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Vom südlichen Palmenstrand Bakus zieht Mischa in das nördliche Reich der Bären und Wölfe. Denn seine Eltern sind moderne Schatzgräber, die im sagenhaften Land Mangaseja das schwarze Gold suchen: Mischa erlebt auf seiner langen Reise viel Abenteuerliches, bis er schließlich am „Herz der Seen“ steht. Dort, wo die längste Pipeline der Welt gebaut wird, hebt der Kran ein zottiges Mammut aus dem ewigen Frostboden.
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Seitenzahl: 184
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Egon Richter
Der goldene Schlüssel von Mangaseja
ISBN 978-3-95655-807-8 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1975 in Der Kinderbuchverlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2017 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Mischa kuschelte sich in seinen Sessel und blickte aus dem kreisrunden Fenster. Unter sich sah er die mausgraue Betonbahn, und es war ihm, als flöge sie mit Windeseile davon, schneller und immer schneller. Dabei war sie ganz still. Nur das Flugzeug dröhnte.
Wenn Mischa durch das Fenster nach oben blickte, konnte er erkennen, wo der Krach herkam. Er sah dann die langen breiten Tragflächen, die im Sonnenlicht glänzten wie das Einwickelpapier von Schokolade, und die dicken Silbersäcke daran, in denen die Motoren versteckt waren. Natürlich wusste Mischa, dass sie Motorengondeln genannt wurden, aber es machte ihm Spaß, Silbersäcke zu sagen. Aus diesen Säcken kam der Lärm. Zuerst, als das Flugzeug noch an einer breiten weißen Linie gestanden hatte, war er so laut gewesen, dass Mischa sich die Ohren zugehalten und beobachtet hatte, wie die Tragflächen zitterten und bebten. Aber als das Flugzeug immer schneller über die Bahn rollte, hörte Mischa nur noch ein Sausen. Die Propeller drehten sich jetzt so rasend, dass sie überhaupt nicht zu sehen waren, und der anfangs schwarze Rauch, der aus den Auspuffrohren der Motoren kam, war weiß geworden und inzwischen restlos verschwunden. Hinter den Silbersäcken, stellte Mischa fest, flimmerte nur noch die Luft.
Endlich hob sich das Flugzeug schwerfällig von der Erde ab, und einen Augenblick lang hatte Mischa Angst, dass es nicht hochkommen und wieder zurückfallen würde auf den Flugplatz. Natürlich zeigte er seine Furcht nicht. Im Gegenteil, er lachte sogar, wenn es ihm auch schwerfiel mit den beiden runden Pfefferminzbonbons im Mund, die ihm die Stewardess vorhin gegeben hatte, damit er während des Starts lutschen konnte. Und er war stolz darauf, dass er sich nicht einmal angeschnallt hatte wie alle anderen. Die beiden Gurte mit dem dicken grauen Schloss daran lagen auf seinem Schoß, und natürlich konnte Sarja es nicht lassen, laut zu ihm zu sagen: „Du hast dich ja nicht angeschnallt, was fällt dir denn ein?“
„Ja, ja“, sagte Mischa zu Sarja, „reg dich bloß nicht auf!“
Dann ließ er aber doch den Metallverschluss des Sicherheitsgurtes zuschnappen. Selbstverständlich hatte Mischa das gläserne Schild gesehen, das kurz vor dem Start an der Kabinenwand aufleuchtete und auf dem wie bei allen Flugzeugen in russischer und englischer Sprache geschrieben stand: Nicht rauchen! Bitte anschnallen! Aber weil Mischa keine Zigarren und Zigaretten rauchte, hatte er gedacht, er brauchte sich auch nicht anzuschnallen. Und außerdem wollte er nicht so furchtbar artig sein wie Sarja, die sofort, kaum dass sie sich in den Sessel neben Mischa gesetzt, zu den Haltegurten gegriffen, sich angeschnallt und die Startbonbons viel zu früh in den Mund gesteckt hatte. Nun, da das Flugzeug in einer steilen Kurve nach oben zog und die Luft in den Ohren drückte, hatte Sarja ihre Bonbons längst aufgelutscht. Dabei waren die Bonbons das einzige Mittel, mit dem man den kurzen Schmerz bekämpfen konnte. Wenn man lutschte und schluckte, glich sich der Druck aus.
