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Herrschaften! Lest! Die tragikomische Geschichte vom Robert Küster. Ein Held wider Willen, ja, mehr aus Zufall, der dauernd in die merkwürdigsten Situationen gerät. Was Wunder, wenn ihn mancher Zeitgenosse in zwielichtigem Schillern zu sehen glaubt. Er lebt im Widerstreit mit allem, was ihm begegnet, im Widerstand kaum. Er ist ein Feind der Anpassung, aber wie das Leben so spielt: er ist ihr ausgeliefert. Er ist Bergmann und Fischer, er arbeitet in der Munitionsfabrik und im Sägewerk. Er hat eine Biografie wie viele. Und doch, und doch ... Er liebt die Anna und muss sich mit Grete herumschlagen. Er fängt den Witting im Bodden und träumt von Samoa. Sein Sohn aber ist nach Sydney verzogen und das zu DDR-Zeiten. Da schickt ihm sein treuester Gegner Rosen, und die Uhr des Kaisers — ja, sie tickt immer noch in seiner Hand, wie das Leben in dieser Kiste, dieser alten Zigarrenkiste ... Mehr wird nicht verraten.
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Seitenzahl: 319
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Egon Richter
Der Tod des alten Mannes
ISBN 978-3-95655-809-2 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 im Hinstorff Verlag Rostock.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2017 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Freie Stellen, Lücken, etwas Unausgesprochenes, sie braucht die Prosa ebenso wie das Leben.
Denn gerade dort, in den freien Stellen, entsteht noch ein weiteres Thema, ein weiterer Gedanke.
Juri Trifonow
Nun ist es still.
Gretes schwarze Tasche steht auf dem Stuhl vorm Bett, und er sieht, der rechte Henkel ist eingerissen. Vorige Woche erst hat er ihn festgenietet, und nun ist über dem Niet schon wieder ein Loch. Das kommt, weil sie nicht umgehen kann mit der Tasche. Zwei Milchflaschen gucken raus und eine Schachtel Makkaroni. Sie wird ihn noch schwach machen mit ihrem Nudelkram. Grete hat sich schon ganz rund gefressen daran. Irgendwann wird sie platzen, und die braungeblümte Kittelschürze wird ihr um die Ohren fliegen wie Luftballonfetzen.
Nun ist es still. Nun ist sie weg. Gerannt wie ein geölter Blitz. Er hat ihr gar nicht zugetraut, dass sie so flink sein kann. Zuerst hat sie dagestanden wie Piksieben und auf das bisschen Blut geguckt, als hätte sie in ihrem ganzen Leben noch kein Blut gesehen. „Harre Gott, Robert, was ist denn bloß los mit dir, mein Jung, du siehst ja ganz grün aus im Gesicht!“
„Treck di de Schau ut“, hat er gesagt, oder er hat es sagen wollen, wie gewöhnlich, denn daran denkt Grete nie, dass sie hier nicht rumlaufen soll mit ihren Mauken. In seinem Hause nicht! So was hat Anna nie gelitten. Aber seit Anna tot ist, denkt Grete, sie kann machen, was sie will. Und deshalb wollte er sagen: „Treck di de Schau ut!“ Aber statt der Worte ist nur Blut aus seinem Mund gekommen, und es hat ihn geschüttelt, als steckte er im Dreschkasten. „Harre Gott!“, hat Grete gesagt, als wenn ihr nichts weiter einfallen könnte, „harre Gott, Robert!“ Und dann hat sie die Hand vor den Mund geschlagen, und die Augen sind ihr herausgequollen.
Grete hat Glupschaugen, hatte Anna immer gesagt, ausgesprochene Glupschaugen. Aber er hatte gewusst, warum Anna das behauptete, und gelacht und gesagt: Nun lass sie man, sie ist schon ganz in Ordnung, und an Glupschaugen ist noch keiner gestorben. Rotfuchs! hat Anna gesagt, Rotfuchs und Glupschaugen, das passt zusammen. Da hat er Anna einfach den Mund zugeküsst.
Grete ist die Tasche auf den niedrigen Stuhl gefallen, und sie war ganz bleich.
Endlich hat sie die Sprache wiedergefunden. Ganz schnell hat sie geredet, als käme es auf jede Sekunde an, und sogar ihr Harre Gott! hat sie vergessen.
„Ins Krankenhaus musst du“, hat sie gesagt, „da gibt es gar nichts zu reden, Robert. Sei still, sei still, ich will nichts hören! Und dass du mir ja liegen bleibst. Rühr dich nicht aus dem Bett, sag ich dir!“ Und dann hat sie sich umgedreht und ist losgerannt, und draußen hat sie dann doch wieder „Harre Gott!“ gesagt.
Nun ist es still. Nur sein Atem knarrt. Wie eine alte Schranktür. Er möchte gern lachen, aber es geht nicht. Sein Brustkorb schmerzt, sein Bauch tut weh. Seine Kehle kommt ihm vor wie rohes Fleisch. Schön wäre es, wenn er die Milch erreichen könnte. Gretes Volkssolidaritätsmilch, die würde ihm helfen, und seine Staublunge würde vor Schreck gesund werden. Aber er reicht nicht bis an Gretes Tasche, wenn er die Hand ausstreckt. Seine Hand sieht aus wie eine Astgabel, von der die Borke abgefallen ist.
Wenn sie ihn hier rausholen, dann sieht er nichts mehr wieder, den runden Tisch nicht und den hohen Schrank und die kleine Kommode, auf der die grüne Plüschdecke liegt, und obendrauf der Kater. Den Kater sieht er dann auch nicht wieder. Den wird Grete wohl vergraulen, den hat sie noch nie leiden können. Lass den bloß kastrieren, hat sie gesagt, als er sich das schwarze Knäuel von Molkenthin geholt hat. Wenn der seine Touren kriegt, der schnarzt dir das ganze Haus voll, dass es man so stinkt wie im Pissoir.
Pisso-ahr hat sie gesagt. So was kann sie. Das ist übrig geblieben aus ihrer Dienstmädchenzeit in der Großstadt.
Den Kater hat er nicht kastrieren lassen. Jeder soll seine Freude haben im Leben, ob Kater oder Mensch. Nun liegt er da und schnurrt nicht mal. Guckt ihn an, als ahnte er was. Ob Tiere merken, wenn einer abtritt?
