Der Fremdenführer - Siavash Sartipi - E-Book

Der Fremdenführer E-Book

Siavash Sartipi

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Beschreibung

»Assad.« Er stellte sich vor. Die Gruppenleiterin versuchte, seinen Namen auszusprechen. »Assad«, wiederholte er. »You are -« »Not German«, sagte er und verdrängte seinen Lieblingssatz: "Ich bin ein Fremder, der Fremden in einem fremden Land in fremden Sprachen eine ihm fremde Geschichte erzählt." Eine Amerikanerin, die eine Hemdbluse mit bunten großen Blumenmustern trug, fragte ihn erneut nach seinem Namen. »Assad«, sagte er. »A. like Amerika, then you have ss, together it makes Ass, then comes ad, like AD.« Die Amerikanerin wiederholte seinen Namen. »After all of that comes Allah«, sagte Assad, »my first name is Assadollah, you can call me simply Assad.«

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Inhaltsverzeichnis

Teil Eins

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Teil Zwei

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Teil Drei

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil Vier

Kapitel 25

Teil Fünf

Kapitel 26

Teil Eins

1

»Und hier an der Hauptwache, Mesdames et Messieurs, werden Sie das letzte Wort über Frankfurt hören«, sagte der junge Fremdenführer Assadollah Moussavi, der selbst unter seinen Kollegen noch als Fremder galt und den sie wie seine Freunde einfach Assad nannten, ohne Allah, vor circa zwanzig Franzosen – ausschließlich Senioren.

Es war ein sonniger Freitagvormittag im April 2003. In weniger als zwei Monaten hatten die USA die Diktatur des Saddam Hussein gestürzt. Frankreich und Deutschland galten vielen Amerikanern als Verräter, weil sie gegen den Krieg waren.

Assad Moussavi, der mit dem Anfang der neuen Saison völlig zufrieden war und nicht befürchtete, dass die Zahl der Führungen wegen des Irakkriegs zurückgehen würde, hatte seine Gruppe zwei Stunden lang durch Frankfurt geführt.

Die Franzosen sahen müde aus, als sie nun vor dem Café an der Hauptwache standen.

Assad erwähnte immer das »letzte Wort«, damit die Teilnehmer rechtzeitig Bescheid wussten, dass die Tour gleich zu Ende ging und sie in die Tasche greifen sollten. Im Lauf der Zeit hatte er bemerkt, dass sie ein paar Minuten brauchten, um nach Kleingeld zu suchen. Wenn die Führung abrupt zu Ende ging, verzichteten viele Teilnehmer darauf, Trinkgeld zu geben.

Eifrig erzählte Assad in fließendem Französisch die Geschichte des Cafés an der Hauptwache, auf dessen Terrasse gerade viele Menschen saßen, erklärte, wie wichtig die Einkaufsstraße Zeil als centre de commerce in ganz Deutschland sei, und bedankte sich bei der Gruppe für die Aufmerksamkeit.

Als er aber bemerkte, dass keiner der Teilnehmer mit Trinkgeld reagierte, erklärte er sich bereit, der Gruppe den Rückweg zum Schiff am Mainufer zu zeigen. »Tout droit, simplement. Gehen Sie über die Straße, dann laufen Sie dort die Straße entlang, die neben der Kirche – apropos, das ist die erste evangelische Kirche Frankfurts, aus dem siebzehnten Jahrhundert.« Als er sah, dass ein paar Teilnehmer sich dafür interessierten, erzählte er über die Reformation in Frankfurt, erklärte, was für eine wichtige Rolle der Liberalismus dieser Stadt für ihre Entwicklung zu einem Finanzzentrum gespielt hatte, und verglich Frankfurt unter diesem Aspekt mit der Stadt Mainz.

Assad war dabei, den Vergleich zu erweitern und auch die Stadt Köln zu erwähnen, als eine Teilnehmerin ihm die erste Euromünze in die rechte Hand drückte – c’est gentil, Madame, merci –, und ein Mann ein paar kleine und größere Münzen – je vous remercie, Monsieur.

Sofort versuchte er, die schwarze Mappe mit den Bildern der Kaiser und Hochhäuser ziemlich ungeschickt in seine Schulter-tasche zu stecken, damit seine linke Hand auch frei wurde, denn gleich darauf wurden weitere Hände voller Münzen in seine Richtung ausgestreckt.

Die alte Französin mit kurzen perlweißen Haaren und kleinen goldenen Ohrringen, die sich während des Rundgangs mit Assad unterhalten und ihn nach seiner Herkunft gefragt hatte, näherte sich ihm als letzter Gast, gab ihm einen Zehneuroschein und sagte: »Ich hoffe, dass Ihrem Vater nichts Schlimmes passiert ist. Amerikaner machen, was sie wollen. Ich habe es auch erlebt. Ja, ich habe gesehen, wie die Bomben fielen. Ich war damals noch ein kleines Mädchen, viel jünger als Sie heute. Ich sollte auch meine Heimat verlassen.« Assad mied den Blick der alten Französin, während sie redete. »Sie werden aber bestimmt von Ihrem Vater hören.«

»Man kann nichts machen«, entgegnete Assad. »Außer abwarten.«

»Gott wird Ihnen helfen«, sagte sie. »Bald werden Sie Bagdad wiedersehen.«

So ist das also, dachte Assad, als er auf der Terrasse des Cafés an der Hauptwache saß und ein Bier bestellte. Es funktionierte. Er hatte heute drei Fünfeuroscheine und einen Zehneuroschein bekommen, was nicht üblich war. Man erhielt bei Rheingau-Touren immer viel Trinkgeld, aber nicht bei zweistündigen Rundgängen durch die Stadt. Sein Trinkgeld war sogar höher als sein Honorar.

Assad trank einen großen Schluck und drehte sich dann eine Zigarette. Er fühlte sich von einer tiefen Traurigkeit überwältigt. Das Mitleid, die Solidarität und die Sympathie in den Blicken, denen er auszuweichen versucht hatte, aber auch die Art, wie die Fremden ihn gelobt hatten, berührten ihn sehr. Er fühlte sich von unbekannten Gefühlen mitgerissen und sah sich nicht in der Lage, dagegen anzukämpfen.

In einer Stunde sollte er eine englischsprachige Führung geben. Die Gruppe, so hatte man ihm mitgeteilt, bestand aus dreiunddreißig Amerikanern sowie einer Reiseleiterin, die er auf dem Römerberg treffen sollte. Enden sollte die Tour wieder an der Hauptwache.

