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Die Schamanin erzählt in ihrer spirituellen Biografie ihre spannende Sinnsuche, bei der sie tief in das heilige Wissen der Grönland-Schamanen eindringt. In einer persönlichen Sinnkrise lernt Annabelle den Grönland-Schamanen Ankaara kennen, der sie mit in das Land seiner Vorfahren nehmen will – weil er von ihrer Gabe als Seherin weiß. Sie folgt seinem Ruf, lässt ihren Mann und die zwei Kinder zu Hause zurück, und reist mit Ankaara bei minus 50 Grad auf Huskyschlitten durch endlose Eiswüsten, über zugefrorene Fjorde und schneebedeckte Berge. Ziel der Reise sind die alten Ritualplätze, um verloren gegangenes, spirituelles Wissen zu bergen. Denn es gibt eine Prophezeiung bei den Grönland-Schamanen: "Wenn das Eis im Herzen Grönlands zu schmelzen beginnt, wird die Erde ihr ältestes heiliges Wissen frei geben." Diese Zeit ist nun gekommen. Die junge Frau schildert in ihrer spirituellen Autobiografie viele existenzielle Bewährungsproben und entdeckt tief in sich ihre Fähigkeit als Mittlerin zwischen den Welten. Sie wird als Schamanin initiiert, doch die wichtigste Entscheidung steht noch aus: In welcher Welt will sie leben? In ihrer authentischen Geschichte verbindet die Schamanin die alte, zeitlose Weisheit mit dem Leben einer modernen selbstbewussten Frau.
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Seitenzahl: 373
Annabelle Wimmer Bakic
Wie ich zur Schamanin wurde
Knaur eBooks
Die Schamanin erzählt ihre spannende Sinnsuche, bei der sie tief in das heilige Wissen der Grönland-Schamanen eindringt.
In einer persönlichen Sinnkrise lernt Annabelle den Grönland-Schamanen Ankaara kennen, der sie mit in das Land seiner Vorfahren nehmen will – weil er von ihrer Gabe als Seherin weiß.
Sie folgt seinem Ruf, lässt ihren Mann und die zwei Kinder zu Hause zurück, und reist mit Ankaara bei minus 50 Grad auf Holzschlitten durch endlose Eiswüsten, über zugefrorene Fjorde und schneebedeckte Berge. Ziel der Reise sind die alten Ritualplätze, um verloren gegangenes, spirituelles Wissen zu bergen. Denn es gibt eine Prophezeiung bei den Grönland-Schamanen: „Wenn das Eis im Herzen Grönlands zu schmelzen beginnt, wird die Erde ihr ältestes heiliges Wissen frei geben.“ Diese Zeit ist nun gekommen.
Die junge Frau durchlebt viele Bewährungsproben und entdeckt ihre Fähigkeit als Mittlerin zwischen den Welten. Sie wird als Schamanin initiiert, doch die wichtigste Entscheidung steht noch aus: In welcher Welt will sie leben?
In ihrer authentischen Geschichte verbindet sie die alte zeitlose Weisheit mit dem Leben einer modernen selbstbewussten Frau.
Vorwort
1. Ein Licht in der Dunkelheit
2. Trommeln aus einer anderen Welt
3. Die Entscheidung
4. Die Reise beginnt
5. Ogi, seine Hunde und die Einheit
6. Der Schamane und die Finsternis
7. Das Gespür von Schnee
8. Mit der Kraft des Totems
9. Der Rabe, die Eisbärin und ich
10. Im Gewahrsein der Seherin
11. Eins mit dem Berg
12. Der träumende Geist
13. Der Tupilak-Schnitzer
14. Gilaneq
15. Bewusstseinsträger
16. Verbindung zu meinem Selbst
17. Einigkeit der Realitäten
18. Die zwei Dimensionen der Prophezeiung
19. Herzwissen
20. Ein heilendes Geschenk
21. Der Absturz
22. Der Mond und die Seele
23. Tanz der Nordlichter
24. Ein neues Leben
25. Polaris
Ende und Neuanfang
Vor mir liegt ein neues Leben.
Es beginnt sich zu regen,
fast unmerklich,
tief in mir drin;
ein Zittern.
Wie die Luft, die den Flügelschlag eines Schmetterlings aufnimmt.
Bewegung und Ausdehnung.
Aufregung und Neugier.
Angst und Erwartung.
Alles liegt unsichtbar vor mir.
Was will werden?
Was ist zu tun?
Nur eine Bewegung ist lesbar,
aus dem Dunkeln,
dem engen Kokon,
ins Licht:
Leben, mit allen Sinnen.
Ein Licht in der Dunkelheit
Ich liege auf dem Operationstisch, dem grellen Licht der Lampen ausgeliefert. Am liebsten würde ich weglaufen, aber ich kann mich nicht bewegen. Die Spinalanästhesie lähmt den Körper, schärft jedoch meine Sinne. Ich fühle, höre, rieche, schmecke und sehe alles überdeutlich. Meine Wahrnehmung verschmilzt mit dem chemisch gereinigten, sterilen Raum, den medizinischen Gerätschaften, dem Rascheln der Arztkittel und den blendend weißen Fugen zwischen den meergrünen Kacheln.
Ich habe ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Vielleicht ist das die unterdrückte Angst, weil ich operiert werde und nicht genau weiß, was los ist. Der Arzt hat nur Andeutungen gemacht.
Ich versuche, mich abzulenken, während sich das OP-Team um mich kümmert. Sie scheinen zu wissen, was sie tun, sind eingespielt, wirken routiniert.
Ich denke an meine Tochter, die ich vor wenigen Stunden geboren habe. Alles ist wunderbar verlaufen, doch gegen Abend fühlte ich mich plötzlich schlapp und müde. Die Schwester holte den Arzt, der mir ein paar Fragen stellte und sich die Naht des Kaiserschnitts anschaute. Er entschied, ich müsse noch mal operiert werden, und zwar schnell. Nun liege ich hier, und Beklommenheit macht sich in mir breit.
Plötzlich spüre ich Anspannung um mich herum, es wird hektisch. Ich lausche meinem Herzschlag. Das gleichförmige, dumpfe Pochen, bisher eher ein Hintergrundgeräusch, hallt in meinem Kopf wider. Sein Rhythmus wird unstet, holprig und gehetzt. Sofort ist die Angst da. Irgendetwas stimmt nicht. Was passiert mit mir? Ich höre meinen eigenen Atem. Die Stimmen im Raum gehen ineinander über, verwandeln sich in ein immer lauter werdendes Rauschen.
Der Arzt sagt: »Schnell, wir verlieren sie!« Messerscharf dringt seine Stimme durch den dichten Geräuschteppich zu mir durch.
Dann höre ich wieder die Schläge meines Herzens. Ich nehme wahr, wie sie sich verlangsamen, und weiß, was als Nächstes kommen wird: ein einzelner, nicht enden wollender Ton. Gleichförmig und doch von einer herben Poesie. Die letzte Note der Symphonie meines Körpers.
