gestrigen Abends. Ihrem Gespräch zu folgen, hatte der Abend mit Fernsehen begonnen. Im Ersten Fernsehprogramm war ein Bundesligaspiel übertragen worden. Später hatten sie dann Karten gespielt. Und dazwischen immer wieder Saufen, Saufen bis zum Abwinken.

„Hey Phallus, stehst du auf Schalke oder auf Dortmund?“, feixte der Vorangehende und drehte den Kopf nach hinten.

Dieser bemühte sich, etwas schneller zu gehen. „Ich stehe auf Arnika und auf sonst gar nichts.“ Alle drei lachten.

Schädel war diesen Weg so oft gegangen. Es war reine Routine. Und Routine bedeutete das Abschalten des Gehirns und das Überlassen aller Tätigkeiten dem Automatismus der Muskeln und Nerven. So bemerkte er den Schaden erst, als er den Schlüssel ins Schloss stecken wollte und sich die Türe ohne Aufschließen öffnen ließ. Er schnellte zurück, als habe er eine blanke Stromleitung angefasst. Er zeigte auf das aufgebrochene Türblatt. Sofort griffen Phallus und der Dritte mit dem Kampfnamen Stiletto zu ihrem Messer. Ein Druck auf den Knopf brachte die Klingen zum arretieren. Mit einem Ruck riss Schädel die Türe auf und stürmte in den Raum. Fünf Frauen saßen auf den beiden oberen Betten. Sie waren zusammengekauert und zitterten als befänden sie sich in einem Kühlhaus.

Schädel war verblüfft. Irgend ein Schwein war hier eingebrochen und die Frauen waren noch hier? Ein Gedankengang, der ihm zunächst nicht logisch erschien. Er wollte gerade die Frage stellen, als sie von hinten gestellt wurde.

Es war Phallus, wild mit der Stichwaffe herumfuchtelte. „Was ist denn hier passiert?“

Das Bibbern der Frauen nahm noch zu, als habe jemand den Thermostaten des Raumes noch tiefer gedreht.

Schädels Stimme grunzte. Schaumstückelösten sich von seinem Mund. „Olga, blöde Nutte, quatsch endlich, oder ich schlitze dich hier und jetzt auf.“

„Komm runter du Schlampe, wenn ich mit dir rede.“ Phallus zeigte mit dem Messer auf sie und winkte sie heran.

Schüchtern kletterte Olga an der Bettseite herunter. Das Schlottern ihrer Glieder nahm zu, je näher sie Phallus kam.

„Ali ist weg.“ Sie wich zurück als befürchtete sie, dafür haftbar gemacht zu werden.

Erst jetzt bemerkte Phallus das Fehlen der Frau.

Der Mann auf dem Mofa hatte den Tunnelblick. Er nahm seine Umgebung überhaupt nicht wahr. Seine Augen waren auf den Verkehr vor ihm gerichtet. Jetzt, wo er an der Mauer des Friedhofs an der Lohstraße entlang fuhr, brauchte er nicht auf rechts und links zu achten. Er entspannte sich ein wenig. Er war in Eile und hatte nur die Stempeluhr im Kopf. Er war spät dran und er durfte nicht schon wieder zu spät zur Arbeit kommen. Den Ärger mit dem Schichtleiter wollte er unbedingt vermeiden.

So beachtete er den Jungen nicht, der seinen Stock über die Steine der Mauer schrappen ließ. Sein Stock erzeugte ein rhythmisches Klick-Klacks, wenn er vom Stein auf die Fuge kam Diese einfache Melodie übte eine Faszination auf das Kind aus. Die alte Frau, die ihm entgegenkam, störte entweder das Geräusch oder das Verhalten des Jungen. Sie sagte etwas zu dem Knaben, aber dieser störte sich nicht daran und führte seinen Stock weiterhin an der Mauer entlang. Sie murmelte ihren Protest gegen die heutige Jugend vor sich hin, ging aber weiter zu dem schmiedeeisernen Tor der Friedhofsanlage.

Ein blauer Toyota Avensis fuhr auf den Parkstreifen neben dem Eingangstor. Der Fahrer zögerte, dann verließ er den Wagen. Auf dem Weg zum Eingang zog er seinen Schlüsselbund aus der Tasche, um das Tor aufzuschließen. Der Schlüssel ließ sich aber nicht drehen. Holger Syskowski fluchte. Schon wieder hatte er vergessen, das Tor abzuschließen. Er öffnete beide Metallflügel, weil gleich der Lkw kam, der die Gartenabfälle abholen wollte. Er schaute auf seine Armbanduhr. Er war richtig in der Zeit. Er war heute der einzige Arbeiter auf der Anlage, also quasi sein eigener Chef. Das war die positive Seite der Wegrationalisierung.

„Hallo Oma Karsulke! Heute wieder Friedhofsdienst?“

Die alte Frau winkte ab. „Es macht ja sonst keiner. Und wenn ich nicht mehr da bin...“ Sie stöhnte und senkte ihren Kopf.

„Ja, ja, nuschelte Holger Syskowski und schlug schnurstracks den Weg zum Pausenraum der Friedhofverwaltung ein. Eine Verwaltung gab es hier schon lange nicht mehr. Aber das Gebäude stand noch. So hatten die Arbeitskräfte die Räumlichkeiten so genutzt, wie es ihnen in den Kram passte. Er drehte die elektrische Heizung hoch und betätigte die Kaffeemaschine. Während das Wasser durch das Zuflussrohr stottert, studierte er den Arbeitsplan, welche Aufgaben für heute vorgesehen waren.