Assad trank sein Bier aus, zahlte und gab einen Euro Trinkgeld, was ihm nicht ganz leichtfiel.

Unentschlossen blieb er noch einen Moment vor dem Café stehen. Dann ging er zu einer gleich um die Ecke gelegenen Buchhandlung.

Auf dem Weg zählte Assad die Führungen des Monats: über zehn Führungen bei einer Firma, insgesamt mehr als zwanzig.

Auch nach zahllosen Führungen konnte er es immer noch nicht fassen, dass es ihm finanziell ziemlich gut ging. Welchen Stundenlohn hatte er damals in Marburg für Gartenarbeit bekommen? Fünfzehn Mark waren es wohl gewesen. Dann dieser Portierjob im Hotel Paradise am Hauptbahnhof, umgeben von Bordellen. Nachtschicht. Von elf Uhr abends bis sieben Uhr am Morgen. Für zehn Mark die Stunde. Er hatte immer daran denken müssen, während er als Portier arbeitete, dass alle um ihn herum gerade fickten, insbesondere diejenigen, die das Zimmer nur für zwei Stunden gebucht hatten.

Assad brauchte keine Namen einzutragen. Der Gast brauchte kein Formular auszufüllen. Man kannte sich ja. Wie oft hatte er hinter den Zimmertüren in verschiedenen Etagen des Hotels onaniert. Und dann wieder an der Rezeption hatte er gewartet, dass die Gäste den Schlüssel abgeben. Der Aufenthalt dauerte nie länger als zwei, drei Stunden. Manchmal konnte er wieder hinaufgehen und an einer anderen Tür lauschen.

Nach dem Auschecken der Gäste hatte Assad selbst das Zimmer aufgeräumt. Nur das Bett musste er wieder zurechtmachen, die Mülltüte wechseln, das Bad trockenwischen, neue Handtücher hinlegen, den Aschenbecher ausleeren, den Raum lüften und schließlich die fünfzig Mark – oder mehr – in die eigene Tasche stecken.

Jedes Mal, wenn er die Treppe des Bordells hinauf- oder hin-unterlief, schoss ihm dieser Gedanke durch den Kopf, dass er fast alles, was er in einer Nacht verdient hatte, ausgeben müsste, wenn er eine halbe Stunde ficken wollte. Und jetzt, mit dem Trinkgeld von einer einzigen Gruppe, hätte der Fremdenführer sich über eine halbe Stunde ficken leisten können, auch wenn er nun in Euro mehr zahlen müsste.

In der Buchhandlung nahm sich Assad den Roman einer deutschen Autorin über afghanische Frauen aus dem Regal und setzte sich, um darin zu lesen, auf das rote, u-förmige Ledersofa in derselben Etage.

Während Assad den Roman durchblätterte, fragte er sich: Warum erzähle ich nicht meine eigene Geschichte? Was wissen diese Europäer über Muslime? Sie erzählen unsere Geschichte, schreiben Bestseller, und was mache ich? Wie ein Dummkopf erzähle ich hier den Amerikanern und Franzosen, was für eine Scheiße irgendein Kaiser gebaut hat, ob Goethe es in Wetzlar geschafft hat, Charlotte flachzulegen oder nicht, und wie hoch die Deutsche Bank ist. Scheißegal, wie hoch das Gebäude der Deutschen Bank ist. Ich sollte jetzt im Irak sein, im Iran oder in Afghanistan.

Sein Blick hing noch auf einer Seite des Buches fest.

Er ließ es auf dem Sofa liegen, aß schnell ein belegtes Brötchen im Café der Buchhandlung und machte sich auf den Weg zum Treffpunkt mit der nächsten Gruppe in der Altstadt.

Am Römer traf Assad eine Kollegin, die ebenfalls auf ihre Gruppe wartete.

Die Tische der Restaurants auf beiden Seiten des Römers waren besetzt. Viele Touristen gingen vorbei, schlugen verschiedene Richtungen ein, einige blieben stehen und fotografierten sich gegenseitig. Auf dem Platz waren mehrere asiatische Gruppen und eine Schulklasse. Die Lehrerin zeigte gerade auf das Rathaus und erklärte etwas.

»Hi, Elke«, sagte Assad. »Hast du eine Führung?«

»Spanier. Du?«

»Amis. Senioren.«

»Ach, du Ärmster«, sagte Elke.

»Wieso? Senioren sind am besten. Sie verzeihen dir deine Fehler und geben immer Trinkgeld. Ich mag Menschen mit Vergangenheit. Weißt du, was mich einer letzte Woche in Aschaffenburg gefragt hat? Where is the castle?«

»Nee! Er hat das vielleicht ironisch gemeint.«

»Nein. Er meinte es ernst. Where is the castle? Ich hatte es zweimal im Bus erwähnt.«

»War sicher eingeschlafen«, sagte Elke.

»Das konnte er auch selber sehen. Es gibt doch nur ein castle in Aschaffenburg. Er hat aber fünf Euro Trinkgeld gegeben.«

»Helmut hatte gestern, oder vorgestern war das, eine amerikanische Gruppe«, sagte Elke. »Im Goethe-Haus. Weißt du, was sie gefragt –«

»Studenten?«

»Nein, Senioren. Sie fragten: Wer ist Goethe überhaupt? Verrückt, oder?«

»Gut, dass sie gefragt haben.«

Sie schwiegen kurz.

»Hast du viel zu tun?«, fragte Elke.

»Heute zwei. Der März ist gut gelaufen, viele Rheingau-Touren. Mainz war auch gut. Für zwei Stunden in Mainz bekommst du mehr als hier.«

»Ich dachte, wegen des Krieges kommen nicht viele.«

»Ach, come on, nach dem 11. September dachten wir das auch. Die Sonne scheint aber weiter.«

»Kommen eigentlich viele deiner Landsleute?«

»Meinst du die Deutschen?«

»Assad!«

»Ich bin doch seit Jahren hier. Wenn ich in diesem Land –«

»Ich meinte Iraner«, sagte Elke.

