Der Frauenjäger - Petra Hammesfahr - E-Book + Hörbuch

Der Frauenjäger Hörbuch

Petra Hammesfahr

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Beschreibung

«Dieses Leben bringt mich um.» So lautete die erste Zeile in einem Taschenbuch, das seit Wochen in Marlenes Wohnzimmer lag. Lesen mag sie es nicht. Es ist angeblich eine wahre Geschichte. Sie handelt von Mona, die alles hatte, wovon andere träumen. Und trotzdem wurde Mona depressiv, ließ sich mit einem mysteriösen Mann ein und verschwand vor drei Jahren spurlos. Auch Marlene hat alles: einen liebevollen, erfolgreichen Ehemann, zwei wohlgeratene Kinder. Sie weiß, wie es ist, wenn das eigene Leben zum Gefängnis wird. Darum will Marlene eigentlich auch nicht zur Lesung, die in der Buchhandlung ihrer Freundin Annette stattfindet. Doch sie lässt sich überreden, nicht ahnend, dass dieser Abend ihr Leben verändern wird. Denn sie lernt Monas Schwester Heidrun kennen. Von ihr erfährt sie, dass Mona nur eine von vielen verschwundenen Frauen ist. Nur wenige Stunden später stirbt Heidrun bei einem Autounfall. Einziger Zeuge: Marlenes Mann …

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Zeit:13 Std. 31 min

Sprecher:Christina Puciata
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Petra Hammesfahr

Der Frauenjäger

Roman

Prolog

Es war die Schuld seiner Mutter, einzig und allein ihre Schuld, daran gab es nichts zu rütteln. Sie hatte ihm schon früh diesen Abscheu eingeimpft, aus dem später Verachtung und irgendwann Hass geworden waren. Abgrundtiefer Hass auf alle Weiber, die so waren wie sie.

Wenn er aus der Schule kam, so mit elf, zwölf Jahren, hatte sie ihm oft im Morgenmantel die Haustür geöffnet. Manchmal trug sie gar nichts darunter, manchmal Unterwäsche, die diesen Ausdruck nicht verdiente. Das Make-up in ihrem Gesicht war zerlaufen, der Lippenstift verschmiert. Und sie, ihr Bett, das ganze Schlafzimmer stank nach Kerl, war erfüllt von den Ausdünstungen zweier Körper, die das miteinander getrieben hatten, was sie als «guten Sex» bezeichnete.

Mit seinem Vater hatte sie nie guten Sex gehabt, nur ehelichen Beischlaf. «Den Unterschied wirst du hoffentlich feststellen, wenn du älter bist, Schätzchen», sagte sie einmal zu ihm. Da war er dreizehn oder vierzehn und hasste es, wenn sie ihn Schätzchen nannte. Ihn schüttelte der Ekel, wenn sie ihm das Gesicht mit dem schweißfleckigen Make-up hinhielt, die verschmierten Lippen spitzte und fragte: «Was denn, kriege ich heute keinen Kuss?»

Sie küsste ihn grundsätzlich auf den Mund. Und mit dreizehn, vierzehn wusste er längst, dass sie kurz vorher den Schwanz von irgendeinem Kerl gelutscht hatte.

Im Laufe der Zeit hatte sie viele Kerle. Zu Gesicht bekam er nur selten einen. Meist kamen sie vormittags, wenn er in einem Klassenraum saß und «nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernte». Was für ein Quatsch! Nichts von dem, was er fürs Leben brauchte, hatte er in der Schule gelernt.

Sein Vater schuftete währenddessen bei fünfzig oder noch mehr Grad in einer Aluminiumgießerei, um der Schlampe ein angenehmes Leben zu bieten und ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Sie musste nur eine Andeutung machen, dann überschlug sich der Alte, um sie zufriedenzustellen.

Sein Vater war fünfzehn Jahre älter als sie, ein großer, bulliger Mann, vor dem viele einen Heidenrespekt hatten. Hätte man ihm eine Lederjacke mit entsprechenden Schriftzügen angezogen und ihn auf ein Motorrad gesetzt, die halbe Welt hätte Reißaus vor dem vermeintlichen Höllenengel genommen. Er sah aus, als könne er mit Leichtigkeit ein Gesicht zu Brei schlagen. Aber er hatte das Gemüt eines Schafs, ließ sich von der Schlampe ausnutzen und auf der Nase herumtanzen, statt sie einmal in die Schranken zu weisen.

Sein Vater tat immer so, als wüsste er nicht, dass sie fremde Kerle ins Ehebett ließ, während er sich an der Aluminiumpresse die Seele und seinen Stolz aus dem Leib schwitzte. Aber vermutlich wusste er es ganz genau, litt wie ein getretener Hund und fraß den Schmerz in sich hinein, bis der ihn umbrachte.

Herzinfarkt mit achtundfünfzig, auf der Fahrt zur Arbeit, Kontrolle übers Auto verloren und so weiter. Als die Rettungskräfte an der Unfallstelle eintrafen, war sein Vater bereits tot. Allerdings war er nicht an dem Infarkt gestorben, sondern an einem Genickbruch. Für die Schlampe zahlte sich das in barer Münze aus, weil der Tod damit als Unfallfolge durchging.

Er war neunzehn, seine Mutter dreiundvierzig. Sie bezog fortan Witwen- und Unfallrente, und nicht zu knapp. Finanzielle Sorgen kannte sie auch nach dem «tragischen Verlust ihres geliebten Gatten» keine. Sie erdreistete sich tatsächlich, es so in eine Anzeige setzen zu lassen. Nur die Kerle wurden weniger, weil sie nicht jünger wurde und ihre Ansprüche nicht herunterschraubte. Was altersmäßig zu ihr passte, war ihr nicht scharf genug.

Sie wurde unleidlich, begann ihn herumzukommandieren und zu schikanieren. Sie erwartete allen Ernstes, dass nun er sprang, wenn sie pfiff, wie der Alte es zuvor getan hatte. Bis er sie eines Besseren belehrte. Und nicht nur sie. Es gab ja noch mehr, die sich auf Kosten eines Mannes einen schönen Lenz machten und fremdgingen auf Deibel komm raus.

Diese Weiber aus der Welt zu schaffen, das war seine Bestimmung. Für ihn waren sie nicht einmal wert, bei ihren Namen genannt zu werden. Ihnen eine Nummer zu geben reichte in seinen Augen und für sein Archiv vollkommen aus.

Nummer eins gabelte er spätabends an einer Bushaltestelle auf. Obwohl das mittlerweile einige Jährchen zurücklag, erinnerte er sich noch genau an jede Einzelheit, was daran liegen mochte, dass er an dem Abend ziemlich nervös gewesen war.

Losgefahren war er mit dem Vorsatz, eine Schlampe aufzulesen, und zwar so, dass es keine Zeugen gab, die ihn mit ihr sahen und der Polizei später, wenn sie vermisst wurde, eine Beschreibung von ihm oder seinem Fahrzeug geben konnten. Aber er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte. Ob er aussteigen und eine überwältigen müsste, die so spät noch allein unterwegs war. Wie er es vermeiden könnte, dass sie um Hilfe schrie. Dass er sie gleich betäuben müsste, damit sie sich nicht wehrte, hatte er überlegt. Und dann war es so einfach.

Sie war erst Anfang zwanzig, stand da und winkte hektisch, als er sich näherte. Als er neben ihr hielt, sprang sie regelrecht auf den Beifahrersitz. Mit ihr kam ein Schwall feuchtkalter Luft herein. Es war November, und es nieselte. Angeblich war ihr der letzte Bus vor der Nase weggefahren. Der nächste käme erst morgen früh um Viertel nach fünf, behauptete sie. Möglich, dass es zutraf, er stieg nicht aus, um sich auf dem Fahrplan vom Wahrheitsgehalt ihrer Worte zu überzeugen.

Sie hatte eine Reisetasche dabei, die sie auf ihrem Schoß hielt, bis er sie von dem Teil befreite und es nach hinten auf die Rückbank warf. Da wusste er schon, dass ihr Freund sie vor die Tür gesetzt hatte, weil sie kein Kind von Traurigkeit und ihr Freund angeblich krankhaft eifersüchtig war.

Vor lauter Erleichterung, nicht die ganze Nacht in der feuchten Kälte stehen zu müssen, sprudelte sie förmlich über. Ihrem Freund würde das bald leidtun. Es sei nicht das erste Mal, dass er sie rausgeworfen hätte. Und bisher habe er noch immer nach spätestens zwei Tagen reumütig angerufen, sie um Verzeihung gebeten und angefleht zurückzukommen, weil er ohne sie nicht leben könne.

Deshalb wolle sie nicht zu weit weg und keinesfalls zu ihren Eltern. Die würden nur wieder ihrem Freund recht geben und ihr Vorträge über einen ordentlichen – sprich antiquierten – Lebenswandel halten.

«Ich brauche nur vorübergehend eine Unterkunft», sagte sie. «Ein preiswertes Hotel oder eine billige Pension. Du kennst nicht zufällig was in der unteren Preisklasse?»

Das nicht, aber er kannte einen Ort, an dem sie nicht mit Geld bezahlen musste. Genauso drückte er das aus und ergötzte sich an ihrer Dämlichkeit. Sie verstand es natürlich falsch, freute sich auch noch über sein Angebot, legte ihm eine Hand aufs Bein und schnurrte wie ein zufriedenes Kätzchen. «Lieb von dir. Du wirst es nicht bereuen.» Tat er auch nicht. Sie bereute. Knappe sechs Tage lang. Die meiste Zeit bei vollem Bewusstsein.