Die alte Frau trippelte über den Hauptweg, der die Friedhofsfläche halbierte. Sie wusste, wo sie hin wollte. Schließlich war sie diesen Weg schon unzählige Male gegangen. Vor der schlichten Grabplatte hielt sie einen Moment ein. Ihre Gedanken eilten zu dem Mann, mit dem sie über vierzig Jahre verheiratet gewesen war und der sie vor beinahe acht Jahren im Stich gelassen hatte. Während sie den Ansätzen von Unkraut zu Leibe rückte und die mitgebrachten Blumen einpflanzte, hörte sie den Friedhofstraktor. Aha, die Fläche mit den Urnengräbern wird heute gemäht, dachte sie. Die bückende Arbeit am Grab fiel ihr in letzter Zeit mal wieder schwer. Sie machte eine Pause und schaute dabei in Richtung des Mähers.

Duisburg Dellviertel, 19. April

Mikael Knoop stand am Fenster seines Arbeitszimmers und schaute verträumt auf die Düsseldorfer Landstraße hinaus. Das Wetter entsprach seinem Gemüt. Der Himmel war von Wolken abgeschirmt. Die Temperatur draußen war für diese Wetterlage sehr hoch, aber letztendlich doch erträglich. Bald würden die Platanen auf der Düsseldorfer Straße ihre Blätter bilden. Dann würde er nicht nur auf das triste Braun der Äste schauen können. Die vorbeigehenden Leute dachten bei den herrschenden Temperaturen in diesem Moment bestimmt nicht an Sonnenbaden oder Grillen im Garten. Jedenfalls verhielten sie sich so. Zielstrebig und schnell gingen sie Richtung Innenstadt oder kamen aus ihr zurück. Das Polizeipräsidium Duisburg lag an einer der Achsen, über der die Bewohner der Außenbezirke in die Innenstadt gelangen konnten.

Im Duisburger Polizeipräsidium sind eine Reihe von Verwaltungsaufgaben konzentriert. Dazu gehören die Polizeiwachen, die Kontrolle der Straßen- und Wasserwege und die Bekämpfung der Kriminalität. Für jede Straftat ist eine Kriminalinspektion zuständig. So auch eine für Tötungsdelikte, wie die Amtsbezeichnung lautet. Dafür ist das Kriminalkommissariat 1 zuständig. Hier werden je nach Bedarf Mordkommissionen zusammengestellt, die im Sprachgebrauch der Behörde einfachheithalber als MK bezeichnet wird. Je nach Dringlichkeit ihres Einsatzes und Personaldecke wird die Zahl der ermittelnden Beamten bestimmt. Hauptkommissar Mikael Knoop hat hier Beschäftigung und Bestimmung seiner Berufswahl gefunden.

Knoop war ein sportliche Typ. Sport spielt bei der Duisburger Polizei eine große Rolle. Das hatte mit der Gesundheit der Beamten zu tun. Aber Knoop betrieb Sport, weil Sport ihm Spaß machte. Das war nicht immer so gewesen. Erst als Heranwachsender war er über Volleyball mit dem Sport in Verbindung gekommen. Seitdem war er immer für neue Sportarten angetan. Er hatte Fußball in der Stadtauswahl gespielt, hatte in American Football mitgemischt und auch mal für den Halbmarathon trainiert. Leider ließ sein Beruf eine kontinuierliche Vorbereitung nicht zu, der diese Sportart verlangte. Er beherrschte aber auch das Tauchen mit Flaschen und liebte das Skifahren. So sah er trotz seiner Größe von einmeterzweiundachtzig größer aus als er war. Sein dunkles, krauses Haar begann über seinen Schläfen an Farbkraft zu verlieren, aber dieses Melieren setzte so früh ein, wie es bei seinem Vater der Fall gewesen war. Jedenfalls glaubte er sich daran zu erinnern. Auch Vater hatte mit zweiundvierzig Jahren begonnen, langsam seine Haarfarbe zu wechseln. Und er war jetzt schon vier Jahre älter.

Im Spiegelbild der Scheiben sah er in sein eigenes Gesicht. Er liebte eine Selbstbetrachtung nicht. So stellte er fix seine Sehschärfe auf die Objekte der Düsseldorfer Landstraße scharf. Er liebte sein Aussehen nicht. Ihn störten die Falten in seiner Stirne, die zu ausgeprägten Wangenknochen und die braunen Augen. Er hätte gerne blaue gehabt, aber er war nicht eitel genug, um farbige Kontaktlinsen zu tragen. Seine rechte Hand fuhr wie ein Kamm durch die dichten, krausen Haare. Vereinzelte Schuppen rieselten auf seinen Hemdkragen. Er öffnete den zweiten Knopf seines karierten Hemdes.

