Der Glasberg - Bruno Wille - E-Book

Der Glasberg E-Book

Bruno Wille

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Beschreibung

Der Roman einer Jugend, die hinauf wollte. Die Serie "Meisterwerke der Literatur" beinhaltet die Klassiker der deutschen und weltweiten Literatur in einer Sammlung.

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Der Glasberg

Bruno Wille

Inhalt:

Bruno Wille – Biografie und Bibliografie

Der Glasberg

Erstes Buch - Wolkenstürmer

Traum von Glastelfingen

Wie zuerst vom Glasberg die Rede war

Auf der Wohnungssuche

Einschulung

Lustnau

Jakobskindle

Die Ungebärdigkeit

Der Ssaubock und die frische Wirklichkeit

Auf der Mensur

Die Schöpfung der Welt

Studentle der Hexerei

Hainlins Gärtnerei

Justinus und Rickele

Wasserscheide

Vom abgerissenen Bändel

Was nützet mir ein schöner Garten –?

Bertas Glasbergle

Adelaïde

Die verlorene Kirche

Der Drache

Ikarus

Die Mühlspinne

Beim Madeere-Beck

Robinson im Winkel

»Ich bin ein Christ«

»Dem unbekannten Gotte«

Die Insel Kreta

Die Räuber

Im Burgverlies

Unsere Schülerzeitung

Bebenhausen

Beim Einsiedel

»O Ewigkeit, du Donnerwort!«

Engelheim

Hundsgemeinheit

Reicher als die Welt

Die Meuterei

Bierkügles-Bock

Die Schlange

Zwischen Himmel und Erde.

Der Fuirlesreiter

Pia

Uli

Knospen

Zweites Buch - Glastelfingen

Wieder am Neckar

Das Wahrzeichen

Der verlorene Sohn

König Lear

Am Stammtisch

Musik der Dinge

Der Hallelujah-Mister

»Vergiß das Beste nicht!«

In Abrahams Schoß

Alte Liebe rostet nicht

Der grüne Strom

Heilige Ferne

Volksversammlung

Zum fidelen Bierhuhn

Im Kloster

Sternschnuppe

Der arme Eros

Genossen

Spitzel

Hainlin heiratet

Zwischen Heimat und Fremde

Die Nordlandreise

Hainlins Heimkehr

Der Zusammenbruch

Zwei Heidehügel

Mit dem Ruhebecher

Totenbeschwörung

Aus der Tiefe empor

Auf der Höhe

Glastelfingen

Der Glasberg, B. Wille

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849640095

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Bruno Wille – Biografie und Bibliografie

Deutscher Prediger und philosophischer Schriftsteller, geb. am 6. Februar 1860 in Magdeburg, verstorben am 31. August 1928 in Aeschach bei Lindau.W. ist besonders von Fechner beeinflusst, also Vertreter eines idealistischen (psychistischen) Monismus, den er mit einem freien Christentum verbindet. Im »monistischen Christentum« liegt die Versöhnung von Wissenschaft und Religion. Das ewige Leben ist in der Richtung auf den Idealmenschen (Christus) zu suchen. »Der Ich-Mensch muss am Kreuze absterben, damit das bessere Selbst frei werde und zur ewigen Heimat eingehe.« Das Weltwesen ist geistig; es bringt die sinnlichen Erscheinungen erst in sich hervor. Die Welt ist ein »lebendiges All«, durchaus beseelt, lebendig (Panpsychismus). Die Welt ist eine »selbständige, wachsende Harmonie, ein lebendiges Formwesen«. Das All ist die »umfassende Seele« (Allseele), deren »Sondertendenz« die Individualität ist. Gott ist das »universale Ich«, dessen Erlebnisse die Sonderwesen sind, die durch Sympathie, Liebe, verbunden sind. Die Individuen sind gleichsam »Augen, mit denen das Eine sich betrachtet«. Von Ewigkeit her sind wir ein »werdender Gott«, wir werden im All-Einen erlöst, welches als Ideal, als »Keimkraft« in uns wirkt. Die zeitliche Entwicklung ist überzeitlich eine vollendete Einheit. Durch unseren »Tatenleib«, die Projektion unserer Individualität in das Weltwirken hinein, sind wir unsterblich.

Wichtige Werke:

Der Phänomenalismus des Hobbes, 1888.Der Tod, 1889.Das Leben ohne Gott, 1889.Die Beweise vom Dasein Gottes, 1890.Sittliche Erziehung, 1890.Die Jagend, 1890-91.Lehrb. f. d. Jugendunterricht freier Gemeinden, 1890 ff.Atheistische Sittlichkeit, 1892.Philos. der Befreiung durch das reine Mittel, 1892-94 (Standpunkt des »Edelanarchismus«).Die freie Jugend, 1896.Die Religion der Freude, 1898.Materie nie ohne Geist, 1900.Offenbarungen des Wachholderbaumes, 1901 (philos. Roman).Die Christusmythe als monist. Weltanschauung, 1903.Auferstehung, 1904.Das lebendige All, 1905.Darwins Weltanschauung, 1906.Faustischer Monismus (in: Der Monismus, hrsg. von Drews, 1907), u.a.

Der Glasberg

Erstes Buch - Wolkenstürmer

Traum von Glastelfingen

Daß ich noch einmal auf den Pfaden meiner Jugend gehandelt und den Schicksalen er Tübinger Schulgefährten nachgegangen bin, hat ein Traum veranlaßt. Er weckte mir Heimweh nach einem Schatze, der mir fast unbewußt geworden war. Ich träumte den Traum an einem Aprilmorgen des Weltkrieges, in meiner Schlafkammer zu Friedrichshagen am Müggelsee. Von einem Geräusch auf dem Hausflur halb wach geworden, hörte ich eine Lerche trillern, und dieser Frühlingsherold erinnerte mich daran, daß ich gestern zu meiner Frau gesagt hatte, es sei Zeit, Hopfenknospen zu sammeln, die ein würziges Kraut für die Suppe sind. Die Lerchenmusik lullte mich in neuen Schlaf, und in den anhebenden Traum wob sich die Vorstellung von Hopfen: Ich war bei einer Hopfenpflanzung, wie ich sie einst auf sonnigen Höhen bei Tübingen erlebt hatte.

Ein Tälchen mit einem Bach, über den ein Steg führt! Der Wegweiser hat die Aufschrift: Glastelfingen. Und ein beglückendes Staunen ergreift mich: Glastelfingen? Ist das nicht jenes heimliche Dörfchen, von dem ich als Knabe geschwärmt? Zwischen Gartengemäuer auf steinerner Steige empor. Rechts und links gestaffelte Beete, Rebstock bei Rebstock; von vorgewölbter Halde grüßen sonnige Weinbergshäusle. Dann säuselt ein Wald von Apfelbäumen. Erquickende Rast im Schatten und selige Schau. Durchs Tal windet sich blinkend der Fluß – der Neckar ist es, nur daß er etwas holdselig Neues hat, wie überhaupt die ganze Schwabenlandschaft in Verklärung lächelt. Aus goldigen Weizenfeldern grüßt ein Dorfkirchlein. Hinter dem Kranze der Waldhügel blaut die Alb mit ihren Schanzen und burggekrönten Kuppen.

Umfassender noch möcht' ich schauen – also hinauf ins Hohe, Freie! Je höher ich komme, desto leichter wird mir, und schließlich ist es, als ob ich schwebe – wie eine Taube, stillen Fittichs. Oder als ob die Landschaft vorüberziehe am ruhig Schauenden. Wie wallendes Gewölk. Selbst der Berg, an dem ich weile, hat etwas Wolkenhaftes. Nicht aus Erdenstoff besteht er, sondern aus Lichtduft – blaugrüner und goldiger Dunst, bildet runde Stufen, die sich himmelan häufen. Und nun sind diese Stufen Musik, ein rätselhaft süßes Gewoge von Klang ...

Das überirdische Schweben hat aufgehört, wieder bin ich Erdenwanderer. Kuhglocken läuten, ein Hirt jodelt. Die Halde, über die ich wandle, ist Vorstufe eines Gebirges, das sich weit und weiter dehnt. Klee mit summenden Bienen – lila blühendes Mohnfeld – Welschkorn, dessen schwertförmige Blätter rascheln. Dann abermals gestaffelte Berggärten, wimmelnde Rebstöcke. Südlichen Charakter nimmt die Landschaft an – geht's hier nach Italien hinab? Weinlauben, strotzend von Ueppigkeit; aus dem Blätterwerk lugen schwarzblaue Trauben. Feigengebüsch lockt mit Honigfrüchten, hochwipflige Edelkastanien wiegen sich in lauer Luft und lassen aus geplatzten Stachelschalen die braunen Kugeln fallen. Rings riesenhafte Berge. Als silberne Fäden gleiten Schaumbäche zwischen Felsen zu Tal. Aus dem Dunst der Ferne glimmert's von Gletschern ...

 »Ich hör' ein Vöglein pfeifen –

Das pfeift die ganze Nacht,

 Und alle Sterne lauschen,

 Bis nun der Tag erwacht.

 Schließ du dein Herz wohl in das mein' –

 Schließ eins ins andre Herz hinein –

 Daraus soll blühn ein Blümelein,

 Das heißt Vergißnichtmein.«

So schallt es aus ferner Landschaft, zweistimmig. Wohl ein Liebespaar. Ja, dort erscheint der Bauernbursch mit seinem Mädel. Trägt grauen Linnenrock zu roter Weste, Kniehosen, Lederkäppchen. Sie hat über gelben Zöpfen eine schwäbische Flittertrone – blitzsauber stehen zum schwarzen Samtmieder die weißen Hemdsärmel. – Diese zwei dünken mich traute Bekannte – es bleibt mir aber unklar, wer sie sind. »Nun, Kinder?« frage ich, »hier oben soll ja Glastelfingen sein? Wie weit ist's noch?« – Sie stutzen, lugen einander an, als wüßten sie nicht zu antworten. Und das Mädel raunt mit verlegenem Lächeln: »Glaschtelfinge? Uijeh!« Der Bursch läßt die dunkelrote Rose, die er im Munde hält, fallen und späht unschlüssig nach hinten. Seufzend macht er mit dem Arm eine Bewegung, als wolle er ausdrücken: »Weit ist's, himmelweit!«

Nun bin ich mit einemmal auf öder Hochebene. Steinige Schafweide, Bergsumpf, finsterer Tannenwald, starrende Felsen. Was ragt ganz hinten? Ein kahler Schroffen, blinkend wie Glas. War's hier, wo der Vorzeit Riesen Berg auf Berg gewälzt haben, den Himmel zu erstürmen? – In die Schauer der Alpenwildnis mischt sich etwas heimlich Wonniges. Ein Jauchzen weht, verschollen fast, von oben her – als sei ein Fest im Dorfe Glastelfingen, das da irgendwo liegen muß. Oder sind's die Seligen, auf Wolken wandelnd?