Nummer zwei war schon Ende dreißig und hätte ein Zwilling seiner Mutter sein können – nicht nur vom Äußeren her. Er las sie vor einer Kneipe auf. Sie war total betrunken und machte ihn dermaßen unverschämt an, dass er unweigerlich dachte, sie sei früher mal auf den Strich gegangen.

Ihr Mann schuftete als selbständiger Handwerker täglich bis weit in die Nacht hinein, damit sie es warm und gemütlich hatte. Und sie fühlte sich vernachlässigt, brauchte ab und zu was fürs Herz, brauchte das Gefühl, noch eine Frau zu sein, nach der Männer sich umdrehten, erzählte sie ihm während der Fahrt. Da glaubte sie noch, sie würde in seinem Bett landen. Sie hielt nicht mal vier volle Tage durch.

Mit Nummer drei und Nummer vier ließ er sich im Vorfeld mehr Zeit, beobachtete sie wochenlang, folgte ihnen auf Schritt und Tritt. Die Genugtuung war einfach größer, und er konnte sich seiner Sache vollkommen sicher sein, weil er sie besser kennenlernte, ehe er sie aus der Welt schaffte. Danach blieb er wochenlang in der Nähe ihrer Angehörigen.

Und wie oft bedauerte er, dass der Freund von Nummer eins, der biedere Handwerker und die Männer von Nummer drei und vier nie erfahren durften, was er für sie getan hatte. Ihren größten Fehler korrigiert, sie von einer Schlampe befreit, von der sie sich selbst nicht hatten befreien können, weil sie zu schwach, zu nachsichtig oder beides waren. Nach seinem Eingreifen konnten sie neu beginnen mit einer Frau, die es vielleicht eher verdiente, geliebt zu werden.

Von Zeit zu Zeit schaute er nach dem Rechten und genoss diesen Triumph, den er leider mit keiner Menschenseele teilen konnte. Andere hätten sein Handeln wahrscheinlich nicht verstanden und dafür gesorgt, dass polizeiliche Ermittlungen gegen ihn eingeleitet wurden. So lebte er völlig unbehelligt in der Gewissheit, dass sein Tun gut und richtig war.

Dem Freund von Nummer eins ging es ohne das Weib entschieden besser. Er hatte schon kurz nach dem Verschwinden der Schlampe ein nettes, anständiges Mädel kennengelernt und ein Jahr später geheiratet. Mittlerweile war er stolzer Vater von zwei hübschen, gescheiten Kindern.

Der biedere Handwerker hatte sich mit einer Witwe zusammengetan, die zwar keine Schönheit war, aber gerade deswegen sehr bemüht um den Mann. Der Mann von Nummer drei war eine Zeitlang untröstlich gewesen, hatte den Verlust nur schwer verkraftet. Aber inzwischen hatte auch er einen Ersatz gefunden – eine Polizistin, bei der er ständig nach neuen Erkenntnissen gefragt hatte. Das Schicksal ging seltsame Umwege, um doch noch die Menschen zusammenzubringen, die füreinander bestimmt waren und einander zu schätzen wussten.

Der Mann von Nummer vier lebte seit zwei Jahren mit einer Kollegin zusammen, die sich rührend um ihn und den kleinen Sohn der Schlampe kümmerte. Weil sie nun selbst schwanger war, bemühte der Mann sich um eine Scheidung in Abwesenheit. Für tot erklären lassen konnte er seine vermisste Frau noch nicht. Es gab keine Leiche, und es war noch keine zehn Jahre her.

Der Mann von Nummer fünf… Das war ein Kapitel für sich, eine ärgerliche Geschichte, äußerst ärgerlich, die ihn aber nicht davon abhielt weiterzumachen.

Freunde

Nummer neun

Es war schwarz ringsum, nicht nur dunkel, was früh um sechs an einem eisigen Januarmorgen noch normal gewesen wäre, obwohl Werner den Rollladen nie vollständig herabließ. Es blieben immer Ritzen, die sich auf der gegenüberliegenden Wand abzeichneten, und sei es nur als schwaches, grau-gelbes Muster, hervorgerufen von einer Laterne neben dem Weg am Bach, der hinter ihrem Garten vorbeiführte.

Es gab kein Muster, weil es kein Fenster gab und keine Wand. Marlene Weißkirchen erwachte nicht in ihrem Schlafzimmer, in dem ihr Mann regelmäßig neben dem Bett sein frühmorgendliches Fitnessprogramm absolvierte, während sein Radiowecker sie mit Musik, Werbeeinblendungen und den stündlichen Nachrichten aus dem meist viel zu kurzen Schlaf plärrte. Sie erwachte auch nicht kurz vor sechs in der Frühe wie sonst an einem Wochentag. Aber wie spät es war, als ihr mühsames Auftauchen aus tiefer Bewusstlosigkeit begann, konnte nie geklärt werden.

Zuerst registrierte sie ihre unbequeme, schmerzhafte Lage – wie auf dem Nagelbett eines Fakirs. An unzähligen Stellen pikste und stach es. Allerdings war sie nicht imstande, etwas dagegen zu unternehmen. Ihr Körper fühlte sich an, als gehöre er nicht zu ihr. Arme und Beine spürte sie gar nicht. Und in ihrem Kopf schien sich eine Horde fleißiger Handwerker eingenistet zu haben, die eifrig bohrten, hämmerten und mit spitzen Werkzeugen auf die Schädeldecke einstachen.

Die Lider klebten an den Augäpfeln, wollten sich partout nicht lösen. Ihre Lippen pappten ebenfalls aufeinander wie zugeschweißt. Als es ihr nach geraumer Zeit gelang, die Zungenspitze zwischen die Lippen zu schieben, schmeckte sie Blut. Bei den vorangegangenen Versuchen, den Mund zu öffnen, waren ihre spröden Lippen eingerissen.

Die rasenden Kopfschmerzen suggerierten ihr, sie hätte wieder mal höchstens zwei oder drei Stunden geschlafen. Und der Druck im Magen machte sie glauben, sie wäre irgendwann in der Nacht aufgestanden, um doch noch eine von den freiverkäuflichen Schlaftabletten zu nehmen, die sie nicht gut vertrug und nur nahm, wenn sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste.

Werner riet ihr regelmäßig zu Baldrian, wenn er mitbekam, dass sie dieses Teufelszeug, wie er die Schlaftabletten nannte, schluckte. Baldrian! «Da kann ich auch Bonbons lutschen», hatte sie protestiert, nachdem er sie am Mittwoch der vergangenen Woche kurz vor zwölf geweckt hatte und sie danach gar nicht mehr zur Ruhe gekommen war.

Ein ganz normales Leben

Bis zu dem Mittwoch, an dem ihr Mann sich mitten in der Nacht mit blutdurchtränktem Hemd über sie gebeugt hatte, war in Marlene Weißkirchens Leben alles nach Plan– Werners Plan – verlaufen. Was nicht bedeutete, dass sie rundum zufrieden gewesen wäre.

Sie hatte den Ausstieg aus ihrem Hausmütterchendasein verpasst und litt mal mehr, mal weniger darunter. Ihre Freundinnen hatten es geschafft oder zwangsläufig schaffen müssen.

Annette verkaufte Bücher, las natürlich auch viele und nicht bloß solche, die ihr persönlich gut gefielen. Annette konnte überall mitreden. Wenn ihr Mann mit blöden Witzen ins Fettnäpfchen trat und es betretene Mienen gab, konnte Annette mit mindestens vier brisanten Themen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und eine heiße Diskussion anzetteln.

Karola, deren Mann sich vor dreieinhalb Jahren aus dem Staub gemacht hatte, arbeitete seitdem beim lokalen Rundfunk, kannte Gott und die Welt und den Pressesprecher der Kreispolizeibehörde. Karola war stets informiert über die aktuelle Verbrechensrate, versorgte den halben Kreis mit guten Ratschlägen in allen Lebenslagen, wurde von zahlreichen Hörerinnen verehrt, bekam Fanpost – an den Sender adressiert–, hin und wieder sogar Heiratsanträge. Aber da sie sich nicht zur Scheidung von ihrem Absetzer aufraffen konnte… «Da müsste ich erst mal wissen, wohin ich ihm die Post vom Anwalt schicken lassen sollte.»

Ulla verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie bei Scheidweber & Co. Einem Landmaschinenhersteller, der sich vor mittlerweile drei Jahrzehnten im städtischen Industriegebiet angesiedelt hatte. Ihr Mann arbeitete in der Herrenabteilung des Einkaufscenters und stotterte mit seinem Lohn Schulden ab, womit er voraussichtlich noch bis ins Rentenalter beschäftigt war.

Und Marlene lebte auf Werners Kosten entschieden besser als die drei anderen.

Seit der Grundschule waren die vier Frauen befreundet. Es hatte sie mal einer als vierblättriges Kleeblatt bezeichnet, weil sie unzertrennlich waren. Ein verschworenes Grüppchen, zusammengeschweißt von einer Menge Unsinn, Albernheiten, gemeinsamen Erfahrungen und gemeinsamen Zukunftsplänen, die letztlich nicht in Erfüllung gegangen waren.

Ob Kino oder Disco – keine von ihnen hatte je etwas allein unternommen. Mit siebzehn waren sie in Jenseits von Afrika gewesen. Ulla hatte am Ende geseufzt: «War das schön. Wir wissen gar nicht, was wir versäumen mit unseren Taschenrechnern und Durchlauferhitzern.»

Und Karola hatte entschieden, dass ihr Zukünftiger wie Robert Redford aussehen und ein Abenteurer sein müsse.

Ein Zukünftiger war zu der Zeit noch nicht in Sicht, weil es doch mit einem nicht getan war. Man stelle sich nur vor, eine von ihnen hätte sich verliebt, und der Auserwählte hätte die anderen drei nicht leiden können.