»Für Iraner mache ich keine Führungen mehr. Bei Muslimen kannst du das Trinkgeld vergessen. Die von den Philippinen sind gut. Die geben immer was. Indonesier auch.«

»Du rauchst wieder. Du hattest doch aufgehört.«

»Das war nur eine Pause.«

»Sag mal, Assad, war wirklich die Polizei bei dir? Helmut hat es mir erzählt.«

Assad schaute auf seine Uhr. Die Gruppe hatte Verspätung. »Pass auf, wenn du schlecht über Amis redest, klopfen sie auch bei dir an.«

»Hast du was Schlechtes über Bush gesagt?«

»Sie wussten genau, was ich gesagt hatte. Wort für Wort. Sie waren zuerst bei meinem Vermieter. Ich war nicht zu Hause. Dann haben sie Annette gefragt, ob ich da wohne, und haben eine Telefonnummer hinterlassen und Annette gesagt, dass ich mich zurückmelden sollte.«

»In der WG?«

»Ja.«

»Was hattest du gesagt?«

»Dass Khomeini dem Westen eine Migräne bereitet hat und ich mich darüber freue.«

»Aber der ist doch tot.«

»Findest du? Ich meinte diese Fatwa gegen Rushdie. Und dass ich gesagt habe, Mohammad Atta war kein Feigling, und man kann die Attacke auf das World Trade Center wie ein Kunstwerk betrachten. Und dass ich für die Opfer nichts empfinde, dass ich kein Mitgefühl habe.«

»Das ist aber hart, Assad. Hast du wirklich –«

»Ja, klar.«

»Nein!«

»Doch. Ist es strafbar, kein Mitgefühl zu haben?«

»Das nicht, aber wie kannst du so was sagen. Natürlich wirst du verdächtig. Ich bin eine Kollegin, Assad, ich kenne dich, aber wenn man dich nicht kennt …«

»Dann bin ich ein Fremder, ein Muslim, ein Schläfer.«

»Ja. Sei jetzt nicht beleidigt, wenn –«

»Ich bin nicht beleidigt. Was du gerade –«

»Aber, Assad, wenn du so was sagst …«

»Elke«, sagte Assad. »Ich bin Asylant hier, weil ich von Islamisten verfolgt wurde, und jetzt werde ich wieder überwacht, kontrolliert. Warum? Weil ich einfach nichts für Opfer empfinde.«

»Du hast aber gesagt –«

»Ich habe aber gesagt! Was habe ich gesagt? Ich kann sagen, was ich will. Oder habe ich eine falsche Vorstellung von Freiheit? Außerdem, alles, was ich gesagt habe, sind nur Zitate.«

»Wie?«

»Was wie? Ich habe nur wiederholt, was Genet, Sontag und die anderen geschrieben haben.«

»Du glaubst also nicht daran?«, fragte Elke.

»Natürlich glaube ich daran.«

»Hat Sontag wirklich gesagt, dass sie kein Mitgefühl hat?«

»Das ist kein Zitat.«

»Also!«

»Also was? Muss ich die Klappe halten, weil ich Muslim bin und deshalb ein Terrorist? Ja, ich bewundere, was Atta und die anderen gemacht haben. Wir leben wieder in einer Zeit der großen Taten, es ist nicht mehr langweilig.«

»Assad!«

»Oui, Madame!«

»Nee«, sagte Elke vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht verstehen.« Dann wandte sie sich Assad zu, ohne ihn anzuschauen. »Es geht um das Leben von Tausenden unschuldigen Menschen, Assad, die morgens aufstanden, sich von ihren Kindern verabschiedeten und eine Stunde später starben, Tausende – unschuldige – Menschen.«

Assad warf den Stummel seiner Zigarette auf den Boden, blickte flüchtig auf Elkes schmale Lippen mit blondem Oberlippenbart und schaute wieder weg.

Er sah die Amerikaner, die vom Fahrtor kamen, sie waren wahrscheinlich am Mainufer ausgestiegen. Sich am Römer umschauend gingen sie, sehr langsam, an der Statue Karls des Großen vorbei. »Sie kommen«, sagte Assad. Er wollte ihnen entgegengehen, hielt aber kurz inne. »Übrigens, bleib nicht lange hier stehen, Elke. Das Rathaus ist renovierungsbedürftig und stürzt womöglich bald ein.«

Elke lächelte verkniffen.

»Kein Witz. Die Fassade wird bald abplatzen. Es gibt Luftblasen unter dem Putz. Zwischen den Keramikmosaiken und dem Untergrund fehlt die Verbindung, genau da, wo du stehst. Nächstes Mal sollten wir uns vor der Justitia treffen, unter freiem Himmel.«

Während er vor dem Gerechtigkeitsbrunnen wartete, bis die Amerikaner näher kamen, gingen ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf. Mitgefühl, dachte er wütend. Du wirst das nie verstehen. Wo war dein menschliches Mitgefühl, als über eine Million im Krieg starben, du warst irgendwo auf Ibiza, Mallorca, verliebt in einen Beachboy, hast die ganze Nacht getanzt und ge-bumst, bis zum Morgen. Was hast du empfunden, als ich in Teheran die Bomben zählte, die dein Vater, dein Bruder verkauft hatten? Nein, du wirst das nie verstehen, du hast ein halbes Jahr lang, bis zum Ende unserer Ausbildung, nicht mal kapiert, ob ich Iraker bin oder Iraner, aber du weißt, wie hoch das World Trade Center war.

»You are the Guide.« Die Gruppenleiterin schüttelte ihm die Hand. »I am Eva.«

»Assad.« Er stellte sich vor. »Nice to meet you.«

Eva versuchte, seinen Namen auszusprechen.

»Assad«, wiederholte er.

»You are not originally –«

»I am not German«, sagte er und verdrängte wieder seinen Lieb-lingssatz: Ich bin ein Fremder, der Fremden in einem fremden Land in fremden Sprachen eine ihm fremde Geschichte erzählt.

Die Reiseleiterin rief die Touristen zusammen und sagte zu As-sad, der gerade freundlich lächelte, dass er anfangen könne.

»Welcome to Frankfurt, Ladies and Gentlemen. My name is As-sad«, erklärte er der Gruppe laut, während er gleichzeitig seine schwarze Mappe aus der Tasche zog. »I come from Istanbul, I grew up in Ankara, and now I live in Frankfurt.«

Er bemerkte gleich das freundliche Lächeln auf verschiedenen Gesichtern. Er ließ offen, seit wann er in Deutschland lebte.

Eine Amerikanerin, die anscheinend auf der letzten Reise ihres Lebens war und eine Hemdbluse mit bunten großen Blumenmustern trug, fragte ihn nach seinem Namen.

»Assad«, sagte er. »A. like Amerika, then you have ss, together that makes Ass, then comes ad, like AD.« Er wartete, bis sie aufhörten zu lachen.