Ich spüre, wie sich etwas öffnet. Alles wird leicht. Nichts drückt und beengt mehr, alles fließt. Auch die Angst ist weg.
Ich betrachte die Ärzte, die um den OP-Tisch stehen. Die Szene, der Raum, die Menschen, alles befindet sich unter mir. Ich nehme ihre Stimmen wahr, verstehe, was sie reden, aber es dringt nicht zu mir durch. Ich bin nicht damit verbunden. Da ist eine Art durchsichtiger Strom, der zwischen mir und dem Geschehen steht. Ich sehe, dass die Ärzte unter Hochspannung an einem Körper arbeiten.
Kein Zweifel, da unten auf dem Tisch, das bin ich. Ich sehe die Umrisse meines Körpers, schemenhaft auch mein Gesicht. Ich selbst aber bin woanders. Mir ist bewusst, dass gerade etwas Elementares mit mir geschieht, doch es hat keine Bedeutung für mich. Es berührt mich nicht. Ich spüre mein Sein eher durch meine Gedanken. Kein Körper, keine Gefühle. Nur der freie Fluss des Denkens, ohne die lästigen Fragen nach dem Wie oder dem Warum. Es ist einfach, wie es ist.
Seitlich hinter mir nehme ich ein Licht wahr. Es scheint sanft und ist doch von großer Klarheit. Ich wende mich um. Die Strahlen sind nahezu durchsichtig und glitzern in allen Farbtönen wie ein Diamant. Sie fließen und funkeln um mich herum, laufen auf einen Punkt zu, eine Art Tor, das irgendwo weiter weg liegt. Dann höre ich sphärische Töne, und eine tiefe Sehnsucht ergreift mich. Dorthin möchte ich. In diesem Moment ziehen sich Licht und Klang zurück. Ich will nach ihnen greifen, da sehe ich, dass dieses Leuchten auch von meiner Hand ausgeht.
Es ist der letzte Gedanke, den ich fassen kann. Danach bricht alles weg und wird schwarz.
Ich erwache in meinem Krankenhauszimmer und spüre nichts als Schmerzen. Ich bin wie eine offene Wunde, eingekapselt in diesen Körper. Alles ist so eng, so dicht. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich eingesperrt – in mir. Mein Leib ist bleischwer, zieht mich nach unten und fühlt sich an wie ein nasser Sack, in den ich hineingesteckt worden bin.
Ich wende langsam den Kopf und schaue aus dem Fenster. Es ist Nacht. Die Dunkelheit beruhigt mich, sie hüllt mich ein. Ich verspüre Erleichterung, obwohl mir alles wehtut. Wie geht es dem Baby?, frage ich mich. Aber mir fehlt die Kraft, weiterzudenken. Ich schlafe ein.
Am nächsten Morgen fühle ich mich besser, und meine Tochter wird mir gebracht. Ich finde sie wunderschön, genau wie meine Große, an die ich in diesem Moment denken muss. Jede für sich ist ein Wunder und bedeutet unendliche Liebe für mich. Ich rieche an ihrem Köpfchen. Es ist ein zarter und doch durchdringender Duft, der mir sofort das Herz öffnet.
Dann ist Visite. »Wie geht es Ihnen?«, erkundigt sich der leitende Arzt.
»Ganz gut so weit, danke«, antworte ich.
Er blättert in meinen Unterlagen und sagt dann unvermittelt: »Da hätten wir Sie ja beinahe verloren letzte Nacht.«
Ich schaue ihn an. »Sie meinen, ich wäre fast gestorben?«
Er nickt und erklärt, ich hätte großes Glück gehabt. Eine Vene sei beim Kaiserschnitt wohl nicht richtig vernäht worden und habe unbemerkt in den Bauchraum hineingeblutet. Bis sie das überhaupt entdecken konnten, hätte ich schon sehr viel Blut verloren, und bei der OP habe mein Herzschlag für längere Zeit ausgesetzt. Im letzten Moment hätten sie mich zurückholen können.
»Aber das wird schon wieder«, sagt er gut gelaunt. »Und Ihrer Tochter geht es auch gut.«
Ich bringe ein »Danke« heraus. Mehr fällt mir dazu nicht ein, denn ich bin entsetzt darüber, wie schnell man offensichtlich um sein Leben bangen muss.
Der Arzt und sein Team untersuchen die Wunde, legen einen neuen Verband an und überprüfen den Katheter. Der Arzt verkündet, dass ich in ein paar Tagen schon wieder nach Hause könne, dann verlassen sie mich, die Tür schlägt zu, und ich bleibe allein mit meiner schlafenden Tochter zurück.
Die Stille im Zimmer ist ohrenbetäubend. Es ist ein altes Krankenhaus mit hohen Decken und einer gewissen Grandezza, aber auch ein wenig abgetakelt und altmodisch. Auf einmal komme ich mir vor wie aus der Zeit gefallen, fremd im eigenen Leben. Um mich meines Daseins zu vergewissern, berühre ich das raue Baumwolllaken und lasse es durch meine Finger gleiten. Es fühlt sich trocken und sauber an. Kein Geräusch dringt von draußen herein. Mein Zimmer ist wie von dieser Welt abgeschnitten. Auch ich bin abgeschnitten, und zwar von mir selbst. Fast wäre ich gestorben. Mehr noch, ich war eigentlich schon tot. Ich muss daran denken, wie ich mich auf dem OP-Tisch habe liegen sehen. War das ein Nahtoderlebnis? Im Religionsunterricht in der Schule haben wir das Thema Nahtod einmal durchgenommen. Ich erinnere mich, dass uns die Lehrerin Texte dazu vorlas. Davon war ich damals sehr beeindruckt, aber auch irgendwie beruhigt, weil ich für mich daraus folgerte, dass man gar nicht richtig sterben kann.
Ich schließe die Augen, das Thema ist mir gerade zu viel. Erschöpfung macht sich in mir breit. Dennoch kommen meine Gedanken nicht zur Ruhe. Hat das alles einen Sinn? Immerhin wäre ich fast gestorben und bin doch zurückgekommen. Das ist ein besonderer Moment, ich frage mich, ob darin eine tiefere Bedeutung liegen könnte, komme aber zu keinem Schluss. Vielleicht ist es gut, das Ereignis nicht zu hoch zu hängen, sondern einfach nahtlos weiterzumachen. Ein Bild erscheint vor meinem inneren Auge: eine perfekte Naht, wie mit der Maschine genäht, ohne Unterbrechung, Stich an Stich. Ist mein Leben wie diese Naht? Bin ich wie eine Maschine?
Ich seufze. Nein, eigentlich nicht. Aber ich sollte die Sache einfach hinter mir lassen, schließlich ist alles gut gegangen.
Doch irgendetwas fehlt. Ich spüre eine ungekannte Leere in mir, fühle mich unvollständig, so als fehle etwas.