»Glastelfingen,« spricht eine klangvoll tiefe Stimme ... Ich glaube gar, das ist der Kandidat Hainlin! Ja, wirklich! Ich bin auf seiner Studentenbude – bin der dreizehnjährige Pennäler, dem er Nachhilfe in lateinischer Grammatik erteilt. Im Wörterbuche blätternd, belehrt er mich: »Glastelfingen – Himmelsburg altdeutscher Göttersage, auf halber Höhe des Glasbergs. Bei Dante eine Vorstufe des Paradieses – Monte Cristallo.« ... ...

*

In diesem Augenblick war's, daß ich erwachte und – mich in meiner Schlafkammer zu Friedrichshagen befand. In hoher Morgenluft trillert die Lerche, mir im Ohr klingen noch Hainlins Worte: »Glastelfingen ... Monte Cristallo.«

Die Gestalt des Kandidaten macht einen früheren Zug des Traumes verständlich: der Bauernbursch und das Mädel haben Aehnlichkeit mit Hainlin und seiner stillen Braut Rosel. Daß mir der Kandidat Hainlin in ländlicher Tracht erschien, hat sich aus der Erinnerung hervorgesponnen, er habe, um Rosel heiraten zu können, Gärtner werden wollen. Dazu paßt die Weise: »Schließ du dein Herz wohl in das mein', schließ eins ins andre Herz hinein – daraus soll blühn ein Blümelein ...«

Zärtliches Vergißnichtmein! Plötzlich in einem Herzenswinkel hab' ich dich entdeckt. Und staune nun darüber, daß die Lichtgestalten meiner Knabenzeit, die mir scheinbar aus dem Sinn gekommen waren, noch frisches Leben haben. Als hätten sie sich geflüchtet in ein verborgenes Wunderland, wo keine Zeit schaden kann. Heimat ewiger Jugend, wo bist du? Meint dich die Träumerei von Glastelfingen? Findet man den Zugang zum heimlichen Märchendorf im Gemüte? Ist es das verklärte Leben der Erinnerung?

Anders als dort im geschützten Bereich geht's außen her, in der Welt, die man Wirklichkeit nennt. Hier verblühen die Blumen, hier bleicht das Laub, hier wütet das Stürmen der Zeit. Das Liebespaar, wie's mir im Traum erschien, gibt es nicht mehr in der Außenwelt. Während der zweiundvierzig Jahre, die ich von Tübingen fort bin, haben Hainlin und Rosel graue Haare bekommen und Runzeln. Wenn sie überhaupt noch atmen. Hainlin wird längst tot sein. Hätte er noch ein paar Jahrzehnte das Leben behalten, eine Spur von ihm wäre mir begegnet. In einer Zeitung, einem Buche. Trug ich mich doch einst mit der Hoffnung, es werde am deutschen Geisteshimmel ein Stern auftauchen, Dichter oder Philosoph, Hainlin geheißen. Weil mir dieser Name in keinem Literaturblatt begegnet ist, weil ich mir aber nicht denken kann, daß aus diesem Feuerkopf ein Durchschnittsmensch geworden ist, so muß ihn der Strudel einer Welt verschlungen haben, die ja nie das Element für Träumer war.

Rosel könnte noch am Leben sein. Vielleicht haust sie in Tübingen oder sonstwo im Ländle, als Witwe Hainlin oder als alte Jungfer ... Jedenfalls wäre sie jetzt Greisin. Seltsamer Gedanke: das frische Mädel mit den blanken Augen – das in mir so lieblich blüht wie der Traum von Glastelfingen – jetzt sitzt sie vielleicht welk und weißhaarig im Stuhle, beim Kriegskaffee – schaut wehmütig auf Hainlins Wandbild, während in der alten Kastenuhr der Perpendikel langsam tickt und tackt:

»Net lang, so geht dir's Lichtle aus,

 Ond steht bei Uehrle still im Haus.

 Jetzt, Menschekind: waas soll dees Ganz?

 Oh, glaub: die Welt ischt Gaukeltanz,

 Ischt bunter Traum, e Schattespiel ...

 Du Närrle, gelt? Trau net so viel!«

Wenn das nun wahr ist, wenn alles Leben Traum bedeutet, haben wir dann Grund zur Klage? Ich glaube kaum! War die Wirklichkeit schlimm, so ist es ein Trost, daß wir eben bloß geträumt haben. War die Wirklichkeit aber etwas Holdes, so blüht das Holde als Blümlein Vergißnichtmein, in Glastelfingen, wo der Jungbrunnen taut.

Viele Leute freilich, allzu viele, haben kein Verständnis fürs heimliche Dörfchen. Von der Außenwelt sind sie befangen, von dem, was die fünf Sinne erfassen als Stoff und Genuß. Dort seh' ich ein Beispiel: meinen alten Stiefelknecht neben dem Waschtisch. Er ist zwar ein geringes Möbel, hat aber nach verbreiteter Ansicht viel voraus vor Glastelfingen. Denn er ist greifbar, während das heimliche Dörfchen bloß Traum ist. Wenn jetzt ein Hausierer bei mir anklopfte, Lumpen und dergleichen einzuschachern, der gäbe was für meinen Stiefelknecht, aber aus Glastelfingen machte er sich nichts. Auslachen würden mich die Leute, wenn ich ihnen vorschwärmte, Glastelfingen sei mein heimlicher Garten Eden. Würden mich einen überkandidelten Schwärmer schimpfen. Und wenn ich eigensinnig an meinem Traume festhielte, wohl gar auf die Wanderschaft ginge, um Glastelfingens Urbild im Schwabenland aufzuspüren – was gilt die Wette? Ein Landjäger würde mich in Numero Sicher schaffen, und ein Arzt, nachdem er mich beklopft, würde meinen Geisteszustand folgendermaßen beurteilen: »Hier, lieber Mann, ist die Landkarte von Württemberg – nun zeigen Sie mir mal Ihr Glastelfingen! Ihr Land, wo Milch und Honig fleußt. In welchem Oberamtsbezirk liegt es denn, he? Gelt, da werden Sie unsicher! Geben Sie lieber ohne Umschweife zu: solch Dörfle gibt's bei uns überhaupt net! Deescht bloß Schaum in Ihrem gärende Hirn – fixe Idee nennt's der Psychiater. Drum rat ich Ihne, guter Mann, halte Se den Mund, daß er net wieder von Glaschtelfinge babble tut – sonscht lauft die Sach übel aus. Dergleiche Schwärmer steckt mr bei ons eifach ins Narrehäusle – net wahr? Also gut! I han Sie gewarnt. Für diesmal wolle mr Sie laufe lasse – Sie scheine ja im übrigen e harmloser Wicht zu sein.«

Donnerwetter, ja! Fatale Geschichten können einem widerfahren, wenn man übers Wirkliche und Wahre anders denkt als Gevatter Gerber und Färber. – Aber so ist die Welt! Dem Hausierer, der für meinen Stiefelknecht ein paar schmutzige Groschen zahlt, ihm traut man gesunden Menschenverstand zu. Es hauste hingegen mal jemand in Tübingen, den ein Genius beseelte – Hölderlin nennt ihn die Geschichte. Und dieser Schwab gewordene Apoll wurde als Idiot in den Turm am Neckar gesperrt, weil sein Glaube an ein Glastelfingen, ein griechisches, ihn derart enttäuscht hatte, daß die zarten Saiten seines Herzens zersprangen. Diotima und des Menschentums adlige Schönheit bedeutete ihm wahres Sein – übers Winkelgetriebe des Krämergelichters wollte er durchaus hinwegsehen. Noch seine heisere Harfe hallte rührend, indessen um die verwitterte Stadtmauer naßkalter Herbst schnob und auf dem Turm die Wetterfahne kreischte.

Hölderlintraum! Heimweh nach dem ewigen Glastelfingen! Geglommen hast du schon hinter den Stirnen jener Weisheitsjünger, die in athenischen Säulengängen wandelten. Wahrheit ist nicht zu verwechseln mit äußerer Wirklichkeit. Willst du das Wesen schauen, so verliere dich nicht an die Erscheinung! Wie ein Bergmann tief nach Edelmetall schürft, suche du Gehalt der eigenen Persönlichkeit! Es stimmt zwar, daß man die Außenwelt nicht übersehen, daß man Boden unter den Füßen haben soll, um Reben pflanzen zu können. Doch was du geerntet, was du vom Wurzelbereich losgelöst und in höheres Leben umgewandelt hast, erst das hat Wert. Man keltert die Trauben; und ist der Saft im Keller gereift, so hat man des Erdbodens heimliche Feuerseele, hat flüssiges Gold, eine Essenz aller Blumendüfte, den Göttertrank der Begeisterung.