Nach dem Abitur trennten sich ihre Wege tagsüber, aber nur wochentags. Marlene wurde bei einem Versicherungskonzern ausgebildet, Ulla in einem Autohaus, Annette im Buchhandel. Und Karola begann ein Studium– Archäologie und Ägyptologie, weil ihr immer noch ein Robert-Redford-Verschnitt im Hinterkopf tickte, der ihr mitten in der Wildnis die Haare wusch.

Mit neunzehn zogen sie an einem Samstagabend zu viert durch einige Kölner Discotheken, bis Karola auf ein Quartett junger Männer aufmerksam wurde und sagte: «Mädels, wenn ich mich nicht verzählt habe, sind wir hier genau richtig. Ich nehme den im blauen Hemd. Teilt den Rest unter euch auf.»

Der im blauen Hemd war Werner Weißkirchen, der Rest seine Freunde: Andreas Jäger, Christoph Barlow und Matthias Kranich. Die vier Männer waren ebenfalls seit der Schulzeit befreundet. Christoph nannte es mal einen von diesen Wahnsinnszufällen, die man in Romanen als unwahrscheinlich und unglaubwürdig abtut.

Bei näherer Betrachtung war Werner alles andere als Karolas Typ. Er sah nicht aus wie Robert Redford, sondern eher wie Peter Strauss, der Rudy Jordache aus der Fernsehserie Reich und Arm, von der Marlenes Mutter in den siebziger Jahren selten eine Folge verpasst hatte. Abgesehen davon, hatte er mit Abenteuern rein gar nichts im Sinn.

Werner war Bankkaufmann, allerdings keiner von den Zockern, die sich eine goldene Nase verdienten, indem sie anderer Leute Geld verspekulierten. Er war im Kreditwesen tätig, brauchte für alles Sicherheiten und machte Pläne, an die er sich hielt.

Zwischen seinen leger gekleideten Kumpels, die sich auf der Tanzfläche bereitwillig wie Hampelmänner benahmen, um beim anderen Geschlecht Eindruck zu schinden, wirkte er steif, spießig und hausbacken. Dabei war er ein ausgezeichneter Tänzer. Er hielt nur nichts von Discogezappel.

Nach Karolas Hinweis auf das Quartett sagte Annette: «Nicht so voreilig. Hier werden weitreichende Entscheidungen getroffen. Du kannst nicht über unsere Köpfe hinweg bestimmen, wer wen aufs Korn nimmt. Unter Umständen versauen wir uns damit den ganzen Abend.»

Ulla stimmte zu: «Dem schließe ich mich an. Überlassen wir es doch erst mal den Jungs. Tauschen können wir immer noch, wenn wir meinen, dass eine andere Konstellation günstiger wäre.»

Marlene äußerte sich nicht. Das tat sie eigentlich nie. Zwischen Karola, Annette und Ulla kam sie nur selten zu Wort. Bei Werner versuchte sie es gar nicht erst, er wusste ohnehin alles besser. Was nicht bedeutete, dass er besserwisserisch aufgetreten wäre. Er wusste tatsächlich schon mit zweiundzwanzig eine Menge mehr als andere. Und er hatte von der ersten Sekunde an nur Augen für sie.

Verstanden hatte Marlene das bis heute nicht. Sie war nicht hässlich, aber auch nicht so hübsch und stark wie Ulla. Sie war nicht dumm, jedoch längst nicht so gescheit und schlagfertig wie Annette. Sie war nicht feige, allerdings auch nicht so wagemutig, wortgewandt und phantasiebegabt wie Karola.

Sie war Durchschnitt, hatte zwischen zwei Brüdern daheim und im kleinen Kreis ihrer Freundinnen stets das Gefühl, nicht genug Präsenz aufbieten zu können, um als Individuum wahrgenommen zu werden. Und Werner hob sie aus der Unscheinbarkeit heraus.

Karola hatte mal in einer Illustrierten gelesen, der Geruchssinn spiele bei der Partnerwahl eine entscheidende Rolle, auch wenn einem das gar nicht wirklich bewusstwürde. Seit Karola ihr das erzählt hatte, dachte Marlene manchmal, Werner hätte in ihr auf Anhieb die Partnerin gerochen, die seinen Genen nichts entgegensetzen konnte. Es war nämlich auf keinen Fall so – wie Annette es einmal behauptete–, dass sich ausgerechnet das Schaf im Kleeblatt den Goldfisch geangelt hätte. Der Fisch hatte sich vielmehr heißhungrig auf ein Würmchen gestürzt, das am Rande der aufgewühlten See – sprich überfüllte Tanzfläche voll zuckender Leiber und schlenkernder Gliedmaßen – einsam bei ihm zurückblieb, während Annette, Ulla und Karola sich mit seinen Freunden ins Getümmel stürzten.

Karola richtete ihr Augenmerk schnell auf Andreas Jäger. Der hätte durchaus ein entfernter Verwandter von Robert Redford sein können. Damit nicht genug. Wie Karola im Damenkleeblatt war Andreas im Herrenquartett der Einzige, der studierte – allerdings nichts Exotisches, nur Maschinenbau an der Technischen Hochschule. Aber für ihn hätte der Duden umgeschrieben werden und mit dem Wort «Abenteuer» beginnen müssen.

Andreas fuhr einen uralten Jeep, Baujahr 1942, geerbt vom Großvater, der das Gefährt bei Kriegsende einem amerikanischen GI abgeschwatzt hatte. Und Andreas hielt das Museumsstück selbst in Schuss, obwohl es längst keine Ersatzteile mehr gab und er bei jeder Reparatur basteln musste.

Wenn er seinen Ingenieur in der Tasche hatte, wollte er mit dem Gefährt die Wüsten Afrikas und den Orient durchqueren, ehe er sich in die heimische Tretmühle spannen ließ. Er träumte auch von einem Trip durch den Regenwald Südamerikas, aber da käme er mit dem Jeep nicht durch. Damit sich sein Kreislauf auf die wechselhaften Klimabedingungen einstellte, bereitete er sich jetzt schon mit stundenlangen Bädern in heißem Salzwasser auf seine Touren vor, erzählte er. Karola war hin und weg. Die beiden schienen wie füreinander geschaffen.

Ulla turtelte zwei Wochen lang mit Christoph Barlow. Der war wie Marlene in der Versicherungsbranche tätig, arbeitete jedoch für eine andere Gesellschaft und sprach davon, schon mit dreißig seine eigene Agentur zu haben. Christoph war ein Charmeur und ein Spaßvogel, wie man einen zweiten lange suchen musste. Er hatte immer ein Kompliment auf den Lippen und konnte zu jeder Gegebenheit den passenden Witz erzählen. Ein Romantiker, wie Ulla sich einen erträumte, war Christoph jedoch nicht. Beim Blick in den Sternenhimmel rechnete er aus, wie viel Weltraumschrott da oben herumflog und wie viel Schaden in den nächsten Jahren durch veraltete Satelliten oder ähnlich nutzlosen Kram verursacht werden konnte.

Und Annette hatte in der kurzen Zeit bereits festgestellt, dass Matthias Kranich für sie der falsche Partner war. Ein Vollbad bei Kerzenschein mochte im Kino oder im Fernseher toll aussehen, im eigenen Badezimmer musste man anschließend die Wachsflecken von der Wanne schrubben. Annette war ein durch und durch praktischer Typ. Sie brauchte – in Anspielung auf Karolas Schwärmerei nach Jenseits von Afrika – keinen Mann, der ihr in der Wildnis die Haare wusch.

Also tauschten Annette und Ulla die Männer. Christoph war damit nicht auf Anhieb einverstanden, Ulla war nun mal mit Abstand die Hübschere. Aber da Annette besser kochte und schon eine eigene kleine Wohnung hatte, fügte Christoph sich bald in sein Schicksal. Und Ulla konnte sich nach weiteren drei Wochen kaum noch vorstellen, dass sie ohne Matthias jemals richtig glücklich gewesen sein sollte.

Zu dem Zeitpunkt plante Werner bereits ihr gemeinsames Leben bis ins Rentenalter. Manchmal dachte Marlene, er sei ein Spinner wie Andreas Jäger, der Karola mit heißen Salzwasserbädern und Wüstentrips becircte, oder ein Schwätzer wie Matthias Kranich, der mit seinen Vorstellungen von Romantik im Badezimmer bei Annette nicht so gut ankam wie bei Ulla, oder ein Witzbold wie Christoph Barlow, der einen auf den Arm nehmen konnte, ohne dass man es merkte. Bei manchen seiner Ausführungen wartete sie förmlich darauf, dass Werner am Ende lachte und sagte: «Hey, das war doch nur ein Scherz.»

Drei Jahre Probezeit räumte er ihr ein, um zu begreifen, was ihm offenbar schon in der ersten halben Stunde klargeworden war. Dass sie beide füreinander bestimmt waren und perfekt miteinander harmonierten.

«Wenn wir in drei Jahren heiraten», sagte er, «bist du zweiundzwanzig, ich bin fünfundzwanzig. Das ist ein gutes Alter. Man ist körperlich in Bestform.»

Er wollte doch so schnell wie möglich ein eigenes Haus, weil man nur dort ein freier Mann war und sich nicht der Willkür von Vermietern oder Hausverwaltern aussetzen musste. Und da er selbst zupacken wollte, um Kosten zu sparen, spielte das Alter bei Baubeginn natürlich eine Rolle.

Nach Fertigstellung des Hauses wollte er zwei Kinder, zuerst einen Sohn, dann eine Tochter – den Plan machte er ohne Mutter Natur. Bis zur Geburt des ersten Kindes sollte Marlene frei entscheiden, ob sie ihren Beruf weiter ausübte. Unbedingt notwendig sei das nach der Hochzeit nicht, sagte Werner.