Das hat sie nun davon, dachte Mischa rachsüchtig. Nur weil sie seine Schwester und mit ihren dreizehn Jahren zwei Jahre älter war als er, glaubte sie, dauernd an ihm herumerziehen zu können. Hatte er ihr etwa zu gehorchen? Ausgerechnet dieser Petze!
Also, das war so: Mischa gefiel dieses Flugzeug nicht. Es hatte nichts von dem, was er sich unter einem Flugzeug vorstellte. Es war nicht lang und schlank und wirkte nicht so schnell und flitzig wie die Düsenjäger. Fett und rund hockte es auf seinen acht dicken Rädern und sah aus, als wenn es mit seinem Bauch auf der Fahrbahn entlangrutschen wollte. Seine breiten Tragflächen mit den vier Motorensäcken hingen so müde vom Rücken der Maschine herab, als ob sie jeden Augenblick abbrechen wollten. Jedenfalls hatten Mischas Freunde Oleg und Aljoscha, die unbedingt mit zum Flugplatz kommen und sehen wollten, wie er abflog, beim Anblick der dicken Maschine angefangen zu kichern, und Oleg hatte gesagt: „Sie sieht aus wie eine aufgepumpte Ratte!“
Aber Aljoscha, den alle seiner vielen Sommersprossen wegen nur Rothaut nannten, hatte einen Ausdruck von seinem Vater aufgeschnappt, der auf dem Flugplatz die Benzintransporte machte und dies Flugzeug immer „ein schwangeres Weib“ nannte. Und als Mischa endlich neben Sarja, Vater und Mutter hinter der Stewardess auf das Flugzeugmonstrum zugegangen war, konnte er die Worte von Rothauts Vater einfach nicht für sich behalten und hatte zu Sarja gesagt: „Der Vogel sieht aus wie ein schwangeres Weib.“ „Pfui“, hatte Sarja sofort gerufen, „was sind das bloß für Ausdrücke. Schämen solltest du dich!“
Mama hatte sich sofort umgedreht und gefragt: „Was ist denn schon wieder los?“
„Gar nichts“, hatte Mischa gesagt, denn er mochte seine Mutter sehr und wollte keinen Streit mit ihr. Aber Sarja hatte natürlich sofort losgeplappert: „Er hat gesagt, das Flugzeug sieht aus wie ein schwangeres Weib, Mama, stell dir das mal vor. Eine Beleidigung für alle Frauen ist das, so was zu sagen, nicht, Mama?“ Doch seine Mutter hatte geschwiegen und nur die Brauen ein bisschen zusammengezogen, und Mischa hatte gefühlt, dass er rot wurde. „Na ja“, hatte er gesagt, „es war bloß so ein Ausdruck, ich weiß nicht ...“
In diesem Moment hatte Mischa sich verdammt unwohl gefühlt! Solche Sachen mochte er nicht. Er konnte es nicht vertragen, wenn Mutter ihm böse wurde. Und nur wegen Sarja, die wie eine Kindergärtnerin danebenstand und ihn mit empörten Augen anblickte. Am liebsten hätte Mischa ihr eine weiche schwabbelige Wassermelone unter die Nase gedrückt. Aber er begnügte sich damit, auf seine Schuhspitzen zu gucken und abzuwarten. Sein Vater berührte ihn an der Schulter, und als Mischa aufblickte, strich Vater sich mit der Hand über den pechschwarzen Schnurrbart.