Wohlan, Traubenblut meines Lebens, ätherisch gewordene Wirklichkeit von ehedem! Du bist's, wonach ich mich sehne, bist mein Dörfchen am Monte Cristallo. Als blumigen Wein laß dich schlürfen aus einem Edelbecher! In einer altväterischen Weinstube soll es sein, zu Tübingen, wenn ich ausraste vom Gang über sonnige Berge. – Vielleicht, daß da silberhell ein Stimmchen lacht. Mein Gott, frisch Mädel, bist du noch da, meine Jugend? – »Ha freili! Ond du? Wo bischt so lang gwä? Ond waas soll der Graubart da? Weg mit der Maskerad, domms Büble!«

Wie zuerst vom Glasberg die Rede war

Im Silber des Mondes schimmerte die Sommernacht, als ein dreizehnjähriger Knabe ins Neckarstädtle einfuhr, das ihm neue Heimat sein sollte. An der Eltern Seite saß er, im Gasthofwagen, der die Gäste vom Bahnhof abholte. Hatte ich mich beim Lesen des Robinson-Buches gesehnt, auch mal als Schiffbrüchiger auf eine unbekannte Insel zu gelangen, so kam ich mir jetzt wie eine Art Robinson vor. Mich durchbebte die Lust am Abenteuer; in den Mut der Jugend mischte sich freilich auch etwas vom Zagen, das meine Eltern bedrückte. Durch des Vaters drohende Erblindung und bereits erfolgte Verabschiedung aus dem Amte war die Familie gewissermaßen schiffbrüchig geworden.

Es durchschauerte mich romantisch, als wir über die Neckarbrücke fuhren und der Blick durchs Wagenfenster auf ein nachtumwobenes Stadtbild fiel. Längs des glimmernden Flusses in dunkler Zeile altertümliche Häuser; an Fensterscheiben blinkernd der Mond. Schwarze Laubmassen am anderen Ufer. Ueber die Dächer lugt ein stumpf zugespitzter Kirchturm. Vom Berge trotzt die Burg Hohen-Tübingen. Wie ein Raunen dunkler Zukunft das Rauschen des Baches, der aus dem Schacht einer Mühle in den Neckar stürzt. Meine Eltern in düstere Schweigsamkeit versunken. – Wie der Wagen beim plätschernden Marktbrunnen hält und der Lammwirt die neuen Gäste willkommen heißt, wünschen wir uns gleich zu Bett.

*

Pferdegetrappel und Peitschenknall. Die Sonne scheint zum Fenster herein, und mir kommt zum Bewußtsein: In einem Gasthaus hab' ich geschlafen. Im Nebenzimmer, dessen Tür offensteht, sind die Eltern. Noch müde, leg' ich mich aufs andere Ohr. Doch auf der Straße ist's zu lebhaft, Wagen rollen, eine Kuh brüllt, Stimmengewirr, Weibergetratsch.

»Gemüsemarkt,« hör' ich im Nebenzimmer meinen Vater sagen. »Ich will zur Zeitungsexpedition – vielleicht sind noch Wohnungsangebote eingelaufen. Bleib' du nur ruhig liegen.« – »Ruhig?« erwidert meine Mutter kläglich. »Kann ich unter diesen Verhältnissen ruhig sein? Die halbe Nacht hab' ich mich gebangt! Nun sind wir in der Fremde und wissen nicht ...« Sie bricht in Weinen aus. Ich höre, wie mein Vater aufsteht und die Verbindungstür schließt. Schwer ist mir das Herz. Frisch und froh hatte ich ins neue Leben geblickt – nun war da wieder die graue Sorge – als ob dies Gespenst die Familie Wille mit besonderer Tücke verfolge.

Als ich noch klein war, hatte die Kette des Mißgeschickes begonnen. Von seiner Kanzlei war mein Vater in einer Droschke nach Hause gekommen und gleich zu Bett gegangen. Von der Darmverschlingung, die ihm ein Fehltritt auf der Aktenleiter beigebracht, wurde er zwar gerettet; aber dann erkrankten die Augen. Um wenigstens das eine zu retten, wurde das andere herausgenommen. Mein Vater mußte seinem Beamtenberufe entsagen und wurde mit einem kargen Ruhegehalt verabschiedet.

Meiner Mutter fiel es nicht leicht, solchem Schicksal mit Fassung zu begegnen. Enttäuschungen, die ihr schon in ihrem Elternhause nicht erspart geblieben waren, hatten ihr eine Bitterkeit beigebracht, die nun überhandnahm. Ihr Vater, ein Major, hatte das Vermögen durch noble Passionen, Spiel und Bürgschaft zerrüttet. Als er plötzlich starb, blieb der Witwe mit acht Kindern nur die schmale Pension und geringes Vermögen. Diese Verarmung der Familie war's gewesen, was einen jungen Rittergutsbesitzer veranlaßt hatte, seine Bewerbung um meine Mutter zurückzuziehen. Sie hatte sich dann zur schlicht bürgerlichen Ehe mit meinem Vater bequemt. Aber den früheren Freier konnte sie nicht vergessen. Wenigstens kam es mir so vor, seit ich zufällig ein Gespräch der Eltern mitangehört hatte. Seitdem bildete ich mir ein, mitschuldig zu sein an der Unzufriedenheit der Mutter. Hätte sie damals den Junker geheiratet, so hätte sie – faselte ich – ein andres Kind bekommen als mich. Es war also eine gewisse Rücksichtslosigkeit von mir, zur Welt zu kommen.

Aber nun war ich einmal da. Und hatte schon wieder eine peinliche Auseinandersetzung zwischen den Eltern belauschen müssen. Ich atmete auf, als jetzt die begütigende Art meines Vaters die Oberhand gewann. »Es wird schon gehen,« tröstete er, »man soll die Dinge nicht trüber sehen, als sie sind.« – Aber die Mutter klagte: »Brunos Schule macht mir Sorge; sie sollen hier im Latein weiter sein.« – »Ach was!« ermunterte mein Mater. »Er muß die Nase in die Grammatik stecken und seine Allotria lassen!« – »Das tut er eben nicht!« – »Na ja, er ist eben noch Kind! Auch bei mir hat sich ernsteres Streben erst nach der Konfirmation eingestellt. An Max haben sich die paar Jahre, die er vor Bruno voraus hat, auffällig bewährt.«

»Ja, Max hat Verstand – aber Bruno bleibt ein Träumer.« – »Also tröste dich mit Max! Du wirst sehen, keine drei Jahre, und er kommt nach Tübingen als Bruder Studio.« – »Medizin muß Max studieren,« sagte die Mutter. »Ich denke mir ihn als Arzt. Nur nicht in einem Bauerndorfe! Für die Großstadt bin ich!«

»Dafür mag Bruno das Landleben wählen,« meinte der Vater, »Bruno schwärmt ja fürs Idyllische. Ich sehe ihn schon als Landpastor bei seinen Rosen und Bienen.« – »Pastor? Dazu kann er's allenfalls bringen. Du hättest hören sollen, wie er vor dem Küchenpersonal den Pastor gespielt hat. Deinen schwarzen Filzhut auf dem Kopfe, Krempe nach oben, das war sein Pastorbarett. Die Bäffchen aus Papier geschnitten. Sein Talar dein schwarzer Mantel; die langen Aermel schlappten, wenn er Gebärden machte und, das Gesangbuch an die Brust gedrückt, salbaderte: Geliebte in Christoph Kolumbus! Klein ist die Haselnuß. Größer schon die Walnuß. Erstaunlich groß die Kokosnuß. Aber die allerdickste Nuß in diesem Jammertal, das ist die Venus! Amen! – Die Dienstmädchen haben gejuchzt. Venus, was ist denn das? fragt eine; und der Bengel antwortet: Eine Nuß, die wehtut – das Weib ist bitter.« – »Ho ho!« lachte mein Vater. »Für solche Faxen hat der Bengel Sinn – aber Latein ist seine Liebe nicht. Hat erst neulich wieder ut mit dem Indikativ geschrieben.« – »Ja, sorge bloß dafür, daß er nicht so viel Indianergeschichten schmökert. Neulich hat er auch noch das Dichten angefangen.«

»Stimmt, der Bengel reimt! In seiner Grammatik fand ich einen Zettel: Der Glasberg, ein Heldengedicht. Und dann ging's los: O märchenhafte Ferne, ins Blaue zög' ich gerne! Ueber solche Reimerei war das Epos nicht hinausgekommen. Aber eine Zeichnung dazu gekritzelt: Kühn zu Roß sprengt ein Reiter den Glasberg hinan – stürzt jedoch ab, weil ihm ein Raubvogel nach den Augen hackt.« – »Man merkt,« sagte die Mutter, »er hat Uhlands Balladen gelesen und möchte nachäffen. Na, die Reimerei ist wenigstens eine Stilübung.«

»Die Geschichte vom Glasberg steht in seinem Märchenbuche. Uebrigens keine üble Idee.« – »Idee? Was für eine Idee?« – Nach sinnendem Schweigen versetzte mein Vater: »Wie wir gestern abend an Reutlingen vorbeifuhren, kam mir die Achalm wie der Glasberg vor. Solch ein Gipfel lockt uns alle, es hat jeder seine heimliche Sehnsucht, auf eine Höhe zu gelangen, die er sich träumt. Meint nicht sogar unsere Uebersiedelung nach Tübingen gewissermaßen den Glasberg?« – Die Mutter seufzte: »Lieber Gott, ja! Wenn nur die Kinder vorwärts kommen! Das ist jetzt mein Glasberg.« – »Na, und der wird zu erklimmen sein,« sagte der Vater sanft, – »ist ja ein bescheidenes Ziel, eigentlich nur ein Hügelchen – obwohl einem kurzatmigen Manne wie mir beim Klimmen schon etwas die Puste ausgeht. Du mit den Kindern wirst hinaufkommen. Wirst mal mit Max in der Stadtwohnung hausen, während sein Wartezimmer von Patienten wimmelt. Oder wenn dir's besser paßt, kannst du auch auf Brunos Glasberg ziehn, in seine ländliche Pfarre. Der Frau Pastern ein wenig unter die Arme greifen. Bist ja noch jung und rüstig. Ich werd's nicht erleben. Und wenn auch! So würd' ich das Gärtchen vielleicht nicht sehen können und die Frau Pastern mit dem Kindchen ... Aber laß gut sein! Die Welt braucht sich nicht um mich zu drehen ...« – »Und auf solche Ideen bringt dich das Märchen vom Glasberg? Aber von deiner Lebensphilosophie hat der Junge keine Ahnung.« – »Wer weiß! Er spürt Glasberg-Sehnsucht. Auf kindliche Art hält er's mit dem Ritter, der die Prinzessin vom Glasberg holen will. Bei seiner Reimerei schwebt ihm vielleicht zum ersten Male etwas wie eine Idee vor.«

