Der Gesang in den Meeren - Doreen Cunningham - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Gesang in den Meeren E-Book

Doreen Cunningham

0,0
17,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von den Lagunen in Baja California bis zu den Gletschern des Nordpolarmeers legen Grauwalmütter mit ihren Kälbern jährlich Tausende von Meilen in dem sich aufgrund des Klimawandels erwärmenden Meer zurück. Es ist die längste Wanderung eines Säugetiers auf unserem Planeten. Doreen Cunningham, selbst alleinerziehende Mutter, folgt den Walen auf dieser gefährlichen Reise, zusammen mit ihrem zweijährigen Sohn Max – in Bussen, Zügen und auf Schiffen, allein und auf sich gestellt. Den Plan zu diesem Abenteuer hat sie an einem Tiefpunkt ihres Lebens gefasst: Gestrandet in einem Heim für obdachlose Mütter, erinnert sie sich an ihren Aufenthalt bei den Iñupiat im Norden Alaskas, an die unbändige Natur, die ihr schon einmal im Leben half. Nun will sie es mit Max erneut versuchen, ihm zeigen, wie Mensch und Wal verbunden sind, was Freiheit und Liebe bedeuten. In einer einzigartigen Mischung aus Memoir, Reisebericht und wissenschaftlicher Dokumentation erschafft Doreen Cunningham das berührend schöne Porträt einer bedrohten Welt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 467

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Doreen Cunningham

Der Gesang in den Meeren

Meine Reise mit den Walen

 

 

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

 

Über dieses Buch

«Ich danke den Walen, dass sie da sind.»

 

Von den Lagunen in Baja California bis zu den Gletschern des Nordpolarmeers legen Grauwalmutter mit ihren Kälbern jährlich Tausende von Meilen in dem sich aufgrund des Klimawandels erwärmenden Meer zurück. Es ist die längste Wanderung eines Säugetiers auf der Erde. Doreen Cunningham, selbst alleinerziehende Mutter, folgt den Walen auf dieser gefährlichen Reise, zusammen mit ihrem zweijährigen Sohn Max- in Bussen, Zügen und auf Schiffen, allein und auf sich gestellt. Den Plan zu diesem Abenteuer fasst sie an einem Tiefpunkt ihres Lebens: gestrandet in einem Heim für obdachlose Mütter auf Jersey, erinnert sie sich an ihren monatelangen Aufenthalt bei den Iñupiat im Norden Alaskas, an die überwältigende Natur, die ihr schon einmal geholfen hat. Nun will sie es mit Max erneut versuchen, dem kleinen Jungen zeigen, wie Mensch und Wal verbunden sind, was Freiheit und Liebe bedeuten. Ihr Bericht über diese Zeit ist eine einzigartige Mischung aus Memoir, Reisebericht und wissenschaftlicher Dokumentation, ein Buch über Mutterschaft und Überlebenswillen, ein Buch von großer poetischer Kraft.

Vita

Doreen Cunningham hat als Klimaforscherin beim britischen Forschungsrat für Umweltforschung gearbeitet, bevor sie sich dem Journalismus zuwandte. Für die BBC berichtete sie 20Jahre lang über Naturthemen. Sie ist ausgebildete Umweltingenieurin und hat außerdem Creative Writing studiert.

Karen Witthuhn übersetzt nach einem ersten Leben im Theater seit 2000 Theatertexte und Romane, u.a. von Simon Beckett, D.B. John, Ken Bruen, Sam Hawken, Percival Everett, Anita Nair, Alan Carter und George Pelecanos. 2015 und 2018 erhielt sie Arbeitsstipendien des Deutschen Übersetzerfonds.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Sounding. Journeys in the Company of Whales bei Virago Press, an imprint of Little, Brown Book Group, London

 

Die deutsche Übersetzung verwendet wechselweise die weibliche und männliche Form; gelegentlich werden auch beide Geschlechter benannt.

