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Gemeinsam ist diesen vier sehr verschiedenen Geschichten, dass es um die Liebe geht – wie sie kommt und wie sie abhandenkommt. Spannend erzählt Egon Richter von den Konflikten im menschlichen Leben und davon, wie viel man investieren muss, damit die Liebe bleibt. Und wie viel Platz die Liebe im Leben braucht, damit sie nicht kaputtgeht zwischen Alltag und Anstrengungen für die Gesellschaft. Ein unerhörtes Ereignis passiert, als jemand eine Baugrube für ein Einfamilienhaus ausheben will. Warum ist ein kleiner Junge dabei? Und warum denkt er, dass die Leute ausgerechnet diesem Jungen nicht glauben würden, wenn er Hilfe holen soll, weil jemand mit einem Bagger in einer Baugrube eine Bombe festhält, damit sie nicht explodiert. Und da ist noch die Sache mit Ostafrika. Der Regisseur, der vorgibt, soviel von der Liebe zu verstehen, scheitert an die Liebe einer Frau, die ihn wirklich geliebt hat. Sie hat es ernst gemeint, viel ernster als er. Und während er denkt, es sei alles in Ordnung, schreibt sie eilig ein paar Zeilen auf den Kopfbogen der offiziellen Hotel-Post … Immer wieder ist das Werk, das wichtiger ist als alles andere. Wichtiger als das Zusammensein mit seiner Frau und mit seinen Kindern. Weiß er eigentlich noch etwas von ihnen? Noch vierzehn Tage, dann soll Schluss sein mit dieser ständigen Überforderung – gegen alle Signale seines Körpers. Da kommt die Havarie. Dreizehn Flugstunden entfernt liegt das ferne Land, in dem er vieles nicht versteht und sich zugleich an manches in seiner Heimat erinnert fühlt. In dem fernen Land, das ihm sehr fremd vorkommt, trifft er auch eine schöne Unbekannte und wagt einiges, aber ob es Liebe ist? „Der Lügner und die Bombe“, das sind – wie schon im Untertitel angekündigt – vier untypische Liebesgeschichten für Männer und ein Plädoyer für das richtige Maß zwischen Arbeit, Leben und Liebe und für Ehrlichkeit gegenüber dem anderen. Worin besteht er, der Sinn unseres Lebens? Die Druckausgabe war 1979 beim Rostocker Hinstorff Verlag erschienen. INHALT: Der Lügner und die Bombe Die siebente Frau Vierzehn Tage vor Schluss Im Fernen Osten
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Seitenzahl: 263
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Egon Richter
Der Lügner und die Bombe
Vier untypische Liebesgeschichten für Männer
ISBN 978-3-86394-291-5 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1979 bei VEB Hinstorff Verlag, Rostock
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Wieso soll ich nicht Genosse sagen?
So was hab ich noch nicht erlebt. Das ist das erste Mal, dass einer sich dagegen verwahrt, wenn ich Genosse zu ihm sage. Ach, in Ihrer Funktion heißt das nicht Genosse. Und Angeschuldigte können nicht mit Ihnen auf einer Stufe stehen, das ist klar. Nein, bestimmt nicht, ich will Sie überhaupt nicht provozieren, kein Gedanke dran. Ich versteh das schon mit Ihrer Genossen-Regelung, ohne Flax. Bloß, das ist es eben: Was bin ich denn nun? Bin ich Angeschuldigter oder was? Oder wollen Sie sich einfach nur mit mir unterhalten? Was ich mir nicht vorstellen kann, ehrlich. Nein, ich war noch nie im Knast, wenn Sie das meinen. Bloß öffentliche Rüge und gerichtlichen Tadel und Schadenersatzsumme und so was, das hab ich hinter mir, aber im Knast? Nie! Eher hätt ich welche reingebracht, bloß aus unerfindlichen Gründen sind sie immer drumrum gekommen, nein, ich stoße keine Drohungen aus, ich weiß doch, wo ich hier bin. Also gut, sage ich Herr Staatsanwalt!
Nein, ich habe die Maschine nicht überprüft. Dafür bin ich gar nicht zuständig. Das ist Sache der Technikbrigade, die haben sich darum zu kümmern. Selbstverständlich wusste ich, dass das Ding defekt ist, ich meine, vor drei Wochen wusste ich das, und vor drei Wochen habe ich den Techniktruppen schon gesagt: Jungs, habe ich gesagt, bringt den Siebzehn-null-drei in Ordnung, da ist irgendwas mit dem Stabilisierungshebel, und ich dachte, die Sache wäre längst ausgestanden.