Meine Gedanken kehren zu der Sehnsucht zurück, die ich im Operationssaal verspürt habe. Es war eine tiefe, grenzenlose Sehnsucht, die keinen Ort und kein Ziel kennt. Fast nicht auszuhalten, so schmerzhaft schön. Als ich daran denke, lodert sie wieder auf, bittersüß wie dunkle Schokolade und verheißungsvoll.
Wofür steht dieser Sehnsuchtsschmerz? Ich führe doch ein erfülltes Leben. Ich bin glücklich verheiratet und habe nun zwei wundervolle Kinder, die ich über alles liebe. Wir genießen das Leben. Nichts fehlt. Mein Mann und ich haben uns bei einer Ausstellungseröffnung kennengelernt. Kunst und Kultur ist unser großes gemeinsames Interesse. Ich habe Kunstgeschichte, Germanistik und Archäologie studiert, Praktika im In- und Ausland gemacht. Meine Gedanken wandern zu den Ausgrabungsorten, die ich besucht habe. Dort bin ich in unterschiedliche Zeitalter der Vergangenheit eingetaucht, in die vielfältigen Schichten der Geschichte. Ich sah Details aus dem täglichen Leben der Menschen, hörte die jeweiligen Sprachen, nahm die Gerüche der Orte wahr, spürte die Stoffe und Materialien, schmeckte den Staub in der Luft, fühlte die Sonne und den Wind auf der Haut. Archäologie war für mich ein sinnliches Erlebnis. Ich verband meine Recherchen vor Ort mit der wissenschaftlichen Arbeit in der Bibliothek, setzte alles zu einem stimmigen Bild zusammen. Daraus entstanden Vorträge, die die Vergangenheit aufleben ließen und von meinen Professoren wie Kommilitonen geschätzt wurden.
Nach dem Studium habe ich mich jedoch entschieden, nicht als Archäologin zu arbeiten. Über ein Praktikum im Guggenheim Museum New York kam ich bei angesehenen Galerien in Hamburg und Berlin unter und lernte die zeitgenössische Kunstszene kennen. Später nahm ich das Angebot meines Vaters an und kam in unser Familienunternehmen, das auf Kosmetik-Design und Verpackungen spezialisiert ist. Ich reise viel, arbeite an interessanten Themen, verdiene gutes Geld, fahre ein schönes Auto und wohne mit meiner Familie in einer großzügigen Wohnung in angesagter Lage in München.
Warum stelle ich das alles jetzt infrage? Hat sich die Krise meines Körpers ins Seelische verlagert?
Es ist fast Mittag. Meine Tochter liegt in meinen Armen, und ich drücke sie an mich. Das Essen kommt, und ich stochere lustlos im Schweinebraten herum. Hunger habe ich nicht, doch die Nahrung tut gut, und mit jedem Bissen kommt ein wenig Kraft wieder.
Ich schaue aus dem Fenster. Es ist Winter und morgen beginnt das neue Jahr. Ich betrachte die kahlen Baumkronen im Innenhof. Sie stehen für ein stetiges Vergehen und Entstehen, Sterben und Erneuern. Fast wie bei mir, denke ich. Ich bin gestorben und wiedergekommen. Aber wo will ich hin? Ein Wort drängt sich in mein Bewusstsein: entwurzelt. Ja, so fühle ich mich gerade. Wie ein Baum ohne Wurzeln. Vielleicht steht jetzt die Erneuerung an, kommt es mir in den Sinn. Erneut spüre ich diese Sehnsucht. Wird sie mich zu dieser Erneuerung führen? Ich nehme sie als eine Bewegung wahr, die größer wird, irgendwohin will und mich mitnehmen möchte. Aber wohin? Ich taste mich vor, doch da ist nichts, nur Leere, es gibt keine Anhaltspunkte.
Was könnte in meinem Leben erneuert werden? Die Familie auf keinen Fall, da bin ich mir sicher. Und beruflich? Ich muss an meinen Job denken. Ich lebe einen normalen Alltag, kann mir ein schönes Leben leisten, erfülle die Erwartungen. Die eigenen und die meines Umfelds. Reicht mir das?
Widerwillen macht sich in mir breit. Wie wenig hat diese Arbeit doch mit dem Studium zu tun, dem ich mich einst mit solcher Leidenschaft verschrieben hatte. Die Zeit an der Universität war intensiv und glücklich, inhaltlich sehr reichhaltig, voller Gedanken und Ideen. Mir ging es immer darum, wie alles miteinander zusammenhängt, wie kulturelle Vorstellungen in Gebäuden, Gegenständen des täglichen Bedarfs oder in der Schrift ihren Ausdruck gefunden haben. Ich verglich Zeiträume und Kulturen miteinander, immer auf der Suche nach dem, was die Menschen im Inneren bewegt, was sie eint, was allen Menschen immanent ist. Wo ist diese Sinnhaftigkeit geblieben? Wohin sind die Bedeutungsebenen verschwunden, die über Themen wie Markttauglichkeit, Absatz und Profit hinausgehen?
Je mehr ich mich diesen Gedanken hingebe, desto klarer sehe ich, wie weit ich mich von meinen ursprünglichen Interessen und Werten entfernt habe. Und damit von mir selbst.
Wo sind meine Träume, meine Ideale und Visionen geblieben? Lebe ich sie nur noch im Privaten?
Ein Klopfen an der Tür holt mich aus meinen Gedanken. Es sind mein Mann und unsere ältere Tochter, und ich winke sie freudig heran. Stefan hat den gesamten gestrigen Abend im Krankenhaus verbracht und auf den Ausgang der OP gewartet, aber irgendwann musste er nach Hause, um sich um unsere Tochter zu kümmern.
Sie stürmt herein, hält mir stolz eine Schachtel mit Kuchen hin und schaut nach dem Baby in meinen Armen. Ich ziehe sie an mich und umarme sie. Eigentlich möchte ich mit Stefan über das gestrige Erlebnis reden, aber das muss warten. Die Wunde an meinem Bauch tut immer noch sehr weh, vor allem, wenn ich mich aufrichte. Unvorstellbar, dass ich in ein paar Tagen schon wieder nach Hause soll.
Wieder klopft es, und meine Eltern kommen herein. Sie begrüßen den neuen Erdenbürger, setzen sich zu uns, und wir essen Kuchen. Als unsere Große unruhig wird, beschließen Oma und Opa, sie auf einen kleinen Spaziergang in den Innenhof des Krankenhauses mitzunehmen.
Endlich kann ich Stefan von der Operation erzählen – davon, wie knapp es war. Mein Mann hört sich alles geduldig an. Er ist ein Mensch, der ganz im Hier und Jetzt lebt. Anders als ich, die ich oft fantasievoll und emotional an die Themen herangehe, ist er eher pragmatisch und nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Ich berichte von dem Moment, in dem ich über dem OP-Tisch schwebte. Dem sanften Licht. Und der Sehnsucht.