 

Die Übersetzung wurde gefördert im Rahmen von NEUSTART KULTUR des Deutschen Übersetzerfonds

 

Deutsche Erstausgabe

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Soundings Copyright © Doreen Walton, 2022

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München,

nach dem Original von Little Brown Book Group

Coverabbildung Bartosz Kosowski

Karte: Jamie Whyte

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00968-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für meine Kinder, alle Kinder,

menschliche und andere.

PROLOG

Der Wind weht mir Gischt ins Gesicht. Wellen schwappen gegen die Seitenwände unseres kleinen Fischerboots, als es aus dem Hafen hinaus in die aufgehende Morgensonne fährt, die den Horizont in Flammen aufgehen lässt. Vorne «hilft» mein zweijähriger Sohn Max, das Boot zu steuern. Ich kenne Chris, den Skipper, erst seit zwölf Stunden. Wir borgen uns einen Vater, einen, der das Meer kennt und uns seine Geheimnisse zeigen kann. Heute ist die letzte Chance, dass doch noch alles gut wird. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als diesem freundlichen Fremden zu vertrauen, mich dem Wind und dem Wasser hinzugeben, den Blick auf die Wellen zu richten und jede Woge, jede Strömung, jeden Strudel, jedes Kräuseln genau zu beobachten.

«Guck, alter Rosteimer», ruft Max aus der Kabine mit ausgestrecktem Arm, als wir langsam an dem blau-weißen, mit rotem Rost gestreiften Rumpf eines kommerziellen Fischerboots vorbeischippern. Max spielt Peppa Wutz nach, wenn Opa Wutz sich mit Opa Kläff streitet. Auf dem Bug des Fischerboots steht in großen weißen Buchstaben der Name: Faith – Vertrauen. Ich wende mich ab. Ich habe jegliches Vertrauen verloren, sowohl in meine Idee, dem Zug der Grauwale zu folgen, als auch in die Wale und vor allem in mich selbst. Ich wollte Max Walmütter und ihre Kälber zeigen, die von den Lagunen in Baja California bis zum Arktischen Ozean Tausende von Meilen zurücklegen, um ihm damit zu beweisen, dass auch wir beide alles schaffen, alle Hindernisse überwinden können. Aber eigentlich wollte ich es mir selbst beweisen, und nichts ist nach Plan verlaufen.

Kodiak Island, die letzte Station auf unserer Reise, ist ein wichtiger Zwischenstopp der Grauwale und für uns die letzte Möglichkeit, sie vor unserem Heimflug vielleicht doch noch zu sehen. Auf der Karte sieht die Insel aus wie zufällig vor der Küste Alaskas ins Meer geworfen, versenkt, so wie ich den Zehntausend-Pfund-Kredit zur Finanzierung der Reise versenkt habe. Unsere Visa sind ebenfalls abgelaufen. Die Reise sollte ein Neuanfang sein. Sie hat mich eine Zeit lang von meinen Problemen abgelenkt, aber jetzt türmt sich alles, wovor ich weggelaufen bin, wieder vor mir auf, die ganze lange Liste meines Versagens: Ich habe es weder geschafft, Max und mir ein erträgliches Leben zu ermöglichen, noch unseren Lebensunterhalt zu verdienen oder auch nur einfach weiterzumachen wie alle anderen. Ich habe wiederholt und spektakulär in der Liebe versagt und nicht kapiert, was für eine dämliche Idee diese Reise im Grunde genommen ist. Mein Versagen überwältigt mich derart, dass mir schwindelig wird. Ich kralle die Finger in das Holz der Reling, sie hinterlassen keine Spuren. Wir gleiten an der Arctic Hunter, an der Resolution, an der Provider und an der Lady Kodiak vorbei, die an der letzten Anlegestelle liegen. Das Boot nimmt Fahrt auf. Als wir den Schutz der Landspitze verlassen, werden die Wellen größer, rauer, grauer. Im Gegensatz zu mir verurteilt das Meer nicht. Es könnte mich ertränken und bliebe dabei völlig unpersönlich. Das Desinteresse ist tröstlich. Der eisige Wind betäubt den Schmerz in meiner Brust. Die Wassermassen, die sich in der Ferne donnernd gegen die Klippen werfen, übertönen mein Gedankenchaos.