Knoop verscheuchte die Gedanken über sein Aussehen. Es gelang ihm nur mit etwas Konzentration. Er hatte ein Problem und suchte ein Resultat. Eine Lösung musste dringend her. Obwohl er nun nach draußen schaute, nahmen seine Augen nichts auf. Sein Gehirn war voll damit beschäftigt, das Rätsel zu lösen. Er sah das Bild des toten Säuglings deutlich vor sich, so als stände er immer noch vor ihrer Leiche. Ein Gefühl des Zorns bemächtigte sich seiner. So jung, dachte er, und schon war alles vorbei. Was musste das für ein Mensch sein, der zu so was imstande war? Er erinnerte sich an AnnaLena, seine Tochter. Wie gerne hatte er sie in diesem Alter auf den Armen getragen. Immer wieder musste er sie küssen. Immer wieder beantwortete das Häufchen Fleisch in seinen Händen eine solche Liebkosung mit Geschrei oder dem Griff in sein Gesicht. Es war ihm egal gewesen. Nur seiner Frau nicht. Diese hatte ihm die Tochter bald entrissen, weil sie dieses Geschrei einfach nicht mehr aushalten konnte. Willig gab Knoop sie aus den Händen. Er wusste, dass es immer eine neue Möglichkeit gab, seine überschwellende Liebe dem Kind zu zeigen. Zärtliche Empfindungen wogten bei diesen Gedanken auch jetzt noch durch seinen Körper. Diese endeten abrupt als das Bild des toten Kleinkindes erneut projiziert wurde.

Wie sollte er vorgehen? Hatte er etwas übersehen? Die Mutter selbst hatte die Polizei angerufen als sie ihr Kind tot vorfand. Die Obduktion hatte Gewalt beim Sterben des Kindes als entscheidende Ursache festgestellt. Aber dieses hatte die Obduktion in der Gerichtsmedizin erst zwei Tage später festgestellt. Es war erstickt worden. Die Mutter leugnete die Tat vehement. Sie gab vor, zu dem entscheidenden Zeitpunkt einkaufen gewesen zu sein. Sie hätte sich das zugetraut, weil ihre Tochter geschlafen hatte. Dieser Schlaf dauerte erfahrungsgemäß eine dreiviertel Stunde, eher länger. Bis dahin glaubte sie zurück sein zu können. War sie auch, wie sie behauptete. Die Nachbarn hatten nichts Verdächtiges gehört oder gesehen. Die Türe war unbeschädigt. Der Vater der Kleinen lebte in Oberhausen Sterkrade bei einer neuen Beziehung und war zur Tatzeit auf der Arbeit. Meister und Arbeitskollegen bezeugten dies ausnahmslos. Außerdem besaß er keinen Wohnungsschlüssel von seiner Ex. Die Alibiangaben der Mutter waren dagegen dürftig. Die Beschäftigten des Supermarktes bestätigten, die Mutter war Kundin hier und kaufte regelmäßig hier ein. Ob sie aber zur Tatzeit auch hier eingekauft hatte, dies konnte keiner beeiden. Auch die DNA-Spuren brachte nur Hinweise auf die Mutter. So etwas war nichts Außergewöhnliches, weil diese ja ständig Kontakt mit dem Opfer hatte. Sonst hatte Knoop nichts in der Hand. Er stöhnte. Die Mutter brauchte nur ihr Alibi behaupten. Es war an Knoop, ihr das Gegenteil zu beweisen. An den großen Unbekannten glaubte er nicht.

Er ging zu seinem Schreibtisch zurück. In diesem Raume gab es zwei davon. Das bedeutete, dieser Raum bot zwei Kommissaren einen Arbeitsplatz. Die Schreibtische standen sich mit ihren Längsseiten gegenüber, Zwischen ihnen war genügend Raum, um Abstand voneinander zu halten. Die Tische waren aber so gestellt, dass man sich anschauen konnte. Distanz und Nähe befanden sich so in einem harmonischen Gleichgewicht. Jedenfalls hatte er den Raum so eingerichtet, bevor sein neuer Zimmergenosse, Ulf Metzler, hier einzog. Ulf besuchte zur Zeit eine Fortbildungsveranstaltung >Möglichkeiten moderner Datenauswertung< in Arnsberg. So hatte Knoop im Moment ein Einzelzimmer. Er war nicht böse darüber. Er hatte sich, als er damals den Raum gestalten durfte, so platziert, dass  das Tageslicht seine rechte Schreibhand ausleuchten konnte. Hinter beiden Schreibtischen und auf der langen Seite gegenüber der Fensterfront waren Regale aufgestellt. Sie wurden auf der Längsseite nur durch die Türe unterbrochen, die ziemlich genau zentrisch lag. Auf der Wand hinter Ulfs Schreibtisch schaute Knoop auf ein Poster einer Volleyballszene. Es sollte Knoop daran erinnern, wie weit sein Leistungsrückstand gegenüber den Profis vom Kölner Volleyballverein war. Ulf schaute dagegen hinter Knoop Rücken auf mehrere Plakate vom Profitänzern in unterschiedlichen Tanzdisziplinen. Metzler tanzte, wie Knoop sich erinnerte, erfolgreich auf Landesebene. Mehr wusste er nicht.

Sein Drehstuhl war zwar gepolstert, aber nur mit Stoff überzogen. Er hatte eine braune Grundfarbe und war mit schwarzen Fäden durchwirkt. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Doppelportrait von seiner Frau und seiner Tochter. Neben seinem Arbeitsplatz an der Fensterseite hatte er die künstlerischen Ergüsse seiner Tochter an die hellbraun gestrichene Wand festgepinnt. Sie gaben die kindliche Sichtweise einer heilen Familie wieder. Ebenso in Farbe hatte AnnaLena ihre Sicht der Polizeiarbeit zeichnerisch ausgedrückt. Danach arbeitete Knoop immer noch mit Lupe und Verstand.