Er würde den Kater gern streicheln, dann käme Wärme in seine Hand. Aber der rührt sich nicht. Er versucht Mulle zu sagen, Mulle, komm mal her, aber es gelingt ihm nicht.
Es ist so still. Wenn der Kater schnurren würde, wäre es besser.
In der guten Stube tickt der Regulator. Das ist das einzige, was er hören kann in dieser Einsamkeit, und plötzlich holt der aus zum ersten scheppernden Schlag und schleppt sich ächzend über weitere zehn Schläge. Der wird auch alt und kann nicht mehr. Den hat er Anna zu Weihnachten geschenkt, als die Stuben hier im Haus noch nach frischer Farbe rochen. Die Hälfte des Verdienstes vom Fischverkauf hat er dafür ausgegeben, und Anna hat die Hände zusammengeschlagen und gesagt: Robert, bei dir stimmt’s nicht! Solche teure Uhr! Das ist doch kein Weihnachtsgeschenk mehr, so viel hat ja nicht mal die Bettstelle gekostet! Aber sie ist um die Uhr rumgesprungen wie ein Kind, und er hat ihr angesehen, was das für eine Freude für sie war.
Elf also. Eine Stunde vor Mittag. Wenn er bloß mal richtig Luft holen könnte. Aber das will und will nicht gehen, und das Regulator-Ticken ist auch schon mehr ein Rasseln.
Und unten stand der Kaiser. Wie eine Majestät sah er nicht mehr aus, ohne Goldhelm und Goldadler und wehende weiße Pferdeschwänze auf dem Kopf. Vielleicht war ihm auch ein bisschen unheimlich in der riesigen Halle zwischen den seit gestern abgestellten Drehbänken, auf denen die Arbeiter tatenlos hockten, stinkende Zigarren qualmten und ungeniert grinsten, wenn der Kaiser was sagte. Aber dann sagte der Kaiser nichts mehr, er griff sich an die roten Revers seines offenstehenden feldgrauen Mantels, ruckte an seiner schlichten Soldatenmütze und strich sich über die schütteren weißen Enden des schlapp gewordenen Es-Ist-Erreicht-Bartes, und die graue Generalsmeute, die um ihn herumstand wie ein verlorenes Häufchen, trampelte sich auf dem kahlen Zementboden warm in der Januarkälte.
„Denen geht der Arsch mit Grundeis“, sagte Bastubbe neben ihm, „det kannste mir glauben, Robert. So wat haben die noch nicht erlebt, dass ihnen ’ne halbe Million Leute die Arbeit hinschmeißen. Und denn ausgerechnet hier, gerade bei uns. Da kracht ihnen doch ihr ganzer Krieg zusammen. Ohne uns können se nicht mal schießen!“
Und dann drehte Bastubbe an dem Überdruckventil und ließ Luft aus dem Dampfhammer entweichen, nur ganz kurz und ganz schnell, sodass es in der Halle dröhnte wie ein ungeheurer Furz.
Von unten sahen sie erschrocken zu ihnen hoch, aber dann hatten sie Bastubbes Absicht wohl erkannt und brüllten vor Lachen, und selbst der Kaiser grinste, und seine Generale auch. Was blieb ihnen anderes übrig.
„Mensch“, sagte er, „Mensch, Heinrich, du machst ja vielleicht Sachen ...“
„Wat denn, wat denn“, sagte Bastubbe, „erst verteilste wochenlang Streikaufrufe und Flugblätter und so wat, und denn graulste dir vor die?“
Der Kaiser hatte die Sprache wiedergefunden. Er redete von dem „unverwüstlichen Humor des deutschen Arbeiters“ und dass dieser Humor ihm die Zuversicht verleihe, der deutsche Arbeiter werde seinem kämpfenden Kameraden an der Front zur Seite stehen und ihm nicht in den Rücken fallen; er, der oberste Kriegsherr, sei dessen sicher, sagte der Kaiser kurz und abgehackt, und es wurde immer leiser in der riesigen Halle, denn der deutsche Arbeiter sei ja kein bolschewistischer Muschik, der auf jeden verbrecherischen Schwindel hereinfalle. Und Bastubbe nuschelte: „Nu soll er man uffhören, nu hat er jenug jequatscht!“
Sie starrten beide zu dem roten Transparentband hinüber, das die Granatenmädchen gestern zusammengenäht und in der Nacht vor dem Nebengebäude an der Straßenseite aufgezogen hatten, wo ein Teil der Polizei postiert war, die das ganze Werk umzingelt hielt. In großen weißen Buchstaben stand darauf: SCHLUSS MIT DEM KRIEG! MACHT ES WIE DIE RUSSEN! NIEDER MIT DER REGIERUNG! Den letzten Satz hatten sie schon vor zwei Jahren gehört, Bastubbe und er, als sie am 1. Mai abends auf dem großen Platz standen, eingeklemmt in der unüberschaubaren Menge, und Liebknecht von einem Lastauto aus diese Worte rief. Als er den Kolbenschlag auf den Oberarm bekam, dass er gar nicht wusste, wie ihm war, hatte Bastubbe ihn in einen Hauseingang gezogen: Wer so leuchtet mit seine roten Haare, der soll sich nicht wundern, wenn er wat abkriegt. Und zu lang biste ooch für die Berittenen. Da sei man froh, dass de den Kopp noch drauf hast!
An jenem Tag hatte er Bastubbe zum ersten Mal gesehen. Der glatzköpfige Kugelmensch mit den winzig kleinen Augen und den tatzengroßen Händen hatte ihm ein seltsames Vertrauen eingeflößt. Irgendwann waren sie in einem überfüllten, verräucherten Dünnbier-Keller gelandet, und Bastubbe hatte ihn mit Schmalzstullen traktiert und nebenbei ausgefragt und also erfahren, dass er, Robert, gerade ausgelernt hatte bei dem uralten Schlossermeister Rastenberg, dessen Zwillingssöhne gleich am Anfang bei Langemarck ins Gras gebissen hatten und der seinen Laden nun zumachen wollte, endgültig und für immer. Da hatte Bastubbe gesagt: Denn komm man zu uns. Wir suchen welche. Die Jungs haben se alle wegjeholt, und die Mädchens, die schaffen det nicht, an’n Dampfhammer. Da muss wat Kräftiges ran. Biste aus Pommern?