Er verdiente als Kreditsachbearbeiter fast doppelt so viel wie sie bei der Versicherung. Bisher hatte er sparsam gelebt und entsprechende Rücklagen, unter anderem einen Bausparvertrag, der in drei Jahren zuteilungsreif wurde. Zudem bekam er kostengünstige Hypotheken und ein fast zinsfreies Arbeitgeberdarlehen für sein Eigenheim.

Und Marlene verabscheute ihren Job zeitweise. Mit Kollegen und Kolleginnen kam sie zwar gut zurecht. Mit Vorgesetzten gab es ebenfalls keine Probleme. Über das Betriebsklima konnte wirklich niemand meckern. Aber sie saß in der Schadensabteilung für Kfz, bearbeitete ausschließlich Sachschäden. Und da gab es so widerliche Vorkommnisse.

Da fuhr zum Beispiel jemand auf nächtlicher Straße ein Reh an, meldete einen Wildschaden an seinem Wagen und schickte zum Beweis ein Auge des Tiers mit, das auf ihrem Schreibtisch landete. Dann war da die gutgläubige alte Dame, der ein windiger Vertreter eine Vollkaskoversicherung für ihren uralten Benz aufgeschwatzt hatte. Und Marlene musste der armen Frau erklären, dass es nach einem Totalschaden im Höchstfall und nur auf Kulanzbasis noch fünfhundert Mark gab und keinesfalls einen neuen Mercedes. Die Frau bekam prompt einen Herzanfall.

Da war es beruhigend festzustellen, dass Werner sich keinen Scherz mit ihr erlaubt hatte. Sie hätte nach der Hochzeit jederzeit die Kündigung schreiben können. Er schlug es wiederholt vor. «Du musst dich wirklich nicht mit solchen Scheußlichkeiten abgeben, Marlene. Wir kommen auch mit meinem Verdienst zurecht.»

Sicher. Aber sie hätte sich schäbig gefühlt, wenn sie von seinem Angebot Gebrauch gemacht und seine Pläne damit behindert hätte. Es hätte sich doch alles verzögert.

Er saß tagsüber in der Bank und schuftete nach Feierabend am und im Haus, oft genug bis weit in die Nacht hinein. Als sie einzogen, war das Dach gedeckt, Fenster und Außentüren eingesetzt und die Heizung eingebaut, die funktionierte aber noch nicht. Es war eine Ölheizung, man hätte zuerst den Tank befüllen lassen müssen. Das hätte noch Zeit, meinte Werner. Um die Einrichtung bräuchte man sich auch erst zu kümmern, wenn die einzelnen Räume fertig wären.

Annette, Ulla und Karola erklärten Marlene übereinstimmend für verrückt, weil sie auf einer Baustelle lebte und nicht protestierte. Seltsamerweise gefiel es ihr. Es hatte einen Hauch von Verwegenheit, mit Luftmatratze und Campingkocher zu improvisieren, sich morgens bibbernd aus dem Schlafsack zu schälen, in einer Schüssel zu waschen und zu beweisen, dass sie auch außergewöhnlichen Situationen gewachsen war. Es war fast ein wenig wie die Nächte in den Wüsten Afrikas, von denen Andreas Jäger immer noch ausdauernd schwärmte.

Nummer neun

Sie fror und ging in ihrem desolaten Zustand rein gewohnheitsmäßig davon aus, Werner habe ihr die Decke weggezogen, um sich darin einzumummeln, weil es im Schlafzimmer wieder mal saukalt war.

Kurz vor Weihnachten hatte er entschieden, auf das neue Doppelbett gehöre eine große Daunendecke für zwei statt wie bisher zwei Decken in Einzelbettgröße. «Wie in alten Zeiten», hatte er gesagt, um ihr die Sache schmackhaft zu machen. «Wir beide unter einer Decke.»

Damit hatte er sie an die ersten Monate ihrer Ehe erinnert, als ihr Haus gebaut worden war. In der Zeit hatten sie die Schlafcouch in seinem möblierten Zimmer miteinander geteilt, eng aneinandergeschmiegt.

So schliefen sie längst nicht mehr. Mit ihren Schlafproblemen hätte Marlene das gar nicht mehr gekonnt. Sie brauchte nachts ihren Platz, um sich von einer Seite auf die andere zu drehen und irgendwann aufstehen zu können, ohne jedes Mal befürchten zu müssen, dass Werner aufwachte. Und er wusste gar nicht, wie oft er die Decke seitdem zu sich hinübergezogen und sich darin einwickelt hatte, bis sie bibbernd um ihren Teil zu kämpfen begann.

Wenn es draußen erst wieder wärmer wurde, war sie ihm vielleicht dankbar für das, was Annette neulich als typisch männlichen Egoismus bezeichnet hatte, der nur nachts zum Vorschein kam, wenn Werner nicht die absolute Kontrolle über sich und sein Verhalten hatte.

Draußen herrschten seit Tagen Minustemperaturen. Nachts fiel das Thermometer bis zehn Grad unter null. Und Werner konnte nur bei offenem Fenster schlafen. Wenn er aus beruflichen Gründen in Hotels übernachten musste, was häufig der Fall war, quartierte er sich lieber in einem Vorort ein und nahm lange Anfahrtswege zu den Gesprächspartnern in Kauf, als dass er eine verkehrsreiche Straße, stark frequentierte Lokale in der Nähe oder nicht zu öffnende Fenster akzeptiert hätte. Mochte die Klimaanlage noch so geräuscharm arbeiten, Werner brauchte nachts seine Ruhe und frische Luft, auch wenn die Temperaturen draußen weit unter dem Gefrierpunkt lagen.

Wären die scheußlichen Kopfschmerzen nicht gewesen und der Druck im Magen nicht, der sich allmählich in Übelkeit verwandelte, hätte sie wohl einen Arm ausgestreckt und nach der Decke getastet, um so lange daran zu zerren, bis Werner wach genug war, ihr freiwillig die Hälfte zu überlassen und sich zu entschuldigen. Dann hätte sie bestimmt auch früher begriffen, dass ihr diesmal aus einem ganz anderen Grund so erbärmlich kalt war.

Aber sie befürchtete, dass ihr Magen bei der geringsten Bewegung seinen Inhalt im ganzen Schlafzimmer verteilen könnte. Davon abgesehen, wusste sie nicht, wo ihre Arme und Beine lagen. Sie war so desorientiert, dass sie nicht einmal hätte sagen können, ob sie auf der linken oder der rechten Seite lag oder ausgestreckt auf dem Rücken.

Die Luft roch anders, als Werner sie zum Schlafen brauchte, nicht frisch, sondern dumpf, irgendwie erdig und so trocken, dass ihre Nasenschleimhäute genauso spannten wie die spröden, eingerissenen Lippen. Das registrierte sie ebenso wie das unangenehme Piksen und Stechen an der rechten Hüfte, unter der linken Schulter und an drei Dutzend anderen Stellen.

Doch sie war noch lange nicht so weit, sich Gedanken über den ungewohnten Geruch zu machen oder ihre körperlichen Empfindungen als alarmierend zu werten. Es tat einfach nur weh, war lästig und störend und verhinderte, dass sie nochmal einschlief. Was sie sich aber auch nicht mehr leisten konnte, weil sich – wie sie meinte – Werners Radiowecker bereits eingeschaltet hatte.

Karola und Andreas

Im Juni 1989 hatten sie geheiratet – Marlene und Werner Weißkirchen, Ulla und Matthias Kranich, Annette und Christoph Barlow–, gleichzeitig, vormittags auf dem Standesamt, nachmittags in der Kirche. Eine herzergreifende Angelegenheit, die in der Stadt für viel Aufsehen sorgte und nicht nur Karola zu Tränen rührte.

Karola war damals aus der Reihe getanzt oder vorgeprescht, wie sie selbst es ausdrückte. Weil sich Nachwuchs ankündigte, hatten sie und Andreas schon sieben Monate nach dem bewussten Abend in der Kölner Diskothek geheiratet, nur standesamtlich.

Zwei Jahre später vergoss Karola dann wahre Sturzbäche, weil sie mit ihrer kleinen Stefanie auf dem Schoß neben Andreas in einer Kirchenbank saß, statt ganz in Weiß mit ihren Freundinnen – und möglichst neben Werner – vor dem Altar zu stehen.

Aber wie oft hatte Marlene vorher von ihr gehört: «Wie du es mit Werner aushältst, verstehe ich nicht. Bei dem würde ich Schreikrämpfe bekommen. Man kann doch nicht das ganze Leben berechnen und für alle Eventualitäten einen Plan machen. Wo bleibt denn da die Spannung?»

«Andreas macht doch auch Pläne», hatte Marlene den Mann verteidigt, der seine Hemden tatsächlich selbst bügelte und besser kochte als sie.

«Das kannst du doch nicht vergleichen», war sie von Karola belehrt worden. «Andreas will in lebensfeindlicher Umgebung überleben. Das muss er sorgfältig planen, die Route festlegen, genau überlegen, was er unterwegs unbedingt braucht. Supermärkte und Apotheken sind nicht in der Nähe. Dafür dürften eine Menge unvorhersehbare Überraschungen auf ihn warten.»

Für Karola gab es bald eine böse Überraschung. Nach der standesamtlichen Trauung waren sie ins Haus seiner Mutter gezogen, weil sie sich als Studenten keine eigene Wohnung leisten konnten. Aber das war wohl nur ein Vorwand gewesen, Andreas kam auch später nicht auf die Idee umzuziehen. Sein Vater war seit Jahren tot. Das Haus bot ausreichend Platz, und Andreas betrachtete es als sein Eigentum.