Also, wenn ich die Heinis in die Finger kriege... Ich stoße keine Drohungen aus, was Sie bloß von mir wollen! Außerdem habe ich noch nie im Leben leere Drohungen ausgestoßen. Damals dem Kerl im Ziegelwerk zum Beispiel hab ich nur ganz ruhig gesagt, dass er ein Müllkopf ist und hinter schwedische Gardinen gehört, und ich hab auch gesagt, er soll mich nicht anfassen, sonst dreh ich ihm die Ohren ab. Jawohl, das war der Fall mit meinem öffentlichen Tadel und dem Schmerzensgeld, Sie brauchen gar nicht erst in den Akten nachzugucken. Ich streite das ja nicht ab. Und ich steh auch dazu, ja, sicher, auch heute noch. Und ich sage Ihnen, ich würde das jeden Tag wieder machen und wenn Sie mich zwanzig Jahre dafür einlochen, aber so was hab ich noch nie leiden können. Erpresser hab ich noch nie leiden können. Natürlich war das Erpressung! Ganz klar! Also, Mann! Entschuldigung. Also, Herr Staatsanwalt: Ich komme morgens in die Ziegelei mit dem Hadreia, war überhaupt nur eingesprungen für Rolli, ich meine für Roland Schwarz, weil der wieder irgendeine Parteischote hatte - ist klar, Herr Staatsanwalt, war nicht so gemeint, schließlich bin ich ja selber Genosse, nicht wahr. Jedenfalls hatte Rolli, ich meine Herr Schwarz, wieder irgendeine Sekretariatssitzung oder so was, und unser Brigadier kommt in der Frühschicht angehechtet und fuchtelt mit den Armen und kaspert da rum, was nun werden soll, ohne Ziegel, und die Reichsbahn hat wieder mal keine ausreichenden Transportmittel, und wir müssen uns die Dinger selber aus dem Ziegelwerk holen, aber Rolli sitzt natürlich wieder auf irgendeiner Konferenz, und er wird noch verrückt hierbei und so weiter und so weiter. Ich sage Karl, sage ich, wo ist der Schein, ich fahre rüber und hole die Dinger. Wenn wir hier doch bloß rumsitzen und darauf warten, wie uns die Prämie durch die Lappen geht, dann kann ich auch rüber und die Steine holen, ob hier nun einer mehr rumgammelt oder nicht. Du, sagt der, du und Hadreia, der heilige Vater soll mir beistehen, zehn Hühner sind das mindeste, was du totfährst, und der Alte kriegt nachher die Anzeigen auf den Tisch. Junge, sage ich, mach dir nicht ins Hemd, ich hab bei der Fahne schon Brückenträger gefahren, da werde ich doch die Klapperkiste von Hadreia noch über die Straße kriegen... Keineswegs, Herr Staatsanwalt, ich schweife keineswegs ab.
Man muss nämlich wissen, dass ich zum ersten Mal in die Ziegelei gefahren bin, das ist wichtig, denn nur deshalb dachten die, sie könnten solchen Terror mit mir machen, ganz klar. Doch, doch, das gehört alles dazu.
Also, wenn Sie keine Zeit haben, dann müssen Sie das sagen. Hätten mich ja gar nicht vorzuladen brauchen. Noch bis zu dieser Minute weiß ich nicht, was das soll, ehrlich. Natürlich werden Sie das wissen, ist ja logisch. Aber ich wüsst es eben auch ganz gerne. Wegen der Maschine? Ach, bloß wegen der Maschine! Und da sitz ich hier rum und quatsche und denke, Sie interessieren sich für wer weiß was. Also, wegen der Maschine, hab ich schon gesagt, da wenden Sie sich am besten an die Technikbrigade, die sollte den Siebzehn-null-drei schon längst in Ordnung bringen. Warum ich... ? Ja, Mensch! Entschuldigung! Warum denn ich? Ich bin ja wirklich ein Mensch voller Gutmütigkeit, aber schließlich kann ich nicht anderen die Arbeit machen. Jajajaja, hab ich auch schon gesagt, dass ich gewusst habe, wie defekt das Ding ist, aber das war drei Wochen vorher, hab ich auch schon alles erklärt - fragen Sie doch nicht dauernd dasselbe! Und wer konnte schließlich ahnen, dass da 'ne Bombe liegt, ehrlich, auf so was wären Sie doch auch nicht gekommen. Ich hab das gemacht, weil Rolli, ich meine Roland Schwarz, weil der endlich zu seinem Eigenheim kommen musste. Ja, musste. Familiär. Gab Schwierigkeiten. Weiß ich nicht. Bei Leuten, die dauernd nicht da sind, gibt es immer Schwierigkeiten. Ganz logisch.