Unvergeßlichen Eindruck machte dies Gespräch der Eltern auf mich. Und als der Vater gegangen, als es still im Nebenzimmer geworden war, suchte mein Grübeln zu erfassen, was er meinte. Wenn meine Mutter zur Köchin gesagt hatte: »Es fehlt an der Suppe 'ne Idee Salz,« so hatte sie »ein ganz klein wenig« gemeint. Ich stellte mir daher eine Idee als ein verblasenes Ding vor, so etwas wie Stäubchen oder Spinnenfädchen. Einen schon mehr vergeistigten Begriff hatte mir das Lesebuch meines Bruders beigebracht – in einem Aufsatz über Parzival war von der Idee dieses Heldengedichtes die Rede. Nun hatte der Vater dem Glasberg-Märchen eine Idee zugesprochen. Ich kam mir vor wie einer, der einen heimlichen Schatz gefunden hat. Und war jetzt entschlossen, nicht Landpastor zu werden, sondern ein Dichter, der Ideen hat. Eine Lebensaufgabe, würdiger als die Grammatikbüffelei. Da ich ein Bild des Parzival-Dichters gesehen hatte, wie er die Harfe schlägt, so wollte ich mir beim Weihnachtsmann eine Harfe bestellen. Ich hörte sie schon vom Glasberg raunen und vom kühnen Erlöser der Prinzessin.

Auf der Wohnungssuche

Vom Schlummer, in den ich zurückverfallen war, weckte mich der Vater, und aus dem Bette fuhr ich. Lief zum Fenster und sah wimmelnde Menschen, Körbe mit Obst und Gemüse, umdrängt von kaufenden Bürgerinnen. »Flott!« mahnte der Vater. »Runter zum Frühstück! Es geht auf die Suche nach einer Wohnung.«

Unten schlürfte ich hastig den Milchkaffee und biß tapfer in den großen gelben Wecken, den mir nebst süßer Rahmbutter die neue Heimat bot.

Der angenehme Eindruck Tübingens steigerte sich noch, als ich mit den Eltern auf den Marktplatz trat. Gewühl und Stimmengewirr, ländliche Frauen und Mädchen mit langen Zöpfen. Sie schnatterten wie Enten. Viele trugen ihren Korb auf dem Kopfe. Diese süddeutsche Art war uns neu, ich machte auf das kranzförmige Kopfkissen aufmerksam, auf dem der Korb ruht: »Seht doch das Bauernmädchen! sie trägt ihn so sicher, braucht gar nicht anzufassen.« Meine Mutter blieb bei schönen weißen Rettichen stehen, lobte auch Bohnen, Kohlrabi und Zwiebeln. »Was kosten die Johannisbeeren?« Ihr Norddeutsch wurde von der Bäuerin nicht verstanden, aber ich konnte aushelfen, weil ich während der Eisenbahnfahrt auf die schwäbische Mundart gemerkt hatte: »Waas koschte die Träuble?« Nickend lachte die Bäuerin: »So isch reacht! So tuet mr bei ons schwätze.«

Mein Vater war in Betrachtung des Rathauses vertieft. Ein mittelalterlicher Bau mit großem Dach. Die Kanzel an dem ersten Stockwerk kannte ich bereits aus den Bildern zu Hauffs »Lichtenstein« und fragte: »Von da hält der Bürgermeister wohl seine Volksreden? Aber was ist denn oben auf dem Dache? Sieht aus wie ein Storchnest.« – »Ist auch eins,« sagte der Vater, »heute früh war der Storch drin, hat mit dem Schnabel geklappert.« – »Wie ulkig! Ein Storch auf dem Rathaus! Vielleicht sitzt er noch drin und hat sich bloß geduckt! Aber sag', Vater, was bedeutet der steinerne Mann auf dem Brunnen da?« – »Das ist der Wassergott mit dem Dreizack.« Ich tat noch schnell einen Blick in die Runde, und die Altertümlichkeit der hochgiebligen Häuser versetzte mich in die Ritterzeit. »Mir gefällt Tübingen!« erklärte ich.

Meine Mutter schien anders zu empfinden, als wir nun durch Gassen pilgerten, die eng waren und winklig. Wie Rippen sahen die braunen Balken der Kalkwände aus. Die oberen Stockwerke der Bürgerhäuser über die unteren vorgeschoben. Der spitzige Giebel hat eine Luke, zuweilen auch einen vorspringenden Balken, um Stroh und Heu zum Dachraum emporzuwinden. Die schweigsame Mutter fragte plötzlich: »Wohin führst du mich?« Im Notizbuch blätternd, erwiderte der Vater: »Zur Bachgasse! Ich habe die angebotenen Wohnungen notiert, und da heißt es: Weingärtner Kübler, Bachgasse, zwei Zimmer, drei Kammern, Küche und Stall – auffallend billig.« Meine Mutter zog ein saures Gesicht. Bereits in Magdeburg war sie alten Stadtteilen abgeneigt, und nun waren hier lauter »olle Kabachen«, wie sie sich ausdrückte. Man sah keinen wohlgekleideten Menschen, nur Ackerbürger mit unsauberen Stiefeln, verhutzelte Weiblein, Handwerker mit Schurzfell. Herumlungernde Kinder gafften uns an, und freilich waren wir eine auffallende Erscheinung. Meine Mutter in modischer Tracht, ihr Kleid war billig, sah aber wie graue Seide aus, und der Strohhut mit dem Schleier erregte hier Aufsehen. Mein Vater hager, schwarz gekleidet, blaue Brille, Binde vor dem Auge. Ich ein hochgeschossener Junge mit himmelblauer Schülermütze.

Einen Ackerbürger, der vom Karren Klee ablud, fragte mein Vater: »Wie kommt man zur Bachgasse?« In der rauh schnatternden Mundart des Tübinger Weingärtners erfolgte die Antwort unter beschreibenden Gebärden: »Graad naus! beim Schneider Lämmle oms Eck num! Na tut mr sich ebbes links drehe – ond widder ebbes rechts. E Seitegäßle – dees ischt aber net die Bachgaß – noi! Erscht kommt die Froschgaß ...«

Meine Mutter, den Mann anstarrend, bekam ihren roten Kopf und ging übellaunig. Bestürzt folgte ihr mein Vater, während der Mann hinter uns her rief: »Erscht die Froschgaß!« Die aufgeregte Mutter war zwischen einen Karren und einen Misthaufen geraten und kam über eine Pfütze nicht hinweg. Der Vater wollte ihr beistehen, wurde aber ungnädig empfangen: »Was mutest du mir zu! Hier soll ich wohnen?« – »Aber das ist ja noch gar nicht die Bachgasse ... Erst kommt die Froschgasse.« – »Ach was! Frosch oder Bach! Mistgassen sind das! In die wilde Walachei bin ich geraten. Hier soll ich finden, was du unsern Glasberg nennst? Ach lieber Gott!« Sie schluchzte auf, während mein Vater traurig den Kopf schüttelte.

Einschulung

An meine Einschulung, die eine Stunde später erfolgte, knüpfte das Schicksal bedeutsame Fäden. In der Wilhelmstraße, wo das Gymnasium gelegen war, gab es kein Alt-Tübingen mehr, sondern freien, lichten Raum, breite Bürgersteige, schmucke Häuser. Im Erdgeschoß wohnte der Direktor, wir kamen gerade zur Sprechstunde. Ein kurzer, rundlicher Herr; schon weißhaarig, mit einer Samtkappe, rasiert wie ein Pfarrer alten Stils. Freundlich ließ er meinen Vater Platz nehmen und setzte sich ihm gegenüber: »So so! Einen neuen Schüler bringe Sie mir? Ond woher denn?« Mein Abgangszeugnis wurde ihm gereicht, er prüfte es in kurzsichtiger Betrachtung, wobei er die Brille auf die Stirn geschoben hatte. »Aus Magdeburg komme Sie? Ond Kloschter Onser Lieben Frauen heißt die Schul? Ischt aber doch proteschtantisch, net wahr? Säkularisierter Kirchenbesitz ... I bin Hischtoriker, gelt? Aber jetzt wolle mer höre, ob onser Schüler imstand ischt, onserm Onterricht in der sechste Klass z' folge ... So heißt mer bei ons die Onter-Tertia.«

Er schlug ein Buch auf und gab mir einen lateinischen Text zum Uebersetzen. Es haperte, und der Direktor fand heraus, daß mir gewisse Kenntnisse der Grammatik noch fehlten. »I han mer's denkt. Onser Lateinpensom hat en Vorsprong vor em preußische. Die Lück muß Ihr Bub gschwind ausfülle, gelt? Gut wär's, Sie ließe ihm Nachhilfe erteile.« – »Sofort, Herr Direktor! Wenn ich nur jemand wüßte! Vielleicht könnte ein Student ...?« – Der Direktor nickte: »Vorausgesetzt, daß Sie an den Rechten kommen. Vielleicht, daß Herr Präzeptor Bock ... Aber freili ... ha ...« Er wollte nicht mit der Sprache heraus. Als ihn mein Vater gespannt ansah, fuhr er fort: »'s wär bloß, daß e Student billiger käm! Soviel i weiß, nimmt der Bock einen Gulde für die Stond! I han's als Heidelberger Student billiger tan – zwanzik Kreuzer han i kriegt.«

»Ein Gulden – hm! Das ist allerdings viel für meine Verhältnisse. Ich lebe von meiner Pension. Möchte also lieber einen Studenten ausfindig machen. Ob ich im hiesigen Blatt inseriere?« – »Warom net? Uebrigens wüßt i en Studente für Sie. Nur brauchte Sie net grad den Bock merke z' lasse, daß i's gewese bin, der Ihne den Kandidaten Hainlin empfohle hat. Der Bock hat e Vorurteil gegen studentische Nachhilfestonde. Besonders gegen den Kandidaten Hainlin.« – »Heißt so der Herr, den Sie mir empfehlen?« – »Ja, den Hainlin kann i empfehle – mit beschtem Gewisse. Wenn's Ihne recht ischt, könnt i ja mit dem Kandidate rede. Den muß mr vorsichtik behandle. Was der net mag, dees tut er halt net. Aber vorerscht gilt's ja Ihren Sohn eiz'schule, gelt? I bitt um Geburts-ond Taufschei!« Als ihm diese Urkunden gereicht waren, begab er sich zum Schreibtisch, schlug ein Hauptbuch auf und war mit Eintragen beschäftigt. Ich sah dem langsam tickenden Pendel der großen Kastenuhr zu, verstohlene Blicke glitten über Büchergestell und Bilder.