Mein Vater ist Fischer, hatte er gesagt und nicht gewusst, warum er dies eigentlich erzählte, und Bastubbe hatte sich über den Tisch geschoben, ihm ins Gesicht gesehen und gesagt: Und warum biste nicht da jeblieben und hast Pieseratzen jefangen, hm? Wolltest wat Besseret werden, wa? Na, nischt für unjut, nu biste hier, und ausjelernt haste ooch, und solche wie dir, die schon bei Karl und Rosa ufftauchen, die könn' wir jebrauchen. Also, wat is? Meldeste dir bei mir?
Damals hätte er nach Hause fahren und fischen können, aber seinen Vater hatten sie schon zum Landsturm eingezogen, und das Boot hatte verwaist im Schilf gelegen. Für alle war es besser gewesen, wenn er sich selbst ernährte. So war er an den Dampfhammer gekommen, und noch bevor Bastubbe ihn in die Geheimnisse und Finessen des riesigen Gerätes eingewiesen hatte, ihn und den bleichen Gutschmid, der unten neben der Ambossplatte stand und dem Kaiser auf den Mund guckte, hatte er erklärt: So’n Rüstungswerk wie unsers, det hat wat für sich, musste wissen. Da kannste Munition drehen und Kanonenrohre ziehen und Panzerplatten kloppen. Und du kannstet ooch sein lassen, verstehste! Du kannst es auch sein lassen! Und darauf kommtet an!
Dann hatte er ihn mitgenommen zu Versammlungen in Hinterzimmern und Gartenlokalen, zu wilden Diskussionen, auch zu Kartoffelpuffer-Ausflügen mit Bastubbes stiller, kleiner Frau, die das Gesicht einer Maus und die Augen eines Eichhörnchens hatte und bei Wertheim Geschenkpakete verschnürte. Aus dir mach ick’n richtigen Metaller, hatte Bastubbe erklärt, ein’ Kerl, wie er im Buche steht, jehauen und jestochen, ein’ echten deutschen Arbeiter, wie unser stolzer Kaiser zu sagen jeruht.
Vielleicht hatten sie irgendetwas überhört, vielleicht hatten sie zu laut miteinander geredet, und das Pfeifen und Sirren der Dampfventile hatte ein Übriges getan, jedenfalls schreckten sie auf wegen der plötzlichen Stille. Sie beugten sich beide über das Geländer und sahen den Kaiser, im offenen Mantel, das Gesicht nach oben gewandt, ganz eindeutig ihnen zugewandt. Die Blicke seiner Begleiter waren seinem Blick gefolgt, dem Blick des obersten Kriegsherrn, Monokel und zusammengekniffene Augen blitzten zu ihnen empor. Dann setzte ein Gemurmel unten ein, in die Generäle und Adjutanten kam wieder Bewegung, der Kaiser drehte sich Rat suchend um. Sie hörten Gutschmids geradezu beschwörende Kinderstimme von unten und sahen seine wilden Gesten, mit denen er auf die Ambossplatte deutete. „Na, nun macht doch, macht doch, habt ihr denn nicht gehört, was Majestät gesagt hat?!“
Bastubbes Augen waren klein wie Stecknadelköpfe, so winzig und so glänzend, als er ihm ins Gesicht guckte. „Hast du wat jehört?“
„Keinen Mucks“, sagte er, er war einfach in Gedanken versunken gewesen und hatte gar nicht auf das Geschehen in der Halle geachtet. Bei Bastubbe dagegen war man nie sicher, ob er nicht jeden Vorgang bemerkt und nur dazu geschwiegen hatte. „Na, denn weiß ick nicht, wat die von uns wollen“, sagte Bastubbe und begann sinnlos an den Ventilen zu drehen. Indessen war Gutschmid polternd die Eisenstiege heraufgesprungen und um die Galerie herum bis zu ihrem Fahrstand gelaufen, stand dann vor ihnen und hechelte: „Nun los, fahrt doch ab, damit er sieht, was los ist. Der will uns doch zum Affen machen!“
„Ick versteh j'anischt“, sagte Bastubbe, „kannste dir nicht klarer ausdrücken?“
Unten summten Stimmen, ein paarmal wurde gerufen: „Heinrich, nun mach mal!“ Es schien allen durchaus klar zu sein, dass von ihnen beiden, von Bastubbe und ihm also, die Stimmung Seiner Majestät und Ruhm und Ehre der Belegschaft abhingen. Aber er begriff gar nicht, worum es ging, bis er Gutschmid, der vor Aufregung kaum zum Atmen kam, endlich verstanden hatte.
„Die Uhr“, sagte Gutschmid, „der hat doch die Uhr auf die Ambossplatte gelegt. Hat er schon mal gemacht, sagt er, mit Krupp zusammen, als sie das Werk eingeweiht haben, habt ihr denn geschlafen hier oben, Menschenskind?! Und da sagt er: Wenn die Uhr hopsgeht, dann ist auch der deutsche Arbeiter hops, und das deutsche Volk kann sich einsargen lassen, weil: es ist dann kein Verlass mehr auf einen …“
Bastubbe tat, als verstünde er kein Wort.
„Wat für’ne Uhr?“, sagte er scheinheilig und ließ bereits den Dampf in den Druckkessel.
„Was für’ne Uhr, was für’ne Uhr!“, schrie Gutschmid, „na seine eben, Wilhelms eigene Uhr, verstehst du, und das ist ein Vertrauensbeweis, hat ergesagt, und ich finde: jetzt zeigen wir’s ihnen!“
„Machen wir“, sagte Bastubbe und grinste.
Gutschmid bekam rote Flecken in seinem weißen Gesicht, und seine helle Stimme flüsterte: „Das muss ich sehen, das lass ich mir nicht entgehen.“ Seine Nagelschuhe polterten die Stiege hinunter, Bastubbe drehte die Ventile zu, und im Druckrohr summte der Dampf.
„Mensch, Heinrich“, sagte er zu Bastubbe und starrte auf dessen hellbraune Pranken, die ruhig auf dem Auslösungshebel lagen, „du kriegst das fertig und machst sie hin!“
„Ick?“, sagte Bastubbe, strich sich über seinen Kugelkopf und lächelte zu ihm empor, „wieso denn ick? Wozu hab ick dir zwei Jahre lang ausjebildet an dieset Monstrum. Da wirste doch noch mit so’ ne poplige Uhr fertig werden!“
Zuerst fuhr ihm der Schreck in den Magen. Dann aber wurde ihm ganz warm, und eine unbändige Freude breitete sich in ihm aus.