Die Amerikanerin wiederholte seinen Namen.

»Perfect«, sagte Assad. »Well, after all of that comes Allah. But all of it together is too much for you, you can simply call me Assad.«

»You have got all of history in your name«, sagte ein großer Amerikaner mit einer Videokamera in der Hand.

»Sometimes too heavy to carry it around, Sir«, sagte Assad.

Er gab ihnen ein allgemeines Bild von Frankfurt, erklärte ausführlich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation am Beispiel der vier Statuen auf der Fassade des Hauses zum Römer, und erzählte vor der Statue Karls des Großen, warum man diese Stadt Frankfurt am Main nannte. Dann führte er die Gruppe zum Mainufer.

Vor dem Leinwandhaus, südlich vom Dom, sprach Assad erst von der Messe in der damaligen Zeit und nach einer sehr kurzen Pause erzählte er dann artikuliert weiter. »The second building, now a café, has also something to do with the history of this city. In the twelfth century 200 Jews lived here, before the last pogrom 33,000, today we have about 6,000 Jews in the city. But!« Er hielt kurz inne. »How many Muslims? Can you imagine?«

Nach einer kurzen Stille hörte man verschiedene Antworten.

»A hundred«, sagte eine Amerikanerin, deren kleiner Kopf in scharfem Kontrast zu ihrem riesigen Busen stand.

»A hundred!«, wiederholte Assad theatralisch und wartete, bis ein Gast 20 000 erreichte.

»Much more, Sir«, sagte der Fremdenführer. »60 000!«

»60 000!«, sagte die Amerikanerin mit dem großen Busen. »Un-believable!«

Nachdem Assad die erwarteten Wows gehört hatte, führte er die Gruppe weiter zum Historischen Garten, wo er auch über den Dom erzählen wollte.

Ein Amerikaner in Bermudahose, mit seitlich gescheitelten Haaren und einem Notizheft in der Hand, anscheinend der Jüngste in der Gruppe, zeigte auf den Grabstein, der südlich vom Dom lag, und bat Assad, darüber zu erzählen.

»Sure«, antwortete Assad und versuchte, keine Miene zu verziehen.

Dennoch, für einen genauen Beobachter wären die leichte Veränderung in seinem Gesicht und das Zögern im Ton gut zu erkennen gewesen. Dieser Beobachter hätte das aber als Zeichen der Unwissenheit des Fremdenführers verstanden und wäre nicht darauf gekommen, dass die Frage Assad stark in Versuchung geführt hatte: Sollte er weiter über das Schicksal der Juden in Frankfurt erzählen? Dass er den letzten Pogrom erwähnt hatte, war riskant genug gewesen. Das Image der Stadt sollte positiv vermittelt werden. Man hatte doch alles am Anfang klargestellt: Was man lernte und was man erzählte, war nicht immer dasselbe. Die Festhalle an der Messe sollte in Verbindung mit Sport und Popstars erwähnt werden. Man brauchte den Amerikanern nicht unbedingt zu erzählen, dass das Gebäude nur eine Station vor dem Tod gewesen war.

Wollten die Touristen wirklich etwas Grausames hören? Nein. Oder doch? Gerade hatte einer danach gefragt.

»Hier, südlich vom Dom«, fuhr Assad fort, den Amerikaner mit dem Notizheft anschauend, »befand sich früher der erste jüdische Friedhof. Dieser Grabstein erinnert uns heute daran.« Sollte er es nicht lieber hierbei belassen? Das würde doch reichen. Es gab noch einiges zu sehen, sie hatten nicht viel Zeit.

Doch der Versuchung, das Unerlaubte auszudrücken, konnte Assad nicht widerstehen. Hatte er nicht deshalb seine Heimat verlassen? Er war einst so mutig gewesen! Er hatte zahlreiche anti-islamische Bücher und Essays übersetzt und heimlich verbreitet, viele philosophische Arbeitsgruppen an der streng bewachten Uni organisiert und war schließlich mit all seinem Hab und Gut in einer Schultertasche über die Grenze gelaufen, um seine Heimat für immer zu verlassen. Er hatte sich nie einschüchtern lassen.

Wäre er feige gewesen, dann hätte er in der Heimat bleiben und die Klappe halten können.

Aber das war doch lange her, vor zehn Jahren. Sollte er heute noch nach denselben Prinzipien leben?

Nein, sagte ein ihm teilweise unbekannter Assad.

Ja, sagte der Unversöhnliche in ihm.

Und er war nicht ganz überzeugt, als er sich schließlich für die Wahrheit entschied. »Etwa 10 000 Frankfurter Juden wurden von deutschen Nazis ermordet«, sagte er. »Und 700 Juden brachten sich um. Die –«

»How many?« Der Amerikaner mit Notizheft unterbrach ihn.

»700«, wiederholte Assad. »Und«, fuhr er fort, »eine Spur der Vergangenheit entdeckte man vor Kurzem hier im Dom. Bei den Renovierungsarbeiten stellte man fest, dass Teile der jüdischen Grabsteine in die Ostseite des Doms eingebaut worden waren.« Assad bemerkte, dass der Amerikaner mit der Videokamera ihn filmte. »It seems like you’re making a movie, Sir.«

»Yes, indeed«, antwortete der Amerikaner. »You don’t find this in the Green Guide. Go on, please.«

Assad sagte ihm, dass er gerne eine Kopie dieses Films haben würde, und führte dann die Gruppe weiter zum Archäologischer Garten

Dort beschrieb er die Bauphasen der Kirche, erklärte kurz den Bau und den Namen der Kunsthalle Schirn, und schließlich bat er sie, ihm zu folgen. »Back to the Römer«, kündigte er laut an.

Auf dem Rückweg zum Römer kam, wie erwartet, die erste Frage. Sogleich verlangsamte Assad seinen Schritt.

Der Amerikaner mit der Videokamera, der sich gerade links von Assad befand, fragte ihn auf Deutsch, welcher Religion er angehöre.

»Ich bin gebürtiger Muslim«, antwortete Assad.

»Beten Sie sechsmal am Tag?«

»Beten!«, sagte Assad. »Ich mache alle möglichen Sachen sechs-mal am Tag, Sir, aber nicht beten.«

Eine Amerikanerin, die rechts von Assad ging und ihm zuhörte, lachte herzlich. Assad wechselte einen kurzen Blick mit ihr.