„Pass mal auf“, sagte er zu Mischa, der sich sofort wieder besser fühlte, „die meisten Leute sagen Fette Ente zu dem Flugzeug. Fette Ente ist doch eine schöne Bezeichnung, meinst du nicht?“ „Klar“, sagte Mischa fröhlich, „Fette Ente ist große Klasse.“ „Na“, sagte sein Vater, „dann rein in den Bauch mit euch.“ Mutter sagte gar nichts, und Sarja machte nur „phh!“, eine Angewohnheit, die Mischa überhaupt nicht leiden konnte. Er hatte jedenfalls kein Wort mehr mit seiner Schwester gesprochen bis zu dem Augenblick, als er doch endlich den Gurt festschnallte.
„Aha“, sagte Sarja zu ihm und lachte ein bisschen, „jetzt hast du wohl doch Angst bekommen, wie?“
„Weißt du was“, sagte Mischa wütend, „du lachst wie eine Ziege!“
Sarja wurde sofort böse. „Was fällt dir ein“, sagte sie. „Wie redest du denn mit mir! Außerdem ist das großer Unsinn: Ziegen können überhaupt nicht lachen!“
„Du hast ja keine Ahnung!“, sagte Mischa, denn er wusste genau, dass Ziegen lachen konnten. Aber er hatte keine Lust, sich mit Sarja deswegen zu streiten. Sie würde doch nur wieder „phh!“ machen wie üblich, und er hätte ihr auch nicht erklären können, woran er merkte, dass Großvater Farmans Hausziegen lachten.
Großvater Farman war Kellermeister in einem großen Wein-Sowchos, und der Keller, in dem er regierte, war eine riesige unterirdische Halle, in der an langen Gängen auf niedrigen Gestellen hölzerne Fässer ruhten. Jedes war so groß, dass Mischa mit seiner ganzen Klasse hineingepasst hätte. Darin wurde der Wein aufbewahrt, roter und weißer und goldgelber, jahrelang, so lange, bis er am besten schmeckte.
Großvater Farman sagte: „Er muss erst die richtige Blume haben.“
Früher hatte Mischa gedacht, wenn Großvater Farman den Hahn an einem Fass aufdrehte, würden lauter winzige, klitschnasse Blumensträuße herauskommen. Doch einmal hatte Großvater Farman Mischa bei einem Kontrollgang durch die Reihen der Fässer mitgenommen und von dunkelrotem Wein kosten lassen. „Na, was meinst du, hat er schon die richtige Blume?“, hatte er gefragt.
Und weil sie beide allein waren und Großvater Farman einen niemals auslachte, sagte Mischa damals: „Großvater, ich weiß gar nicht, was du meinst. Wo ist denn hier eine Blume?“
Und Großvater Farman hatte ihm erklärt, dass mit dem Wort Blume nur der Geschmack des Weins gemeint sei und dass mancher Wein hundert Jahre in so einem Eichenholzfass aufbewahrt würde, bis er die beste Blume habe.
„Hundert Jahre?“, hatte Mischa gesagt. „Dann bin ich ja schon tot.“
„Wer weiß“, hatte Großvater Farman erwidert, „vielleicht wirst du hundertfünfzig Jahre alt.“
Manchmal, an langen Wochenenden, wenn Vater von einer Expedition nach Hause gekommen war, holte Großvater Farman mit seinem alten knallgrünen Pobjeda die ganze Familie zum Weinverkosten in sein kleines schneeweißes Häuschen. Das stand auf der Spitze eines lang gestreckten Weinbergs, direkt über dem Eingang zu dem großen Weinkeller.
Jetzt suchte Mischa Großvater Farmans Häuschen ebenso vergeblich wie die langen Berge des Weingutes. In der tiefen Ferne war nichts deutlich zu erkennen. Und das Flugzeug stieg immer höher.