Nachdem er seinen Ingenieur in der Tasche hatte, hieß es für ihn erst einmal Geld verdienen, immerhin war ein Baby unterwegs. Unter diesen Voraussetzungen wurde nichts aus dem geplanten Wüstentrip oder einem Ausflug in den Regenwald. Aber aufgeschoben sei nicht aufgehoben, sagte er anfangs noch.

Er war überzeugt, seine Mutter würde sich ums Baby kümmern. «Sie hat doch sonst nichts zu tun.»

Karola sollte weiter die Uni besuchen, ihre Abschlüsse machen. Im Geist sah Andreas sich schon mit ihr im Tal der Könige weitere Pharaonengräber entdecken, Goldschätze bergen und Mumien ausbuddeln. Wenn es keine interessanten Ausgrabungen gäbe, wollte er mit ihr Urlaub in der Sahara machen, die Pyramiden von Giseh und die Sphinx besuchen.

Karola machte ihm auch diesen Traum zunichte. Sie hängte nach der Geburt ihrer Stefanie das Studium an den Nagel. Das Baby war kerngesund, aber nur vierzig Zentimeter groß und nicht ganz zwei Kilo schwer. Andreas nannte das Kind «unseren Probeschuss». Um diesen Winzling wollte Karola sich lieber selber kümmern, statt die Kleine ihrer Schwiegermutter anzuvertrauen, auch nicht für einen Urlaub.

Laut Karola kam ihre Schwiegermutter nicht mal mit sich selbst klar, schluckte ständig irgendwelche Pillen, grüßte morgens mit «Guten Abend» und mittags mit «Gute Nacht», lief den halben Tag im Morgenrock herum, ging so auch an die Tür, wenn’s klingelte.

Daraufhin suchte Andreas das Abenteuer eben im Jeep auf heimischen Landstraßen. Er fand es in Gestalt junger Tramperinnen, was er Karola auch noch jedes Mal freimütig beichtete.

Annette, Ulla und Marlene waren übereinstimmend der Meinung, eine Trennung sei die beste Lösung. Dazu konnte Karola sich nicht aufraffen. Mit den Worten «Er kommt schon noch zur Vernunft» blockte sie das Thema Scheidung jedes Mal ab.

Als Annette, Ulla und Marlene zwei Jahre nach der pompösen Hochzeitstrilogie auch noch wie in geheimer Absprache gleichzeitig schwanger wurden, wollte Karola nicht erneut abseitsstehen. Sie meinte, Andreas mit einem zweiten Kind in einen biederen und treuen Familienvater verwandeln zu können. Er soll bei der Gelegenheit jedoch gesagt haben: «Du willst doch nur deinen Mutterschutz verlängern. Na schön, einmal tu ich dir den Gefallen noch. Aber bilde dir nicht ein, dass ich dir in vier oder fünf Jahren das dritte mache, damit du noch länger auf deinem faulen Hintern sitzen kannst.»

Wie auch immer: Die zweite Tochter machte eine Scheidung für Karola dann vollkommen undenkbar. «Wo soll ich denn hin mit zwei kleinen Kindern?»

Da mochte Andreas es noch so bunt treiben – nicht nur auf heimischen Landstraßen. Er begann damit, sich jedes Jahr vier Wochen Urlaub zu gönnen. Ohne seinen uralten Jeep und ohne Familie. Man konnte schließlich zwei kleine Mädchen nicht den Strapazen der Wüste aussetzen. Ob er tatsächlich in einem gemieteten Wagen zwischen riesigen Sanddünen herumgurkte oder sich auf Ibiza, Fuerteventura oder sonst wo mit anderen Frauen vergnügte, wusste keiner.

Wie viele Affären Andreas Jäger im Laufe der Zeit hatte, konnte man nur grob schätzen. Vermutlich kannte nicht einmal er selbst die genaue Zahl. Und was brachte es Karola letztlich, dass sie sich noch ein zweites Kind machen ließ, die vierwöchigen Abenteuerreisen ihres Mannes duldete und über ungezählte Seitensprünge hinwegsah?

Im Februar 2006 wagte Annette den Schritt in die Selbständigkeit. Nach ausführlicher Beratung durch Werner und gegen den erklärten Willen ihres Mannes mietete sie im Einkaufscenter ein kleines Ladenlokal und richtete Annettes Bücherstube ein.

Bei der Eröffnungsparty im April war Andreas Jäger noch dabei und sagte: «Du hast es richtig gemacht, Nette. Auch wenn es eine Menge Stress, viele schlaflose Nächte und noch einige Diskussionen mit Chris nach sich ziehen sollte, man muss an sich glauben und tun, wozu man sich berufen fühlt. Sonst merkt man irgendwann nicht mehr, dass man überhaupt noch lebt.»

Andreas sprach nicht einmal Ulla mit ihrem gebräuchlichen Vornamen an. Weil es daran nichts abzuknapsen gab, nannte er sie «Ulli». Werner war für ihn seit Kindertagen «Wewe», was nichts mit Wehleidigkeit zu tun hatte, es waren einfach nur die Anfangsbuchstaben von Vor- und Nachnamen.

Matthias hieß «Matti». Zu Marlene sagte er «Lenchen» – richtig ernst genommen hatte er sie nie. Und Karola war seine «Cleo» gewesen, ehe sie zu «Mutti» mutierte.

Nur ein paar Wochen später, am 16.Mai 2006, fuhr Andreas morgens wie üblich um sieben zur Arbeit, ohne etwas Besonderes von zu Hause mitzunehmen. Karola vermisste zwar tags darauf zwei seiner Outdoor-Hosen, doch wie sich herausstellte, waren die in der Wäsche.

Andreas leitete die Fertigungsabteilung bei Scheidweber & Co, wo seit geraumer Zeit auch Ulla beschäftigt war. Den Tag über unterhielt er sich noch mit ihr wie tausendmal zuvor. Kein Wort über Urlaubspläne, keine Andeutung, er wolle sich mal wieder den trockenen Wüstenwind der Freiheit und etwas Sand um die Nase wehen lassen oder endlich mal in den Dschungel.

Wann er an dem Dienstag die Firma verlassen hatte, wusste kein Mensch. Ulla machte wie alle anderen um fünf Feierabend, da saß Andreas noch in seinem Büro und gab ihr einen schönen Gruß an Matti, ihre Mutter und die Kinder mit auf den Heimweg. Danach sah ihn niemand mehr.

Obwohl er in der Firma keinen Urlaub genommen und daheim keine entsprechenden Vorbereitungen getroffen hatte, waren anfangs alle überzeugt, Andreas käme wie üblich nach vier Wochen zurück. Sogar Karola glaubte, er genehmige sich nur wieder eine Auszeit vom Familienleben – und diesmal garantiert in weiblicher Begleitung. Zur selben Zeit wie er verschwand nämlich eine junge Nachbarin, deren Mann vermutete, sie hätte etwas mit Andreas. Das Packen hätte wohl sein Techtelmechtel übernommen, mutmaßte Karola.

Die Nachbarin tauchte jedoch Ende Mai wieder auf und protestierte vehement gegen die Unterstellung, mit Andreas unterwegs gewesen zu sein und etwas über seinen Verbleib zu wissen. «Sehe ich aus, als würde ich mich von so einem alten Knacker besteigen lassen?» Andreas war zweiundvierzig, weiß Gott kein Alter, um derart tituliert zu werden. Und laut Karola ließ das «Nachbarsfrüchtchen» sich noch von ganz anderen und wesentlich älteren Knackern besteigen.

Für Karola war es eine Katastrophe. Ihre Schwiegermutter, die eine stattliche Witwenrente bezogen hatte, war Anfang des Jahres ganz plötzlich verstorben. Überdosis Beruhigungs- und Schlafmittel, hatte der Hausarzt vermutet und einen Tod infolge Herzschwäche bescheinigt.

Karolas Eltern lebten mittlerweile in einem Seniorenheim, da blieb von der Rente nichts übrig. Geschwister, die sie eine Weile über Wasser hätten halten können, gab es nicht.

Nach dem Begräbnis seiner Mutter hatte Andreas von einer umfangreichen Renovierung des Hauses gesprochen. Ein neuer Heizkessel war in der Zwischenzeit eingebaut, aber noch nicht bezahlt worden. Es wäre noch mehr zu erneuern oder zu renovieren gewesen. Das Schlafzimmer seiner Mutter, Badezimmer, Toilette im Erdgeschoss, Türen, Fenster, Fußböden. Geld für die Handwerker hatte Andreas auf die Seite gelegt. Im Gegensatz zu Werner konnte, vielmehr wollte er nicht alles selber machen. Aber als Karola sich zur Bank bemühte, war das Sparkonto abgeräumt.

Scheidweber & Co zeigten sich kulant und überwiesen noch das volle Gehalt für Mai. Gleichzeitig machte man Karola klar, dass sie mit keinem weiteren Cent rechnen könne. Man müsse schließlich einen Ersatz für Andreas suchen und bezahlen.

Auch wenn niemand es offen aussprach, wurde deutlich, dass Andreas gegenüber der Geschäftsleitung eine Bemerkung gemacht haben musste, aus der man den Schluss zog, ihn nicht so bald wiederzusehen.

Notgedrungen plünderte Karola die Sparbücher ihrer Töchter, um den Installateur zu bezahlen, ehe der auf die Idee kam, den neuen Heizkessel wieder auszubauen. Die beiden Mädchen hatten sich Werners Motto zu eigen gemacht, dass man Geld nicht vom Ausgeben hat. Was sie im Laufe der Zeit zu Weihnachten, an Geburtstagen oder für gute Schulnoten eingesammelt hatten, hatten sie brav zur Sparkasse getragen. Es reichte nicht ganz für die Heizung, den Rest borgte Karola sich von Marlene. Bei Annette und Ulla war nichts zu holen.