„Heinrich“, sagte er, „das vergess ich dir nicht!“
Aber Bastubbe schob ihn an den Auslösungshebel und blinzelte ihn an: „Und nu? Wat willste nu machen?“
„Nicht ein Stäubchen“, sagte er, „nicht ein Stäubchen findet der wieder von seiner Scheißuhr!“
Da blockierte Bastubbe rasch den Hebel, blinzelte, dass seine winzigen Augen fast verschwanden.
„Heinrich“, sagte er erstaunt und versuchte die Blockierung wieder zu lösen, „Heinrich, was hast du denn? Ich denke ...“ „Du denkst janich!“ fauchte Bastubbe. „Haste nicht jehört, wat der will? Nulpen will der aus uns machen, Mensch, Stümper und Faulenzer und Asoziale, die nischt taugen und zu nischt fähig sind. Denn bloß solche können streiken, verstehste? Richtige deutsche Arbeiter streiken nicht und haun ooch keene Uhren kaputt. Richtige deutsche Arbeiter, die stehen zu ihr Herrscherhaus und ihre Arbeiterehre und so weiter und so weiter. Haste verstanden, wat ick jesagt habe?!“
„Heinrich“, sagte er, „was soll denn das alles?“
Bastubbe riss sich die graue Kappe vom Kopf und trommelte mit den Händen auf seine Glatze. „Mann, ick werd noch verrückt! So’n langer Labahn und so wenig Grips in’n Kopp. Du denkst wohl wahrhaftig, det jeht um die Uhr, wat? Mensch, um uns jehtet, um unser Ansehen und unsere Ehre. Und wenn wir nicht mehr mitmachen, denn kann er sich einsargen lassen, verstehste, er und nicht det deutsche Volk. Wir stehn hier für uns selber, verstehste, für allet, wat wir sind und haben und wollen - und du denkst, wir wollen hier irgendwelche Uhren in Klump hauen, Mensch. Biste denn beschränkt, Robert!“
Langsam begriff er, worum es Bastubbe ging.
„Also du meinst, wir machen es nicht und beschämen sie?“ „Wat“, sagte Bastubbe, „wat machen wir? Wir beschämen die? Du bist wohl nicht janz richtig im Kopp. Die wissen doch janich, wat Schämen is, Mensch. Nee, wir machen allet. Aber eine Handbreit, verstehste, eine Handbreit über der Platte hältste an. Kannste det?“
Endlich hatte er verstanden, was Bastubbe wollte, und plötzlich war ihm klar, worauf er sich da einließ. Seine Hände fielen vom Auslösungshebel, und er musste sich die Feuchtigkeit aus dem Nacken wischen.
„Also“, drängte Bastubbe, „kannstet oder kannstet nicht? Wenn du dir nicht traust, denn lass mir ran!“
„Mensch, Heinrich …“ Aber dann war er sich plötzlich sicher, dass er alles schaffen und dass nichts danebengehen würde.
In diesem Augenblick, in dem er die Blockierung löste und die Hand auf den Auslösungshebel legte, hatte er Bastubbe vergessen. Auch den Kaiser und Gutschmid und die ganze wartende Menge. Tausende Male hatte er diesen Hebel bedient, er kannte jedes Geräusch des niedersausenden Stahlkeils und hätte in jedem Sekundenbruchteil sagen können, in welcher Höhe der sich über der Ambossplatte befand.
Er drückte den Hebel nieder und riss ihn wieder hoch.
In dem ungeheuren Lärm ging das Klatschen der kaiserlichen Begleitung verloren.
Bastubbe beugte sich über die Brüstung und lachte. „Kannste mal sehen, Robert, wat du anjerichtet hast. Da steht se nu, die janze Schwite, und weiß nicht, wie se die Monokels drehen soll. Haste jut jemacht, Robert, ick bin stolz auf dir!“
Der Kaiser blickte herauf, die Generale ebenfalls, zwei von ihnen versuchten ein leutseliges Winken, und Gutschmids Kinderstimme tönte: „Sollst runterkommen, Heinrich!“ Bastubbe stülpte sich die graue Kappe auf den runden Kahlkopf, öffnete die Ventile, ließ wieder einen Dampfhammer-Furz fahren und drängte: „Na, worauf wartste noch?“
Er stolperte also wirklich die Treppe hinunter und stand plötzlich im Halbkreis der fürstlichen Grauröcke. Der Kaiser vor ihm wedelte mit einem weißen Lederhandschuh. Der Kaiser war kleiner als er, und der windige Schnurrbart zuckte in dem ältlichen Gesicht. Dann hob der Kaiser den Arm und berührte mit den behandschuhten Fingerspitzen der Linken rasch seine Montur. „Lob ich mir. Gute Haltung. Deutsche Präzision. Wie heißt du, mein Sohn?“
Um ihn herum war Stille. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, überhaupt nicht zu antworten, sich umzudrehen, die Stiege hinaufzusteigen zu Bastubbe und den Kaiser einfach stehen zu lassen. Dann sagte er: „Ich bin Robert Küster.“
Des Kaisers Augenbrauen ruckten etwas in die Höhe. Das hatte ihm wohl noch keiner geboten: keine Anrede, keine Verbeugung. Die Adjutanten tuschelten. Dann ließ der Kaiser ein Lächeln über sein Gesicht huschen, trat an die Ambossplatte und langte mit großer Vorsicht in den schmalen Spalt, in dem zwischen Platte und Hammerkeil das Gehäuse der unversehrten Uhr schimmerte. Er holte die Uhr heraus, lauschte kurz ihrem Ticken, wog sie wie einen Stein in der Hand - und hielt sie ihm hin!
Er spürte Bastubbes Blick im Nacken. Überhaupt schienen alle nur auf ihn zu schauen. Er war der Mittelpunkt der Halle. Was nun geschehen würde, hing von ihm ab und nicht vom Kaiser. Der Kaiser war die unwichtigste Figur von allen. Aber er, Robert Küster, er stand hier für eine ganze Welt, das schien ihm sicher.