Das Smartphon klingelte. Anhand der Tonfolge wusste Knoop, er sollte an einen Termin erinnert werden. Trotzdem schaute er unbewusst auf seine Armbanduhr. Tatsächlich, es war schon gleich acht Uhr. Van Gelderen, sein Chef von Kommissariat 11, hatte zu dieser Zeit eine Dienstbesprechung angesetzt. Knoop griff im Vorbeigehen nach seiner grünen Lederjacke und hatte sie übergestreift, bevor er den Raum verließ.

Als Knoop den Besprechungsraum betrat, waren fast alle Kollegen der Abteilung anwesend. Die Männer und Frauen standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Auch van Gelderen war in ein Gespräch mit seinem Stellvertreter Sakalewski und einem weiteren Kollegen vertieft. Knoop glaubte, der Typ hieß Krüger, war sich aber nicht sicher. Er hatte mit ihm noch nicht zusammen gearbeitet. Tom Krüger war ein Riese von Gestalt. Er war bestimmt so um die Einmeterneunzig groß. Er trug immer einen Anzug, wobei er stets auf eine Krawatte verzichtete. Krüger hatte Ambitionen. Er war erst seit einem Jahr als Quereinsteiger in die Abteilung gekommen. Zuerst hatte es den Anschein als wolle man ihn als Nachfolger van Gelderens aufbauen. Aber Krüger hatte wohl andere Ambitionen. Er sah sich noch am Anfang seiner Karriereleiter. Offensichtlich bekam Krüger Anweisungen. Van Gelderen spielte dabei mit seiner Brille Propeller. Plötzlich schaute er auf seine Uhr. Ein paar hastige Sätze folgten. Krüger nickte mehrmals. Die Gruppe ging auseinander.

Sakalewski klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. Augenblicklich wurde es im Raum still. Jeder suchte sich einen Platz. Die Leute um den Chef wählten einen Platz in seiner Nähe. Die anderen ließen sich dort nieder, wo gerade Platz war. Nur van Gelderen blieb stehen. Er begrüßte die Anwesenden. Ein Murmeln der Anwesenden sollte wohl eine Erwiderung des Grußes sein. Der Chef der MK1, wie das Mordkommissariat 1 abgekürzt wurde, war knapp Einmeterachtzig groß. Er trug kurzgeschnittene Haare, die über alle Maßen weiß waren. Dieses hatte ihm den Spitznamen Albino eingebracht. Heute trug er eine Anzugkombination mit dunkelvioletter Jacke und schwarzer Hose. Das hellrote Hemd war am Hals offen geknüpft.

„So, bevor Kollege Sakalewski gleich die Abstimmung der Ergebnisse aus den alten Fällen vornehmen wird, werde ich Sie über zwei Sachen informieren: Einen Neuzugang und eine neue Kommission. Ich begrüße als Neuzugang auf Zeit den Kriminalassistenten Carlos Laurenzo. Herr Laurenzo wird einige Wochen mit uns zusammenarbeiten. Ich persönlich werde mit den Kollegen sprechen, die Herrn Laurenzo unter ihre Fittiche nehmen. Für welche Aufgaben wir Kollege Laurenzo betrauen können und so weiter.“ Er schwieg, schaute in die Runde, ob jemand eine Hand hob. Als dies nicht der Fall war, räusperte er sich, bevor er weitersprach.

Knoop nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie sich jemand erhob. Weil diese Praxiskennenlerner schneller wieder verschwanden als sie gekommen waren, war ihm diese Person keine Kopfbewegung wert. Carlos Laurenzo schien sich zu verbeugen, denn eine Vielzahl von Kollegen klopfte anerkennend auf die Tischplatten.

„Herr Laurenzo, ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Fühlen Sie sich bei uns wohl und wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich getrost an mich. So, nun möchte ich Sie alle über eine neue Kommission informieren. Gestern Vormittag hat die Gruppe bestehend aus mir und den Kollegen Krüger und Wimmer die Arbeit bei einer weiblichen Leiche aufgenommen.“

Gestern? Knoop fragte sich, weshalb er das Gestern verpasst hatte. Ach ja, richtig! Er hatte gestern einen Zahnarzttermin gehabt. Das Bohren und die Wurzelbehandlung hatten ihm zugesetzt. Dazu kam der Schmerz, der ihn zum Zahnarzt getrieben hatte. Weil nichts Wichtiges auf seinem Schreibtisch lag, hatte er sich den Rest des Tages freigenommen und sich krank gemeldet. Er hätte auch den Rest des Tages an seinem Schreibtisch verbringen können, aber er hatte geglaubt, daheim am schnellsten wieder fit zu werden.