Weil Karola und ihre Mädchen auch essen mussten, waren sie jeden Abend irgendwo zu Gast. Annette und Christoph streikten schon nach vierzehn Tagen. Bei Ulla und Matthias reichte es nur knapp für die eigene Familie. Und Werner wurde die erzwungene Gastfreundschaft bald zu viel. Er wollte nicht jeden Abend, den er daheim am Tisch saß, von Karola hören, sein langjähriger Freund sei ein selbstsüchtiger und verantwortungsloser Schweinehund.

Werner vermittelte Karola ein zinsgünstiges Darlehen, mit dem sie einige Monate hätte überbrücken können. Doch das war nicht in ihrem Sinne. «Und was mache ich, wenn der Mistkerl in absehbarer Zeit nicht zurückkommt?», fragte sie. «Dann stehe ich in einigen Monaten wieder genauso da wie jetzt, hab nur zusätzlich ein Darlehen an der Backe, das ich von irgendwas abstottern muss.»

Karola meldete ihren Mann bei der Polizei als vermisst. Aber wenn ein als abenteuerlustig bekannter Erwachsener Frau und Töchter sitzenließ und auf Reisen ging, durfte niemand erwarten, dass die Polizei sich darum bemühte, ihn wieder nach Hause zu holen. Ein erwachsener Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte hatte das Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.

Das machte man Karola klar. Sie hatte kaum etwas anderes erwartet, besann sich auf den Wagemut, die große Klappe und das Selbstvertrauen ihrer Jugend und investierte das Darlehen in einen Gebrauchtwagen. Ausgerechnet Karola.

Sie hatte ein äußerst zwiespältiges Verhältnis zum Straßenverkehr. Zwar hatte sie vor der Hochzeit den Führerschein gemacht, aber gefahren war sie danach nie mehr, weil sie den uralten Jeep nicht ausstehen konnte. Und dann stürzte sich Karola ohne Fahrpraxis mit einem sieben Jahre alten Ford Escort ins Getümmel und stellte fest, dass außer ihr größtenteils Idioten unterwegs waren. Noch zwei Monate nach dem waghalsigen Kauf schickte sie nach Möglichkeit eine ihrer Töchter hinaus, den Verkehr zu regeln, wenn sie vom heimischen Hof musste. «Man hat da nicht Augen genug», pflegte sie zu sagen.

Aber ohne Auto ging es nicht mehr – aus beruflichen Gründen. Karola bewarb sich nämlich beim lokalen Rundfunksender. Ihr war zu Ohren gekommen, da werde ein flotter, junger Moderator gesucht, der aktuelle Hits ebenso kommentieren sollte wie das Zeitgeschehen oder bedeutsame Ereignisse in der Region.

Werner schüttelte den Kopf über so viel Unvernunft und Selbstüberschätzung. Karola ging auf die vierzig zu und hatte von aktuellen Hits so viel Ahnung wie eine Kuh von Astrophysik. Abgesehen davon war sie kein Mann. Alles, was sie vorweisen konnte, war ihre zugegebenermaßen jugendlich klingende, melodische und einschmeichelnde Stimme, die Karola aber auch wie ein hysterisch keifendes Weib einsetzen konnte, und die Weisheiten, die sie jahrelang aus der Regenbogenpresse gesaugt hatte.

Und damit überzeugte sie. Seitdem fuhr Karola sechsmal die Woche zweiundzwanzig Kilometer brandgefährliche Landstraße hin und zurück. Montags, mittwochs und donnerstags moderierte sie die dreistündige Sendung am Vormittag, informierte über das Geschehen in der Region, lud interessante Gäste ins Studio ein oder plauderte am Telefon mit ihnen. Gelegentlich stellte sie aktuelle Themen zur Debatte und bat ihre Hörerinnen und Hörer: «Sagen Sie uns Ihre Meinung. Rufen Sie an oder schreiben Sie eine E-Mail…» Auf die Weise konnte man auch einen Gruß über den Äther schicken, einen Musikwunsch äußern oder kundtun, was man meinte, der Welt unbedingt mitteilen zu müssen.

Dienstags und sonntags saß Karola von acht Uhr abends bis Mitternacht vor einem Mikrophon und leistete zwischen gängigen Musiktiteln Lebenshilfe. Und freitags spielte sie – ebenfalls von abends acht bis um Mitternacht – unter ihrem Mädchennamen Heinze Studiogast in der Sendung eines Kollegen. Dann erstellte sie auf Hörerwunsch Horoskope, die sie die Woche über aus Illustrierten sammelte und mit Hilfe eines Astrologiebuches aufpeppte. Bisher war keinem Menschen der Schwindel aufgefallen.

Werner amüsierte sich jedes Mal köstlich, wenn er früh genug daheim war, um zu hören, in welch ernsthaftem, eindringlichem Ton Frau Heinze den Hokuspokus zelebrierte. Karola prophezeite gutgläubigen Leuten das große Glück für die nächsten Monate oder eine Pechsträhne für die nächsten Tage, abhängig davon, ob Jupiter oder Saturn mit ihren Einflüssen dominierten.

Karola hatte nicht den Schimmer einer Ahnung von Jupiters Einflüssen. Und Saturn war für sie nur der Laden, in dem sie preiswert zu einem neuen Staubsauger gekommen war. So jedenfalls drückte Werner es einmal aus. Aber er hatte nur selten Zeit für den Spaß. Meist saß Marlene alleine am Radio.

Für sie waren auch die drei Vormittagssendungen Pflicht. Im Gegensatz zu Annette und Ulla musste sie nicht frühmorgens aus dem Haus und hatte alle Zeit der Welt. Manchmal reizte es sie, im Studio anzurufen, Werner grüßen zu lassen, obwohl er es nicht hören würde, und sich einen Musiktitel zu wünschen: «The Ballad of Lucy Jordan». Aber Karola fragte immer, warum es ausgerechnet dieser Song sein musste. Die meisten erzählten dann von netten Erinnerungen. Der erste Tanz oder ein besonders schöner Abend. Sie hätte nur vom Staubsaugerschlauch erzählen können. Und Karola hätte sie wahrscheinlich sofort an der Stimme erkannt, auch wenn sie einen falschen Namen genannt hätte.

Nummer neun

Wie die Luft war auch die Musik anders als gewohnt, viel lauter. Es klang, als beschalle der kleine Lautsprecher des Radioweckers einen großen, leeren Raum und nicht ein gediegen eingerichtetes Schlafzimmer mit Polsterbett, Gardinen vor dem Fenster und Teppichen auf dem Fußboden. Doch diesen Eindruck schrieb Marlene ihren Kopfschmerzen zu. Wenn man das Gefühl hatte, der Schädel würde gleich zerspringen, neigte man zu Geräuschempfindlichkeit.

Marianne Faithfull sang die Ballade von Lucy Jordan, die mit siebenunddreißig Jahren von der Morgensonne geweckt wird und begreift, dass sie nie in einem offenen Sportwagen durch Paris fahren und den warmen Wind in ihren Haaren spüren würde. Deshalb stürzt Lucy Jordan sich abends vom Dach. So hatte Marlene den Song vor Jahren mal übersetzt und interpretiert.

Sie war als Zweitjüngste im Kleeblatt Anfang Dezember zweiundvierzig geworden, so alt wie Andreas Jäger gewesen war, als er aufbrach, sich seine Träume zu erfüllen. Und sie war schon viermal in Paris gewesen, allerdings nicht in einem Sportwagen herumgefahren. Werner bevorzugte Limousinen, wenn er Mietwagen nahm, ansonsten Taxen oder die Metro, weil es damit am schnellsten ging.

Marianne Faithfull kam zum Ende der traurigen Geschichte. Die letzten Töne der markanten Melodie verklangen. Danach war es sekundenlang still. Kein Atemzug verriet Werners Bestreben, sich fit zu halten. Marlene hörte auch kein anderes der typischen Geräusche, die ihr Mann verursachte, ehe er ins Bad ging. Nur ein fernes Rauschen und Plätschern.

Werner unter der Dusche, was sonst?

Wahrscheinlich war ihr deshalb so kalt. Womöglich hatte er ihr, ehe er hinausging, die Decke weggezogen, damit sie wach wurde und aufstand. Er ärgerte sich oft, wenn ihm auffiel, dass sie wieder mal nicht in die Gänge kam. Dann konnte er sich denken, dass sie nachts hinausgeschlichen war und eine der Schlaftabletten genommen hatte, die er verteufelte, weil sie seiner Ansicht nach abhängig machten und einen irgendwann umbrachten. Die Mutter von Andreas sei doch das beste Beispiel dafür, sagte er häufig. Irgendwann wüsste sie dann auch nicht mehr, ob es Morgen, Mittag, Abend oder Nacht sei, und liefe im Morgenrock oder im Hausanzug an die Tür, um dem Postboten oder sonst wem zu öffnen.

Die Musik setzte wieder ein. Die Stimme folgte: «The morning sun touched lightly on the eyes of Lucy Jordan/​In a white suburban bedroom, in a white suburban town…»

Welcher Trottel hatte denn da die falsche Taste gedrückt? Egal! Allerhöchste Zeit, sich aus ihrem gediegenen Kleinstadtschlafzimmer hinunter in ihre gediegene Kleinstadtküche zu begeben und das Frühstück auf den Tisch zu bringen, ehe die Kinder das übernahmen.