Die Frau war ihm bereits am Mainufer aufgefallen, nachdem sie ihre braune Safari-Jacke ausgezogen hatte. Sie trug ein ärmel-loses, knielanges, rostfarbenes Jerseykleid und hatte lange lockige, nussbraune Haare und große Ohrringe.

Am Main wehte ein ungewöhnlich starker Wind, während As-sad die Amerikaner zum Eisernen Steg führte. An der Brücke hielt er sich in der Mitte der Gruppe auf und beobachtete auf der Treppe die Rückenpartie der Amerikanerin. Als der Wind ihr das Kleid gegen die Taille drückte, war sie gezwungen, die Treppe langsamer hinaufzugehen.

»Wenn man Sie ansieht«, sagte Assad vor dem Café Schirn zu ihr, »kann man kaum glauben, dass Sie über acht Stunden im Flugzeug waren. Sie sind so lebendig und neugierig, dass man wirklich Lust bekommt, Ihnen alles zu zeigen.«

Ihre Blicke begegneten sich wieder, länger und plötzlich zeitlos.

»Sie sprechen sehr gut Deutsch«, sagte der Amerikaner mit der Videokamera.

»Sie aber auch«, entgegnete Assad. »Wo haben Sie Deutsch gelernt?«

»Ich bin in Koblenz geboren«, erklärte der Amerikaner. »Sie kommt aus Texas.« Er zeigte auf seine Frau, die alt, aber fit war und kerzengerade neben ihrem Mann herstolzierte.

Assad zeigte sich erstaunt und sagte, dass er dann ja eigentlich ein Deutscher sei, worauf der Amerikaner nicht reagierte. »Kurz bevor Hitler an die Macht kam«, berichtete er, »emigrierten meine Eltern von Deutschland nach Amerika. Ich war ein Kind. He is a Muslim«, sagte er zu seiner Frau und deutete auf Assad.

»But how did you learn all this? You grew up here?«, fragte seine Frau. »It’s amazing.«

Er sei erst seit 1998 in Deutschland, erklärte Assad, er lebe und arbeite hier als Asylant. Als sie wieder am Römer waren, blieb er stehen und bat sie, auf die Nachzügler zu warten.

»Sind Sie alleine hier?«, fragte der Mann.

»Meine Mutter und Schwester leben noch in der Türkei, mein Vater wurde getötet, als ich siebzehn war.«

Der Amerikaner aus Koblenz übersetzte.

»Really?«, fragte seine Frau. »That’s horrible. Why do they do that?«

Inzwischen waren die Nachzügler auf dem Römerberg angekommen und beteiligten sich an der Befragung Assads.

Als Antwort auf die Fragen, die jetzt mehrere aus der Gruppe stellten, erzählte Assad, dass er nicht länger in der Türkei habe bleiben können, weil er den Roman Satanische Verse von Salman Rushdie ins Türkische übersetzt habe und – obwohl sein Name im Buch nicht erschien – er viele telefonische Drohungen erhalten habe. Seitdem lebe er in Deutschland und sogar hier müsse er vorsichtig sein.

»That’s so hard«, sagte die Frau halblaut vor sich hin.

»We could never imagine that«, fügte ihr Mann hinzu.

Assad setzte das Gespräch nicht fort, er fragte plötzlich in einem ernsten und energischen Ton, ob alle da seien. Dann zeigte er der Gruppe die öffentlichen Toiletten und gab ihnen ein paar Minuten frei.

Während der Pause verlor Assad die Frau im Jerseykleid aus den Augen. Dafür erfuhr er aber von der Reiseleiterin, woher die Gruppe kam und wie lange sie in Frankfurt bleiben wollte.

Im Anschluss an die Besichtigung der Paulskirche und des Goethe-Hauses, in dem er den Amerikanern leidenschaftlich von der Liebe im Werk Johann Wolfgang von Goethes berichtete und Werthers Liebestod hoch lobte, begleitete er die Gruppe zur Hauptwache.

Als sie am Gutenberg-Denkmal auf dem Roßmarkt vorbeigingen, kam eine Amerikanerin auf Assad zu, die einen roten Hut trug. Ganz am Anfang der Führung hatte sie wissen wollen, wie viele Ausländer in Frankfurt lebten.

»Wie viele Sprachen sprechen Sie eigentlich?«, fragte sie Assad mit Bewunderung in der Stimme.

»Mit Türkisch vier.«

»That’s fascinating!«

»Ich biete auch französische Führungen an, Ma’am. Ich habe in Ankara französische Literatur studiert. Wie kann man aber Voltaire in einem Land studieren, in dem man von Fanatikern verfolgt und getötet wird. Man kann sich hier nicht vorstellen, was diese Fanatiker im Iran anrichten, oder im Irak. In der Türkei ist es noch schlimmer. Und diese Deutschen, puh! No war, no war. Stop Bush. Sie kapieren nichts.«

Er bemerkte, dass der Amerikaner aus Koblenz und seine Frau wieder in seiner Nähe waren und ihm aufmerksam zuhörten.

Inzwischen hatten sie die Goethestraße erreicht, die er normalerweise als »the most expensive shopping street in Frankfurt with the Japanese as the main customers« erwähnte, gleich darauf der Gruppe ein Bild von früher zeigte, auf dem das Hotel zum Schwan zu sehen war, und dann vom Frankfurter Friedensschluss erzählte, unterschrieben von Bismarck in diesem Hotel.

Heute verzichtete er darauf. »Ich bin mit dem Krieg absolut einverstanden. Was kann man sonst mit den Islamisten machen, Ma’am. Ich hoffe, dass es im Iran auch bald losgeht. Egal, was diese deutschen Studenten denken. Sie langweilen sich an der Uni, you know, Hasch macht keinen Spaß mehr, und sie treffen sich auf der Straße, um zu demonstrieren. Sie kommen mit ihrer eigenen Geschichte, mit ihren eigenen Problemen nicht zurecht, aber wollen international aktiv sein. Dabei wissen sie nicht mal, wo Bagdad genau liegt. Ich wohne in einer WG, Ma’am, mit Deutschen zusammen. Die denken: No war, oder wie war das noch, ja, make love, not war, oder make music, not war, das ist cool, wissen Sie.«

Sie waren gleich an der Hauptwache angelangt.