Stefan bleibt gelassen. Er sagt: »Mach dir nicht zu viele Gedanken. Das Wichtigste ist doch, dass es vorbei ist. Nutz die Zeit im Krankenhaus, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. So viel Muße wirst du nicht mehr haben, wenn du wieder zu Hause bist.«
Später, als alle gegangen sind, lasse ich mich ins Kissen sinken. Ich bin immer noch schwach und genieße die Stille. Wie soll es zu Hause weitergehen? Erst mal habe ich Elternzeit und muss nicht in die Firma. Aber was kommt danach? Mache ich weiter wie bisher? Ich entscheide mich, meiner Familie erst einmal nicht von dem Nahtoderlebnis zu erzählen. Ich brauche Zeit, um meine Gedanken zu ordnen, da würden die Überlegungen anderer Menschen nur für unnötige Unruhe sorgen.
Einige Tage später werden wir entlassen. Das Baby, der Alltag und meine Genesung lenken mich ab, doch immer wieder kehren meine Gedanken zu dem Moment im OP-Saal und dieser unglaublichen Sehnsucht zurück. Seit der Rückkehr aus der Klinik wird mir von Tag zu Tag deutlicher, dass ich keinen nahtlosen Übergang in mein altes Leben möchte. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger kann ich mir vorstellen, dort weiterzumachen, wo ich vor Kurzem aufgehört habe. Das Nahtoderlebnis steht zwischen meinem alten und meinem neuen Leben. Es ist eine Zäsur, und ich finde keine Möglichkeit, eine Brücke zu schlagen, weiß aber auch nicht, wie ich mein Leben neu ausrichten soll.
Nur eines ist mir klar: Zurück geht es nicht mehr. Der Job hat mich von mir selbst entfernt, entfremdet sogar. Ich habe die Bedeutung in meinem Leben verloren – und ein Stück weit auch mich selbst.
Doch wohin kann es gehen? Was will ich? Mich erfasst Ratlosigkeit. Was ist mit dieser Sehnsucht, die ich immer noch verspüre? Es ist ein Sehnen, das sich immer mehr in mir ausbreitet und nicht eingrenzen lässt. Wonach sehne ich mich so sehr?
Nach dem Leben selbst, denke ich. Ich spüre, dass etwas Wichtiges fehlt. Dass es um etwas Existenzielles geht, ohne das meinem Leben der Sinn fehlt, ohne das ich niemals wirklich glücklich sein kann. Wann war ich das letzte Mal glücklich? Sobald ich die Frage auch nur denke, fühle ich mich schuldig. Was ist mit meiner Familie? Meinen Kindern? Dem neugeborenen Baby? Bin ich undankbar?
Nein, sage ich mir. Nicht undankbar. Aber eben auch nicht vollständig glücklich. Nicht aus mir heraus, unabhängig von äußeren Einflüssen. Natürlich liebe ich meinen Mann und meine Töchter, aber tief in meinem Innern gibt es eine leere Stelle. Das Nahtoderlebnis hat mich daran erinnert. Ich sehne mich nicht nach dem Tod, sondern nach dem ganzheitlichen Gefühl, das mich durchdrungen hat, als ich das sanfte Licht sah. Da war ich restlos glücklich, und zwar aus mir selbst, aus meinem reinen Sein heraus. Von außen hat es nichts gebraucht.
Mir wird bewusst, dass ich mich an einem Wendepunkt befinde. Das Leben hat mich aufgefordert, mich auf die Suche zu machen nach diesem Glück. Bin ich ihm in meinem Leben bereits begegnet? Erst kommt keine Antwort, doch dann tauchen Bilder aus meiner Kindheit auf: ich im Wald für mich allein, verträumt und dem Augenblick hingegeben. Ich saß unter den Tannen im Moos und spielte. Die Steine und Wurzeln waren meine Freunde, ich unterhielt mich mit den Sonnenstrahlen, die in die kühle Dunkelheit des Waldes vordrangen. Ich sprach mit dem Bächlein, das nicht weit von mir dahinplätscherte, und sang ein Lied für alle meine Freunde. Dort war mein Zuhause. Dort konnte ich sein, wie ich bin. Dort habe ich Glück empfunden.
Trommeln aus einer anderen Welt
Lange habe ich nicht mehr an die Zeiten in Hetzenbichl auf dem Samerberg im Chiemgau gedacht, wo ich mit meinen Großeltern viele Wochenenden verbrachte. Ich streifte durch Wald und Flur, erkundete jeden Stein und jeden Grashalm und besuchte meine Freunde in der Natur. Ich fühlte mich mit allem verbunden. Alles war im Fluss, fühlte sich selbstverständlich an und zugleich bedeutungsvoll. Oft durfte ich in den Stall gehen und der Bäuerin beim Melken helfen. Dazu sang ich Lieder, die ich im Religionsunterricht gelernt hatte und leicht abwandelte, damit sie zu den Kühen passten. Die Bäuerin meinte, wenn ich für sie sänge, würden die Kühe ruhiger und gäben mehr Milch. Es war eine wundervolle Zeit.
Warum fallen mir diese Erlebnisse ausgerechnet jetzt ein? Was bedeutet das? Geht es um ein ursprünglicheres, naturverbundeneres Leben?
Ich frage Stefan um Rat. Zu meinem Erstaunen sagt er mit einem Schulterzucken: »Dann ziehen wir eben aufs Land, wenn das für dich wichtig ist. Von dort können wir schließlich auch arbeiten. Vielleicht wäre das eine schöne Abwechslung für uns zwei Städter.«
Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich darum geht, und sage nichts dazu. Die Bilder aus meiner Kindheit zeigen mir nicht allein das Glück, sondern eine große Zufriedenheit und tiefe Sinnhaftigkeit, die ich bei allem empfand. Es gab keine Trennung zwischen innen und außen, zwischen meiner eigenen und der äußeren Welt.
Aber nun bin ich erwachsen. Das Leben ist nicht mehr so einfach wie damals, und Geld muss ich auch verdienen. Vielleicht geht es bei meiner Sehnsucht auch nicht um Glück, sondern um den Sinn? Ich bin achtunddreißig Jahre alt und muss mir die Frage stellen, wofür ich stehe, wer ich bin und was mir wirklich wichtig ist.
Womöglich geht es um den Sinn meines Lebens. Das große, pathetische Wort lässt mich zurückschrecken. Gibt es den überhaupt, den Sinn des Lebens?
Auf der Suche nach mir selbst bin ich stets vorangeschritten. In vielem bin ich hinlänglich begabt, ich hätte es in einigen Bereichen weit bringen können. In der Archäologie wie in der Kunst, im Designstudium wie auch im Marketing habe ich mir in jeweils kurzer Zeit eine gute Position erarbeitet, doch nirgends hat es mich länger gehalten. Nirgends hat es sich für mich gelohnt zu bleiben. Es war alles so leicht, so selbstverständlich und wurde irgendwann beliebig. Wie ein Spiel, das nach einiger Zeit langweilig wird. Denn tief in mir drin ist, solange ich denken kann, immer etwas unbefriedigt und unerfüllt geblieben.