Mischa dachte an die Fahrten in Großvaters altem Pobjeda. Von der Chaussee aus hatten sie den stetig ansteigenden Weinberg sehen können. In seinem dunkelgrünen Teppich gab es hellgrüne und dunkelblaue Punkte, je nachdem, ob es sich um Weißwein- oder Rotweintrauben handelte. Zwischen den meterhohen Weinstöcken führte eine schmale Asphaltstraße zu Großvater Farmans weißem Häuschen. Der Pobjeda hatte gehustet und geprustet, und Großvater Farman hatte fröhlich auf die Hupe gedrückt und in den Motorenlärm hineingeschrien: „Gleich sind wir da!“
Aber oft mussten sie den Wagen die letzten Meter den Berg hinaufschieben. Vater hatte sich an die hintere Stoßstange gestellt und gerufen: „Hau ruck, jetzt geht es los.“
Waren sie endlich angelangt, holte Großvater Farman eine hohe Glaskaraffe mit rotem und eine mit weißem und eine dritte mit goldgelbem Wein. Mutter buk süße Plinsen und Quarktaschen, die Sarja mit Zucker bestreute. Mischa hatte indessen bei den Männern auf der Veranda sitzen dürfen, bei Großvater Farman und Vater, die Domino spielten, rauchten und erzählten - Großvater Farman von seinem besten Wein und Vater von seiner letzten Geologen-Expedition. Und Mischa hatte zugehört und gefragt. Später war er mit Großvater Farman die schmalen Wege zwischen den Weinstöcken entlanggegangen, hatte sich hier eine Traube gepflückt und dort eine. In Großvater Farmans Garten wuchsen auch Wassermelonen und kleine gelbe Zuckermelonen und hinter dem Haus auch leuchtend rote Granatäpfel. In Mischas Erinnerung waren die Weintrauben am wichtigsten. Denn nur bei Weintrauben lachten die Ziegen.
Großvater Farman hatte zwei Ziegen, eine schwarze und eine weiße, die hinter dem Haus auf einer weiten, hügeligen Wiese grasten. Mischa durfte sie nach Großvater Farmans Anweisungen immer wieder an einem anderen Punkt der Wiese festbinden, damit sie dort das Gras abfressen konnten. Großvater Farman stand dann an der Wiesenpforte und rief: „Stück weiter links, Stück weiter rechts!“ Seine schwarzen Bartenden wippten neben dem Kinn. Ein flaches, viereckiges, silberbesticktes Käppi bedeckte seine schwarzen krausen Haare; über seinen weichen Stiefeln bauschten sich weite Hosen. Seine Augen waren rund und dunkelbraun und funkelten wild, und mit seinen dicken schwarzgrauen Brauen konnte er genauso wackeln wie mit den Ohren. Jedenfalls stand Großvater Farman immer an der Pforte, wenn Mischa mit den beiden Ziegen auf der Weide umherzog und das höchste und saftigste Gras für sie suchte, und kommandierte wie ein General der Reiterarmee: „Stückchen mehr links, Stückchen mehr rechts!“
Die Ziegen waren Mischas Freunde, aber Sarja hatte nichts mit ihnen im Sinn. Sarja sagte immer: „Das sind ganz scheußliche Biester. Erstens stinken sie und zweitens stoßen sie.“
„Mich nicht“, hatte Mischa dann gesagt. „Mich stoßen sie überhaupt nicht. Es kommt darauf an, wen sie leiden können!“ Darauf hatte Sarja natürlich wieder „phh!“ gemacht und war vom Wiesenrand verschwunden.