Der Direktor unterbrach sein Schreiben: »Ha, deescht mir sähr interessant! I les auf dem Schein da, daß Ihre Frau eine geborene von Kotze ischt. Da regt sich in mir der Hischtoriker. Ischt sie verwandt mit dem Kotze, der an der hiesigen Stiftskirch den Grabstei hat?« – »Grabstein? Wir haben die Stiftskirche heute zum erstenmal gesehen, ganz flüchtig.« – »Ein Junker Jakob Kotze aus Groß-Germersleben liegt drin begraben.« – »Groß-Germersleben bei Magdeburg? Das war ein Schloßgut des Kotze-Geschlechts, wie der Familienstammbaum ausweist. Darin kann ich ja nachsehen, ob der Junker Jakob erwähnt ist.«-»Maas? e Buch hänt Sie über die Vorfahre? Derf i dees glegentlich durchblättre? Dees trifft sich gut! Jetzt wüßt i, wie mr den Kandidate zum Onterricht bestimme könnt. I will Ihne verrate, daß dr Hainlin, e talentierter Hischtoriker, über die Grabdenkmäler von Sankt Georgen schreibt. Jetzt, wenn er hört, daß Ihr Sohn blutsverwandt ischt mit dem Junker Jakob, und wenn er in Ihrem Familienbuch nach m Junker forsche derf – dees wird den Hainlin begeischtere, so tut er Ihne wohl den Gfalle ... Ein ausgezeichneter Pädagog! Dem Uli Ritter, der mit saumäßigem Zeugnis vom Stuckrter Gymnasium komme ischt, dem hat er Nachhilf erteilt – mit beschtem Erfolg. Da fällt mer übrigens ei, i könnt den Hainlin geschwind holen lasse – gelt?« Und die Klingel zog der Direktor – ein Dienstmädchen erschien: »Spring, Mädle, nüber zom Pfleghof! Beim Fechtmeischter Wühscht ischt der Hainlin – en schöne Gruß von mir, ond ob er net geschwind mal komme möcht – wegen eines Buches, das ihm arg lieb wär ... Diplomatisch muß mr verfahre,« nickte der Direktor lächelnd, als die Magd gegangen war.

Das Gespräch kam auf Vaters Augenleiden. Der Direktor bot meinem Vater eine Prise. Nicht lange, so ging draußen die Flurtür – es trat ein junger Mann herein, der vom Direktor als Kandidat Hainlin vorgestellt wurde. Eine hohe, schlanke Gestalt – blonder Christuskopf, träumerische Blauaugen, eingehöhlt unter einer lichten Stirn. »Es wird Sie interessiere, Herr Kandidat,« – sagte der Direktor – »daß die Gattin dieses Herrn der Familie des Junkers Kotze von der Stiftskirch ahnghört. Ond ein Ahnenbuch, das vom ganze Kotze-Geschlecht handelt, dürfe Sie durchlese – gelt, Herr Wille?« – Mein Vater stimmte verbindlich zu: »Sobald ich es mit meinem Gepäck erhalten habe, soll's mein Junge dem Herrn Direktor und Ihnen bringen.« – »Ja, dieser Knabe«, sagte der Direktor, »ischt soebe von mir ins Gymnasiom aufgnomme, in die sechste Klass. Ischt aber ebbes rückständik im Latei. Es fehlt net arg viel – fünf bis acht Nachhilfestonde könnte ihm die paar Regele geläufik mache. Die Sach ischt bloß die, daß mer niemand wisse, der ... das heißt, empfehle könnt i schon jemanden ... i weiß bloß net, – ob er mag!«

Hainlin hatte begriffen. Er sah mich prüfend an, ich fühlte, daß ich errötete. »Wenn's Herr Wille wünscht,« sagte Hainlin bescheiden – »so wär i bereit, mich des Knaben ahnzunemme. Er könnt glei morge zu mir komme.« Dankend war mein Vater einverstanden. Ich schrieb mir Hainlins Wohnung auf und die Schulbücher, die ich brauchte. – »Und wo wohne Sie, Herr Wille?« sagte der Direktor. »Dees müeßt mr doch ins Schülerbuch eitrage.« – »Augenblicklich im Gasthof zum Lamm. Erst gestern abend sind wir hier angelangt. Ich bin auf der Suche nach einem Heim. Wir sind allerdings sehr darum in Verlegenheit.« – Hainlin schien zu überlegen. »Eine Wohnung wüßt i schon – aber bloß drei Zimmer sind's. In Luschtnau – das ist ein Dorf, ein freundliches, nur e halbe Stond entfernt ...« – »Luschtnau?« fragte der Direktor. »Bei wem wär dees?« – »Beim Kuttler.« – »Dem Rosen-Kuttler? Dem sein Enzio Schüler in meiner Anstalt ischt? Dann wär der ja Klassekamerad vom Bruno. Und könnt ihm in dr Grammatik zeige, wie weit die sechste Klass komme ischt. Also, Herr Wille, 's könnt sich Ihne verlohne, nach Luschtnau zu spaziere.« – »Ich könnt Sie führen,« meinte Hainlin, »wenn's Ihne gfällik wär. I möcht ohnehi nach der Richtung.«

»Also!« ermunterte der Direktor und blinzelte vergnügt meinem Vater zu. Dann zu Hainlin gewandt: »Wie komme denn Sie an die Bekanntschaft mit dem Kuttler? Hänt 's die schöne Rösle tan?« Errötend lächelte Hainlin: »Die Rösle net – aber daas Rösle! Nemmlich Rosel Funk, mei Spielkameradin. Ihr Mutter ischt die Schulmeischterswitwe von Lauffe an der Eyach. Net weit drvon ischt mei Heimatsdörfle glege. Seit eme Jährle ischt die Frau Funk wieder verheiratet, ond zwar mit dem Rose-Kuttler.« – »Ond gelt, Herr Kandidat? Alte Liebe roschtet net!« schmunzelte der Direktor. Dann nickte er meinem Vater zu und scherzte: »Dies Kind, kein Engel ist so rein, soll eurer Huld empfohlen sein.« Nun verabschiedete sich mein Vater – alle waren wir sehr befriedigt von dieser Einschulung.

Lustnau

»Bitte, links!« sagte Hainlin, als wir auf die Straße kamen. Er ging zwischen Vater und mir. Ich beobachtete ihn verstohlen. Er war noch größer als mein Vater, von einer graden Haltung. Ein edelschöner Mensch. »Wenn's Ihne paßt, gange mr's näckschte Wegle nach Luschtnau – dicht unterm Oehschterberg – Oesterberg,« verbesserte er seine schwäbische Mundart. – »Sie sind der Führer,« antwortete mein Vater, und wir bogen von der Wilhelmstraße ab. Steil erhob sich über uns eine Bergwiese mit Obstbäumen.

»Ist der Oesterberg hoch?« fragte ich schüchtern – worauf Hainlin den Bescheid gab: »Bei Tübingen sind die Berge überhaupt net hoch, und der Oesterberg ist hier net grad die höckschte Erhebung. Hat aber umfassende Aussicht. In langer, blauer Kette sieht mr da die Alb – au ebbes vom Schwarzwald. Du kennscht ›Des Knaben Berglied‹, gelt? Ich bin vom Berg der Hirtenknab, schau auf die Schlösser all herab ... Dees hab d'r Uhland, sagt mr, auf dem Oehschterberg gmacht.« – »Oh!« staunte ich – »dann muß es wunderschön da oben sein! Aber wo sind denn hier die Schlösser, auf die man herabschaut?« – »Ha, Büble!« lächelte Hainlin. »Net grad die Aussicht vom Oehschterberg hat der Uhland schildre wolle – bloß daß ihn dieser Berg in Stimmung versetzt hat. Uebrigens sieht mr drobe Schlösser gnug. Da wär vor allem unser Tübinger Schloß, gelt? Aus der Ferne winkt das Zollernschloß – auch der Neuffen – die Achalm – auf der andern Seite die Weilerburg und noch andre Ruinen.«

»Das muß ja großartig sein,« bemerkte mein Vater. »So recht was für uns! Naturfreunde sind wir, der Junge schwärmt auch noch für Romantik.« – »Recht so!« meinte Hainlin. Und meinen Vater teilnehmend von der Seite betrachtend, fügte er hinzu: »Es ist nur gut, daß Ihr Augenleiden Sie net allzu arg stört!« – »Na ja, in die Ferne sehe ich leidlich, der Blick ins Grüne tut mir sogar wohl. Nur daß im Bild ein Flimmern ist, das beunruhigt. Immerhin! Meines einen Auges will ich mich freuen, solange es noch brauchbar. Wie lieblich ist nun dieses Bild!« Mein Vater blieb stehen, wie er gern tat, wenn er betrachten wollte. Nach links deutend, fuhr er in wehmütiger Freude fort: »Oh, diese blumige Wiese – und der Bach, hindurchgeschlängelt – mit den silbernen Weidenbüschen! Drüben der Baumweg führt also nach Lustnau? Oh, und dahinter die sonnigen Berghalden! Obstgärten, Weinberge mit niedlichen Laubenhäuschen. Alles so duftig zart ...«