Und nun? Stehe ich schon wieder an einem Wendepunkt. Werfe ich erneut alles hin und wende mich etwas Neuem zu? Anders als in früheren Zeiten gibt es heute keinen Impuls von außen, keine Perspektive, die mir Kraft und Gewissheit gibt. Ich spüre, wie mich Unsicherheit beschleicht. Was ist, wenn ich mir etwas vormache und mich einfach in eine neue Herausforderung verrenne? Vielleicht habe ich nicht gerade einen Traumjob, aber ich habe eine gute Position. Das ist immerhin etwas.
Doch Zweifel nagen an mir. Was, wenn mein Leben morgen plötzlich zu Ende wäre? Wäre ich zufrieden mit meiner Wahl? Nein. Das alles wäre nicht genug. Ich hätte das Gefühl, das Wesentliche verpasst und an mir selbst vorbeigelebt zu haben, womöglich, ohne es überhaupt zu bemerken. Aber wohin soll es gehen? Wohin kann ich mich wenden, um eine Antwort auf meine Fragen zu finden?
Eines Abends im Februar, einige Wochen nach der Geburt unserer zweiten Tochter, sitzen Stefan und ich beim Essen. Er spürt, wie unzufrieden ich bin. Ich bin ein Mensch der Tat und bringe die Dinge gern voran, doch nun weiß ich nicht weiter. Das macht mich fertig.
Mein Mann schaut mich an und sagt: »Wir brauchen eine Perspektive für dich. Nichtstun ist keine Lösung. Dann lieber den nächsten Schritt gehen, egal wohin, auch wenn nicht klar ist, ob es Sinn ergibt. Das ewige Herumsitzen zu Hause ist nicht gut für dich, es schlägt dir aufs Gemüt. Überleg, ob du morgen nicht mal rausgehst, in der Stadt einen Kaffee trinkst, unter Leute kommst oder mal wieder eine Ausstellung besuchst. Mach etwas Schönes für dich, ich nehme mir frei und pass auf die Kinder auf.«
Es ist ein wunderbares Angebot, das ich gern annehme. Ich beschließe, einen Tag Ferien vom eigenen Ich zu machen.
Am nächsten Morgen schlage ich nach dem Frühstück zu Fuß den Weg ins Stadtzentrum ein. Auf eine Ausstellung habe ich keine Lust. Lieber will ich ein wenig schlendern und gucken, die Leute beobachten und mich ohne Ziel dem Strom überlassen. Ich genieße die ruhigen Isarauen, dann die urbane Atmosphäre mit den bunten Angeboten und Annehmlichkeiten der Stadt, gehe in ein Café und bummele durch die Fußgängerzone. Am Nachmittag komme ich an einer Buchhandlung vorbei und gehe, einem Impuls folgend, hinein. Ich spaziere an den Regalreihen entlang und suche mir den Roman einer amerikanischen Schriftstellerin aus, die über den Kunstmarkt schreibt. Für Stefan nehme ich eine Familiengeschichte aus Afrika mit.
Auf dem Weg zur Kasse komme ich an der Rubrik Lebenshilfe vorbei. Hier bin ich noch nie stehen geblieben, schließlich wusste ich mir immer selbst zu helfen. Nun riskiere ich doch einen Blick. Doch schon die Umschläge der Bücher und ihre Titel schrecken mich ab. Alles kommt mir so banal vor, so simpel. Da fällt mein Blick auf einen Band, auf dem ein etwas wild aussehender Mann in indigener Tracht abgebildet ist. Interessiert betrachte ich das Gesicht … es zieht mich in seinen Bann, und ich greife nach dem Buch. Es handelt sich um eine Sammlung von Interviews mit Schamanen weltweit.
Ich stutze. Was ist noch mal ein Schamane? Ich erinnere mich, davon schon einmal gehört zu haben. Ein Schamane ist so etwas wie ein Medizinmann, aber der Typ auf dem Umschlag sieht Gott sei Dank nicht so aus, wie ich mir einen Medizinmann vorstelle. Ich schlage das Buch auf und lese ein paar Sätze aus einem der Interviews. Hört sich nicht schlecht an. Altes Wissen für eine neue Zeit. Ich beschließe, das Buch zu kaufen. Auch, weil es mir unangenehm ist, vor dieser Auslage zu stehen. Es könnte jemand, den ich kenne, vorbeikommen und sich fragen, ob ich ein Problem habe.
Ich gehe nach Hause, mache mir einen Tee und ziehe mich ins Schlafzimmer zurück, um dem Gewusel im Wohnzimmer zu entkommen. Auf dem Bett liegend, schaue ich aus dem Fenster. Es hat angefangen zu schneien. Dicke Flocken sinken langsam vom Himmel herab, jede von ihnen ein Unikat. Schnee habe ich schon immer geliebt. Das Schweben der Flocken bringt sein eigenes Zeitsystem mit sich. Es hilft mir, zur Ruhe zu kommen, den Alltag loszulassen und mein Umfeld zu vergessen.
Irgendwann reiße ich mich von dem Anblick los und schlage das Buch auf. Die interviewten Schamanen kommen aus allen Teilen der Welt, offenbar gibt es sie überall. Ich starte mit der Einführung, die erklären will, was Schamanen sind und warum ihr altes Wissen für das Heute wichtig ist. Der Text überzeugt mich nicht, auch da er merkwürdig unklar bleibt.
Trotzdem lese ich weiter, stoße auf ein Gespräch mit einem Schamanen aus dem Regenwald, der unter anderem über bewusstseinserweiternde Substanzen spricht. Das schreckt mich ab. Arbeiten Schamanen so?
Ich erinnere mich an eine Erfahrung mit Mitte zwanzig. Ich war mit Freundinnen in Amsterdam, und wir teilten uns einen Haschkeks, der es in sich hatte. Ich litt unter starken Halluzinationen und erlebte eine schreckliche Nacht voller Albträume. Danach wusste ich: Das ist nichts für mich. Seitdem habe ich von Drogen die Finger gelassen.
Ich blättere weiter und stelle fest, dass es vor allem Männer sind, die interviewt werden. Gibt es keine Frauen, die als Schamanen arbeiten?
Schließlich komme ich zu einem Interview mit einem grönländischen Schamanen. Das Bild von ihm gefällt mir, er sieht nett aus. Außerdem finde ich Grönland aufregend, dort war ich noch nie. Vielleicht ist es ein bisschen wie Island? Dort war ich schon mal, und die raue, ursprüngliche Landschaft hat mich sehr beeindruckt.