»Ich habe alle gefragt, ob sie überhaupt wissen, was die Mullah oder Saddam mit dem eigenen Volk machen. Natürlich wissen sie es nicht. Schauen Sie sich mal Deutschland an. Ich komme selber aus der Türkei und kann das ruhig sagen. Ich bin kein Rassist, aber es gibt hier Millionen Türken, die –«

»Soo many!« Die Amerikanerin mit dem roten Hut unterbrach ihn.

»Nur in Deutschland, Ma’am«, sagte Assad. »Und es reicht, nur hundert Fanatiker darunter zu haben, um ganz Deutschland in die Luft zu sprengen … Wie viele Leute hat man für die Zerstörung der Twin Towers gebraucht? Zwei, drei, Ma’am, mehr nicht.« Er ließ den Satz »Sie waren Studenten wie ich« weg.

Er beendete die Führung nicht wie üblich, sondern führte die Gruppe weiter zur Zeil. »Sie gebären mehr und mehr Kinder, was eine deutsche Familie nicht macht. Was wird in fünfzig Jahren passieren? Schauen Sie sich mal Frankreich an. Dort wollen sie einen französischen Schriftsteller in den Knast stecken. Warum? Weil er gesagt hat, dass der Islam scheiße sei. Und jetzt wollen sie mit Hidschab zur Arbeit, weil –«

»What?«, fragte die Frau.

»Hidschab, Ma’am, veil«, sagte Assad und zeigte auf seinen Kopf.

»Oh, veil, yes«, sagte die Amerikanerin.

Assad schüttelte den Kopf. »Sie wollen sogar, dass in der Schule der Koran unterrichtet wird. Aber nicht auf Deutsch. Können Sie das glauben? Das ist eine Gefahr für ganz Europa. Bald beginnen alle deutschen Männer von Harems zu träumen und deutsche Frauen von Bauchtanz und Sex in der Sahara, wie in dem Film Sheltering Sky.«

»Oh, I love it, I have seen it many times. It’s wonderful«, sagte die Amerikanerin schwärmerisch.

»Die Muslime sehen friedliebend aus«, sagte Assad, »weil sie gerade keine Macht haben. Ich kenne sie gut. Haben Sie Khomeini nicht gesehen, wie er aussah, in sich gekehrt wie ein Philosoph, als ob nichts auf dieser Welt ihn interessierte. Dabei dachte er nur darüber nach, wie er Salman Rushdie am besten umbringen könnte.«

»You like his work?«, fragte die Amerikanerin.

»He is great, Ma’am. Read everything that he ever wrote”, wiederholte Assad den Satz, den Salman Rushdie selbst über Ray-mond Carver gesagt hatte.

Als sie warteten – die Ampel war rot –, verwandelte sich Assad plötzlich wieder in einen souveränen Guide, entfernte sich von der Frau mit dem roten Hut und sagte laut, dass die Führung gleich zu Ende sei.

Nachdem sie die Straße überquert hatten, erwähnte er die Zeil als umsatzstärkste Einkaufsstraße Deutschlands und bedankte sich bei den Touristen für ihre Aufmerksamkeit.

»Sie haben eine tolle Führung gemacht«, sagte der Amerikaner aus Koblenz. »Ich wünsche Ihnen, dass Sie die Türkei bald besuchen können – und Ihre Mutter.«

Er drückte Assad einen Geldschein in die rechte Hand. »Das ist was Kleines von mir und meiner Frau. Leben Sie wohl.«

»Take care«, sagte seine Frau.

Also, dachte der Fremdenführer, dieses Mal war es nicht nötig, über die Reformation in Frankfurt zu reden.

Während er noch einzelne Fragen beantwortete – wo die Alte Oper und ob im Kaufhof der Tax-free-Einkauf möglich sei, wo sich the next pharmacy befinde –, bekam er unaufhörlich von links und rechts Trinkgeld, und er versuchte so schnell wie möglich, sich das Geld in die Taschen zu stecken.

Das war nicht einfach, die Taschen seiner Jeanshose waren ziemlich eng.

Als Assad allein zurückblieb, näherte sich ihm die Amerikanerin in dem Jerseykleid. »Sind Sie schon mal in Amerika gewesen?«

»Leider nicht. Ich möchte aber hin. Haben Sie heute noch was vor?«, fragte er.

Assad fürchtete, dass sie ihm auch ein Trinkgeld geben wollte, sah aber nichts in ihrer Hand und fühlte sich erleichtert.

»Vielleicht können Sie mir was empfehlen. Sie sind ja der Guide. Sie führen die Fremden durch die Stadt.«

Assad sah, wie ihr sanftes Lächeln andauerte, ohne dass ihre Lippen sich öffneten.

»Sie könnten auf den Main Tower gehen«, sagte Assad und zeigte auf das Hochhaus. »Sie können alles sehen, wenn Sie oben sind. Das ist total anders, als wenn Sie unten stehen. Oben können Sie auch sitzen. Man sieht viel, das kann ich Ihnen versprechen.«

»In der Nacht muss das aber noch schöner sein, oder?«

»Bleiben Sie noch in Frankfurt?«, fragte Assad, obwohl er die Antwort schon wusste.

»Wir fahren morgen früh ab.«

Eine Bettlerin näherte sich und öffnete ihre Hand. »Nein«, sagte Assad und schüttelte dabei den Kopf. Die Bettlerin, der Assad schon öfter auf der Zeil begegnet war, starrte ihn verächtlich an. Verpiss dich, ging ihm durch den Kopf. Er mied ihren Blick, und als er sich wieder der Amerikanerin zuwenden wollte, fiel ihm kein Wort ein.

»Wie komme ich dort hin?«, fragte die Amerikanerin. Plötzlich war sie nur eine Touristin, eine Fremde, die einen Fußgänger nach dem Weg fragte.

»Ich kann Sie begleiten.«

»Würden Sie?«

Assad zog seinen Kalender aus der Schultertasche. »Um acht?«

»Um acht«, antwortete die Amerikanerin. »Ich heiße Kate. Haben Sie noch eine Führung?«

»In einer Stunde«, sagte er, obwohl es eine Lüge war. »Die letzte für heute. Wir können uns hier treffen, dann hinlaufen. Es ist nicht weit.«

»Ich gehe gerne zu Fuß«, sagte sie.

Sie verabschiedeten sich. Assad blieb noch kurz stehen und schaute ihr nach, wie sie in Richtung Altstadt fortging.

Bis acht Uhr war noch viel Zeit. Assad konnte nach Hause gehen, duschen und sich etwas anderes anziehen.