Wenn nur das Hämmern, Bohren und Stechen in ihrem Kopf nicht gewesen wäre. Die fleißigen Handwerker mussten ihre Schädeldecke inzwischen perforiert haben. Ihr Magen rebellierte auch immer noch. Und dieses penetrante Piksen in der linken Schulter, an der rechten Hüfte, unter dem linken Oberschenkel… Endlich fühlte sie auch ihre Beine und die Arme, spürte jeden in der Kälte verkrampften Muskel.

Es kostete sie enorme Anstrengung und Willenskraft, die verklebten Lider nach oben zu bringen. Dann blinzelte sie in eine so vollkommene Schwärze, dass sie meinte, ihre Augen gar nicht geöffnet zu haben. Sie blinzelte erneut, riss die Augen weit auf und fasste sich ins Gesicht, weil sich nichts änderte. Dabei stieß sie mit einer Fingerkuppe in den linken Augapfel und glaubte, aus welchen Gründen auch immer über Nacht erblindet zu sein, weil der plötzliche Schmerz ihr zwar die Tränen in die Augen trieb, sie aber immer noch nichts sah, absolut nichts.

13.Januar 2010 – Mittwochmorgen

Der Mittwoch, an dem Marlenes äußerlich so wohlgeordnetes und behütetes Leben aus den Fugen geriet, ohne dass es ihr sofort aufgefallen wäre, begann wie ein gewöhnlicher Wochentag mit grau-gelben Tupfen an der linken Zimmerwand.

In der Nacht war es wieder einmal spät geworden. Obwohl Werner den Dienstag in Köln verbracht hatte, war er erst um halb eins heimgekommen. Sie hatte wie üblich auf ihn gewartet, mit einem Buch auf der Couch und der Frage, wie ihr wohl zumute wäre, wenn er eines Tages gar nicht mehr heimkäme.

Es schneite wieder. Seit Tagen waren die Straßen spiegelglatt, nicht nur in den Wohngebieten, wo sich keiner die Mühe machte, den Schnee von der Straße zu schaffen. Auch Hauptverkehrsstraßen wurden zum Risiko, weil in den Kommunen das Streusalz zur Neige ging und kein Nachschub zu beschaffen war.

Ein paarmal geriet sie in Versuchung, ihn anzurufen. Aber bei Besprechungen schaltete er sein Handy grundsätzlich ab. Und seiner Mailbox zu erzählen, die Kinder seien um zehn zu Bett gegangen und sie habe es sich auf der Couch gemütlich gemacht, verbot sich von selbst. Es war auch überflüssig.

Werner meldete sich dreimal. Zuerst erklärte er, die Besprechung dauere leider viel länger als vorgesehen. Dann teilte er scherzhaft mit, er sei die Bande endlich losgeworden und müsse nur rasch noch einige Papiere für morgen zusammenstellen. Kurz vor Mitternacht sagte er dann, er mache sich jetzt auf den Heimweg und sei bald bei ihr.

«Fahr bloß vorsichtig», mahnte sie und horchte sekundenlang in sich hinein, ob sie es ernst meinte.

In letzter Zeit stellte sie sich häufig vor, dass ihm etwas zustieß. Eine grausame Gedankenspielerei, aber dicht an der Realität. Man musste doch nur das Radio einschalten. Bei den derzeitigen Witterungsverhältnissen hörte man stündlich von Unfällen auf irgendwelchen Straßen oder Autobahnen.

Als sie endlich nebeneinander in den Betten lagen, fühlte sie sich hellwach. Werner schlief schon nach wenigen Minuten wie ein Stein. Sie lag neben ihm und schämte sich für das, was ihr durch den Kopf zog. Dass er irgendwann zum letzten Mal anrief, wenn er sich auf den Heimweg machte. Dass wenig später die Polizei käme, um ihr die traurige Nachricht zu überbringen.

Sie sah sich auf dem Friedhof an seinem offenen Grab stehen, mit den weinenden Kindern an den Seiten und den betroffenen Mienen der anderen im Hintergrund. Sie schüttelte unzählige Hände und lauschte der allgemeinen Fassungslosigkeit, weil ihr in Eisen gegossenes Glück zerbrochen war. Darüber schlief sie ein.

Nach nicht ganz vier Stunden Schlaf war die Nacht vorbei. Um Viertel vor sechs schaltete sich Werners Radiowecker ein. Sie blinzelte in die Lichtinsel der Leselampe an seinem Bett und versuchte zu bestimmen, wen und was sie hörte. Nickelback? Nein. Bon Jovi? Auch nicht. Robbie Williams, um dessen Comeback-Single Bodies der Lokalsender vor Wochen so einen Wirbel gemacht hatte, war es auf gar keinen Fall. Aber es war ein Mann, und er sang englisch.

Die Zeile: «Love me wherever you are», klärte sie auf. Das war Wire to Wire von Razorlight. Wenn man eine Freundin beim Lokalradio hatte, wusste man so etwas. Marlene drehte sich auf die andere Seite, um noch ein paar Minuten zu dösen.

Werner saß bereits auf der Bettkante, reckte und streckte sich, gähnte noch einmal herzhaft und lag im nächsten Moment bäuchlings auf dem Fußboden, um den neuen Tag mit zwanzig Liegestützen in Angriff zu nehmen.

Im Halbdusel lauschte Marlene seinen gleichmäßig tiefen Atemzügen und dem ihrer Meinung nach traurigen Song. «Liebe mich, wer immer du bist», so übersetzte sie die Zeile, und das klang nach Einsamkeit.

Schon vor Jahren hatte sie bemerkt, dass die Musik frühmorgens über ihren Gedankenkreislauf, ihr Befinden und einiges mehr entschied. Was sie hörte, wenn sie die Augen aufschlug, tauchte im Laufe des Tages immer wieder in ihrem Kopf auf. Manchmal wurde sie es über Stunden nicht los, wie ein Endlostonband, auf dem sich nur ein einziges Lied befand.

Die jeweiligen Melodien oder Rhythmen spielten keine Rolle. Es waren die Worte, die sie verfolgten und ihr zu schaffen machten. Oft genug riefen sie diese Trostlosigkeit hervor, für die es keine rationale Erklärung gab, die sich ohne ersichtlichen Grund binnen kürzester Zeit in abgrundtiefe Trauer verwandeln konnte.

Schon aus dem Grund waren ihr englische Schlager lieber als deutsche. Von englischen verstand sie längst nicht alles, übersetzte nach eigenem Gutdünken und füllte die Lücken so, wie es ihr passend erschien. Ihr Schulenglisch war mangelhaft, weil sie es seit Jahren nicht einmal mehr brauchte, um den Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.

Werner sprach fließend Englisch, ebenso Französisch, Spanisch und Italienisch. Derzeit lernte er Schwedisch – im Akkord. In schätzungsweise zwei Monaten beherrschte er die Sprache wahrscheinlich fast so perfekt wie ein Einheimischer. Er hatte beruflich oft im Ausland zu tun und wollte verstehen, was in seiner Nähe gesprochen wurde. Und er konnte das eben, wie er alles konnte, was er sich vornahm oder anpackte. Als Nächstes würde er vielleicht Finnisch, Russisch, Türkisch, Japanisch oder Chinesisch lernen. Und irgendwann wäre Werner Weißkirchen der erste Mensch, der sich weltweit verständigen konnte.

Er brüstete sich nicht mit dem Talent, sich Fremdsprachen quasi einzuverleiben wie andere einen Teller Suppe. Er bildete sich auch nichts ein auf seine diversen anderen Fähigkeiten oder seinen beruflichen Erfolg. Aber er freute sich, wenn Marlene anklingen ließ, sie sei sehr stolz auf ihn.

Das war sie – gar keine Frage. Werner war ein Prestigeobjekt, von Anfang an der Garantieschein für eine sorglose Zukunft gewesen. Einer von den zeitlos gutaussehenden Männern, denen die Karriere wahrscheinlich unmittelbar nach der Geburt direkt unter den Haaransatz tätowiert worden war, um die man von Freundinnen glühend beneidet wurde. Wenn nicht sofort, dann eben später. Früher war es oft ein Triumph gewesen, am Samstagabend an seiner Seite bei den anderen zu erscheinen oder die Gastgeberin zu spielen. Inzwischen war es ihr oft unangenehm, fast ein wenig peinlich. Weil die anderen, speziell Ulla, es doch erheblich schlechter getroffen hatten.

Ulla und Matthias

Ulla war die Jüngste von ihnen und hatte das meiste Pech gehabt. Bei der Hochzeit war Matthias Kranich noch Verkäufer in der Herrenabteilung bei C&A gewesen, wollte es aber entschieden weiterbringen. Das wollten sie letztlich alle, und nur Andreas Jäger dachte dabei an Entfernungen.

Leider konnte man die Pläne, die Matthias schmiedete, nicht solide nennen. Bei ihm war nicht die Rede vom eigenen Haus und dem eigenen Geschäft, es mussten eine Villa und eine Ladenkette sein. Nach der pompösen Triplehochzeit begnügte er sich für den Anfang allerdings mit einer Mietwohnung.

Zwei Jahre nach der Geburt ihres Sohnes machte sich Matthias zum ersten Mal selbständig, eröffnete eine italienische Herrenboutique. Was sich noch mit seiner Ausbildung vereinbarte, in einer Kleinstadt mit großem Einkaufscenter am Ortsrand nur nicht so florierte, wie er sich das erhoffte. Nach vier Jahren gab er auf.

Diese Pleite trug Ulla mit Fassung, obwohl Matthias nicht mal Arbeitslosengeld bekam und ihr Sohn Thomas – gerade eingeschult – Lernschwierigkeiten hatte. Es musste jeden Nachmittag einer mit ihm üben. Matthias war dazu nicht imstande, schickte den Jungen lieber zum nächsten Bolzplatz und ergab sich vor laufendem Fernseher in sein Elend.