Ich fange an zu lesen. Das Interview ist zunächst leicht und unkompliziert, wird jedoch zunehmend komplex, und ich tauche immer tiefer ein. Mich fasziniert, wie dieser Grönländer mit dem klingenden Namen Ankaara auf die Fragen antwortet. Es ist eine gelungene Mischung aus modernen Ansichten und einer fremden, sehr alten Kultur, die immer wieder zwischen den Zeilen durchleuchtet. Er spricht über die Landschaft seiner Kindheit und die Schönheit dieser unberührten Wildnis. Ich spüre seine tiefe und bedingungslose Verbindung zu diesem Land, das eine eigene Sprache zu sprechen scheint und dem Schamanen sein Wissen preisgibt. Alles wirkt erhaben, ist voller Bedeutung. In mir entsteht das Bild einer auratischen Welt. Selbst der kleinste Stein hat seinen ganz eigenen Glanz. Dieser Schamane empfindet die grönländische Wildnis als Teil seines Selbst und zugleich als Teil von etwas viel Größerem. Ich spüre, dass mir die Tränen kommen. Erst wenige, dann immer mehr. Unaufhaltsam.
Was ist denn los mit mir?
Ankaara spricht von den wichtigen Plätzen der Inuit und von jahrtausendealtem Wissen. Die Plätze erscheinen vor meinem inneren Auge, ich sehe Hügelketten und Bergspitzen, Täler und Fjorde, ein weites Land aus Eis und Schnee. Und ich sehe Stellen, an denen der Ozean durch die Eisdecke bricht, tiefblaues Meerwasser, das zwischen schneebedeckten Eisplatten hindurchdringt. Ankaara, der Schamane, erzählt von Ritualen, von der Kommunikation mit der Natur und den Geistern. Ich stelle mir vor, wie er diese Rituale vorbereitet, wie er an bestimmten Stellen Steine aufeinanderschichtet. Die Bilder in meinem Kopf erinnern mich an mich selbst, wie ich als Kind im Wald Steine gelegt und Stöcke gesetzt habe.
Ich verstehe, wie sehr die Arbeit in der Natur einen berühren kann, und fühle, wie sich durch die Worte des Schamanen etwas in mir öffnet. Ich atme tief ein und spüre, dass sich in mir etwas ausdehnt und weit wird. Ankaara erzählt, er habe durch die Einsamkeit in der Wildnis zu seiner ureigenen Aufgabe und dem Sinn seines Lebens gefunden.
Die Worte treffen mich ins Herz, sprechen direkt mit meiner Seele. Ankaara kennt den Sinn seines Lebens. Er hat ihn durch die Natur gefunden und ist ihm bedingungslos gefolgt. Vielleicht wäre das auch ein Weg für mich? Ich spüre, wie sich die Sehnsucht in mir wieder regt und auszurichten beginnt – wie die bewegliche, aber orientierungslose Nadel in einem Kompass, die sich auf den Nordpol einstellt. Womöglich ist das ein Wegweiser, ein Zeichen für mich.
Am Ende des Interviews bin ich immer noch sehr berührt. Mir war die Natur stets sehr wichtig, aber ein Stück weit habe ich die Verbindung zu ihr verloren. Heute scheint es dafür keinen Raum zu geben, keine Zeit, in der Natur zu sitzen, wahrzunehmen und einfach zu sein.
Ich blicke von dem Buch auf. Vielleicht geht es genau darum. Womöglich hilft mir die Natur, mich selbst zu finden und nach dem tieferen Sinn meines Seins zu forschen.
Mein Mann ruft zum Abendessen. Als die Kinder im Bett sind, sitzen wir zusammen und berichten einander, wie der Tag war. Ich komme auf das Buch zu sprechen und kann die Tränen kaum zurückhalten. Sie beginnen unkontrolliert zu fließen.
»Dieser Schamane nimmt die Natur genau so wahr, wie ich es früher getan habe. Er spricht mit ihr so wie ich als Kind.« Ich erzähle von meiner Zeit in Hetzenbichl. »Vielleicht ist diese Verbindung mit der Natur ein Anhaltspunkt dafür, meinem Leben eine neue Richtung zu geben und den tieferen Sinn zu finden.«
Stefan hört aufmerksam zu. Als ich verstumme, steht er auf und umarmt mich. »Wie schön, dass sich heute so viel für dich getan hat. Hast du schon mal im Internet nach diesem Ankaara gesucht?«
Ich schüttele den Kopf, und mein Mann holt sein Handy und gibt den Namen des Schamanen in die Suchmaschine ein. Er findet nicht viel, nur das Buch, das ich gekauft habe – und eine Ankündigung, dass Ankaara kurz vor Ostern zu einem Seminar nach München kommen wird.
Ich bin erstaunt. So jemand kommt nach München? Um was für eine Art von Seminar geht es? Werden da viele Leute teilnehmen?
»Da gehe ich hin«, beschließe ich kurzerhand, und Stefan nickt mit einem Lächeln im Gesicht.
Drei Wochen später betrete ich den Raum, in dem das Seminar stattfinden wird. Obwohl noch eine halbe Stunde Zeit ist, sind schon fast siebzig Leute da, die meisten haben sich bereits Plätze gesichert. Ich schaue mich um. Es sind mehr Frauen als Männer hier, die meisten zwischen vierzig und sechzig. Einige sind barfuß, ein paar scheinen sich zu kennen. Ich seufze. Es ist das typische Esoterik-Publikum, auf der Suche nach irgendwas. Esoterik ist nicht mein Ding. Ich bin definitiv nicht auf spirituelle Erkenntnis oder Erleuchtung aus! Das alles ist mir ein Graus.
Plötzlich weiß ich nicht mehr, warum ich überhaupt hergekommen bin. Ja, ich sehne mich nach einer Antwort auf diese unbestimmte Sehnsucht in mir und nach einem tieferen Sinn im Leben. Aber werde ich hier auch nur einen Schritt weiterkommen? Ich bezweifle es. Es geht mir doch um den Teil meines Selbst, den ich als Kind gespürt habe und dem ich in den Erzählungen Ankaaras wiederbegegnet bin. Er hat mich motiviert, hierherzukommen. Ich habe doch keine vorgezogene Midlife-Crisis! Ich muss nichts kompensieren, um ein schöneres Leben zu führen, und habe auch nicht vor, die Welt zu verbessern. Dieses wabernde Gutmenschentum um mich herum entspricht mir gar nicht. Noch kann ich gehen. Ich überlege bereits, den Rückzug anzutreten, da betritt Ankaara den Raum. Ich erkenne ihn sofort. Zum einen ist er der einzige Inuk, zum anderen habe ich sein Bild bereits in dem Buch gesehen. Ein wenig älter sieht er aus, vielleicht um die siebzig.
Er begrüßt alle Anwesenden mit einer Umarmung. Ich bin verwundert, kennt er jeden hier? Während ich gebannt sein Tun verfolge, merke ich kaum, dass er näher kommt. Schon steht er vor mir. Hoffentlich umarmt er mich nicht. Das mag ich nicht, schon gar nicht von einem Wildfremden.
Der Schamane blickt mir in die Augen, streckt mir zur Begrüßung die Hand hin und sagt mit einem Lächeln auf Englisch: »Ich bin Ankaara, und wer bist du?«
Erleichtert ergreife ich die Hand und will mich vorstellen, da hat er mich schon in seine Arme gezogen. Ich rieche das Fell seines Oberteils und spüre die Kralle, die um seinen Hals hängt und an meiner Wange kratzt. Noch ehe ich mich losmachen kann, gibt er mich frei und geht zum Nächsten.