Abends durfte Mischa die Ziegen in den Stall hinter dem Haus bringen und ihnen Heu vorschütten. Aber Heu allein reichte nicht, und außerdem war es ungerecht, denn für alle gab es bei Großvater Farman nach dem Hauptgericht immer noch Nachtisch, Speise, Kompott oder frische Früchte. Bloß die Ziegen bekamen nichts. Mischa hatte einmal Großvater Farman gefragt: „Warum dürfen die Ziegen denn kein Kompott kriegen?“
„Von mir aus“, hatte Großvater Farman gesagt, „von mir aus können sie was kriegen, aber ich glaube, sie wollen es gar nicht haben. Es schmeckt ihnen nicht, es ist nicht das richtige Ziegenkompott.“
Mischa probierte es zuerst mit Wassermelonen, aber die Ziegen wollten sie nicht; auch die Zuckermelonen und die Granatäpfel und die süßen Birnen nahmen sie ihm nicht ab. Endlich, im sonnigen Herbst, als die Trauben an den Weinstöcken reif waren, hatte Mischa es damit versucht. Und tatsächlich, die Ziegen schnupperten misstrauisch daran, erst die schwarze und dann die weiße, und schließlich leckten sie mit ihren langen rosa Zungen an den Trauben und fraßen sie auf. Und Mischa sah genau, dass sie lachten. Nicht laut und meckernd, sondern ganz leise.
Gewiss, es sah mehr nach Grinsen aus, aber immerhin hatten sie ihm ihr Ziegenlachen gezeigt, sogar am letzten Abend, vor drei Tagen, als sie alle zum Abschiedsbesuch bei Großvater Farman waren. Mischa hatte den Ziegen zum letzten Mal Trauben gebracht und sie zwischen den Hörnern gestreichelt.
Großvater Farman saß am Verandatisch vor den üblichen drei Weinkaraffen und Mamas Plinsenteller, von dem keiner ein Stück genommen hatte, paffte den Rauch aus seiner Pfeife und sagte: „So, ihr wollt also nun weg aus unserm sonnigen Land.“ „Vater“, sagte Papa, „sieh mal, in Sibirien ...“
„Ja, ja.“ Großvater Farman nickte. „Das weiß ich alles längst: Ihr wollt unbedingt nach Öl suchen, dabei gibt’s hier unten so viel wie Sand am Meer, und außerdem hat das sibirische Öl auch nicht die richtige Blume. Die kann es gar nicht haben bei lauter Schnee und Eis!“
„Doch“, sagte Mutter, und Mischa wunderte sich, dass sie überhaupt den Mund aufmachte in dieser Abschiedsstunde. „Doch, es hat die richtige Blume, ganz sicher, und außerdem ...“ „Und außerdem“, rief Großvater Farman, „gibt es dort nur Bären und Wölfe und wilde Mücken und weiß der Teufel was für Ungeziefer. Und du“, sagte Großvater Farman plötzlich zu Mischa, „du willst da hinziehen zu diesen Bestien?“
Und Mischa staunte selbst, dass er sagte: „Klar, Großvater, da wird wenigstens was los sein.“
Darauf war Großvater Farman still geworden; sie hatten noch ein bisschen Wein getrunken, und Mischa hatte noch einmal die lachenden Ziegen mit Trauben gefüttert und ihnen ins Ohr geflüstert: „fresst man, fresst, die haben die richtige Blume.“
Dann waren sie mit Vaters Jeep zurückgefahren.
Hier nun, hoch im Blauen, war nichts, was an Großvater Farman erinnerte. Alles - die bunte Stadt, die Wälder und Felder und Weinberge und der Granatapfelhügel, die Flüsse und Seen und Straßen - verschwamm zu einem farbigen Brei. Mischa wurde traurig. Plötzlich dachte er, dass Sarja überhaupt nicht so gelacht hatte wie Großvater Farmans Ziegen. Hatte sie ihn gar nicht ausgelacht? Es war sehr still um Mischa, still und traurig, und darum sagte er leise zu Sarja: „Du, hör mal, das mit den Ziegen hab ich nicht so gemeint.“
Aber Sarja antwortete nicht. Sarja schlief. Mischa beugte sich ein wenig vor und stellte fest, dass seine Eltern in den beiden Sesseln vor ihm auch eingeschlafen waren. Mutters Kopf lehnte an Vaters Schulter, ihr rotes Kopftuch mit den vielen bunten Blumen darauf war verrutscht, und ihr langes blondes Haar lag auf Vaters Oberarm. Ihre rechte Hand, sah Mischa, ruhte auf Vaters linker, wie Sarjas Hände übereinander auf dem Schloss des Haltegurtes lagen, so, als hätten sie überhaupt kein Gewicht. Sarja hatte genau solche Hände wie Mama, lang und schmal und mit schlanken, geraden Fingern. Das war etwas, was ihm an Sarja gefiel, weil es ihm auch an Mama gefiel. Er selbst hatte solche Hände wie Vater und wie Großvater Farman, klein und kurz, mit fleischigen Fingern und starken Knöcheln.