Unterwegs fand er sich von zahllosen Selbstvorwürfen überwältigt. Er verteidigte sich aber nicht.

Ich bin, was ich erzähle, dachte er nur.

2

Kurz nachdem er sich von der Amerikanerin verabschiedet hatte, ging Assad auf der Zeil weiter.

Er setzte sich auf eine der bogenförmigen Bänke an der Platane und zündete sich eine Zigarette an.

Der Abend konnte ihn viel Geld kosten, wenn er sich mit der Amerikanerin traf: Das Drei-Gänge-Menü im Restaurant des Main Towers kostete circa 85 Euro pro Person, ohne Drinks. Es würde dauern. Es würde spät werden. Zu spät. Ihre Gruppe reiste früh am Morgen ab, sie würde nicht die Nacht durchmachen. Assad würde sie bis zum Hotel begleiten, wo sie sich bedanken und verabschieden würde. Die Amerikanerin würde ihn niemals mit auf ihr Zimmer nehmen, zumal ihre Gruppe im selben Hotel untergebracht war.

Gut, sie würde ihm ihre Adresse geben und ihn in die USA einladen, aber die USA waren für Assad zu weit weg, zu teuer. Außerdem würde er kein Visum bekommen. Tja, er konnte weder nach Amerika noch in den Iran.

In Gedanken versunken zog er an seiner Zigarette, blieb auf der Bank sitzen und starrte auf die Woolworth-Fassade gegenüber. Was war aus seinen Plänen geworden? War er nicht in Europa, um frei von islamischer Zensur zu schreiben, ohne die Peitsche der Mullah fürchten zu müssen? Jahre waren vergangen und die Resultate kamen ihm mager vor. Ein paar Essays für die literarische Zeitschrift, die sein guter Freund Farid veröffentlichte, deren treue Abonnenten, zweihundert Exiliraner, oft genug vergaßen, ihr Abonnement auch zu bezahlen. Was noch? Ein paar Erzählungen und Romanentwürfe.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich hier eine berufliche Existenz aufzubauen und sich so intensiv darum zu kümmern. Vielleicht war Farid auf dem richtigen Weg. Die Iraner müssten aufgeklärt werden, hatte Farid schon gesagt, als sie beide noch die G-Kurse am Studienkolleg besuchten. »Wir müssen die Iraner mit großen Denkern wie de Sade bekannt machen. Deswegen sind wir hier.« Farid war seinen Prinzipien treu geblieben. Er arbeitete immer noch für weniger als zehn Euro die Stunde in Hotels, ging keine Kompromisse ein, lebte trotz des geringen Einkommens auf großem Fuß, genoss mit seinen osteuropäischen Freundinnen wilde Nächte in Discos und Swingerclubs, ließ sich auf keine feste Beziehung ein und hatte immer gute Laune.

Wie schafft er das, fragte sich Assad oft, obwohl sie längst gute Freunde waren. Sie hatten doch dieselben literarischen Vorbilder gehabt, von deren Lebens- und Arbeitsweisen sie sich immer wieder erzählten: Hatte Balzac nicht anfangs von Wasser und Brot gelebt, in einer kalten Mansarde? Hatte Hemingway in Paris nicht immer einen Umweg gemacht, damit er nicht der Versuchung erlag, in teuren Restaurants zu speisen?

»Unser Leben«, hatte Assad einmal zu Farid gesagt, »hat keinen roten Faden, wir werden es nie schaffen, einen Roman zu schreiben. Erzählungen vielleicht, Gedichte auch, aber einen Roman, nie. Was Hemingway und Joyce erlebt haben, war kein Exil, nicht wirklich. Sie hatten noch ihre Sprache, egal wo sie waren, sie hatten Publikum. Ohne die Sprache sind wir tot.«

»Schreib doch auf Persisch«, hatte Farid gesagt.

»Für wen? Für deine paar Hundert Leser? Du verstehst nicht, Farid. Es ist anders, wenn du eine Zeitschrift veröffentlichst. Ein Roman nimmt mehrere Monate Zeit in Anspruch, ich muss mich Tag und Nacht mit meinen Figuren beschäftigen, ihre Gedanken, ihre Gefühle ausdrücken. Im Persischen kann ich mich gar nicht mehr richtig ausdrücken.«

»Stimmt nicht. Alle Leser haben deine Übersetzung von Joyces Briefen an Nora bewundert. Oder deinen Essay über Liebe und Tod im Schahnameh.«

»Das ist was anderes. Ich habe nur übersetzt, was Joyce gefühlt hat, wie er Nora geliebt hat. Ich selbst aber kann einer Perserin nicht mehr sagen ›Ich liebe dich.‹«

»Dann sag es auf Deutsch – warum lachst du denn, Assad? Ich meine es ernst. Liebe kennt keine Sprache.«

»Du weißt ganz gut, was ich meine, Farid. Unser Schicksal ist tragisch. Du willst aber darüber lachen. Schön für dich. Ich kann es nicht.«

Was Assad erklären wollte, hatte er längst in seinen Notizen dargestellt, als er noch im Asylantenheim lebte und seine Gefühle auf Persisch ausdrücken konnte.

Gießen, 1995

Ich existiere nur in Fragmenten, in Episoden, die nichts miteinander zu tun haben.

Ich kann nicht in meiner Muttersprache schreiben, Persisch ist in Deutschland nutzlos. Ich bin in einer islamischen Familie aufgewachsen, kann aber kaum Arabisch, außerdem hasse ich den Koran, den ich nie richtig gelesen und verstanden habe. Ich habe die Verse als Schüler auswendig gelernt und danach wieder vergessen.

Ich gelte als Iraner, kenne mich aber mit Balzac und de Sade besser aus als mit Hafez und Saadi oder Ferdowsi.

Mein Vater ist ein reicher Mann, ich lebe hier aber von Sozialhilfe und der Gartenarbeit bei einer alten deutschen Frau.

Mein Studium habe ich abgebrochen, ebenso wie den Kontakt zu meiner Familie.

Alles habe ich abgebrochen. Ich bin ein abgebrochener Mensch. Ohne Kontinuität. Ich bin wie Ost und West, bestehe aus Teilen, die man nie miteinander verbinden kann. Keine Versöhnung. Kein Frieden. Ewige Unruhe. Schlachtfeld der Werte. Maudit.