Rolli, ich meine Herr Schwarz, war mein Freund, deshalb. Also, Freund ist vielleicht der falsche Ausdruck, aber ich weiß keinen besseren. Irgendwann hat er mir mal imponiert. Ja, das ist schon undenkliche Zeiten her, mein Gott, da war noch was los! Was? Ach gar nichts, ist nur so eine Redensart, Herr Staatsanwalt, hat nichts zu sagen. Nein, er hat mir einfach imponiert, der Mensch, ohne Flax. Klar hatte ich den schon gesehen bei uns, tauchte als Superlehrling auf, Berufsausbildung mit Abitur, du hast ja ein Ziel vor den Augen und so, also: Zuerst gefiel der mir gar nicht. Natürlich kann ich das sagen, denken Sie, ich red da drum rum? Es gibt Leute, die denken, sie haben den Sozialismus ganz persönlich erfunden und Old Charlie, Entschuldigung, also Karl Marx hat sie von Wolke soundso aus höchstselbst beauftragt, ihn allen anderen dauernd klarzumachen, denn die andern sind ja bescheuert und haben keine Ahnung, oder sie sind die listig verkleideten Klassenfeinde, die laufend entlarvt werden müssen.
Keineswegs, Herr Staatsanwalt, ich will keineswegs etwas gegen Ihre Aufgaben sagen. Ich will bloß erklären, wie das mit Rolli war, ich meine mit Roland Schwarz und mir, weil Rolli, ehrlich, das war nämlich so einer. Und gläubig, ist ja klar. Ach, doch nicht christlich, um Gottes willen! Gläubig! An alles, was von oben kam oder in der Zeitung stand, glaubte der unbesehen, Wenn der schon gewirkt hätte zur Zeit der Rinderoffenställe, der hätte sie mit Begeisterung aufgebaut und mit der gleichen Begeisterung wieder abgerissen, ohne Flax. So einer war das. Dem konnte man alles zumuten, mit dem ließ sich was machen. Alles für das Vaterland! So einer war das.
Aber ich hab ihn gemocht! Der hatte was, das haute einen glatt um. Ich weiß nicht, ist verdammt schwer zu erklären. Damals waren wir dabei, die Fundamente für die große Sporthalle zu schütten, na, die Schalung war wohl fünfundsiebzig breit, würde ich sagen, und halb voll Beton war sie schon, und wir waren so richtig kräftig am Zug und hatten schon fünf Stunden Planvorsprung, und hinter der Hausecke lachte schon die Schichtprämie, und Rolli immer vornedran. So was hatte er drauf, das war das Gute an ihm, das gehörte eben zu seinem Sozialismus.
Jedenfalls kommt doch solche Truppe von Anlernlingen vorbei, echte Stifte, zwei Packungen SALEM pro Tag, Viererabschluss aus der siebenten Klasse und einen Jargon wie Knastologen, stellen sich an die Schalung und quatschen dämlich, und einer von denen verliert doch dabei einen Karton mit Dusch-Armaturen, wissen Sie, für Dusche und Waschbecken und Bad, Mischbatterien, denn damals mussten wir die Bäder noch einbauen, Stück für Stück. Der Karton fällt in die Schüttung, die Stifte gucken wie die Blöden, und dazu brauchten die sich nicht anzustrengen, ehrlich, und unser Brigadier kriegt einen Blick wie ein säugendes Kalb, Tatsache. Also, die Stifte hauen ab, viel schneller als sie gekommen sind. Und wir stehen da mit dem Salat. Fünf Armaturen für die Körperpflege, und hinter der Ecke steht unsre Schichtprämie und hält die Luft an.