Max sitzt auf Chris’ Knien, ein kleines Händepaar und ein großes Händepaar nebeneinander am Steuer halten uns auf Kurs. Max hat so viel Spaß, dass er nicht ein einziges Mal nach mir gerufen hat. Ich sehe einen breit lächelnden Mundwinkel, eine Pausbacke hinter blonden Zausellocken und den Kragen seines Hoodies. Er dreht sich um und sieht mich mit seinen großen, leicht länglichen und normalerweise blauen Augen an, die im Licht, das durch die Wolken fällt, weich und grau aussehen.

Kodiak Island verschwindet hinter uns im Meer. Wir befinden uns im Golf von Alaska, wo das Beringmeer sich an den Aleuten bricht, die sich westlich in Richtung Russland erstrecken. Das Volk der Unangan oder Aleuten nennt eine dieser Inseln den Geburtsort der Winde. Chris, ein ehemaliger Fischer, der zum Elektriker und Landei umgeschult hat, gönnt sich zum Vatertag einen Angelausflug. Während wir über die Wellen flitzen, werden seine Frau und die beiden kleinen Töchter auf den Bänken in der Kabine in die Luft geworfen. Max und ich haben uns ihnen angeschlossen, weil Chris die Futterplätze der Grauwale kennt.

Kodiak Island ist der Lebensraum von gruseligen Ungeheuern wie den Kodiak-Bären, aber auch diese wunderbare, freundliche Familie ist dort zu Hause. Außerdem ist die Insel für benthischen Schlick bekannt. Im Moment ist der Nebel zu dicht, um irgendeine Form von Leben auf dem Meer oder darin entdecken zu können, und in meiner Niedergeschlagenheit erscheint mir der kalte Schlamm am Meeresgrund geradezu verlockend. Ich halte mich am Schandeck fest, schließe die Augen und stelle mir vor, ich würde durch die Wasserschichten nach unten sinken.

Ich tauche mit den Walen. Über mir zieht sich das Licht zu einem glänzenden Kreis zusammen. Mein Blut fließt langsamer, die Lunge schließt sich, der Körper schaltet ab. Farben lösen sich auf. Ich bin in dunklem Dunst verloren. Ich höre den Meeresboden, er wellt sich, zerfließt. Wasser gluckert, Lebewesen wuseln, Krabben schnappen zu. Ich horche in der Dunkelheit nach Stimmen, rufe, versuche, die Grauen herbeizurufen.

Jetzt bin ich Wissenschaftlerin, untersuche den Schlick, das Gewimmel der Formenvielfalt. Muscheln surfen in der Strömung oder graben ihre Füße in den Grund, Bandwürmer krümmen und winden sich. Kommagarnelen mit gegabelten Schwänzen, Diastylidae aus der Ordnung Cumacea, wirbeln umher und laichen. Diese winzigen Garnelen sind der Grund für die weite Reise der Wale. Kaum zu glauben, dass solche Giganten sich von einer nur millimetergroßen Beute ernähren. Wenn die Wale den Meeresboden abgrasen und den Silt durch ihren Bartenvorhang filtern, wirbeln Schlammwolken auf wie Lavaflüsse. Aufgrund der klimawandelbedingten Veränderungen im Meer können Grauwale bei der Nahrungssuche nicht länger wählerisch sein. Hier um Kodiak Island herum müssen sie sich inzwischen mit einer kalorienärmeren und hartschaligen Garnelenart zufriedengeben.[1] Glücklicherweise sind sie im Grunde nichts anderes als Staubsauger.

Ich habe auf dieser Reise viel über Grauwale gelernt. Immer wenn Max schlief, habe ich gelesen.

Ihr seid einzigartige und eindrucksvolle Wesen, Wächter der Meere, Ökosystemexperten, Vorboten des Klimawandels, der uns alle betreffen wird. Aber wo zum Teufel steckt ihr? Wieso lasst ihr mich im Stich?