Trunkenen Blickes nickte Hainlin: »So zart, als wär's kein Erdenstoff – als wär's eitel Himmelsglascht!« – »Glas?« fragte ich. – »Du denkst wohl an deinen Glasberg?« scherzte Vater. – »Nicht Glas,« sagte Hainlin in norddeutscher Aussprache, »sondern Glast – das bedeutet bei uns Glanz. Ich meine, wie körperloser Himmelsglanz wirkt dieses Bild.« – »Paradiesisch!« schwärmte mein Vater. »Recht hat Ihr Uhland, seiner schwäbischen Heimat mit den Worten zu huldigen: Man sagt, du seist ein Garten, du seist ein Paradies.«

»Sie brauchten den Ausdruck Glaasberg, Herr Wille – was meinen Sie damit?« – »Der Junge faselt vom Glasberg. Dichtet ihn sogar an. Kennen Sie nicht die Sage?« – »Im alten Gedicht Titurel kommt ein Glasberg vor,« erwiderte Hainlin. »Und irre ich nicht, auch im Märchen von den sieben Raben, das die Brüder Grimm aus Volksüberlieferungen geschöpft haben. Unsere Urväter meinten, das Firmament sei aus Glaas. Ein Wipfel der Esche, die nach germanischem Glauben das Weltall bedeutet, heißt Lichtelfen-Heim – es glastet hoch über der Menschenwelt und hat eine Götterhalle namens Gladsheim.« – »Sie sind wohl Germanist?« sagte mein Vater bewundernd. Hainlin lächelte: »Es gibt hier noch Studenten, die auf Uhlands Pfaden wandeln. Ihr Glaasberg – möcht ich zusammenfassend sagen – bedeutet das Himmelsgewölb – eine Glast-Elfenburg – auf gut schwäbisch könnt mr sage: Glaschtelfingen. Sie wissen ja, im Ländle enden die Ortschaftsnamen gern auf ingen: Tübingen, Reutlingen, Böblingen ...«

»Glastelfingen!« sagte mein Vater und nickte den sonnigen Berghalden zu. »Ich möchte die Weinberge erklimmen, nur sind sie mir zu steil – es würde mir gehn wie den Abenteurern, die den Glasberg hinabrutschen. Aber köstlich müßt' es sich droben hausen, in solch einem Laubenhäuschen zwischen Reben und Apfelbäumen.« – »Sind die Häuschen bewohnt?« fragte ich, und Hainlin erwiderte: »Die Wengerthäusle? Dooch net! Das Erdgeschoß dient zum Verwahren von Frucht und Gerätschaft. Darüber ischt bloß e Stüble, eng wie e Schneckehäusle. I denk allweil dabei an des Reimle: Waas ischt das im Schnützelputzhäusel? Da pfeifen ond tanzen die Mäusel.« – Gemütlich lachte mein Vater vor sich hin: »Schnützelputzhäusel? Der Ausdruck erinnert mich an meine Kindheit. Damals putzte man die Talglichte mit der Schnützelputzschere, und diese hatte für den abgeschnützelten Docht eine Art Kasten, ähnlich allerdings einem Haus für Mäusel.«

»In solch einem Schnützelputzhäusel«, schwärmte ich, »möcht' ich hausen.« – »Warom au net? Ond manch e Tübinger Studio hat so denkt. Der Wieland – wisse Sie, der den ›Oberon‹ gedichtet hat – er hat in einem Wengerthäusle gewohnt – auf dem Oeschterberg!« – »Schon wieder ein Dichter auf dem Oesterberg!« scherzte mein Vater. »Das scheint ja der hiesige Musensitz zu sein, der schwäbische Parnaß.« – »Ha freili!« lachte Hainlin. »Und dr Wieland, so geht die Sage, der hab drobe die Verse gschriebe, mit dene sein Heldenmärle ahnhebt: Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen, ihr Musen – zum Ritt ins alte, romantische Land!« Ich war in heller Begeisterung. Mein Bruder hatte ein Bild aus einer »Oberon«-Ausgabe abgezeichnet, das hatte mir Gelegenheit geboten, die Dichtung durchzupeitschen. Das Flügelroß der Musen war auch meine Passion, und mit dem alten romantischen Land schien mir eigens das Schwabenland gemeint zu sein. Welch ein Zauberland war das, und was für ein Glück für mich, da hinein versetzt zu sein! Ueberall Wälder von Obstbäumen, Weinberge, blaue Höhen mit Burgen – man träumt von Rittern und Märchenhelden, von Dichtern, die im Schnützelputzhäusle unsterbliche Heldengedichte gereimt haben.

»Wie heißt der Berg dort links?« fragte ich ehrerbietig. Hainlin wußte es nicht. »Vielleicht hat er gar keinen Namen!« Mein Vater spähte hin. »Wo die drei Pappeln stehn, scheint die Spitze zu sein.« – »Dees ischt bloß e Vorsprung, dahinter geht's noch höher. Dann kommt, hinter Obstgärten versteckt, e winziks Dörfle, bloß e Weiler – i bi noch net drobe gwä ...« – »Wie heißt es?« – »Ha, wie mag's gheiße sein? Dees heimlich Neschtle droben im blauen Himmelsglascht?« – »Sagen wir also Glastelfingen!« scherzte mein Vater, und Hainlin freute sich über die Verwendung seines spielerischen Einfalls:

»Wissen Sie, Herr Wille, wie ich mir Glastelfinge vorstelle tu? Aehnlich wie mei Albdörfle am Lochstei' – bloß daß es in Glastelfingen Traube habe müßt ond Kaschtanie wie am Südhang der Alpen. Ein Freund von mir ischt in Friaul gwese. Ha, dort ischt das wahre Glastelfingen. Ein Berg in Friaul soll Dante als Modell vorgeschwebt haben, um das Paradies zu schildern. In den Südalpen hat's au en Berg Monte Cristallo, zu deutsch Glaasberg – und da sieht mr, wie innik die Sinnbilder der Völker zusammenhängen. In den verschiedenen Menschen schlägt halt im rund einziks Herz.«

Gedankenvoll nickte mein Vater: »Und darin ist was, das immer ins Weite schwärmt. Um so feuriger, jemehr es unter der Enge leidet. Zum Glasberg will's empor, die Prinzessin zu erlösen. Oder wenn's Herz nicht so sehr dem stürmischen Abenteuer als dem Sanften geneigt ist, seufzt es nach dem Höhendorfe Glastelfingen, als ob das heimlich seine Heimat wär'! Doch ach, wer weiß, ob solche Sehnsucht erfüllbar ist, ob nicht vielmehr der Pilger bei Schiller recht hat: Der Himmel über dir kann die Erde nie berühren, und das Dort ist niemals hier.«

»Er hat recht!« meinte Hainlin – »dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück! Aber was folgt draus? Daß mer besser tät, den Himmel net über sich zu suche.« – »Wo denn aber sonst?« fragte mein Vater, worauf Hainlin zögernd, schüchtern, wie verschämt antwortete: »Net drauße! Da wird mr alleweil enttäuscht. Es bleibt nicks übrik, als im eigenen Innern zu suche – wie der Bergmann nach den Schatz der Tiefe schürft.« In feierlichem Ernst blickte mein Vater auf den jungen Mann: »Sie sind früh reif! Und es scheint, Sie haben das bessre Teil erwählt. Ja, schürfen Sie innen! Aber ganz verachten soll man die Umwelt nicht. Sie kann ja dazu beitragen, daß man den Himmel im eignen Innern findet. Oder freilich: ihn verfehlt!« In stiller Beschaulichkeit schritten wir nebeneinander her. Nur daß Hainlin noch die Bemerkung fand: »Am beschte wär's scho, wenn mr sich ohn abhängik mache könnt von dr Außenwelt!«

Mein Vater schwieg und sann – lächelte hierauf wehmütig: »Ich sonderbarer Schwärmer! Rede da vom heimlich holden Dörfchen, unserer wahren Heimat – und weiß nicht mal, wo ich mit Frau und Kind morgen das Haupt niederlegen werde. Von Glastelfingen träumen wir – und haben nicht mal unser bescheidenes Ziel Lustnau erreicht.« – »Da liegt es!« sagte Hainlin hindeutend. Hinter Wiese, Bach und Obstgärten ragte ein schmucker Kirchturm inmitten freundlicher Bauerndächer. Nebst den Weinbergen blickten waldige Höhen hernieder. »Welch reizende Lage!« bemerkte mein Vater. Als wir den Bachsteg überschritten und durch Wiesen mit Obstbäumen kamen, kreuzte den Weg ein zweiter Bach, er rauschte ziemlich breit über steinigen Grund, wo Forellen huschten. »Der Goldersbach,« sagte Hainlin, und wir gingen übers hölzerne Brücklein.

Nun waren wir in der Dorfgasse. Enten schnatterten, im Dünger scharrten Hühner, braune, barfüßige Kinder gafften. Die Häuser waren leidlich sauber, wenn auch Misthaufen davor nicht fehlten. An einer breiten Gasse lagen ein paar Häuschen, die nichts Bäurisches hatten. Das eine, von einem Rebstock umschlungen, enthielt einen Kramladen mit der Aufschrift: Josua Kuttler. »Daß hier der Rosen-Kuttler wohnt,« bemerkte mein Vater, »erkennt man sofort an den Rosen im Garten. Welche Pracht!«

Aus dem Garten kam ein junges Mädchen; es stutzte bei unserm Anblick, blickte zärtlich auf Hainlin und sagte errötend: »Mei Jörgle!« Freudestrahlend ergriff er ihre Hand: »Grüß di Gott, Rosel! Was treibscht? Ischt dei Stiefvatter daheim? Net? Dr Herr da möcht ...« Indem trat aus der Ladentür, die unter Anschlag einer Klingel aufging, ein andres Mädchen. Sie hatte glühend schwarze Augen und konnte für hübsch gelten. »Deescht aber nett, Herr Kandidat! Ond waas verschafft mir die Freid?« Hainlin stellte meinen Vater vor und bezeichnete das Mädchen als Fräulein Kuttler. »Der Herr möcht die Wohnung ahnschaue, wo bei Ihne zu vermiete ischt – net wahr?« – »Zu vermiete hänt mr scho!« erwiderte Fräulein Kuttler. »Wenn's gfällik wär, ganget mr nauf! Durchs Lädle da!« Als Hainlin mit Rosel zur Seite trat, fügte sie etwas spitz hinzu: »Ond Herr Hainlin? Wolle denn Sie net mitkomme?« – »I möcht derweil mit dr Rosel rede.«

Wir traten in den Laden – hier gab es Waren, wie sie ein Dorfkrämer feil hat: Kleiderstoffe, Werkzeuge, Zucker, Briefpapier; es roch nach Essig, Tabak und Seife. Von da ging es in einen schmalen Flur und die Treppe hinauf zum Oberstock. Die leerstehende Wohnung war klein, doch zur Not ausreichend. Uns fesselte besonders der Blick in den Rosengarten und über Obstbäume hinaus auf gelbes Korn und grünes Hügelland. Der Mietspreis war billig, und so erklärte mein Vater, er werde voraussichtlich am Nachmittag mieten – nur müsse seine Frau die Wohnung erst besehn.