Los, sagt der Brigadier, weiter! Und der Kran mit der nächsten Schüttung schwenkt auf die Schalung ein, da ruft doch dieser Roland Schwarz: Halt mal, halt, das könnt ihr doch nicht machen, und wir denken, uns laust der Affe. Ich sage: Spinnst du, sage ich zu Rolli, wollen wir vielleicht die Sporthalle sausen lassen wegen solcher blöden Mischbatterien? Aber der hört gar nicht, der rennt zum Meister und gestikuliert da rum, und wir sehen, wie der Meister den Kran mit der Schüttung stoppt und sich am Kopf kratzt und uns ranwinkt, und wie wir hingehen und sind schon mächtig sauer wegen der unterbrochenen Arbeit und der Schichtprämie, die sich mit jeder Minute weiter entfernt, da sagt doch der Meister: Hört mal, sagt der, der Roland Schwarz will absteigen in die Schalung und die Mischbatterien da wieder rausholen, ich meine, den Karton. Der Brigadier dreht sich um zu Rolli und guckt den an wie ein Marswesen, und dann guckt er den Meister an und sagt: Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein. Und Rolli sagt ganz ruhig: Man kann die doch nicht einfach mit einschütten. Joseph, schreit unser Brigadier, Joseph, gib ein Zeichen! Und wir stehen rum und wissen, dieser dämliche Schwarz mit seinem Fimmel, der bringt uns um die Prämie, und ich bin sicher, die meisten hatten eine Wut auf den, die hätten ihn am liebsten den Mischbatterien hinterher geschmissen. So war das, garantiert.
Irgendwie imponierte mir das, ich meine, dass der Rolli so standhaft war, das hat mir gefallen. Es ist mir ein Rätsel, wie das kam, auf einmal sagte ich: Wir können ihn ja am Seil runterlassen, drei Mann würden reichen. Unser Brigadier sagte: Spinnst du, brauchst du einen Krankenschein, musst du zur Erholung auf die Krim, oder was fehlt dir? Ich sagte: Mir fehlen bloß die fünf Armaturen. Und ich habe heute noch keine Ahnung, wie mir ausgerechnet diese Worte in den Mund gekommen sind. Denn um solchen Kleinkram scherte sich bei uns normalerweise kein Schwein, davon vergammelte manchmal die Hälfte in irgendwelchen undichten Lagerschuppen, Tatsache, stimmt, brauchen Sie nicht zu glauben, Herr Staatsanwalt. Wo?
Lieber Herr Staatsanwalt, bin ich Jesus? Setzen Sie sich in Ihren Wolga und fahren Sie die Baustellen ab, ich hab das nur so allgemein gesagt.
Jedenfalls... Natürlich kann ich das nicht leiden, denken Sie, mir wären damals sonst ausgerechnet solche Worte eingefallen?
Jedenfalls ist alles starr vor Staunen, ehrlich. Und da sagt doch dieser Rolli auch noch: Man muss an unsere Kumpel denken, die solche Armaturen gebaut haben... Aber weiter kam er nicht. So was kann kein Mensch aushalten. Und der Brigadier schrie: Macht doch, was ihr wollt, ihr Kümmeltürken, aber keiner kommt mir nachher und beschwert sich wegen der Prämie, und ich glaube, ich meine, heute glaube ich, wegen dieser Geschichte hat er Rolli weggelobt. Da bin ich ganz sicher.
Also mit drei Mann bleiben wir bei Rolli stehen, und der Meister kratzt sich wieder am Kopf, und ich sage zu Rolli: Nun mal ehrlich, sollen wir dich tatsächlich da runterlassen? Aber Rolli guckt bloß wie der Mann von der Aktuellen Kamera, wenn er Parteitagsbeschlüsse vorliest, und also sagt keiner mehr was, und wir gehen rüber zur Schalung und binden Rolli 'n paar Seile um den Bauch und lassen ihn in die Schalung runter, damit er diese beschissenen Mischbatterien wieder rausfischen kann, und der Betonkran steht, und der Mischer steht, und die Leute stehn rum, bloß unsere Prämie, die steht nirgends mehr, die hat sich längst verzogen. Schließlich kommt Rolli puterrot wieder nach oben, die richtige Farbe für diesen Augenblick, und überreicht dem Meister den Karton mit den Mischbatterien, so als ob er eben den Sozialismus gerettet hat, und ich nehme mir vor, die verfluchten Stifte mit dem Arsch.... Entschuldigung! Also, das gehört nicht hierher.