 

Vor der Geburt meines Sohnes hatte ich in London eine Eigentumswohnung, ein funktionierendes Sozialleben und eine erfolgreiche Karriere als Journalistin. Dann wurde mein Leben auf den Kopf gestellt. 2012, als Max ein Jahr alt war, lebte ich in einem Wohnheim für alleinerziehende Mütter auf der Insel Jersey, auf der ich aufgewachsen bin. Meine Ersparnisse waren dafür draufgegangen, mich vor Gericht mit Pavel, meinem Ex, um das Sorgerecht für Max zu streiten.

Im Wohnheim verhielt ich mich möglichst unauffällig und schirmte mich von der Außenwelt ab. So vieles war mir in so kurzer Zeit aus den Händen geglitten. Regelmäßige, bezahlte Arbeit, Schlaf, Freunde und Freundinnen, die ich aus Geldmangel nicht mehr anrufen konnte, meine Wohnung im Osten von London. Die gehörte mir zwar, aber ich konnte sie weder verkaufen, weil sie als negatives Kapital galt, noch die Hypothek bezahlen und selber darin wohnen. Und es gab noch andere Gründe, London zu meiden.

Es fühlte sich an, als würde ich von Neuem laufen und sprechen lernen. Die Welt schien mich nicht mehr zu erkennen, also konzentrierte ich mich auf das, was für mich ihren Mittelpunkt bildete, nämlich meinen einjährigen Sohn.

An einem Wintertag ging ich durch eine Seitenstraße von St. Helier, Jerseys Hauptstadt. Ich war auf dem Weg zu einer Food Bank, einer Lebensmittelausgabe, die sich über einem Laden der Heilsarmee befand. Ein Mann führte uns lächelnd an Kleiderständern vorbei zu einer Reihe von Vorratskammern im ersten Stock.

«Nehmen Sie, was immer Sie brauchen», sagte er. «So viel Sie tragen können.» Ich griff mit beiden Händen zu. Eine Tasche drohte schon zu reißen. Die Türklingel bimmelte, als ich den Laden mit drei Tüten voller Konservendosen in der einen und Max an der anderen Hand verließ.

Plötzlich eine bekannte Stimme: «Doreen!» Eine alte Schulfreundin stand mit herzlichem Lächeln vor mir. Vor zwei Jahrzehnten waren wir eng befreundet gewesen. «Du bist wieder da.»

«Hey! Ja, bin ich.» Ich setzte die Tüten ab.

«Ich wusste gar nicht, dass du ein Kind hast. Hallo, du Hübscher.» Sie nickte Max zu und sah dann wieder mich an. «Dein Mann ist aus England?» Max hüpfte hin und her und zog an meiner Hand.

«Es gibt keinen Mann, nur Max und mich. Wie geht es dir? Ist lange her.»

Ihre nächste Frage hing schon in der Luft. «Wohnst du wieder zu Hause bei deinen Eltern?»

Ich biss die Zähne zusammen. «Nein, meine Mum ist zu krank.» Ich griff nach den Tüten.

«Wo bist du denn untergekommen?» Sie runzelte die Stirn. «Wie kommst du klar? Hilft dir jemand?»

Mein Kopf schmerzte. Die Griffe der Plastiktüten schnitten mir in die Hand. Ich ließ mich von Max rückwärts die Straße entlangziehen.

«Uns geht’s gut. Schön, dich zu sehen», rief ich meiner alten Freundin zu. «Tut mir leid, ich muss weiter, wir sind spät dran.»

Auf dem Weg zurück ins Wohnheim kamen wir an einer Bäckerei vorbei, in deren Schaufenster Brötchen auf Backblechen lagen. In der Scheibe spiegelte sich eine Obdachlose, die meine Kleider trug und ein wunderschönes Kind an der Hand hielt.