Wäre der Iran von England kolonisiert worden oder wäre ich nach London gegangen, wäre ich vielleicht berühmt wie Rushdie oder Kureishi. Ja, vielleicht. Vielleicht sollte ich nach London gehen, es ist doch nicht weit. Oder nach Amerika, wie Nabokov. Ich muss unbedingt Nabokovs Memoiren lesen.

Assads zwei Erzählungen waren sein erster Versuch gewesen, auf Deutsch zu schreiben. Seine Literaturlehrerin im Studienkolleg, Frau Schreiner, hatte die Texte sprachlich korrigiert und eine Lesung veranstaltet.

Assad sollte auf der Abschiedsparty des Sommersemesters vorlesen, über hundert Studenten und Lehrer waren im Garten der alten Villa in Westend anwesend.

Die Lesung dauerte zwanzig Minuten. Der Applaus hielt lange an, lange genug, um sich des Erfolges zu vergewissern. Tief im Innern jedoch wünschte sich Assad, dass er vor einem deutschen Publikum gelesen hätte. Außer den Lehrern waren alle anderen Ausländer. In der alten Gründerzeitvilla unter Ausländern fühlte er sich noch mehr wie ein Ausländer, und immer wenn er das Gebäude verließ und wieder auf der Bockenheimer Landstraße stand, sobald er das traditionsreiche Café Laumer sah und dabei an die deutschen Philosophen der Frankfurter Schule dachte, hörte das Ausländergefühl plötzlich auf, auch wenn er deren Schriften nie gelesen hatte.

Nach dem langen Applaus wandte sich Frau Schreiner an das Publikum: »Haben Sie Fragen an unseren jungen Autor?«

Sogleich meldete sich Farid. »Ich hatte Assads Erzählung schon gelesen«, sagte Farid. »Aber heute habe ich Assads Geschichte gehört und seine Hauptfigur, einen Flüchtling, besser verstanden. Die Stelle, wo der Iraner über die Grenze geht, hättest du ruhig ausführlicher beschreiben können, sie ist sehr bewegend, aber vielleicht etwas zu kurz.«

Frau Schreiner, die über ihre silberne Brille auf Farid starrte, unterbrach ihn in einem liebevollen Ton: »Das ist eine sehr interessante Bemerkung, Farid. Hast du aber auch Fragen?«

»Ja … Ich wollte Assad fragen, warum er überhaupt schreibt. Willst du was ändern, willst du berühmt werden, reich werden, willst du der Welt zeigen, was in deiner Heimat passiert?«

»Assad?« Frau Schreiner wandte sich an den Autor und drehte das Mikrofon in seine Richtung.

»Bevor ich deine Frage beantworte«, begann Assad, während er die Blätter seiner Erzählung mit beiden Händen zusammenrollte, »will ich etwas zu deiner Bemerkung sagen. Ich könnte die Stelle länger beschreiben, es stimmt, was du sagst; über dieses Erlebnis kann man einen Roman schreiben. Man verlässt seine Heimat, bevor man tatsächlich über die Grenze läuft. Die Seele ist schon längst ins Exil gegangen. Sonst könnte man sich gar nicht auf den Weg machen … Zu deiner Frage, warum man schreibt: Um berühmt und reich zu werden? Ja, warum nicht? Aber es ist mehr als das, oft weiß man nicht genau, warum oder wie. Schreiben ist ein Versuch, die Welt – das Leben – die Menschen zu verstehen, aber auch verstanden zu werden. Das klingt sehr abstrakt, ich weiß. Gut, wann habe ich genau mit dem Schreiben angefangen? Ich denke, es war in der Grundschule in meiner Geburtsstadt Maschhad. Wir sollten berichten, wie wir die Ferien verbracht hatten. Das war unsere Hausaufgabe für das persische Neujahrsfest Nowruz. Ich erzählte alles realitätsgetreu und ehrlich: Um acht Uhr stand ich auf, frühstückte mit der Familie, dann sah ich einen Film im Fernsehen. Dann kamen die ersten Gäste, es gab viele leckere Sachen, die wir nicht anfassen durften. Ich spielte bis zum Mittag Fußball mit meinem älteren Bruder und den anderen Kindern. Nachdem die Gäste gegangen waren, aßen wir zu Mittag, ich schaute dann wieder fern, bis weitere Gäste kamen. Und wir spielten Fußball, bis es dunkel wurde …« Assad hielt kurz inne.

Er hörte, dass einige seiner Kommilitonen lachten. »Genau«, fuhr er fort, »so hat es auch damals gewirkt, in der Grundschule. Zuerst lachten zwei oder drei meiner Schulkameraden, dann einige mehr, es wurde laut, ich wusste nicht, ob ich weiterlesen sollte, die Lehrerin rief zur Ruhe, ich las weiter über den zweiten Tag, der genau wie der erste Tag abgelaufen war. Ein Schüler wiederholte ein paar meiner Sätze und die ganze Klasse explodierte vor Lachen, bis es auch die Lehrerin nicht mehr aushalten konnte, sie lachte mit. Ich stand da, hilflos, beleidigt, erniedrigt. Ich schämte mich. Wie tief hasste ich meine Eltern, besonders meinen Vater … Hätten wir eine Reise unternommen, wäre mein Bericht nicht so langweilig gewesen. Das hatte er aber nicht gewollt – er war ein typischer Bazaari, und die Tradition erlaubte nicht, an Nowruz zu verreisen. Man sollte zu Hause bleiben und die Gäste empfangen. Später nach dem Abitur habe ich viel über dieses Erlebnis nachgedacht, meine Schulkameraden traf keine Schuld. Vielmehr wurde mir an diesem Tage bewusst, was für ein langweiliges Leben ich führte. Ich hatte immer gedacht, wir sind großartig, wir sind reich, wir sind das Beste. Warum lachten sie mich denn aus, wenn alles wirklich so großartig war? Es war schmerzhaft, aber das Schreiben hat mir eine andere Wahrheit gezeigt, eine Wahrheit, die ich gar nicht gesucht hatte. Und das ist ein gutes Zeichen: Literatur entwickelt sich unabhängig von den Absichten des Autors, der Text entblößt den Autor, auch wenn er das nicht will, er kann es nicht verhindern, auch wenn er dadurch mit bitteren Wahrheiten über sein Ich konfrontiert wird.« Er brach auf einmal ab.

Um seine Aufregung zu überspielen, entrollte er die Blätter seiner Erzählung wieder, dann blickte er seine Lehrerin an.

Frau Schreiner kam näher an Assad heran, der sich beim Publikum und auch bei ihr für diese Gelegenheit bedankte.