Nein, ich bin nicht gewalttätig, wie kommen Sie denn darauf, Herr Staatsanwalt?
Ich meine: Dass der Rolli das so selbstlos gemacht hat - also von da an hatte ich was übrig für den, ohne Flax. Und manchmal habe ich ihm sogar bei seinem ganzen FDJ-Zirkus geholfen, obwohl das keinen Fatz einbrachte, höchstens Fähnchen und Wimpel und Zeitungsberichte, die unser Brigadier immer ganz allerliebst nannte und über die sich alles kringelte, bis auf Rolli. Na ja, das war einmal. Ich wollte nur sagen: Irgendwas war an dem komischen Menschen, was mich festhielt - ist blöd ausgedrückt, bloß anders kann man es wirklich nicht sagen. Nicht dass wir unzertrennlich waren, aber wir kamen ganz gut miteinander aus, und in bester Form war Rolli auch nicht immer.
Irgendwann sind wir mal in solchem Beatschuppen gelandet - nein, das ist keine Abschweifung, Herr Staatsanwalt, das gehört einfach dazu. Sie verstehen das sonst nicht, das mit Rolli und mir, und auch mit der Maschine und der Bombe - das gehört alles zusammen, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll. Ach, doch nicht wegen meiner Verantwortung für den Siebzehn-null-drei. Das hat doch mit meiner Verantwortung nichts zu tun, den hätten die Techniktruppen längst in Ordnung haben müssen, das kann doch keiner wissen, was hinterher herauskommt!
Ja, ein richtiger Beatschuppen. Na ja, nicht so vornehm, verstehen Sie, preiswert, und mit richtigem guten Bier. Rolli kam natürlich gerade wieder von solcher FDJ-Schaffe über ideologische Probleme und so, eifrig und im Blauhemd und mit zukunftsweisendem Blick, und es war klar, dass wir nicht mal einen ordentlichen Witz machen konnten, ohne dass Rolli mit den neuesten Argumenten darauf eingestiegen wäre. Also, wir sitzen ein bisschen blöd da, quatschen von der Band und von der Arbeit, was ich schon überhaupt nicht ausstehen kann, und ich gucke mich um nach ein paar scharfen Miezen, aber das richtige scheint nicht da zu sein. Wir quatschen noch ein bisschen rum und wollen gerade abhauen, da fängt drüben hinter der Band irgendein Streit an. Paar Typen grapschen an einem Mädchen rum, so einer kleinen Zierlichen, und die wollte sich wohl nicht recht in die Bluse fassen lassen, so was gibt's ja. Und bei den Typen... Das war so ein Haufen, ja, wie soll man sagen, die echte Elite der Nation, vorne besabbertes Hosenlätzchen und hinten Jimmy-Hendrix-Etikett, in der Masse die absoluten Kings.
Also, Rolli rüber zu denen, bevor das einer verhindern konnte, und wahrscheinlich aus Mitleid mit der Kleinen. Jedenfalls sagt der doch tatsächlich Jugendfreunde zu denen, Jugendfreunde, sagt der - und weiter kommt er natürlich nicht, weil die sich halb krumm brüllen, und einer greift ihm auch gleich an die FDJ-Montur. So was kann ich nicht leiden, egal ob das Rolli ist oder nicht, aber so was kann ich nicht leiden!
Ich also auch rüber und hinter Rolli. Da sagt einer von den Typen gerade: Was ist denn dein sozialistisches Begehr, mein Kleiner? Und da fängt es bei mir schon an zu kochen. Herrgott nein, ich bin nicht gewalttätig, wie oft soll ich denn das noch sagen; wenn Sie mir nicht glauben, können wir unsere ganze Unterhaltung sowieso einstellen!
Nein, ich habe nichts gemacht, überhaupt nichts, und wenn, Herr Staatsanwalt, wenn - dann wäre es längst verjährt. Und berechtigt wäre es auch gewesen. Aber - nichts. Ich war ganz ruhig, Tatsache. Na, klar hat es gekocht, das bestreite ich gar nicht, aber geblubbert hat es noch nicht und Rolli war auch ganz ruhig. Der sagt jedenfalls, ohne auf die Halbseidenen zu achten und einfach über die Köpfe von denen weg, zu dem Mädchen, das sie da eingekeilt haben: Darf ich Sie zum Tanz bitten?