Van Gelderen fuhr indessen weiter fort: „Ich bin ja schon lange im Geschäft, aber einen solchen Fund habe ich noch nie erlebt. Sie werden gleich sehen warum. Der Name der Frau ist noch nicht bekannt. Fundort ist der Friedhof Bergheim an der Lohstraße im Bezirk Rheinhausen. Die Frau ist auf einer gepflegten Grabstelle abgelegt worden. Die Stelle war hergerichtet als liege die Leiche hier zur letzten Ruhe. Ob dies durch die Täter geschah, muss ermittelt werden. Es ist aber anzunehmen, dieses Grabarrangement geschah durch den oder die Täter. Der Fundort ist höchst wahrscheinlich auch der Tatort. Aber jetzt kommt’s. Die Leiche ist herausgeputzt worden, wie es keine Frau machen würde. Höchstwahrscheinlich nach dem Ableben wurde sie geschminkt. Wir nehmen an, von den Tätern selbst. Diese haben das Gesicht grotesk gestaltet. Wahrscheinlich will man sich so über jemanden lustig machen, oder aber eine unbekannte Person abschrecken.“

Typisch Albino, dachte Knoop. Er gibt die Erklärung schon vor, statt die Kollegen zu fragen, wie sie dieses Erscheinungsbild deuten würden. Seine Einschätzung hatten die Kollegen zu übernehmen. Leise klopfte Knoop mit dem Kugelschreiber auf seinen Notizblock.

Van Gelderen öffnete die vor ihm liegende Mappe und entnahm ihr ein Bild. Dieses zeigte er in mehrere Richtungen, bevor er es an die Magnettafel heftete. Das Gesicht hatte in der Tat etwas Clownhaftes. Der Lippenstift war zu breit aufgetragen. Die Augenhöhlen waren getuscht. Dadurch erschienen die toten Augen so als habe man sie entfernt. Das Makeup der Backen war ebenfalls eine Spur zu deutlich gerötet, so als hätte das Gesicht einen Sonnenbrand. Die Wimpern waren getuscht, aber so linkisch, weil Tuschespritzer über den Augenbrauen erkennbar waren. Die Haare sollten wohl gekämmt werden. Die Täter hatte dies aber aufgegeben, weil ihre Verfilzung ein Kämmen unmöglich machte.

Ein Raunen ging durch die Reihen. Einige machten scherzhafte Bemerkungen über die Schönheit der Frau. Aber keiner wollte angesichts der Situation so recht darüber lachen. So stellte sich die Ruhe im Besprechungszimmer quasi von selbst wieder ein.

„Die Tote ist wahrscheinlich erstochen worden. Die Obduktion läuft bereits. Wahrscheinlich werden wir heute Nachmittag schon einzelne Ergebnisse mitgeteilt bekommen. Die Gruppe, die an dem Fall arbeiten wird, trifft sich um 16.00 Uhr hier in diesem Raum. Dann werden die Ergebnisse vorgestellt. Bis dahin muss aber noch einiges getan werden.“

Knoop wusste, nun kam die Aufgabenverteilung. Seine Erfahrung besagte, man würde ihn mit wichtigen Untersuchungen kaum betrauen. Er schaltete deshalb ab und richtete seine Gedanken wieder auf den Babymord. Wie konnte er den Nachweis erbringen? Kaum hatte er sich gedanklich an den Tatort begeben, als er seinen Namen hörte. Überrascht schaute er auf. Er schaute in die ärgerliche Mine seines Chefs.

„Herr Knoop, Sie haben doch im Moment nur den Babyfall. Stellen Sie den etwas zurück.“

Wenn van Gelderen von Zurückstellen sprach, dann bedeutete dies, er, Knoop, solle diesen Babyfall nebenher machen oder einfacher ausgedrückt, neben dem Bearbeiten, was van Gelderen ihm nun auftrug. Mit keiner Mine zeigte Knoop, ob ihn dies störte. Statt dessen schaute er seinen Chef erwartungsvoll an. Dieser setzte seine Brille auf, um etwas von seinen Aufzeichnungen abzulesen.

„Bringen Sie doch in Erfahrung, ob man im Umkreis des Tatortes irgendetwas gesehen oder bemerkt hat.“ Van Gelderen lugte über den oberen Rands seiner Augengläser.

„Allein?“ Knoop gab seiner Stimme einen möglichst naiven Klang.

„Selbstverständlich!“, wurde er angemotzt. „Oder brauchen Sie dabei Hilfe?“

Knoop schüttelte seinen Kopf. Er sah mit Genugtuung, wie er mit einer kleinen Frage seinen Chef in Rage gebracht hatte. Den wütenden Blick seines Vorgesetzten erwiderte er so lange, bis dieser sich Krüger zuwandte. Krüger sollte die Suche nach Vermissten, Unfallopfern übernehmen und die Fahndung koordinieren. Knoop hörte gar nicht mehr hin. Sonst würde er sich nur ärgern, welche interessanten Aufgaben Krüger zugeteilt wurden. Er wusste, wo der Tatort lag. Der Friedhof war mit einer knapp drei Meter hohen Mauer eingefasst. Nur über einige Tore aus Schmiedeeisen konnte man die Ruhestätte betreten. Was eigentlich dazu bestimmt war, Grabschänder oder Blumendiebe während der Dunkelheit vom Betreten abzuhalten, erlaubte bei der vorliegenden Straftat nun den Tätern ziemlich ungestört, ihrem Handwerk nachzukommen. Zuerst musste er in Erfahrung bringen, wie der Zugang zum Begräbnisfeld geregelt war. Es handelte sich um eine katholische Einrichtung. Er würde zur katholischen Kirchengemeinde Rheinhausen fahren müssen.