Er wäre sich jetzt gern mit der Hand durchs Haar gefahren, hätte Strähnen zwischen zwei Fingern zusammengedreht und daran gezerrt, wie früher in der Schule, wenn der gichtkrumme Heidenreich mit dem Rohrstock auf das Bankende geschlagen und dazu rhythmisch hustend gebelfert hatte: Welches - waren - die Schlachten- des zwei-ten - Schlesi-schen - Krieges - na?!
Aber da hämmerte kein Rohrstock, da zischte nur der Dampf aus den offenen Ventilen. Da hustete nicht Lehrer Heidenreich, da hüstelte der Kaiser. Und da wurde auch nicht nach den Schlachten des Schlesischen Krieges gefragt, sondern eigentlich, wenn er es sich recht überlegte, nach den gegenwärtigen Schlachten in diesem Kriege. Und der graue Mann da vor ihm, dieser schmalschultrige ältliche Herr, der sich die Schulterpartien seiner Kleidungsstücke hatte auspolstern lassen, tatsächlich, der merkte gar nicht, dass seine Zeit abgelaufen war. Mit einem Mal kam der Kaiser ihm ungeheuer klein und lächerlich vor.
Jetzt wusste er, was er tun musste. Er streckte die Hand aus, nahm die kaiserliche Uhr, ließ den goldenen Deckel aufschnappen, tat, als prüfte er das Uhrwerk, schaute dem Kaiser voll ins Gesicht, lachte und sagte so laut, dass wohl selbst Bastubbe oben auf der Hammergalerie es hören konnte: „Die geht ja falsch, Majestät!“
Aus der fürstlichen Nase kam ein kurzer Schnaufer. Dann machte der oberste Kriegsherr eine Kehrtwendung wie auf dem Exerzierplatz und strebte mit eiligen Schritten dem Werktor zu, die graue Rotte säbelscheppernd hinter ihm her. Tosendes Gelächter trieb sie aus der Halle.
Er aber, Robert Küster, wurde auf Armen und Schultern in einem Triumphzug an den Drehbänken vorbei durch die Halle getragen, schwankte auf den Rücken der anderen und hielt des Kaisers goldene Uhr hoch. Bastubbe ließ den Dampfhammer pfeifen und stimmte die Internationale an, und der Gesang übertönte den Marschtritt, mit dem sich Polizei und Militär dem Werktor näherten.
Jetzt ist die Stille vorüber.
Grete rumort in der Küche. Die schwarze Tasche hat sie vom Stuhl genommen, den Kater hat sie vertrieben. Auf der grünen Plüschdecke liegt sein Personalausweis, sein Versicherungsausweis und sein Parteibuch. Das möchte er wissen, warum sie ihm das Parteibuch dazugelegt hat. Vielleicht denkt sie, es stirbt sich leichter, wenn das Parteibuch danebenliegt. Denn sterben wird er, daran besteht gar kein Zweifel. Dabei würde er so manches gern noch erleben, zum Beispiel Hartriegel auf einem Kartoffelroder oder als Güllefahrer und Mistausräumer oder auch als Konsumverkäufer, wenn das Bier ausgegangen ist.
Damals hatte er sich auch vorgestellt, es würde keine Herrscher mehr geben und keine Hofschranzen und grauen Rotten, die ihnen alles nachquatschten und sich selbst für unfehlbar hielten, bedacht darauf, dass keiner ihnen zu nahe trat. Das hatte er tatsächlich geglaubt vor einem halben Jahrhundert, als Bastubbe den Dampfhammer pfeifen ließ. Inzwischen hat das Leben ihn klüger gemacht und das Alter weise, und er wird Hartriegel bestimmt nicht mehr auf einem Kartoffelroder über die Schläge hoppeln sehen.
„Harre Gott“, sagt Grete und stampft auf ihn zu und hat die Schuhe immer noch nicht ausgezogen, „harre Gott, Robert, du warst ja wohl ganz und gar ohnmächtig. Wart man, rühr dich nicht, ich bring dir Tee. Dass du mir ja den Tee trinkst, Robert!“
Er würde gern Milch trinken, kalte Milch aus ihrer schwarzen Tasche, aber er kann nichts sagen, sonst kommt der Husten wieder und die Kehle wird ihm schmerzen und das Blut aus dem Mund schießen. Wenn sie solchen scheußlichen Kamillentee gebrüht hat, spuckt er ihr den auf die Pfoten, darauf kann sie sich verlassen. Und sie soll bloß nicht mit der Schnabeltasse kommen, die sie schon einmal angeschleppt hat, als Anna auf den Tod lag.
Doch diesmal hat sie einen von seinen Henkelpötten in der Hand, von den dicken, hohen Steinguttöpfen, die ihm Anna morgens vorgesetzt hat, wenn die Sonne über das Wasser guckte und er zum Reusenheben fuhr. Damals war immer Fleischbrühe darin, und die Fettaugen schwammen oben. Aber jetzt muss er Tee daraus schlürfen, Pfefferminztee, denn das Kamillengift hat Grete nicht gefunden. Kann sie auch nicht. Hat er weggeschmissen, schon vor drei Monaten, als er den Küchenschrank gescheuert hat. Und jetzt möchte er lachen, jetzt, als Grete sagt: „Trink man ruhig, Robert, ganz vorsichtig. Ist zwar bloß Pfefferminztee, aber ich weiß auch nicht, wo die schöne Kamille geblieben ist, das ist auch rein wie verhext. Der Krankenwagen kommt gleich, brauchst dich nicht aufregen. Ich hab alles schon rausgelegt. Ich bring dich hin, da kriegt mich keiner von ab, Robert.“
Das fehlte noch, dass sie ihn in die Stadt begleitet. Die Leute müssen sich ja kranklachen: Robert Küster mit Glucke!
„Nee“, sagt er, und er wäre so froh, wenn er brüllen könnte, „nee, Grete, das denn nun doch nicht.“ Ein Piepsen ist das, als wenn ein junger Hund winselt!
„Robert, ich bitte dich!“, sagt Grete, aber er wird sich nicht umstimmen lassen.
„Du bleibst hier!“, fiept er, und nun schüttelt es ihn doch. Der Tee schülpert auf Gretes Kittelschürzenblumen und sein Bettlaken. Grete springt mit unvermuteter Behendigkeit auf und drückt ihm ihr Taschentuch vor den Mund. Es riecht nach Eukalvptus-Drops und Räucherfisch, und er schiebt Gretes runde Hand energisch fort. Da soll sie ihm mit vom Leibe bleiben.