Mensch! Ich denke, die fallen um! So ein Gejohle. Schau mal, die Blaupinne will Hopserchen machen, wie niedlich, und ich denke: Gleich reiß ich ihnen die Perlmuttknöpfe von ihren Rohlederwestchen, aber erst mal sehen, was Rolli macht.
Rolli reagiert gar nicht auf das Gejohle. Der versucht sich zu dem Mädchen durchzudrängen, und ich immer hinter ihm, und dabei sagt er einfach: Lasst mich bitte durch. Richtig normal sagt er das, völlig ungeeignet für die Knaben. Glauben Sie mir, das fand ich einfach umwerfend, Herr Staatsanwalt, so was fand ich unmöglich, wie man so naiv sein kann, ehrlich! Rolli lässt sich natürlich durch nichts stören, drängelt sich einfach auf das Mädchen zu. Na, da werden die rabiat, fangen an, an seiner Kleidung rumzuzerren und dann Sachen loszulassen wie 'Verpiss dich auf den Soli-Ball' und 'Lass unsere Weiber in Ruhe', in dem Stil, und einer greift ihm auch ans Kinn.
Aber Rolli immer unbeirrt und höflich und auf die Einsicht und den Anstand der sozialistischen Menschengemeinschaft vertrauend. Ich fand das Klasse, ohne Flax, wie der gar nicht auf die einstieg. Da war was dran, muss ich sagen.
Aber wie der eine ausholt und ihm ans Kinn greift: da kann ich nicht mehr zugucken, das werden Sie verstehen, Herr Staatsanwalt. Ich also drei Schritte vor, weil ich sehe, für so was ist Rolli nicht in Form, wird er vielleicht nie sein, und ich sage ebenfalls Jugendfreund, sage ich, geh doch mal bitte aus dem Weg, ja, und gleichzeitig streich ich dem Chef leicht über die Schulter, nach oben hin, wissen Sie, ich kann nämlich wirklich Ohren abdrehen, Herr Staatsanwalt, nicht ganz, selbstverständlich, bloß soweit, dass der andere sich tief verbeugt vor mir, verstehen Sie, und das macht der King denn auch mit einem Bückling, und in dem ganzen Gewühl bin ich wohl auch zufällig noch mit meinen Füßen auf seine Zehen zu stehen gekommen, jedenfalls waren die Burschen plötzlich weg, und Rolli stand vor dem Mädchen.
So fing das an mit Irene. Also wenn ich mir vorstelle, dass Irene angeblich 'Der Frieden' heißen soll, wie Rolli mir mal gesagt hat, bei der Hochzeit, in derselben Kneipe, und als er zum ersten Mal in seinem Leben einen Zacken weg hatte, wenn ich mir das vorstelle und an den Anfang denke, da muss ich passen. Ich? Nein, nein. Ich hab gar nichts mit dem Mädchen gehabt, wieso denn? Wie kommen Sie denn darauf? Das gehört überhaupt nicht hierher! Ich finde, Herr Staatsanwalt, ich finde, jetzt schweifen Sie erheblich ab!
Ich wollte nur erklären, wie unser Verhältnis zustande gekommen ist, das zwischen Rolli und mir, warum ich was für ihn übrig hatte damals und warum ich für ihn eingesprungen bin bei dem Ziegeltransport vor Jahren und warum ich die Grube für sein Haus ausheben wollte, vorgestern, mit dieser Scheißmaschine, Entschuldigung, die kaputt war, und weswegen ich hier sitze. Wobei ich immer noch nicht weiß, warum, ehrlich, denn ich hab noch nie was verbrochen, was mich auch nur in die Nähe von Knast gebracht hätte, garantiert nicht. Damals? Mensch, das war doch was ganz anderes, da hätte der in den Knast gehört und nicht ich, selbst die Rüge war zuviel und das Schmerzensgeld. Noch heute bereue ich, dass ich das so hingenommen habe!
Aber damals hab ich mich tatsächlich mal von Rolli überzeugen lassen, hinterher, meine ich, und bestimmt nicht vollständig. Vollständig hat der mich nie überzeugt mit seiner kindlichen Gläubigkeit. Wie ich das meine? Für den, glaub ich, war die Partei immer so was wie die Kirche und die Weltanschauung etwas wie die zehn Gebote. Natürlich war er mein Freund! Das heißt: Freund? Weiß ich gar nicht genau, aber er war eben da und gehörte dazu und vor allem war er ja kein schlechter Mensch. Im Gegenteil!