„Lass man“, hatte Vater einmal gesagt, „das ist gut für Geologen. Geologen müssen wie die Maulwürfe sein, also können sie auch solche Schaufeln haben.“
„Klar“, hatte Mischa gesagt, „wie sollen wir sonst das Öl aus der Erde wühlen.“
Aber heimlich bewunderte er die langen schmalen Hände von Sarja und Mama. Na gut: Sarja machte ja nicht viel mit diesen Händen außer dem, was alle Menschen damit machen mussten. Höchstens wedeln konnte sie noch damit, wenn sie ihre Ballettübungen machte. Schon als sie noch klein, aber leider immer größer war als Mischa, hatte sie die Ballettschule besucht und nachmittags und abends oft im Kinderzimmer vor dem Bett Schritte und Sprünge geübt, sodass Mischa sich nicht auf seine spannenden Bücher konzentrieren konnte und eine mächtige Wut auf diese Hopserei bekommen hatte. Und dabei bewegte Sarja die Hände, dass sie zitternden Flügelspitzen glichen, und das war das einzige, was Mischa an Sarjas Ballettspringerei gefiel. Aber mehr brauchte sie mit ihren Händen kaum zu machen. Mutter dagegen musste ihre Hände viel mehr anstrengen. Allein in dem Laboratorium, wo sie mit lauter Säuren und ähnlichem Zeug umgehen musste. Und trotzdem sahen ihre Hände, wie sie auf Vaters Arm lagen, schmal und schön und glatt aus, als hätten sie noch nie etwas mit einem Laboratorium und schon gar nichts mit dem Seil und dem Druck einer Störangel zu tun gehabt. Aber das hatten sie. Mischa hatte selbst gesehen, wie die Angelschnur in Mamas Hände schnitt, und Großvater Prochor hatte geschrien: „Zieh, Nadeshda, Töchterchen, zieh und lass nicht los!“
Großvater Prochor hatte eigentlich keine Ähnlichkeit mit seiner Tochter Nadeshda, Mischas Mutter. Er war klein und kugelrund, und wenn er es nicht hörte, nannten ihn die Leute Kullerauge, weil er große hellgraue Augen hatte, die ein wenig vorstanden und mit denen er fürchterlich rollen konnte. Großvater Prochor wohnte nicht weit von ihnen entfernt in der Stadt auf dem Meer.
Unter den Plattformen, auf denen alle Häuser standen, klatschten die grün-schwarzen Wellen an die vielen Stahlpfeiler. Lange Straßen führten von der Ölstadt zum Festland, in die „richtige Stadt“, wie Sarja immer sagte. Dort, an der Uferpromenade hinter den Palmen und den dicken Agaven, die in großen grünen Bottichen vor den Kiosken standen, war die Ballettschule. Mehrmals in der Woche fuhr Sarja über die lange Plattformstraße mit dem Bus nach Baku. Die Pfahlstadt auf dem Meer hatte keinen Namen, sie gehörte eben zu Baku, obwohl viele Kilometer Meer dazwischen lagen und nur die Straße hoch über dem Wasser beide Bakus miteinander verband.