Im Garten wandelte Hainlin mit Fräulein Rosel zwischen Gemüsebeeten. Mit Vergnügen hörte er, daß uns die Wohnung zusage. Dann bat er meinen Vater, sich gleich beurlauben zu dürfen. Er wolle im Gasthof einen Imbiß nehmen, dann nach Einsiedel spazieren, wo sein Onkel wohne. Wir begaben uns zur Gartenpforte, und hinter den beiden Mädchen hergehend bemerkte ich, wie die Schwarzäugige ärgerlich der Blonden etwas zuraunte. Mein Vater dankte Herrn Hainlin, und wir verabschiedeten uns. Diesmal wollten wir den andern Weg nach Tübingen gehen, die breitwipflige Allee. In der Mittagsonne tat es wohl, von den Kastanien- und Ahornbäumen beschattet zu sein. Uns begegneten Fuhrwerke und Fußgänger, vom Tübinger Markte heimkehrend. Den Korb auf dem Kopfe, schritten Landmädchen und ältere Frauen wacker daher. Keine unterließ »Grüß Gott« zu sagen, und jedesmal erwiderten wir diese Höflichkeit, als ob wir uns schwäbisches Wesen rasch zueigen machen wollten. »Grüß Gott – das klingt so treuherzig,« sagte ich und blickte schwärmerisch zur Glastelfinger Höhe hinauf – dort war ja mein Wunderland.

Jakobskindle

Als wir mittags im »Lamm« eintrafen, empfing uns meine Mutter mit der Nachricht, unser Hausgerät sei auf dem Tübinger Bahnhof eingetroffen. Vollends atmete sie auf, als Vater über die Erfolge des Vormittags berichtete. Meine Mutter war fast ohne weiteres entschlossen, die Lustnauer Wohnung zu mieten. Ich sollte sie nach dem Essen hinführen, während Vater die Besorgungen auf dem Güterbahnhof zu verrichten hatte. In guter Stimmung setzten wir uns zu Tische. Die Kellnerin hatte in der gemütlichen Gaststube gedeckt. Zu lebhaft war's nebenan im Speisesaal; an langer Tafel schwadronierten da Studenten, die grünseidne Mützen hatten. Tafelgerät klapperte, man witzelte und lachte, und immer von neuem erscholl es: »Prosit!« »Gestatte mir!« »Ich komme nach.« – »Frankonen nennt der Wirt diese Studenten,« bemerkte die Mutter, »es muß eine wohlhabende Verbindung sein.« Und der Vater meinte: »Ja, diese Jugend läßt Gott einen guten Mann sein und fragt: Was kostet die Welt?«

Es war noch heiß, als die Mutter mit mir nach Lustnau wandelte. Die schmucken Häuser der Wilhelmstraße und die Universitätsgebäude beschwichtigten einigermaßen ihre Abneigung gegen Tübingen. Auch die schattige Allee gefiel ihr, aber den landschaftlichen Reizen, auf die ich hinwies, widmete sie nur flüchtiges Hinblicken. Ein schiefes Gesicht zog sie, als vor den Lustnauer Bauernhäusern die Misthaufen erschienen. »Ach du lieber Gott! Der Geruch! Und die Fliegen!« Beruhigt wurde sie, als Kuttlers Häuschen mit dem Rosengarten erschien und dann die Wohnung einen leidlichen Eindruck machte. Fräulein Kuttler benahm sich gefällig, führte uns in die Laube und gab der Mutter Auskunft über Angelegenheiten des Haushalts.

Nicht lange, so erschien mein Vater. Einigermaßen erschöpft, jedoch in guter Stimmung. Der Möbelwagen, so berichtete er, werde in einer Stunde eintreffen, das Mobiliar habe er auf dem Güterbahnhof gesehen, es sei heil geblieben.

Jetzt lernten wir Frau Kuttler kennen. Eine angenehme, blonde Frau. Hainlins Jugendfreundin Rosel brachte Brotschnitten und einen Steinkrug mit Gläsern. Als sie die Platte auf den Laubentisch gesetzt hatte, machte sie einen schüchternen Knicks, und Frau Kuttler stellte vor: »Deescht also Rosel Funk, die Tochter von meim erschte Ma, Gott hab ihn sälik! Jetzt aber müsse die Herrschafte ebbes veschpere! Onsern Moscht versuche – ond's Luschtnauer Baurebrot, gelt?« Rosel füllte die Gläser und bot an. Ihre Stimme hatte einen weichen, tiefen Klang, hold war der warme Ausdruck der goldig-braunen Augen. Apfelmost hatten wir noch nie getrunken. Den Vater erfrischte das Getränk, ich fand es sauer, doch in Verbindung mit dem trocknen nüchternen Brote schmackhaft; übrigens kam ich allem Schwäbischen willig entgegen.

Peitschenknall und Hühruf. Ich eilte durch den Garten zur Straße. Vor dem Hause stand der Möbelwagen, und ich erkannte die alten Heimgenossen: den großen Kleiderschrank, den Mahagonitisch, das Sofa, dessen Seidenbezug unter einer Linnenhülle hervorlugte. Meiner Mutter fiel ein Stein vom Herzen, als sich die Sachen unbeschädigt erwiesen. Beim Abladen half ich mit Feuereifer. Aber als mich die Mutter mit einem Spiegel auf der steilen Treppe sah, untersagte sie mir solche Betätigung.

Ich ging wieder zur Laube und fand einen Knaben mit dem übriggebliebenen Most beschäftigt. Da er Fräulein Kuttler ähnlich sah, fragte ich: »Ist Herr Kuttler dein Vater?« Er nickte, wir streiften einander mit Blicken. Er war in meinem Alter, klein und zierlich, ein Krauskopf, mit einem Zug von Wildheit im hübschen Gesichte. »Du gehst auch ins Gymnasium?« fragte ich. – »Freili! In die fünfte Klass.« – »Famos! Dann gehen wir zusammen.«

»Wie heißt du mit Vornamen?« fragte ich weiter. – »Enzio!« Ich musterte ihn von neuem: »Das klingt romantisch! Hieß nicht wer im Mittelalter so?« – Er suchte seine Gestalt zu recken: »Könik Enzio, der Hohenstaufe. In der Alb drüben ischt die Stammburg. Die Staufe sind die beschte Kaiser gwä. Aber dem Enzio hänt die Italiener den Kopf abgschlage, die Ssaukerle miserable! Mei Mueter sälik hat e Gedichtle gwußt: Könik Enzios Tod – das fangt ahn: ›O Könik, schöner Könik mit deinem goldnen Haar‹. Drum hat sie mi Enzio gheiße.« – »Du hast aber dunkles Haar.« – »Von meim Vatter! Mei Mueter ischt blond gwä – ond i han als Milchkindle goldige Häärle ghätt. Zu de Germane ghöre mir Schwabe. Drum, wenn i Student bin, geh i zu dene Schwabe! Suevia sei's Panier! Schwarz-weiß-rot – kneipe tun's beim Müller.« – »Was willst du studieren?« – Er stutzte und schien unsicher, antwortete aber stolz: »Staatskarriär!«

Unvermittelt kam nun sein Vorschlag: »Ganget mer fechte!« – »Fechten?« fragte ich verdutzt, hielt es aber für angebracht, selbstbewußt fortzufahren: »Natürlich! Fechten wir!« Er eilte ins Haus und brachte ein paar Ledermappen, wie sie Studenten für ihre Hefte haben. Wir begaben uns nach einem entlegenen Teil des Gartens. Den Rasen beschatteten breitwipflige Apfelbäume. Dran hingen Aepfel, daß die Aeste mit Stangen gestützt werden mußten. Ein Schuppen war da, für leere Kisten und Tonnen. »Deescht onser Paukbode! Da hoscht dei Schlägerle!« Er gab mir eine der Mappen in Form einer Rolle. Die andere Rolle nahm er wie einen Säbel in die Faust, hob den Arm zur Fechtstellung und tat etliche Lufthiebe.

»Erst mußt du mir zeigen, wie ihr in Tübingen fechtet,« bemerkte ich etwas kleinlaut. »In Magdeburg hatten wir diese Waffe nicht.« – »Mr hänt dees von dene Schtudente glernt,« erwiderte er stolz. »I han schon richtige Mensure ghätt. Komm daher! Dei Fechtmeischter bin i.« Und er machte mir vor, wie man mit dem Rapier auslegt, um dem Gegner eine Hochquart zu versetzen oder eine Terz. Ich ahmte alles nach, und bald traute ich mir zu, einen Waffengang mit Enzio zu bestehen. Wie die Wilden hieben wir aufeinander los, und bald knallte ein Durchzieher auf meine Backe. – Allmählich begriff ich, worauf es ankommt – ich erfand sogar einen Kniff: Wie zur Quart ausholend, kehrte ich die Waffe blitzartig zu einer Terz, und jedesmal erhielt Enzio einen schallenden Hieb. Er behauptete zwar, dees seien »Ssauhieb«, war aber außerstande, mich zu überzeugen, daß meine Finte inkommentmäßig sei. Ihm an Armlänge überlegen, brachte ich seinem dunklen Krauskopfe immerfort Hochterzen bei. Fuchsteufelswild warf er seine Waffe weg.