Wieso war? Ja, warum sage ich war? Na, ich meine: Vielleicht hat er sich geändert inzwischen, oder ich hab mich geändert oder alles andere. Wissen Sie, das ist nicht so einfach. War, war - das hat gar nichts zu sagen. Das ist einfach nur ein Abstandswort, durch das man eben mehr Distanz kriegt, glaube ich, und es kann doch auch tatsächlich vieles sich geändert haben in uns und um uns, ich meine persönlich, das ist doch klar.
Wie kommen Sie denn bloß dauernd auf Irene? Ich wollte sagen: Die Sache damals, mit meiner Rüge, nur damit Sie das verstehen, die war nämlich so. Nein, ich schweife nicht ab, Herr Staatsanwalt, im Gegenteil, ich komme dem Ganzen näher, falls es nicht wirklich bloß um die dämliche Maschine geht. Übrigens wollte ich Sie schon immerzu fragen: Ist denn die Bombe schon entschärft?
Gut. Also mit dem Ziegeltransport damals und mit der Rüge - man kann das gar nicht so einfach erklären.
Ja, sicher, wenn Sie mir das anbieten, natürlich nehm ich einen Tee. Zigarette auch, klar, nehm ich was zu rauchen. Ja, danke. Also, wenn Sie meinen, fühl ich mich nicht als schuldig. Schuldig, schuldig - das ist überhaupt so ein Problem: Wer ist bei uns schon schuld an was? Bei uns kann sich jeder rausreden - bei uns ist alles so prima geregelt, dass jeder von sich sagen kann, er habe immer nur das Beste gewollt.
Manchmal frag ich mich wirklich, ob Rolli, ich meine Roland Schwarz, ob der tatsächlich so ganz allein schuld ist daran, dass sie seinen Jungen Lügner und Spinner genannt haben, wissen Sie. Ob da nicht irgendein hohes Tier mal zu dem guten Rolli hätte sagen müssen: Also, hör mal, jetzt ist aber Feierabend. Aber nein, kein Stück, die waren ja immer froh, dass sie so einen Knallkopp hatten, so ein ideales Paradepferd für alle Lebenslagen, und ich hab da wohl auch nicht den richtigen Ton gefunden. Das kann sein. Wahrscheinlich hab ich überhaupt selten den richtigen Ton gefunden, das ist möglich. Aber der Mensch kann nicht aus seiner Haut, das ist klar. Nein, Herr Staatsanwalt, da bin ich schwer dagegen: Das hat gar nichts mit Uneinsichtigkeit zu tun. Ich streu mir doch keine Asche aufs Haupt, wenn ich's gar nicht nötig habe! Das wäre ja vielleicht ein Ding, wäre das! Wo kommen wir denn da hin?
Auch bei der Rüge damals hätte ich so was nicht nötig gehabt. Die Schose war nämlich einwandfrei nicht meine Schuld, ganz im Gegenteil. Also der Brigadier gibt mir den Hadreia und den Lieferschein, und ich los mit Karacho und kein Huhn totgefahren, immer ruhig, hinten mit Hänger dran, ich bin doch nicht bekloppt. Hab ich schon gesagt, dass ich zum ersten Mal in diese Ziegelei fuhr und die Fans da noch gar nicht kannte? Gut, alles klar.
War so eine kleine Klitsche, wahrscheinlich haben sie die schon zugemacht, ist mir auch schnuppe - wir arbeiten sowieso bloß noch mit Platten und Fertigteilen. Heute, meine ich. Aber damals, na ja, das waren noch andere Zeiten, ein Stein - ein Kalk - ein Bier - ein Korn.