Großvater Prochor wohnte am äußersten Rand, wo auf dicken Plattformen die hohen Bohrtürme standen. Sie lärmten und kreischten, wenn der riesige Bohrer, der eigentlich Bohrgestänge hieß, in die Wellen tauchte, durch das Wasser hindurchstieß und sich in den Boden hineinfraß, tiefer und immer tiefer, bis Großvater Prochor irgendwo ganz unten das Öl fand. Denn Großvater Prochor war Bohrmeister. Und außerdem war er ein lustiger Fischer.
Auch deshalb war er nicht mit Großvater Farman zu vergleichen, der nichts von Fischen hielt, sondern nur von heißem Hammelkotelett und süßen Plinsen und goldgelbem Wein.
Großvater Prochor aber angelte und fischte für sein Leben gern.
„Fischfang ist das halbe Leben“, verkündete er immer, wenn er in seinen kleinen Plastekahn stieg und sich zwischen den Pfählen unter der Stadt einen geeigneten Angelplatz suchte.
Manchmal, in den Ferien, hatte Großvater Prochor Mischa und seine beiden Freunde Oleg und Aljoscha Rothaut mitgenommen zum Angeln, aber viel hatten sie nicht gefangen. „Alles bloß kleiner Kütfisch“, wie Großvater Prochor sagte. Den warfen sie wieder ins Meer. „Na los“, sagte Großvater Prochor dann wütend, „dampfen wir wieder nach Hause.“ Er griff in die Ruder, und Mischa und seine Freunde rollten die Angelschnüre schweigend wieder auf die Trommeln.
Zu Hause aber hatte Mutter schon vorgesorgt. Sie wartete immer oben an der eisernen Treppe, die vom Anlegesteig zur Häuserplattform hinaufführte, und rief: „Väterchen, komm herauf! Jungens, kommt schnell, ich habe schon einen Lachs gebacken.“
Mischa wusste, dass sie ihn im Lebensmittelgeschäft gekauft hatte, und selbstverständlich wusste Großvater Prochor das auch. Aber jedes Mal rieb er sich bei solcher Ankündigung die Hände, umarmte seine Tochter und rief lachend: „Ja, ja, meine Nadeshda, das ist eine Fischerin, was, Jungs? Steht auf der Plattform und holt den Lachs raus, und wir fangen zwischen dem ganzen Öl bloß lauter Kütfisch, so was!“
Zu Hause trug Sarja stolz den gebackenen Lachs auf den Tisch, während Mutter noch flüssige Butter über den Reis goss und Großvater Prochor einen kleinen Wodka auf das Wohl der „glücklichen Fischerin“ trank. Saßen sie um den Tisch, verkündete Großvater Prochor: „Im Sommer geht’s los! Da brechen wir auf und fischen vor Astrachan, wo hunderttausend Lachse um hunderttausend Störe herumschwabbeln, dass man sie mit der Hand greifen kann. Jaaa, das ist was anderes als unsere Öl-See, da könnt ihr mal was erleben!“
Mutter sagte nichts, sondern lächelte nur, weil Großvater Prochor jedes Jahr dasselbe erzählte.
Aber einmal, als der Sommer mit seinen langen Ferien gekommen war und Mischas Vater seit Wochen eine Geologenexpedition im fernen, nie gesehenen Sibirien leitete, kam Großvater Prochor rot und schwitzend auf seinem Fahrrad angefahren, rollte wie eine Kugel ins Wohnzimmer, schwenkte irgendwelche Scheine vor Mutters Gesicht herum und brüllte: „Da sind sie, da sind sie, Nadeshda, mein Töchterchen, große Lachsköchin, jetzt geht es los. Mischa, pack deine Sachen! Wo ist Sarja?“
„Sarja ist weg“, sagte Mischa damals. „Sie tanzt irgendwo im Kaukasus, da soll es sich besonders gut hopsen!“
„Mischa!“, sagte Mama, „du sollst nicht dauernd auf Sarja herumhacken und schon gar nicht, wenn sie nicht da ist ...“ Großvater Prochor aber rief: „Lasst sie tanzen. Wir fahren zum Fischen nach Astrachan.“
„Hurra!“, schrie Mischa, und Mutter sagte: „Das kann doch nicht dein Ernst sein, Väterchen!“
Aber Großvater Prochor zeigte Mutter, dass es tatsächlich Schiffskarten waren, mit denen er vor ihren Augen herumgewedelt hatte, und dass sie nun also aufbrechen könnten zum großen Störfang.