»Derf mer mitmache?« sagte eine tiefe Stimme. Es war ein stattlicher Knabe, sonnenverbrannten Gesichtes. Freundlich blitzten die wasserblauen Augen. Vom blonden Kopfe nahm er die grüne Schülermütze, warf sie auf den Rasen und bückte sich nach Enzios Waffe. Ich hielt es für passend, dem Ankömmling Bescheid zu tun, und rasch waren wir zwei Kampfhähne. Hier hatte ich den Meister gefunden und erhielt Schmiß auf Schmiß, bis ich meine Waffe streckte. Der Schüler hieß Schmidt und wohnte in Lustnau. Er war uns eine Klasse voraus, bereits konfirmiert.

Sich in die Brust werfend, fragte Enzio, ob ich rauche. Was ich verneinen konnte, seit mir Onkels Tabakspfeife, die ich neugierig versucht hatte, übel bekommen war. »Aber i,« sagte Enzio. »Gänget mer zom Tempel! I hol den Schlüssel.« Was er mit dem Tempel meinte, verstand ich nicht. Schmidt erklärte, es sei eine Scheune, von Enzios Vater werde sie benutzt zum »Stondehalte«. Es stellte sich heraus, das Stundenhalten sei eine Andacht der Separatistengemeinde, unter Führung unseres Hauswirts Kuttler. – Den Schlüssel des sogenannten Tempels hatte Enzio geholt und führte uns durch eine Lücke des Gartenzauns zum »Tempel«, zu jener Scheune. Der spärlich erhellte Raum sah aus, als solle hier Puppenkomödie sein. Bänke für ein Schock Leute, eine Bühne mit Vorhang. Dahinter verschwand Enzio – ich fragte Schmidt, was es denn nun gebe. »Blödsinn!« raunte er; »aber mer derf's net laut sage. Wirscht glei sehe! Grad tut dr Enzio den Spiegel richte. So Theater ghört zom Gootesdinnscht der Separatischte.«

Indem scholl ein Glöckchen, der Vorhang ging nach beiden Seiten voneinander, und, von Oberlicht bestrahlt, war etwas auf dunklem Grunde wie ein lebendes Bild, aus Puppen zusammengestellt. »Der da im roten Rock,« erklärte Schmidt – »deescht der Erzvatter Jakob – er schläft – und rings ischt all's Wüschte ond Felsen.« Ich nickte, mir gefiel das abenteuerliche Bild – und nun wurde mir auch klar, daß die goldene Strickleiter mit weißgekleideten Flügelengeln die Himmelsleiter vorstellt, die Jakob im Traume sieht. Ich erfuhr noch, die grelle Beleuchtung von oben werde durch einen Spiegel bewirkt, der den Strahl der abendlichen Sonne nach unten werfe. Seinen Eindruck auf mich verfehlte dieser Tempel nicht – Puppentheater und Zaubervorstellung gehörten ja zu meinen kindlichen Schwärmereien. Nicht gerade feierlich war das gottesdienstliche Möbel, das ich schließlich noch kennen lernte: eine Truhe, die vor dem Vorhang stand, bedeckt mit einer schäbigen Samtdecke. »Dees ischt die Bundeslad,« sagte Enzio, tat die Decke weg und öffnete die Bundeslade. Drin war eine Likörflasche, leider schon leer, wie Enzio feststellte. Aber aus einem Zigarrenkistchen nahm er sich einen Glimmstengel, biß kunstgerecht die Spitze ab und strich ein Schwefelhölzchen an seinem Hosenboden an.

*

Für den folgenden Tag, einen Sonntag, war vom Kandidaten meine erste Nachhilfestunde angesetzt, und gleich nach dem Frühstück brach ich auf. Enzio begleitete mich und hatte seine Lateinbücher mit. Unter den Bäumen der Lustnauer Allee begegneten uns Landleute im Sonntagsstaat. Die Mädchen hatten Mieder aus schwarzem Samt, dazu weiße Hemdärmel, die Burschen kurze Jacke, rote Weste, Kniehosen, auf dem Kopf ein Lederkäpple. Ein paar grauhaarige Männer trugen den weit ausladenden Dreispitz des alten Schwabentums und einen blauen Rock mit langen Schößen. »Die gehn zur Kirch, wohl gar zur Hochzeit oder Kindtauf.« Diese Bemerkung Enzios veranlaßte mich, zu fragen: »Wie kommt es, daß Herr Hainlin während der Kirchzeit Nachhilfe erteilt? Wir halten ihn doch von der Kirche ab!« Abweisend erwiderte Enzio: »Aus der Kirch macht der sich nicks! Mei Vatter hät gsait, der sollt eigentlich Heidlin heißen – e richtiger Heid sei der, wo net emol an Jakob ond Esau glaube tut. Pfarrer derf so euner net sei'.« – »Und hat doch Theologie studiert – wie?« – »Ja, im Stift ischt 'r gwä. Aber aus ischt dees – die Freistell ischt er los. Sein Onkel in Pfrondorf tut ihm jetzt zahle, waas 'r braucht. Ond efreier Bursch hat's besser als wie in dr Stift-Kloschterei, der elendigen. Au i tät's net aushalte bei dene langweilige Repetente, beileib net!«

Wir waren in der Stadt angekommen. An der Stiftskirche, die für die Kirchgänger offen stand, bewunderte ich die Fenster mit den gemeißelten Gestalten. Da war der Drachentöter Sankt Georg, Schutzpatron dieses Gotteshauses. Auch der heilige Martin, wie er einem Bettler die Hälfte seines Mantels reicht. Und da war ein aufs Rad geflochtener Mann. »Das Wahrzeiche von Tübinge,« sagte Enzio. Schräg gegenüber dem Geburtshause Uhlands war ein altes Gebäude, das neben der Haustür ein blankes Messingschild mit dem Namen »Schneckle« hatte. »Georg Hainlin, cand. phil.« stand auf dem beigehefteten Kärtchen. Dunkle Treppen stiegen wir empor und klopften an.

Im sonnigen Zimmer saß der Kandidat am Schreibtisch und begrüßte uns munter. »Zunäkscht beschaut euch, wien i da wohn!« Ueber Hainlins Bett hingen die Bilder seiner Eltern. Auf dem Tisch lag eine Flöte, parademäßig standen Bücher im Glasschrank. Wir gingen auf die Veranda und hatten einen Augenschmaus: Gärten, an denen der Neckar vorbeirauschte – jenseits prachtvolle Alleen – über die Platanenwipfel lugt als blauer Streifen die Rauhe Alb.

Ins Zimmer zurückgekehrt, setzten wir uns um den Tisch, und das Arbeiten ging los. »Sag mir, Enzio, wie weit euch der Naso gebracht hat.« Enzio gab Bescheid, legte Bücher und Hefte vor, und Lücken meines Lateins wurden festgestellt. Hainlin verstand die grammatischen Regeln nicht bloß gut zu erklären, sondern diesen für Knaben langweiligen Stoff sogar fesselnd zu gestalten. Setzte zum Beispiel auseinander, »nunquam« könne in »ne unquam« aufgelöst werden. Kam dann auf das deutsche Wort »niemals« zu sprechen; es laute ursprünglich »nie jemals« – wie »niemand« aus »nie jemand« entstanden sei, was »nie je e Mann« bedeute. Hatte ich bisher Grammatik für eine verschmitzte Erfindung der Schulmeister gehalten, in boshafter Laune ausgetüftelt, um dem Schüler Fallen zu stellen, so begann ich unter Hainlins Führung zu ahnen, es sei jede Sprache ein lebendiges Gewächs, das seine Formen folgerichtig aus Geist und Volksgemüt hervortreibt.

Im Fluge war uns die Zeit vergangen, und weitere Arbeit wäre mir nicht unwillkommen gewesen, hätte nicht Hainlin jetzt ein Kapitel zur Verhandlung gebracht, auf das ich mich besonders gespitzt hatte. Nach dem Familienbuch fragte er, und aus dem Ranzen holte ich den Band in Leder mit Goldschnitt. Vom Vater, der in der Frühe nach Junker Jakob geforscht hatte, waren die betreffenden Buchstellen mit Zeichen versehen. Aus der Stammtafel derer von Kotze und aus den Regesten ging hervor, daß Hans von Kotze, Erbherr von Groß- und Klein-Germersleben, Lüttgen-Oschersleben, Halle usw., diese Güter seinem Sohne gleichen Namens hinterließ, und daß dessen ältester männlicher Sprosse, der edle und veste Junker, als Studiosus zu Tübingen seliglich im HERRN entschlafen und daselbsten in der Pfarrkirchen Sankt Georgen ehrlich zur Erden bestattet worden. Die Leichenpredigt, gehalten durch Johannem Georgium Sigwarten, der H. Schrift Doktorn, Professorn, Pfarrherrn und Superattendenten zu Tübingen, sei getruckt zu Tübingen in der Cellischen Truckerei. Ihr angehängt sei ein lateinisch Poem, so vom Junker zur Vermählung seiner Schwester Ursula gedichtet worden. »Das muß ich haben!« sagte Hainlin eifrig. »Diese Druckschrift wird sich wohl in der Universitäts-Bibliothek finden. Auf nun, Pennäler! Zur Kirch! Da zeig i euch den Graabstein.« Und wir gingen.

Auf der Südseite der Kirche waren etliche Steinplatten mit Inschriften in die Mauer eingelassen. Vor solch einem Denkmal blieb Hainlin stehen. Darauf war das Kotze-Wappen. Ich kannte es gut. Auf dem Sofakissen der Großmutter war's ja in bunter Stickerei. Ein bärtiger, langlockiger Mann, angetan mit dem kuttenähnlichen Staatsrock. Auf dem gekrönten Ritterhelm kauert ein Hund. Die Mitte des Denkmals bildet die lebensgroße Figur des Junkers. Zu seiner wuchtigen Tracht, dem breiten Federhut, den ausladenden Pluderhosen und dem drohenden Stoßdegen stimmte nicht das bartlos zarte, wehmütig träumerische Gesicht. »Wie kommt es, daß er in der Kirchengruft liegt, nicht draußen in der Erde?« fragte ich. – »Er war Student im Collegium Illustre.