Überrumpelt suche ich mir einen Platz und setze mich, beobachte, wie er die Umarmungsrunde abschließt. Dann beginnt das Seminar.
Ankaara erzählt aus dem Leben der Inuit, von der wilden Landschaft Grönlands und ihrer Kraft. Auch von der Kraft der Stimme, die bei den Inuit traditionell einen hohen Stellenwert hat. Früher wurden Kämpfe nur im Sängerwettstreit ausgefochten. Irgendwann holt er seine Trommel heraus und fängt an, sie anzuschlagen und dazu zu singen. Mit einem Mal öffnet sich der Raum. Ich spüre Weite und Freiheit und muss tief einatmen. Durch den ursprünglichen Klang der Trommel fühle ich die wilde Natur des fremden, kalten Landes in mir, spüre, wie sie mich umarmt und willkommen heißt, meine eigenen Kräfte aktiviert.
Als Ankaara endet, laufen mir Tränen über das Gesicht. Ich kann nichts dagegen tun, sie fließen lautlos und unaufhaltsam. Hoffentlich sieht mich keiner, denke ich, das ist doch sentimental. Die Frau neben mir greift in ihren Korb und holt ein Taschentuch heraus. Dankbar, aber etwas peinlich berührt nehme ich es und putze mir verstohlen die Nase.
Ankaara spricht von einer Prophezeiung: »Wenn das Eis im Herzen Grönlands schmilzt, wird die Erde ihr ältestes heiliges Wissen freigeben. Dann wird Grönland zu einem Rosengarten, und sein Duft wird sich über die Welt verbreiten, für einen neuen Frieden unter den Völkern.« Der Schamane schaut in die Runde, mustert die Gesichter, die sich ihm gebannt zugewandt haben. »Ich gehe davon aus, dass diese Zeit jetzt gekommen ist«, sagt er und spricht über den Klimawandel und seine tiefgreifenden Folgen für die Kultur der Inuit. Die einstige Jäger- und Fischerkultur sei dabei, ihren Kern zu verlieren.
Ich höre nicht mehr richtig zu. Meine Gedanken gehen zurück zu der Prophezeiung. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie das Eis taut und die Eisdecke aufbricht, wie Pflanzen wachsen und Blumen anfangen zu blühen. Eigentlich ist es ein wunderschönes Bild von einer neuen Zeit, in der das alte und das neue Grönland eins werden. Trotz der Poesie, die dem zugrunde liegt und die hoffnungsvoll stimmen kann, ist die Problematik dahinter jedoch nicht zu übersehen. Der Klimawandel wird nicht nur Grönland von Grund auf verändern.
In der Pause möchte ich Ankaara ansprechen, aber das wollen auch andere. So hat sich vor ihm eine lange Schlange gebildet, und es ist nicht davon auszugehen, dass er für mich auch noch Zeit hat. Vielleicht am Ende des Seminars.
Ich hänge meinen Gedanken nach. Soll ich bleiben? Ich bin unschlüssig, aber gehen will ich auch nicht. Ich beiße in den Apfel, den ich mir mitgebracht habe. Da sehe ich, wie Ankaara sich erhebt und zu mir blickt. Er winkt mich zu sich und deutet Richtung Innenhof.
Ich kann es kaum glauben. Meint er wirklich mich?
Langsam folge ich ihm. Wir gehen hinaus und lassen die anderen im Raum zurück. Als jemand zu uns treten möchte, wedelt Ankaara ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung fort. Dann wendet er sich mir zu und sagt: »Und du? Was ist mit dir?«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, stammele etwas über den tieferen Sinn meines Lebens und dass mich sein Interview in dem Buch so berührt hat.
»Was hast du gespürt, als ich die Windtrommel benutzt habe?«, fragt er mich.
»Die Kraft Grönlands und ein wenig meine eigene«, antworte ich zögerlich.
Ankaara reagiert nicht, sondern schaut mich nur an. Erwartet er mehr? Ich halte die Stille kaum aus und rede weiter.
»Es war, als wenn ich ein Teil dieser Wildnis wäre. Es hat sich angefühlt wie Nachhausekommen.«
Ankaara nickt zufrieden. »Hast du zugehört, als ich über die Prophezeiung gesprochen habe?«
»Ja, natürlich.«
»Und wie war das?« Eindringlich schaut er mich an.
»Ich habe gesehen, dass das Eis schmilzt und überall Blumen wachsen. Es sah schön aus. Hoffnungsvoll.«
Ankaara lächelt. »Gut. Ich denke, du hast genug von deinem Leben verschwendet. Es wird Zeit, dass du endlich deinen Weg gehst. Ich werde in Grönland die heiligen Plätze meiner Ahnen besuchen. Ich möchte, dass du mitkommst. Wir werden auf traditionelle Art unterwegs sein, mit Schlittenhunden durch die Wildnis. Diese Reise ist sehr wichtig, für dich und für mich. Gib meiner Assistentin deine E-Mail-Adresse, damit sie dir alle Informationen dazu schicken kann.«
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, und nicke nur. Ankaara nickt ebenfalls kurz, dann geht er unvermittelt seiner Wege und lässt mich allein im Innenhof zurück.
Ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt, weiß nicht, was ich von alledem halten soll. Warum soll gerade ich mitkommen? Was meint er damit, dass ich mein Leben verschwendet hätte? Das finde ich irgendwie dreist, und zugleich fühle ich, dass er auch recht hat. Denn genauso ist es. Das ist der Grund, weswegen ich hergekommen bin. Dennoch frage ich mich, was das alles zu bedeuten hat. Das ist doch verrückt! Ein wenig fühle ich mich auch von der Tatsache, dass er mich mitnehmen will, geschmeichelt. Ich bin erleichtert, weil es mit seiner Einladung eine Bewegung, eine Richtung gibt. Das Gespräch hat mich aufgerichtet, ich schöpfe Hoffnung. Hoffnung, dem Essenziellen zu begegnen, und Hoffnung, den tieferen Sinn meines Seins zu finden.
Ich kehre in den Seminarraum zurück und halte Ausschau nach Ankaaras Assistentin. Als ich sie entdeckt habe, spreche ich sie an. In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich eigentlich gar nicht mitfahren kann – immerhin habe ich zwei Kinder und einen Mann, die ich nicht einfach so allein in München lassen möchte. Aber es ist zu spät, sie hat sich schon zu mir umgedreht.