Ein paar Wochen später brachte mich eine andere Zufallsbegegnung auf einen neuen Weg. Frauen wie ich, also alleinerziehende Mütter, die im Wohnheim lebten, galten als bedürftig. Eine wohlmeinende Kirchengruppe wollte uns etwas Gutes tun und hatte einen Wohlfühltag organisiert. Ich traf etwas zu früh ein, schob die schwere hölzerne Doppeltür auf und staunte über die Größe des hellen Saals.

«Lieber Gott, hilf diesen armen Frauen … den richtigen Weg … hinfort von Satan …» Die Frauen waren ins Gebet vertieft und bemerkten mich nicht. Ich wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, da sahen sie auf und begrüßten mich freundlich lächelnd. Ich reagierte mit einem finsteren Blick. Ach ja, ich sollte also gerettet werden? Eine Frau steuerte auf Max zu und brachte uns in eine Spielecke, die, wie sie mir versicherte, von professionellen Kindergärtnerinnen beaufsichtigt wurde. Er nahm ihre Hand und wackelte los, um die Spielsachen in Augenschein zu nehmen. Ich wurde von einer Frau in blau-weiß gestreifter Segelbluse und Bootsschuhen in eine andere Ecke geführt, in der Massagen, Maniküren und Fußbäder angeboten wurden. Ich war fest entschlossen, mich nicht zum Wohltätigkeitsopfer machen zu lassen. Max und ich mussten hier raus. Aber als ich mich umdrehte, sah ich meinen Sohn auf dem Schoß einer fremden Frau sitzen und ein Geschenk auspacken, einen Spielzeugbetonmischer samt Fahrer und beweglicher Trommel. Er strahlte vor Freude. Ich schaute mich um. Immer mehr Familien trafen ein. Also gut, wenn ich schon als Satansweib galt, würde ich das Beste daraus machen.

«Eine Kopfmassage wäre toll, vielen Dank», sagte ich zu der Segelblusenfrau, nahm Platz und schloss die Augen. Ihre Finger auf meinem Kopf fühlten sich an wie Wasser. Ich stellte mir vor, ich säße in einem Whirlpool. Aber der verwandelte sich in ein Meer. Der Gemeindesaal verschwand, ich war wieder Kind, lief frei an den Stränden von Jersey und Irland herum. Dann tauchte in meinem Kopf eine andere Küste auf, in der Arktis, und ich sah das Meereis vor mir, das sich bis zum Nordpol erstreckt. Ich war wieder in Alaska, wie vor sieben Jahren, war wieder in der Stadt Utqiaġvik, die damals Barrow hieß, und wohnte bei einer Iñupiaq-Familie. Die Stadt klammert sich am nördlichsten Punkt der USA an die Küste des Arktischen Ozeans. Hier leben und überleben die Iñupiat seit Tausenden von Jahren, immer wieder von Eis und Dunkelheit umschlossen, zusammengeschweißt durch ihre uralte Kultur und durch die besondere Beziehung zu den Tieren, die sie jagen, vor allem die großartigen und geheimnisvollen Grönlandwale. Ich hatte dort nicht nur Wale gesehen, ich hatte zu einer Familienjagdgruppe gehört und ein Land von erstaunlicher Schönheit und Gefährlichkeit kennengelernt. Damals hatte ich mich so lebendig gefühlt, mit anderen Menschen und der Natur eng verbunden. Wenn ich dieses Gefühl nur wiederfinden und es an Max weitergeben könnte.

«Mummy.»

Ich kehrte aus der Arktis zurück und öffnete die Augen. Max stand vor mir. Die Frau nahm ihre Hände von meinem Kopf. Er fühlte sich leichter an.

«Gehen.» Max zeigte auf den Ausgang. Ich dankte meiner Masseurin, nahm seine Hand und ging.