Sie schüttelt ihm das Kissen auf, und als sie sich auf den Stuhl vor seinem Bett fallen lässt, schnauft sie und schnäuzt sich und wischt sich die Augen; das muss sie nicht machen, sich hier hinglucken und heulen, das fehlte ihm noch. Das kann er nicht vertragen. Er dreht sich zur Wand und wünscht, dass er taub wäre. Aber wenn sein Gehör auch nachgelassen hat in den letzten zehn Jahren, Gretes Schluchzen kann er einfach nicht überhören.
„Harre Gott, Robert“, sagt Grete, die sich zwischendurch mit dem Taschentuch über Mund und Gesicht fährt, „dass das aber auch so kommen muss mit dir! Und nicht mal der Junge ist hier, Robert, ich darf gar nicht an so was denken …“
Aber jetzt ist der Krankenwagen da, und sie kann gottlob nicht weitersprechen und ihm auf der Seele herumtrampeln mit Erinnerungen an den Sohn, an den er nicht denken und den er vergessen will und der ihm trotzdem immer im Kopf herumspukt in der letzten Zeit.
Grete ist in ihrem Element und hat den Jungen vergessen und das Heulen auch und redet draußen mit dem jungen Fahrer und der jungen Schwester und schiebt sich hinter denen durch die Stubentür. Da stehn sie nun und gucken ihn an. Rasch legen sie eine richtig schöne Leichtigkeit in ihr Gesicht, alle beide und zur gleichen Zeit, als wenn einer den Fernseher anknipst, und lachen und tun so, als ob sie zum Kaffeeklatsch hierhergekommen wären und ihm ein Paket Hanewacker Kautabak überreichen wollten, und natürlich sagen sie: „Hallo, Opa, was machen wir denn für Geschichten!“
So was müssen sie auswendig gelernt haben auf ihrer Krankenfahrerschule, denn solchen Satz haben sie auch zu Anna gesagt, als sie die aus dieser Stube rausgetragen haben. Hallo, Oma, was machen wir denn für Geschichten. Sie haben sie auf eine Trage gelegt wie im Krieg die Sanitäter, sie durch die Tür geschoben und fröhlich gesagt: Na, denn wollen wir mal, Oma. Als ginge es zu einem Hasen-Essen. Drei Wochen später haben sie sie wieder reingebracht, andere, in dunklen Mänteln und mit amtlichen Trauergesichtern, und statt auf der Trage hat Anna in dem dunklen Eichensarg gelegen mit den Messingbeschlägen dran, die Molkenthin aus seinen alten Beständen hinübergerettet hatte in sein VEB-loses Rentnerdasein.
Nun haben sie auch die Trage drin. Sie stellen sie vor das Bett und machen die Riemen darauf los, als wollten sie ihn hinterher festschnallen. Das werden sie auch machen, das weiß er, das gehört genauso zu ihren Krankenfahrergewohnheiten wie die schnellen Griffe, mit denen sie ihn auf das leinenbespannte Gestell heben, und die Art und Weise, in der sie der heulenden Grete die Schulter tätscheln, als wäre das seine trauernde Witwe.
Die steht da und steckt seine Ausweise in eine bunte Beuteltasche, und tatsächlich schiebt sie auch das Parteibuch noch hinterher. Obendrauf packt sie zwei grünhäutige Kuba-Apfelsinen, und er hätte am liebsten gesagt, sie solle sich die Dinger sauer einkochen, aber er schweigt und lässt alles mit sich geschehen und weiß, dass ihm anderes nicht übrig bleibt. Grete tut so, als ginge sie im Krankenhaus der Stadt aus und ein oder wäre die Schwiegermutter des Chefarztes, und sagt zu dem jungen Mann und der jungen Schwester: „Na, wenn Doktor Siebenschuh Herrn Küster behandelt, bin ich guter Hoffnung!“
Er hätte so gern gelacht, aber sie lassen ihm keine Zeit. Sie heben die Trage an und balancieren sie vorsichtig durch die niedrige, schmale Tür, sodass er sich nicht einmal umsehen kann, und natürlich sagen sie: „Na, denn wollen wir mal, Opa.“
Eilig tragen sie ihn durch die gute Stube. Er kann kaum einen Blick werfen auf das sechstürige nussbaumbraune Büfett, auf das Anna so unmäßig stolz war, dass sie sich nicht scheute, vor dem ganzen Dorf damit anzugeben. Das war sonst gar nicht ihre Art. Meistens war sie verschlossen andern Leuten gegenüber. Aber als sie dieses Möbelstück ausgesucht hatten bei August Herrenburg und Söhne und nicht etwa in der Karstadtfiliale der Stadt, in der die Dörfler gewöhnlich einzukaufen pflegten, als sie es auf Molkenthins Plattenwagen geladen und mit Sackleinwand vor dem Straßenstaub geschützt hatten, da war Anna zu ihm auf den Bock gesprungen, hatte ihn mitten auf der Straße umgefasst und ihm dann die Zügel aus der Hand genommen und die beiden Braunen angetrieben. Die Fuhre bring ich vor unser Haus, Robert, das kannst du mir nicht verwehren. Die ganze Fahrt von der Stadt bis ins Dorf hatte sie gesungen und gesummt und ihn sogar zum Mitpfeifen angestachelt, und so waren sie vor das kleine frisch verputzte Haus gekommen und hatten das Schmuckstück enthüllt und abgeladen. Die Frauen der Fischer und die Bauernfrauen waren von Hallenbergers Kolonialwarenladen herbeigekommen und hatten das ungewohnt einfache, glattpolierte und unverzierte Möbel bestaunt und vorsichtig betastet, bevor ihre Männer es unter seinem, Robert Küsters, aufwendigem Dirigieren durch die niedrige Haustür bugsierten und Grete sagte: Anna, das passt ja gar nicht rein in eure lütten Kammern.
Da hatte Anna sie angeblitzt und unter dem Kichern der Frauen gerufen: Och, Grete, da mach dir man keine Sorgen drum. Das machen wir so wie du mit deinem Achtersteven, wir ziehn ihm einfach paar Korsettstangen ein! Grete hatte dagestanden und war ganz rot geworden, und endlich war sie weggelaufen vor dem schadenfrohen Gelächter. Das Büfett wird er nicht wiedersehen und den Regulator auch nicht, den Anna so geliebt hat und der nun der zwölften Stunde entgegentickt.