Oh, Mischa wusste es noch genau: Sie stiegen in eines der schneeweißen Schiffe, die wie Torpedos aussahen und auf Tragflügeln über das Wasser schossen, und das Schiff hob seinen Bug hoch aus dem Wasser und flog über die Wellen wie eine Rakete. So hieß es auch: Raketa. Hinter sich her zog es einen Schweif aus weiß aufgewühltem Wasser. Das war Mischas tollste Seereise. Tagelang hätte er so weiterfahren können, aber schließlich kamen sie doch nach Astrachan und mussten das Schiff verlassen und in normalen Zimmern in einem Ferienheim der Ölarbeiter wohnen.
Großvater Prochor besorgte sich gleich am ersten Tag von der Genossenschaft ein kleines Fischerboot, und mit Mischa und Mutter ruderte er hinaus, und sie warfen die Angeln aus und warteten. Alle mussten still sein, auch Mischa durfte nichts sagen. Nur die großen Kutter und Logger, die an ihrem Angelplatz vorbei in den Fischereihafen dampften, durften mit ihren Motoren und Maschinen Krach machen.
Plötzlich hatte ein Fisch angebissen, die Schnur lief blitzschnell aus, und Großvater Prochor rief: „Festhalten! Aufpassen, wenn er anzieht! Mischa, halt die Riemen fest. Nadja, fass zu!“
Dann ruckte es so stark, dass Mischa fast über Bord gefallen wäre. Das Boot drohte umzukippen, so sehr zerrte der Fisch an der Angel, und Mischa sah, wie die Schnur in Mutters Hände schnitt, wie sie die Lippen aufeinanderbiss und die Schnur zusammen mit Großvater Prochor Zentimeter für Zentimeter einholte. Endlich erblickten sie den Fisch. Es war ein riesengroßer Fisch, wie Mischa ihn noch nie gesehen hatte. Er schnellte aus dem Wasser hervor und fiel wieder zurück. Er schlug mit dem Schwanz, dass hohe Fontänen in die Luft schossen.
Großvater Prochors Augen rollten wild, und er pustete: „Nadja, mein Töchterchen, sieh dir das an, so was von Fisch, halt fest, halt fest, lass nicht locker.“
Und schließlich begann er nach einer selbst erfundenen Melodie einen selbst gedichteten Text zu singen, immer wieder. Mischa wusste heute noch, wie er hieß: „Warum schlägt denn der Fisch mit dem Schwanz hin und her? Weil der Schwanz es nicht kann, denn der Fisch ist zu schwer ...“
Und Mischa, obwohl er Angst hatte, dass der Fisch mit seinen wilden Luftsprüngen ihr Boot kentern lassen würde, hockte auf der Bordwand und sang das Lied mit lauter Stimme nach.
Der Fisch tobte und schnellte in hohen Bögen aus dem Wasser. Großvater Prochor sang nicht mehr. Das grau schimmernde Riesentier versuchte, die Angelschnur zu zerreißen, und Wasser schwappte in das schiefliegende Boot.
In diesem Augenblick kam ein Logger dicht an ihnen vorbei. An der Reling hoch über ihnen standen ein paar Matrosen. „Hehee“, riefen sie, „lasst das Biest ein bisschen locker!“