Damit sie nachmittags zur Stelle war, konnte Ulla sich nur um einen Halbtagsjob bei ihrem früheren Arbeitgeber, dem Autohaus Hilscher, bemühen. Aber ihre Eltern waren vermögend und unterstützten sie. So kamen sie einigermaßen über die Runden.

Dann starb Ullas Vater, sie erbte, und Matthias überredete sie, den Halbtagsjob aufzugeben und ins zweite eigene Geschäft zu investieren. Diesmal probierte er sein Glück mit Sportartikeln, hauptsächlich Fahrräder. Die hätten Zukunft, behauptete er. Da mochte er mit Blick auf Umweltschutz und Fitnesswelle sogar recht haben. Nur hätte er die richtige Ware anbieten müssen.

Als er Ende 2001 zum zweiten Mal Konkurs anmeldete, standen in seinem Lager etliche Rennmaschinen, an denen Männer wie Christian Henn und Erik Zabel ihre helle Freude gehabt hätten. Für Otto Normalverbraucher waren sie weniger geeignet und kaum erschwinglich.

Nicht nur Ullas Erbe war zum Teufel. Matthias hatte zudem ohne ihr Wissen und gegen Werners Rat Kredite aufgenommen. Er stand vor einem Schuldenberg, den Ulla nicht mit ihm abtragen wollte. Was sie letztendlich doch tat, weil sie ihn eben liebte und zum zweiten Mal schwanger war.

Notgedrungen kehrte Ulla mit Sack und Pack zurück ins Elternhaus und kam durch Vermittlung von Andreas Jäger zu dem Vollzeitjob, mit dem sie seitdem den Lebensunterhalt ihrer Familie bestritt. Zu der Zeit war Karolas Mann ja noch im Lande und besaß als Leiter der Fertigungsabteilung bei Scheidweber & Co genug Einfluss, um Ulla trotz ihrer Schwangerschaft als Schreibkraft in der Kundenbetreuung unterzubringen, wo sie nach der Geburt ihrer Tochter noch gut ein Jahr blieb, ehe sie zu Andreas in die Fertigungsabteilung wechselte.

Ullas Mutter kümmerte sich um die beiden Kinder. Matthias bewarb sich nach Androhung der Scheidung im Einkaufscenter und bekam die Stelle in der Herrenabteilung. Das entsprach zwar nicht seinen Erwartungen ans Leben, keine nennenswerten Aufstiegschancen und keine glamouröse Kundschaft. Aber er verdiente wenigstens und konnte damit den Banken seinen guten Willen demonstrieren.

Ulla arbeitete sich bei Scheidweber & Co mit Fleiß und Energie hoch – von der Schreibkraft zur Sekretärin. Nachdem Andreas verschwunden war, stieg Ulla zur inoffiziellen Leiterin der Fertigungsabteilung auf. Der Ingenieur, den man als Ersatz für Andreas eingestellt hatte, wusste von Landmaschinenbau kaum mehr als Marlene. Die meiste Zeit war Ulla damit beschäftigt, die Entscheidungen und Anweisungen ihres offiziellen Vorgesetzten diplomatisch zu korrigieren. Der Geschäftsleitung war das sehr wohl bekannt, was sich auf Ullas Gehaltsabrechnungen niederschlug.

In den letzten Jahren war Ulla mit ihrer Situation eigentlich ganz zufrieden gewesen, hatte sich nur oft Sorgen um ihren Sohn gemacht. Thomas Kranich war im selben Alter wie Marlenes Älteste, Karolas Jüngste und Annettes Einzige. Wie damals ihre Mütter waren die vier Kinder gemeinsam eingeschult worden. Und die drei Mädchen waren ein ebenso verschworenes Grüppchen.

Es wäre Ulla lieb gewesen, sie hätten Thomas nicht ausgeschlossen. Solange sie noch klein gewesen waren, hatten sie unbefangen miteinander gespielt. Nach der Einschulung änderte sich das, und das lag nicht an den Mädchen. Thomas umgab sich nun lieber mit rüpelhaften Geschlechtsgenossen. Im Unterricht haperte es bei ihm an allen Ecken und Enden. Aber wie man Zigaretten rauchte und mit Tintenpatronen spritzte, wusste er schon mit acht Jahren.

Die Mädchen wechselten nach der vierten Grundschulklasse aufs Tagesheimgymnasium, bei Thomas reichte es bloß für die Hauptschule. Den Abschluss dort hatte er im vergangenen Jahr auch nur mit Hängen und Würgen geschafft. Mit einem Zeugnis, das Ulla als katastrophal bezeichnete, hatte er sich bei einigen Handwerksbetrieben beworben. Vergebens. Doch das störte ihn nicht, er lungerte lieber mit anderen Nichtsnutzen herum.

Im September hatte Ulla ihn dann doch noch untergebracht – bei Scheidweber & Co–, allerdings nur, weil ein anderer sich doppelt beworben hatte und den Platz nicht in Anspruch nahm. Ersatzweise sollte nun Thomas Kranich zum Maschinenschlosser ausgebildet werden.

Bei ihrer Geburtstagsfeier am vergangenen Samstag hatte Ulla noch zu Marlene gesagt: «Wenn ich so zurückblicke, war die zweite Pleite das Beste, was mir passieren konnte. Sonst säße ich vielleicht immer noch halbtags im Autohaus Hilscher oder stünde mit Matthias im eigenen Laden und bekäme graue Haare, weil ich nicht wüsste, wo und mit wem unserer Filius sich herumtreibt. Ich habe drei Kreuzzeichen gemacht, als Herr Scheidweber sich bereit erklärte, Thomas eine Chance zu geben. Die Arbeit macht ihm Spaß, glaube ich. Er ist jedenfalls mit Feuereifer bei der Sache.»

Doch als dürfe die Ärmste einfach keinen Lichtstreif am Horizont sehen, nahm Thomas am Sonntagabend ihren Autoschlüssel, um mit drei seiner nichtsnutzigen Kumpels eine Spritztour zu machen. Nicht die erste, bisher war er nur erst einmal von der Polizei erwischt worden. Da hatte es eine eindringliche Ermahnung gegeben. So glimpflich kam er diesmal nicht davon.

Wegen der Witterungs- und Straßenverhältnisse herrschte so gut wie kein Verkehr. Wer nicht unbedingt fahren musste, blieb daheim. Ullas Sohn nutzte die freien Straßen auf seine Weise, raste mit schätzungsweise siebzig Stundenkilometern durch die Stadt. Als die Ampel an der großen Kreuzung bei der Kirche auf Rot sprang, konnte er nicht mehr rechtzeitig bremsen, schlitterte in den Querverkehr, rammte einen Linienbus und brach sich beide Beine. Marlene hatte es am Montagvormittag von Annette gehört, die zudem berichtete, Thomas sei auch noch bekifft gewesen.

Nummer neun

Das erste Entsetzen verwandelte sich rasend schnell in nackte Panik. Marlene taumelte von einem Schock in den nächsten. Keuchend vor Angst und Verwirrung, betastete sie ihre wieder geschlossenen Augen. Verletzungen stellte sie nicht fest. Aber es konnte im Kopf etwas passiert sein, was sie ihr Sehvermögen gekostet hatte. Ein Blutgerinnsel, ein geplatztes Gefäß, irgendwas in der Art.

Eine von Werners Angestellten hatte im letzten Sommer einen Schlaganfall erlitten, war seitdem auf einem Auge blind, konnte nicht mehr verständlich sprechen und wurde im Rollstuhl gefahren. Ihr Zustand drehe ihm das Herz um, hatte Werner neulich noch gesagt. Die Frau war erst achtundvierzig, nur sechs Jahre älter als sie.

All ihre körperlichen Empfindungen schienen dafür zu sprechen, dass es ihr nun so ähnlich ergangen war. Über Kopfschmerzen, Taubheitsgefühle und Kribbeln in den Gliedmaßen sowie Schwindelattacken hatte Werners Angestellte auch geklagt. Und so schlimm war es nach fehlendem Schlaf noch nie gewesen.

Als sie aufschrie, erschrak sie vor dem rauen, kratzigen Klang ihrer eigenen Stimme. Es klang wie das Blöken einer verängstigten Ziege. Antwort bekam sie nicht, hörte nur den Nachhall und die Musik. «…Till the world turned to orange and the room went spinning round…»

Gott, war ihr schwindlig. Aber das war doch wieder die erste Strophe. Hatte sie die nicht schon zweimal gehört? Wieso lief das Lied denn zum dritten Mal? Wieso meldete sich nicht endlich der Moderator zu Wort und entschuldigte das Versehen oder die technische Panne? Wieso kam kein Jingle, der nervtötende Werbung ankündigte? Oder die Nachrichten?

Sie stemmte sich mit zittrigen Armen in eine sitzende Position, was den Schwindel verstärkte und die Übelkeit auflodern ließ wie eine Stichflamme, sodass sie sich auf der Stelle übergeben musste. Immerhin gelang es ihr, den Kopf so weit zur Seite zu drehen, dass sie sich nicht selbst besudelte.

Nachdem das Schlimmste überstanden war, glitten ihre Halt suchenden Finger durch lockeren Dreck und über Unebenheiten. Es fühlte sich an, wie es roch: staubig, erdig und trocken.

Sie saß in einer flachen Kuhle, inmitten von spitzen Steinchen und scharfkantigen Gesteinssplittern, die das widerliche Stechen an Schulter, Hüfte und drei Dutzend anderen Stellen verursacht hatten. Ihr Oberkörper steckte in einem Pullover mit Rollkragen und der neuen Steppjacke. Dazu trug sie eine Hose aus weichem, wollartigem Stoff. Die neuen Stiefeletten mit den Lederschlaufen am Schaft hatte sie auch an.