Als Max an jenem Abend eingeschlafen war, schob ich meinen Recherchejob beiseite und suchte im Netz nach Informationen über Grönlandwale. Danach kamen Blauwale an die Reihe, und ich schaute zum wiederholten Mal mein Lieblingsvideo von David Attenborough, in dem die riesigen Kreaturen direkt neben seinem winzigen Boot auftauchen. Schließlich stieß ich auf einen Artikel über Grauwale, über die ich bis dahin nichts gewusst hatte. Ich lernte, dass es zwei Populationen gibt, eine im westlichen, die andere im östlichen Pazifik. Und ich fand heraus, dass die östliche Population jedes Jahr von der Arktis zu den Geburtslagunen vor Mexiko wandert, um dann mit den neugeborenen Kälbern wieder nach Norden zurückzukehren. Das ist eine Rundreise von etwa zwanzigtausend Kilometern, als würde man fast zwei Mal um den Mond schwimmen. Die Wale bewegen sich normalerweise in Küstennähe durch flache Tangwälder und sind entlang der ganzen amerikanischen Westküste zu beobachten. Die Mütter wehren Raubtiere ab, erziehen und ernähren ihre Jungen und schwimmen dabei um den halben Planeten. Sie sind der Inbegriff von Ausdauer.

Beim Lesen verspürte ich neue Kraft. Mütter und neugeborene Kälber, so stand in dem Artikel, sind zwischen Dezember und April in Baja California anzutreffen. Vielleicht könnte ich ja mit Max dorthin fahren. Darüber musste ich laut lachen, aber die Idee blieb hängen. Max könnte die Wale zumindest unterbewusst aufnehmen, ein Gefühl für Freiheit bekommen und die Enge und Verzweiflung, die er im Wohnheim miterleben musste, vergessen. Ich könnte ihm die Wunder der Unterwasserwelt zeigen. Das wäre wie in den Attenborough-Dokumentationen, mit denen ich aufgewachsen bin, nur besser, weil real. Es war Januar. Die Mütter und Kälber müssten bereits in Baja sein.

Während ich so neben Max auf der Bettkante vor meinem Computer hockte, hörte ich eine Stimme, Billys Stimme, tief und ganz nah, als würde er direkt neben mir sitzen, wie damals vor sieben Jahren auf dem Meereis in Alaska, als wir nach Walen Ausschau hielten.

«Manchmal», sagte er langsam, «sehen wir einen Grauwal.» Es war, als würde Billy mit mir sprechen, über all die Meilen hinweg, die uns trennten.

Danach ging alles sehr schnell. Eine unsichtbare Schnur schien mich durch das Fenster hinauf in den Himmel und quer über das Meer zu ziehen. Schon am nächsten Tag verließ ich das Wohnheim und zog ins Dachzimmer einer Freundin. Ich nahm einen Kredit auf, organisierte Visa. Wir würden den Müttern und Kälbern von Mexiko bis ans Ende der Welt folgen, erzählte ich Max. Sie würden schwimmen und wir mit Bussen, Zügen und Booten nebenherfahren.

«Zug?» Die Wale interessierten Max kaum, Transportmittel umso mehr. «Ich nehme Flash mit, Mummy.» Er holte seinen flauschigen Stoffhund und stellte sich abreisebereit an die Tür.

Ich sagte mir, ich würde von den Walen wieder lernen, Mutter zu sein, durchzuhalten, zu leben.

Im Geheimen sehnte ich mich ins nördlichste Alaska zurück, in die Gemeinschaft, die mich in der harschen Schönheit der Arktis beschützt hatte, und zu Billy, dem Walfänger, der mich geliebt hatte.

UTQIAĠVIK: Aġviq

Breitengrad: 71° 17´ 26˝ N

Längengrad: 156° 47´ 19˝ W

Im tiefsten Winter erklingen Stimmen unter dem Eis des nördlichen Beringmeers. Aġviġit[*], Grönlandwale, Balaena mysticetus, singen gerne. Viele Säugetiere rufen, nur wenige singen. Das Repertoire eines aġviq wird nur noch von einigen Singvögeln übertroffen. Man hat sanftes, hallendes Rufen, Kreischen, Trompeten und gummiartiges Quietschen aufgenommen, manchmal klingt es wie eine Kuh, manchmal menschenähnlich, manchmal, als würde ein Bogen über die Saiten eines Kontrabasses kratzen. Als Ozeanografen vor der Ostküste Grönlands ein Hydrofon ins Meer hielten, hofften sie auf ein paar Töne.[1] Ihnen schallte ein lautes Konzert entgegen, rund um die Uhr von November bis April, und nie wiederholte sich eine Melodie. Kate Stafford leitete das Lauschprojekt drei Jahre lang. «Wenn der Gesang von Buckelwalen wie klassische Musik ist, dann sind Grönlandwale Jazz», sagt sie. Sogar in der ewigen Dunkelheit der Polarnacht haben Grönlandwale einander viel zu singen.