Das Stühlerücken brachte Knoop wieder in die Gegenwart zurück. Die Kollegen machten sich auf den Weg zu ihren neuen oder alten Aufgaben. Van Gelderen schien alle anfallenden Aufgaben verteilt zu haben. Auch Knoop erhob sich. In seinem Arbeitszimmer verriet ihm das Telefonbuch, wo er die Kirchengemeinde finden würde.

Duisburg Rheinhausen, 19. April

Der Friedhof an der Lohstraße lag nördlich des Toeppersees, einer Freizeitattraktion der Stadt Duisburg auf der anderen Seite des Rheines. Die Grabfläche war nicht sehr groß. Die enorme Ausdehnung der Stadt Duisburg im letzten Jahrhundert hatte sie vollständig umbaut. Viele Häuser hatten allerdings ihren Garten zum Friedhof ausgerichtet. So war die letzte Ruhestätte eine grüne Oase, denn hohe Bäume an ihrem Rand verdeckten die Häuserzeile.

Knoop hatte die B40 genommen, um nach Rheinhausen zu gelangen. Die katholische Kirchengemeinde war in einem Backsteingebäude nahe der St. Marienkirche an der Lindenstraße untergebracht. Hier hatte er erfahren, dieser Friedhof, wie alle katholischen Friedhöfe, wurde gegen 20 Uhr abgeschlossen. Im Winter sogar kurz vor der Dunkelheit. Aufgeschlossen wurden er um 7 Uhr. Knoops Entgegnung, wie es denn möglich gewesen war, in den frühen Morgenstunden dort einen Mord zu begehen, war mit der lapidaren Antwort beschieden worden, das könne nicht sein. Eine solche Ignoranz zeigte dem Kommissar, jede Minute seiner Zeit war hier vergeudet.

Um diese frühe Uhrzeit fand er problemlos einen Parkplatz. Die Lohstraße lag jetzt ziemlich einsam dar. Knoop konnte sich vorstellen, wie wenig man nachts hier auf Zeugen traf. Der Friedhofsgärtner war schwierig zu finden. In einer abgelegenen Ecke der Anlage schob er die Kompostabfälle zusammen. Als Knoop ihn nach den Öffnungs- und Schließzeiten fragte, bekam er die gleiche Antwort wie von der Angestellten in der Kirchenverwaltung. Auch als er den Zeitpunkt des Mordes anführte, hatte der Mann nur ein hilfloses Lächeln für ihn übrig. Er zuckte mit den Schultern. Er glaubte, damit aus dem Schneider zu sein. Deshalb wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

„Sie erleichtern mir die Untersuchung ungemein. Ich nehme Sie wegen Mordes fest.“ Der Arbeiter schaute sprachlos in Knoops Gesicht. Knoop machte eine kreisende Bewegung mit seinem Arm. „Schauen Sie sich die hohen Mauern an. Keiner klettert hier herüber und dann noch mit einem Opfer unter dem Arm. Wie Sie sagten, waren alle Tore abgeschlossen. Da nur Sie einen Schlüssel dazu haben, müssen Sie der Mörder sein. Packen Sie ihre Sachen zusammen. Ich nehme Sie jetzt mit.“

Der Mann in dem grünen Arbeitsdress ließ seinen Unterkiefer sinken, wie auch die Grabgabel, und schaute Knoop an, so als käme dieser direkt vom Mars. Er stotterte in einem fort, brachte aber keinen vernünftigen Satz über die Lippen. Knoop gab ihm Gelegenheit, Ordnung in dessen Gedanken zu bringen. Und richtig. Mit Erleichterung gab er zu, manches Mal auch ohne Abschließen nach Hause zu gehen. Aber dieses dürfte keiner von der Verwaltung wissen. In seinen Gesichtszügen spiegelte sich, wie peinlich ihm all das war. Ein unscheinbares Lächeln spielte sekundenlang über die Lippen von Knoop. Der Friedhof wurde also selten abgeschlossen. Dies musste allgemein bekannt sein. Vielleicht nicht der Friedhofsverwaltung, aber der Bevölkerung sicherlich. Vor allem der oder die Täter mussten das gewusst haben.

Bei der Dienstbesprechung hatte van Gelderen nicht gesagt, wer die Leiche gefunden hatte, oder Knoop hatte nicht zugehört. Nur sein Gegenüber konnte dafür infrage kommen. „Wie haben Sie die Tote gefunden?“

Der Friedhofsarbeiter atmete tief durch. Zufriedenheit kehrte in seine Gesichtszüge zurück. „Das Grab liegt auf dem Weg zum Kompostbehälter Vier. Sie lag einfach so da als ob Sie schliefe. Ich bin zu ihr hin. Das Rütteln war sinnlos. Dabei rutschte der Schal zur Seite. Darunter war nur Blut. Da habe ich mir gedacht, die ist tot. Mit dem Handy habe ich die Polizei gerufen.“ Er zog eine kleine Ledertasche aus der Hose. Damit demonstrierte er die Wahrheit seiner Aussage. Knoop wusste sofort, neben der Toten würde es keine Fußabdrücke geben. Der gute Mann hatte alles zerstört als er neben den Körper trat.

Am Tatort arbeitete nur ein Kollege der Kriminaltechnik. Die Absperrbänder hingen noch in den Befestigungen und schaukelten leicht im Wind. Er war damit beschäftigt, Fingerabdrücke von den Flächen zu nehmen, die einen Abdruck zuließen. Er hatte eine Reihe von Abdrücken genommen, aber diese waren seiner Einschätzung nach zu alt. Auch Fußabdrücke hatte man nicht finden können, weil hier jeder auf dem Grab herumgelatscht war, wie er sich ausdrückte. Auch im nahen Umkreis war man nicht fündig geworden. Täter und Opfer sowie die Zuschauer waren über den Schotterweg zum Grab gekommen.