Trotz ihrer Eile gehen sie mit ihm um, als könnte er ihnen von der Trage kippen oder bei jedem Schritt, den sie machen, auseinanderbrechen. Grete drängelt sich vorweg und schafft mit ihrem Bauch erst Platz für den Krankentransport. Sie schubst die Stühle unter den runden Tisch, als wären es schon ihre.
„Harre Gott“, sagt sie dabei und fuchtelt in wilden Gesten mit den Armen herum, „gehen Sie bloß vorsichtig um mit Herrn Küster, er ist ja ganz und gar schwach - na, Sie sehn ja, Sie sehn ja, stoßen Sie man nicht an die Lampe, das ist alles ein bisschen eng hier.“
Für Grete wird es reichen, falls der Bürgermeister sie hier einziehen lässt und nicht irgendeinen jungverheirateten Treckerfahrer in das Haus setzt. Aber die wollen so was nicht mehr, das ist ihnen alles zu lütt und zu eng, und wenn sie kein Bad haben, dann sind sie bloß halbe Menschen. Also wird Grete den Bürgermeister wohl beschwatzt kriegen. Für die reicht das hier. Die passt sowieso in keine Badewanne.
Das Bild würde er gern mitnehmen, aber wer weiß, ob er in ein Einzelzimmer kommt. Vielleicht haben sie gar keine Einzelzimmer, Anna musste auch mit drei Weibern zusammenliegen. Wenn er sich vorstellt, was die andern für ein Gesicht machen, wenn er ein Hochzeitsbild in die Nachttischschublade legt, dann lässt er das Foto lieber hier hängen, dicht neben der Tür, durch die sie ihn nun hinausschieben.
Das Bild hatte Hallenberger gemacht. Er hatte extra seinen Kolonialwarenladen abgeschlossen und einen blank geschabten Cut angezogen, den er bestimmt von einem Schuldner als Ersatz für nicht zurückgezahlte Darlehen bekommen hatte. Hallenberger machte alles: Er handelte mit Hufeisen und Kardamom, mit Luftballons und Hundekuchen, mit feinen Gewürzen und grünen Bananen, mit alten und neuen Fahrrädern, Maurerkellen und Petroleumlampen, er kaufte den Bauern die Hühnereier und den Fischern die Zander ab, verborgte Geld und vergaß, es zurückzufordern, wenn der Borger ein armer Schlucker oder die Frau zum fünften Mal schwanger war. Jede Woche einmal zuckelte er mit seinem klapprigen Zirkuspferdchen und dem grüngestrichenen Kastenwagen in die Stadt, verkaufte Hühnereier und Frischfisch an die Stadthändler und brachte vom Markt und aus den Geschäften mit, was die Bauern und Fischer, die Frauen und Kinder brauchten. In Hallenbergers Kramladen fand sich außer dem Inhaber keiner zurecht. Es schien alles ein wirres Durcheinander zu sein, nur das schmale Schaufenster strahlte in geordneter Bilderbuchpracht. Niemand wusste, wie Hallenberger mit seiner unüberschaubaren Möhl zurechtkam. Dennoch gab es kaum etwas, das er in den verborgenen Tiefen seiner übereinandergetürmten Regale nicht gefunden hätte. Er lebte allein. Irgendwann, vielleicht als die Kaiser-Eiche auf dem Müllerberg gepflanzt worden war, soll Hallenberger in das Dorf gekommen sein. Damals, an jenem Tag, an dem er das Bild machte, hatte er ein großes Pappschild in die Ladentür gehängt und mit schwungvoller Schrift den Dorfbewohnern verkündet: Halte mich zu fotografischen Arbeiten im Hochzeitshause Küster auf (R. Küster) Hallenberger Kolonialwarenhändler en detail. Sehr wichtig war, auf dem Schild zu vermerken, dass es sich bei dem Hochzeitshause Küster um ihn, um Robert Küster, handelte, denn Küsters gab es genug in dieser Gegend, wenigstens jeder vierte hieß Küster. Das war ein Allerweltsname, und wer an Hallenbergers Ladentür nicht ausreichend informiert worden wäre, der hätte lange im Dorf herumziehen müssen, um zu seinem Hochzeitsschluck zu kommen. Hallenberger war das örtliche Nachrichtenbüro. Das funktionierte auch, wenn er nicht im Laden war, sondern, wie an jenem Tag, den großen Fotokasten unter den Arm geklemmt hatte, um bei den Leuten Gedenk- und Ehrentage im Bilde festzuhalten. Den runden Tisch hatte er zur Seite gerückt, die Stühle für das Paar bereitgestellt, und die Leute hatten, Schnaps trinkend und Räucheraal schmatzend, um ihn herum gestanden und begutachtet, wie flink er das Holzstativ aufbaute und den Fotokasten aufschraubte, wie geschickt er das schwarze Tuch über sich und den Kasten warf und wie gewählt er sich ausdrückte, wenn er mit dem Brautpaar redete. Wenn ich vielleicht bitten dürfte, hatte er zu Anna gesagt und unter seinem schwarzen Tuch hervorgelugt, dass die werte Braut das Haupt etwas wenden und dem Herrn Bräutigam zulächeln möchte ... Dann hatte Hallenberger sich an ihn gewandt: Wenn ich vielleicht bitten dürfte, Herr Küster, dass Sie Ihr Haupt leicht nach rechts neigen und dem Fräulein Braut in die Augen schauen würden ...
Hallenberger hatte recht getan, das war dem Bild noch heute anzusehen. Wenn der das nicht so großartig arrangiert hätte in der lärmerfüllten und verqualmten guten Stube von damals, dann hätten sie gar nicht raufgepasst auf so ein Porträtfoto, wie Hallenberger das nannte. Denn Anna reichte ihm nur bis zur Schulter, und ihr Myrtenkranz saß in der gleichen Höhe wie seine schneeweiße Fliege, die er sich nur mit allergrößtem Widerwillen und fürchterlichen Verrenkungen umgebunden hatte. Dass er rote Haare hatte, war auf dem braunen Bild nicht zu erkennen. Er sah aus wie Jung-Siegfried und Anna wie Schneewittchen, und an der Hochzeitstafel, die sie aus Gerüstböcken und Molkenthinschen Fußbodenbrettern im Vorgarten aufgebaut hatten, hatte Hallenberger sich vorsichtig, sein weißes Chemisett mit der Hand stützend, über den Teller gebeugt, den er sich gerade mit Aal in Gelee gefüllt hatte, und ihnen zugeraunt: Im Vertrauen, liebe verehrte Frau Küster, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: so ein schönes Paar wie Sie beide habe ich in meiner ganzen fotografischen Laufbahn noch nie und nirgends auf die Platte bannen dürfen. Dann hatte er ein Stück gelierten Aal genossen und hinzugefügt: Einfach superb!