Mit den Frühjahrsströmen schwimmen die aġviġit nach Norden und Osten, in das Licht des kurzen Sommers am Scheitelpunkt der Erde hinein. Der Superorganismus des Krill treibt nach dem Schlüpfen im Beringmeer als Wolke an die Nordküste Alaskas. Am meisten schätzen die Grönlandwale Ruderfußkrebse, eine winzige Krebsart, als ideale Kalorienzufuhr für ihr Wachstum. Von ihnen lassen sie sich weit nach Osten bis in die kanadische Beaufortsee locken. Diese lebendigen Fetttropfen, die in den Gewässern des Amundsen-Golfs während der Mikroalgenblüte in Schwärmen auftreten, sind ein wahres Festmahl für Wale. Aġviġit fressen zwei Stufen vom Licht entfernt. Indem sie direkt ans Ende der Nahrungskette springen, übergehen sie energieraubende Zwischenschritte. Deswegen, und weil sie ständig mit Fressen beschäftigt sind, können sie derart riesig werden. Die dicke Blubberschicht direkt unter der Haut speichert Energie und isoliert den Körper. Seine Elastizität macht ihn stromlinienförmig.

Am südlichen Rand des Meereises wartet ein männlicher aġviq, das Kinn auf eine Eisscholle gelegt. Stoisch ertragen die Tiere die letzten Wintertage. Wale, Robben, Walross und Karibu. Hoch oben Gänse, Küstenseeschwalben, Alpenschneehuhn und Winterammern. Sie alle zieht es nach Norden, sobald das Eis Land und Wasser freigibt. Wenn das Meereis aufbricht, schwimmen die Meeressäugetiere durch den Trichter der Beringstraße. Grönlandwale dösen am Rand der arktischen Eiskappe. Nur die Hälfte ihres Gehirns schläft, wie alle Wale müssen sie bewusst atmen. Eine aġviq-Kuh ist schwanger. Ihr Kalb wächst, in sechs Wochen wird es zur Welt kommen und neben ihr her schwimmen. Eine Möwe landet auf ihrem Rücken, sie schreckt auf und schlägt im Wasser um sich. Ihre Gefährten üben Synchronschwimmen. Sie klatschen sich mit den Schwänzen ab, paaren sich, manchmal brechen sie durch die Oberfläche und springen in die Luft, sodass die Köpfe senkrecht aus dem Wasser ragen. Das Eis knirscht und kracht. Wenn der Wind richtig steht, wird es aufplatzen, Eisblänken bilden sich, Rinnen. Die Wale wissen, dass es noch nicht so weit ist, spüren, dass das Eis vor ihnen noch zu fest ist. Sie sind bereit. Sie warten.

 

Juli 2005. In der kanadischen Arktis suchten aġviġit nach Nahrung, und die Wissenschaft beobachtete einen «verblüffenden» Rückgang des Meereises.[2] Große Brocken dicken, alten Eises brachen hoch im Norden von der Eiskappe ab und trieben gen Süden. In London verübten vier Terroristen Selbstmordanschläge in Bussen und U-Bahnen. Sechsundfünfzig Menschen starben. Durch das Fenster des schwarzen Taxis, in dem ich durch die Dunkelheit fuhr, sah ich eine Stadt im Schockzustand. Alles war ruhig, die Straßen fast menschenleer. Wer doch unterwegs war, sah sich immer wieder um, schaute auf zu den Straßenlaternen, als wäre ungewiss, in welcher Welt man lebte, in der davor oder in der danach