Am Parkplatz vor der Mauer befand sich ein Blumengeschäft. Eine Frau trug Pflanzen in Kästen nach draußen. Das sporadisch auftretende Sonnenlicht reflektierten ihre Farben. Die Frau beendete diese Tätigkeit, weil sie in dem Näherkommenden einen Kunden vermutete. Als Knoop sich auswies, verschwand ihre übertriebene Freundlichkeit. Die Bedienung hatte von dem Mord gehört. Sie war offensichtlich froh, jemanden gefunden zu haben, der sie aus ihrer Langeweile befreite. Wortreich erklärte sie dem Polizisten, was sie wusste. Alles, was sie sagte, deckte sich im Grunde mit dem, was er bei der Dienstbesprechung erfahren hatte. Aber gesehen hatte Sie von dem Verbrechen nichts. Als sie ihre Arbeit aufnahm, war die Polizei schon da gewesen. Das brachte Knoop nicht weiter.

Duisburg Dellviertel, 19. April

Es war Mittagszeit. Knoop hatte in der Kantine des Präsidiums gerade noch etwas zu Essen bekommen. Frikadelle mit Schwarzwurzeln hatte auf der Speisekarte gestanden und seinen Appetit erregt. Maria, die Pächterin der Kantine, hatte auf den Teller mehr angehäuft als sonst üblich war. Es gab um diese Zeit außer ihm keine Kunden mehr.

„Puh, soviel? Soll ich das alles essen? Du stehst wohl auf dicke Männer?“ Knoop grinste über beide Backen.

Maria unterbrach ihre Tätigkeit, mit einem Tuch Ablageflächen zu reinigen. Während sie den Lappen ausspülte, drehte sie sich zu Mikael. „Es ist doch nur der Rest. Es wäre zu schade. Sonst muss ich es wegwerfen.“

„Ich sehe mich also als guten Christen, der die Sünde, Lebensmittel zu vergeuden, aktiv bekämpft. Ich erinnere mich an meine Mutter. Mit dem gleichen Argument hat sie durch mich ihre Töpfe leer bekommen. Sie hat immer...“

„Mache keine Sprüche Mikael. Sonst ist alles kalt, wenn du mit deiner Jugendbeichte fertig bist.“ Maria verschwand in einen der hinteren Räume der Kantine.

Knoop setzte sich an einen der langen Resopaltische und aß ungestüm die riesige Portion. Er liebte Frikadelle und Schwarzwurzeln. Als der Teller geleert war, stöhnte er auf. Er klopfte auf seinen Magen. Sein Kompliment über das vorzügliche Essen hörte keiner.

Die Zeit von van Gelderens anberaumter Besprechung war gekommen. Aus allen Türen strömten Personen zum Besprechungsraum. Der Chef kam zu spät. Dies war selten der Fall. Gewöhnlich belegte er die zuspätkommenden Kollegen mit ärgerlichen Blicken. Van Gelderen machte einen gehetzten Eindruck. In seinem Schlepptau segelte Norbert Liesner. Liesner war einer der Gerichtsmediziner. Duisburg musste seine erste Anstellung sein, denn er musste Anfang Dreißig sein. Er hatte seine Haare nach vorne gekämmt, um wohl seine Geheimratsecken zu verdecken. Die Haare wurden vorne beschnitten. Dabei liefen sie über der Nase spitz zu. Liesners Anwesenheit deutete an, die Ergebnisse der Obduktion lagen vor. Knoop war neugierig, wie diese aussahen.

Liesner räusperte sich mehrmals, bevor er seine Worte fand. „Also. Die Leiche ist am Fundort erstochen worden. Es handelt sich um eine fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alte Frau. Sie ist ein südländischer Typ. Ich schätze, diese Bewohnerin kommt aus dem Balkan oder vielleicht auch aus dem Nahen Osten. Genaueres kann ich erst später sagen, wenn die Genanalyse komplett vorliegt. Sie ist knapp über einenmeterfünfundsechzig groß. Die Mordwaffe ist ein einschneidiges breites Küchenmesser. Der Stichkanal verläuft von unten nach oben. Der Verlauf lässt den Schluss zu: Der Täter muss viel größer sein als das Opfer. Erstaunlich ist, dass die Tote keinerlei Abwehrhandlungen unternommen hat. Unter ihren Fingernägeln ist Schmutz, aber keine organischen Spuren wie Haut oder Gewebe. Eine Möglichkeit kann sein, dass sie unter starken Nachwirkungen von Rauschmitteln stand. Wahrscheinlich synthetische Drogen. Dies wird aber die weitere Blutuntersuchung ergeben. Die anderen Untersuchungen laufen noch. Habt ihr Fragen?“