»Ankaara hat gesagt, dass ich, also …« Ich stocke, dann sammle ich mich. »Er hat gesagt, dass ich auf die Reise zu den Ahnenplätzen mitkommen soll.«
Die Assistentin schaut mich erstaunt und ein wenig zweifelnd an. »Auf diese Reise nimmt Ankaara nur eine Handvoll Leute mit. Bist du sicher, dass du dabei sein sollst?«
»Ja, ganz sicher. Er hat das unmissverständlich gesagt.«
»Lass mich bitte kurz nachfragen«, sagt sie und eilt davon. Nach einiger Zeit kommt sie zurück, stellt sich mir als Catherine vor und bittet mich um meine E-Mail-Adresse. »Die Reise ist für den Januar geplant, alles Weitere erfährst du per Mail. Ich melde mich bei dir.«
Im Januar soll es losgehen? Das ist in einem Dreivierteljahr – unmöglich. Wie mache ich das mit den Kindern? Das geht doch nicht! So ein Unsinn. Wieso habe ich mich überhaupt auf den Quatsch eingelassen?
Die Pause ist zu Ende, und die Teilnehmer kehren auf ihre Plätze zurück. Die zweite Hälfte des Seminars geht fast spurlos an mir vorüber. Ich bin so in Gedanken über das, was Ankaara zu mir gesagt hat, dass ich mich nicht konzentrieren kann.
Zum Abschluss holt er noch einmal das Instrument hervor und beginnt zu singen. Er wird lauter, intensiver, seine Stimme hört sich an, als kämen arktische Winde aus allen Richtungen zusammen. Sie hüllen mich ein und tragen mich davon. Inmitten dieser Windmelodien höre ich auf einmal andere Stimmen. Sie kommen von allen Seiten, sind durch Zeit und Raum gereist und sprechen mich direkt an. Sie rufen mich, fordern mich auf, mit ihnen zu kommen, mich ihnen hinzugeben. Und da ist sie wieder, die Sehnsucht. Sie ergreift mich, und ich spüre, wie mein Herz klopft. Meine Brust wird eng, zu eng. Die Spannung nimmt mit der Lautstärke des Trommelgesangs zu. Auch die Sehnsucht wird größer. Mein Herz pumpt schneller, und ich beginne heftig zu atmen. Angst greift nach mir. Was, wenn ich einen Herzinfarkt bekomme? Ich will schreien. In dem Moment, als nichts mehr geht, reißt plötzlich alles auf. Mir ist, als öffnete sich mein Herz mit einem Ruck in die ewige Weite. Freiheit, Atem und Fluss. Es ist wie eine Erlösung von mir, meinem alten Selbst. Das Gewordene bleibt zurück und überlässt sich dem Neuen, das kommen will. Einem neuen Sein, einem neuen Selbst, das, gespeist von einer tiefen Sinnhaftigkeit, vielfältiger, kraftvoller, intensiver und erfüllender leben will. Es fühlt sich an wie ein Heimkommen, ein Ankommen in mir selbst. Ich erkenne: Die Sehnsucht in mir ist die Sehnsucht nach mir selbst. Es ist ein Selbst jenseits der alten Konditionen, jenseits der Grenzen meines Denkens, Fühlens und Handelns, jenseits der gängigen Erwartungen, Vorstellungen und Bedingungen. Ich muss einen Weg finden, zu leben und zu sein, wie ich bin, aus meinem tiefsten Inneren heraus. Jetzt verstehe ich, dass nicht nur ich diese Sehnsucht habe, sondern dass wir alle – alle Menschen – diese Sehnsucht in uns tragen.
In diesem Moment ist es mir absolut klar: Ich werde mit dem Schamanen nach Grönland gehen.
Die Entscheidung
Wenn du fahren willst, fahr«, sagt Stefan, als ich ihm noch an diesem Abend von meiner Begegnung mit Ankaara erzähle.
Immer wieder bin ich überwältigt von diesem Mann. Keine Sekunde zögert er, mir die Reise zu ermöglichen. Auch wenn es bedeutet, dass er mehr als zehn Tage allein bleibt mit unseren Töchtern, von denen die jüngere gerade mal ein Jahr alt sein wird.
Doch meine eigene Sicherheit ob der Entscheidung gerät schon am Tag nach dem Seminar ins Wanken. Wie komme ich auf die Idee, meine Familie allein zu lassen, um mit einem mir wildfremden Mann nach Grönland aufzubrechen? Die folgenden Wochen sind ein einziges Auf und Ab, ein Wechselbad der Gefühle, und auch meine Gedanken fahren Achterbahn. Soll ich auf diese Reise gehen? Ich bin zwischen Zweifel und Erwartung hin- und hergerissen. Die Fahrt nach Grönland könnte zu einem Wendepunkt werden, aber möchte ich das wirklich? Ich spüre die Kraft des Alten und die des Neuen, die des Vertrauten und die des Aufbruchs, beide stehen einander gegenüber wie bei einem Kräftemessen. Angst und Freude, Resignation und Hoffnung liegen im dauernden Wettstreit. Zwischendrin flammt immer wieder das schlechte Gewissen auf. Warum bin ich nicht mit dem zufrieden, was ist?
Was meine Familie angeht, möchte ich, dass alles beim Alten bleibt, denn ich suche Stabilität, für mich, für uns alle. Doch welchen Preis bin ich bereit, dafür zu zahlen? Würde ich dafür das opfern, was für mich das Wichtigste ist? Ich reibe mich zwischen den Verpflichtungen des Alltags und dem Drang nach Selbstermächtigung auf.
Und immer wieder muss ich an das Trommelritual denken. Was ist dabei mit mir geschehen? Habe ich mich einfach nur hineingesteigert? Insgeheim weiß ich, dass es ein Schlüsselerlebnis war, ein Schlüssel zum Tor meines Selbst.
Aber will ich mich wirklich verändern? Ich fürchte mich davor, zu etwas vorzudringen, nach dem ich mich insgeheim schon immer gesehnt habe. Auch wenn ich nicht weiß, was es ist und wo es mich hinführt. Aber der Drang in mir, nach Grönland zu reisen, ist archaisch.
Gleichzeitig flößt mir das Reiseziel, der Nordosten Grönlands, eine der letzten großen Wildnisse dieser Erde, einen Heidenrespekt ein. Ich bin vielleicht in kulturellen Dingen sehr bewandert, habe aber keinerlei Erfahrungen in elementarer Lebensführung. Vor allem bin ich nicht der Typ für ein Survivaltraining. Wie werde ich eine Reise bewältigen, die sich unkontrollierbar, unbezähmbar, anarchisch anfühlt? Das Bild einer Naht kommt mir wieder in den Sinn, nur ist es diesmal keine regelmäßige Linie, bei der sich Stich an Stich reiht, sondern ein Geflecht sich wild überschneidender Linien, chaotisch, aber durchaus kraftvoll und poetisch.
Und es plagen mich Zweifel hinsichtlich Ankaaras. Kann ich ihm vertrauen? Warum hat er mich ausgesucht? Geht es ihm ums Geld oder um Macht – womöglich um Sex? Ist er an mir als Frau interessiert?
Ich setze mich an den Computer und suche im Internet nach Informationen, die mir bei der Entscheidungsfindung helfen könnten. Als Erstes möchte ich mehr über Ankaara herausfinden. Aber im Netz gibt es nichts, was mich weiterbringen könnte, sieht man von dem ab, was wir bei unserer ersten Recherche in Erfahrung bringen konnten.