Das Bild also wird er hängen lassen. Wer weiß, was Grete damit anfängt. Wenn sie ihn noch so weit bringen, dass er wieder ohne Husten reden kann, wird er Grete sagen, dass sie das Bild nicht anrühren soll. Da soll sie die Finger von lassen. Aber wer weiß, ob sie ihn so weit bringen werden und ob sich das noch lohnt. Vielleicht geht er ihnen auch ein wie ein Primelpott.
Jetzt tragen sie ihn aus dem Haus. Mit den Füßen zuerst - da wird er nicht zurückkommen. Schade, dass er sein Haus nicht mehr sehen kann, aber er weiß auch so, wie es aussieht: niedrig und klein, höchstens acht mal acht Meter, weiß gekalkt, das hat er noch fertiggebracht in diesem Frühjahr, und das Rohrdach obendrauf wie ein brauner Wollpudel. Die Fensterläden hat er grasgrün gestrichen, wie immer, und die hohe Haustür auch.
Mach sie grün, Robert, hatte Anna gesagt, als sie eingezogen waren und das Harz noch aus den Bretterfugen tropfte, grün auf weiß, das leuchtet so schön.
Die Dahlien stehen gut in diesem Jahr. Blühen nun schon über einen Monat, bis auf die rote: die kümmert schon seit Wochen. Das muss an dem Mist liegen, den er untergestreut hat. Der Mist ist auch nicht mehr, was er mal war. Ist so viel Chemie drin. Die rote wird das wohl nicht vertragen können. Wie die Dahlien heißen, das hat er nie gelernt. Er kann bloß sagen: die rote, die braunbunte, die gelbe. Anna wusste von allen die Namen. sogar die lateinischen. Grete wird die Dahlien wohl rausreißen. In denen halten sich die Blattläuse, sagt sie immer.
Die Gartentür kann er nicht mehr sehen. Sie haben den Wagen dicht herangefahren und schieben ihn schon hinein. Das quietscht nicht mal, die Schienen müssen gut geölt sein. Vielleicht machen sie einen Wettbewerb. Die Schwester klettert hinterher und hockt sich auf den Ledersitz. Wozu sie die wohl mitgeschickt haben. Ob sie denken, dass er ihnen Sperenzien macht während der Fahrt?
Grete reicht den Beutel mit seinen Sachen hinein, und die Schwester sagt zu ihr: „Machen Sie sich keine Gedanken, Frau Sattler, das kriegen wir schon wieder hin. Und mittwochs und sonnabends können sie ihn ja besuchen, immer von vierzehn bis fünfzehn Uhr. Also, Frau Sattler ...“ Dann schlägt sie die Tür zu. Gretes Gesicht taucht noch einmal an der halbhoch gestrichenen Seitenscheibe auf, und plötzlich hat er das Bedürfnis, ihr irgendwas Gutes zu sagen. Aber der Wagen fährt an.
Das Mädchen neben ihm ist hellblau. Früher sahen sie alle weiß aus, weiß von Kopf bis Fuß, die reine Unschuld. Ist wohl was weg von der früheren Unschuld, und das Hellblau schmutzt auch nicht so. Er möchte lachen, aber er traut sich nicht: Ihm liegt was auf der Brust, das drückt ihn zusammen. Das Mädchen hantiert mit Instrumenten, die er nicht erkennen kann. Vielleicht schließt sie ihn an irgendwelche Schläuche an, so wie sie es damals mit Anna gemacht haben, als sie die abholten, und wahrscheinlich wird das Mädchen gleich Kanülen in seine Arme stoßen und Gummiband rüberkleben, damit sie auch festsitzen, und er wird sich vorkommen wie eine defekte Maschine, in die Luft und Öl reingepumpt, aus der der Dreck rausgespült wird. Aber er wartet vergeblich. „Na, Herr Küster“, sagt das Mädchen nur, „machen Sie sich man keine Sorgen, das kriegen wir alles wieder in den Griff!“
Und jetzt, findet er, sieht auch ihr Gesicht ganz hellblau aus. Sie setzt ein richtiges feines, hellblaues Schwesternlächeln auf und sagt mit beschwichtigender Stimme, von der er sich vergeblich vorzustellen versucht, dass auch die hellblau klingen könnte: „Immer schön leicht durchatmen, Herr Küster.“
Es ist ein Glück, dass sie nicht mehr Opa sagt. Vielleicht liegt es daran, dass sie nun mit ihm allein ist in dem schwankenden Krankenwagenkasten und inzwischen seine Papiere gelesen und seinen Namen behalten hat. Opa ist was für die Öffentlichkeit; als er so jung war wie das Mädchen, hat er auch zu allen Vierzigjährigen Opa gesagt. Und er ist schon lange nicht mehr vierzig. Als er noch vierzig war - oha ... Wenn er da Anna nicht gehabt hätte, dann hätten sie ihn nicht allein einsperren dürfen mit solchem jungen Ding, mein lieber Scholli!
Warum hat das Mädchen bloß eine rote Strickjacke über dem blauen Kittel, so kalt ist es doch gar nicht. Im Gegenteil, er findet, dass es warm ist und immer wärmer wird. Er möchte etwas sagen in dieser zunehmenden Hitze, vielleicht nach einem Glas Wasser fragen, aber die Lippen sind ihm trocken, und es wird immer heißer, und mit einem Mal sind die hellblauen Augen über ihm, und oben an einem Gestell hantieren Hände; etwas klirrt, und der Wagen steht, und seine Trage schwankt nicht mehr in der ungeheuren Hitze. Irgendetwas Weiches, Kaltes wird auf sein Gesicht gepresst, direkt über den Mund, und er möchte sich aufbäumen und schreien, aber die strömende Kälte macht ihn ganz still.