Duisburg Röttgersbach, 19. April

Knoop war über die A42 und A59 nach Hause gefahren. Er sah keinen Sinn mehr darin, seine Zeit nur im Präsidium abzusitzen. Er hatte dabei überhaupt kein Unrechtsgefühl, wollte er sich doch heute Nacht um vier Uhr am Tatort umsehen. Verlagerung seiner Arbeitszeit nannte er so etwas. Er parkte seinen Audi unter den Carport. Der Wagen seiner Frau war nicht da. Er würde also die nächste Zeit alleine verbringen müssen. Ein Unmutsgefühl machte sich in ihm breit. Viel lieber hätte er jetzt gerne etwas mit seiner Familie unternommen. Als er die Haustüre aufschloss, stellte er fest, sie war nicht abgeschlossen. Er wollte gerade darüber nachgrübeln, warum Christel das Haus unverschlossen zurückgelassen hatte als ihn AnnaLena ansprang. Die Umarmung war ein bisschen zärtlicher als sonst, aber Knoop dachte sich nichts dabei. Als ihm seine Tochter berichtete, nicht mit Mami einkaufen gegangen zu sein, weil sie Hausaufgaben zu erledigen hatte, da runzelte er unmerklich seine Stirn. Er dachte sich aber noch nichts dabei. Schließlich sollte man solche Initiativen nicht durch Spott oder falsch verstandene Bemerkungen abwürgen. Knoop setzte sich in seinen Fernsehsessel, kippte die Mechanik des Stuhls nach hinten und griff nach seiner Tageszeitung.

„Papi, soll ich dir eine Tasse Kaffee kochen?“

AnnaLena war also nicht zu ihren Schulaufgaben gegangen, sondern hatte ihn beobachtet. Ein solches Angebot machte seine Tochter recht selten. Jetzt war ihm langsam klar, AnnaLena hatte etwas auf ihrer Seele. Was, da war er sich sicher, würde er in absehbarer Zeit erfahren. Obwohl er keinen Kaffee wollte, nickte er. „Ja, mein Schatz. Kannst du mir einen Cappuccino bringen?“

Die Familie Knoop hatte sich mit Unterstützung seiner Schwiegermutter zu Weihnachten einen Kaffeeautomaten zugelegt. Vier oder fünf verschiedenen Kaffeesorten konnte diese Maschine aufbrühen. Die Bedienung war kinderleicht und die Tochter des Hauses hatte es als ihren Beitrag zum Familienleben deklariert, diese Dienstleistung zu erbringen.

„Kommt sofort, Pa.“

Bei jedem ihrer Sprünge wippte der rote Plisseerock auf und nieder und der Pferdeschwanz wackelte wild hin und her. Knoop hörte sie in der Küche hantieren. Knoop hatte den ersten großen Artikel in der Zeitung noch nicht zu Ende gelesen, als AnnaLena den gewünschten Kaffee servierte. Weiß der Teufel, woher es kam, auf jeden Fall lag auf der Untertasse ein Plätzchen. Alles sah so aus als befände er sich in einem Cafe.

„Bitteschön“, ertönte die lebhafte Stimme der Kleinen.

Knoop stellte sich dumm. Er nahm einen Schluck, machte eine zustimmende Kopfbewegung und hob die Zeitung in Lesestellung. Wie er vermutet hatte, blieb seine Tochter auf dem Sofa neben ihm sitzen. Vorsichtig verschob er langsam die Zeitung. So konnte er unbemerkt einen Teil des Mädchenkörpers sehen. Er verhielt sich aber weiter so, als sei er in der Lektüre dieses Papiers vertieft. AnnaLena wippte nervös mit ihren Beinen. Er hatte ein paar Kurzmeldungen gelesen, als eine zaghafte Stimme die Ruhe im Raum beendete.

„Papa!“

Knoop gab vor, sich voll auf das Lesen zu konzentrieren.

„Papa!“ Die Stimme klang jetzt energischer. Außerdem wurde er an seinem linken Knie geknufft. Er tat so als schreckte er auf.

„Ja, was ist denn, mein Schatz?“

„Papa, ich habe da eine Frage. Die Oma will sich ein neues Handy kaufen.“

Knoop zuckte mit den Schultern. Er konnte sich vorstellen, was seine Tochter wohl wollte, aber er legte Wert darauf, das AnnaLena lernte, ihre Wünsche zu formulieren. „Oma kann mit ihrem Geld kaufen, was sie möchte.“

„Das meine ich auch nicht.“ Die Kinderstimme klang hilflos. Knoop war nicht gewillt, seiner Tochter in irgendeiner Weise entgegenzukommen. Wenn sie was wollte, dann sollte sie ihren Wunsch klar und deutlich äußern. Er hob wieder das Blatt hoch. Erneut wurde er angestupst.

Seine Tochter nahm allen Mut zusammen. „Papa, ich kann das alte Handy dann bekommen.“

„Hast du Geld, um es zu bezahlen?“

„Das bekomme ich geschenkt. Es geht um die Kosten.“

Knoop war sich sicher, die ganze Wahrheit hatte er bislang noch nicht gehört. „Aber du hast doch seit einem Jahr mein altes Handy. Da konntest du doch die Telefonkosten vom Taschengeld bezahlen. Wo ist denn das Problem?“ Knoop musste ihr entgegenkommen.

AnnaLena verzog ihren Mund. „Ja, weiß du, dies ist kein normales Handy.“

Knoop juckte es, zu bemerken, es gäbe keine anormalen Handys, aber er wollte das Gespräch nicht auf die Spitze treiben. „Hat die Oma nicht ein Smartphone?“

„Genau, und dieses kostet aber etwas mehr im Monat als du vielleicht denkst.“