Also, ich komm da rauf, und gleich hinter dem Tor steht der Platzwart oder Platzmeister oder wie das bei denen heißt, jedenfalls so ein kleiner Knubbliger, der aussieht wie Rumpelstilzchen, bevor er sich das Bein ausreißt. Ich glaub, der hat chronischen Ischias gehabt, oder nervöses Magenzucken, irgendsowas jedenfalls, solche Leute haben was Tyrannisches an sich, und ewig sind sie wütend. So einer war das. Ich ganz friedlich. Ich sage Guten Morgen zu ihm, ich gebe ihm den Lieferschein, das heißt, ich geb ihm den Gott sei Dank nicht, ich halt ihm den bloß unter die Nase, so dass er alles lesen kann, und der wackelt mit seinem Kopf und guckt mich an, von oben bis unten, und sagt: Du bist wohl das erste Mal hier, was? Stimmt, sage ich und ahne nichts Böses, was ist denn nun mit den Steinen? Setz dich in deine Hütte, sagt der, und fahr mir nach, ich weis' dich ein. Also ich zuckel hinter dem her. Und was glauben Sie, wo wir landen, Herr Staatsanwalt, na, was glauben Sie? Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Vor einem von ihren Brennöfen landen wir, und den machen sie gerade auf und ziehen die 20 Paletten mit den frischgebrannten Steinen raus. Und da winkt der Wurzelzwerg, ich halte an, gucke ihn an, und der zeigt grinsend auf die Paletten und sagt: Bitte, mein Freund, das ist genau deine Hängerladung, die kannst du dir raufschmeißen. Ich denke immer noch nichts Böses, garantiert, ich denke immer noch, das ist ein Spaßvogel. Prima, sage ich, großartige Idee, aber ich hab wirklich keine Zeit. Also, sag ich, wo sind die Steine? Da, sagt der und zeigt auf die Paletten. Langsam wird mir das komisch. Ich sage: Hör mal, hast du noch mehr solche lustigen Morgenstreiche auf Lager? Aber der grinst bloß und sagt: Du brauchst die Steine nicht zu nehmen, das ist dir ganz allein überlassen. Pass auf, sage ich, wir wollen mal diesen Quatsch lassen, bei mir sitzen siebenundfünfzig Leute rum und kommen nicht vorwärts, und ich brauch jetzt Steine und keine Backofenplatten, und du sollst nichts weiter tun als mir sagen, wo die Steine sind, klar?
Der macht nichts, verstehn Sie, nichts macht der, nickt zu den Paletten rüber und sagt: Da! Und dann sagt er noch: Und kalte haben wir nicht, nur frischgebrannte. Musst du eben paar Stündchen warten, nicht. Aber ich erinnere mich, dass ich hinten, am Rand vom Werkhof ganze Drahtcontainer voller Ziegel gesehen habe, ich weiß bloß nicht mehr, ob es links oder rechts hinter den Baracken war. Und dieser Knilch sagt, er hat keine kalten Steine. Also sag ich: Red mir nichts vor, irgendwo habt ihr hier Steine, und du wirst mir jetzt ganz schnell sagen, wo! Dabei leg ich ihm nur ein bisschen die Hand auf die Schulter - nein, natürlich wollte ich ihm kein Ohr abdrehen, wie kommen Sie denn darauf?
Jedenfalls faucht der gleich los: Hände weg und rühr mich nicht an! Also nehm ich die Hand wieder runter, und der sagt und schult so von unten hoch: Also, irgendwo müssen noch welche sein, sehr wenig, aber ich müsste erst mal nachdenken, wo die liegen könnten. Jetzt ahne ich, was der will, ich bin ja auch nicht von gestern und weiß ja, wie so was gemacht wird. Aha, sage ich, und wie viel kostet das Nachdenken? Prompt sagt der: Ein Pfund, wenn mir was einfallen soll.
Mensch! So was ist mir noch nicht passiert, Tatsache. Bei so was werd ich immer ganz leise. Ich sage: Hör zu, du Müllkopf, du redest hier mit der Arbeiterklasse, du redest hier nicht mit Weekend-Bauern, das ist der Unterschied. Dann schwing ich mich in meine Hütte und brause los, so dass der Kerl zur Seite springen muss. Ich rum um die Baracken mit einem Affenzahn und weiß immer noch nicht, wo die verdammten Steine liegen, links oder rechts, und kurve wie ein Blöder über den Hof. Da seh ich die Container und einen Gabelstapler, der sie sinnlos hin und her bewegt, und ich rüber zu dem, mein Papier raus, Motor hab ich gar nicht erst abgestellt. Los, sag ich, hier ist der Schein, bei deinem Platzboss war ich schon, rauf mit den Dingern. Okay, okay, sagt der, und ich hab mir gedacht, vielleicht geben sie dem nichts ab von ihren Pfunden, die sie den Leuten aus der Tasche ziehen, und dem ist alles scheißegal. Der nimmt meinen Schein und schiebt mir die Container auf den Wagen, einen nach dem andern, und indessen kommt der Rumpelstilz von der andern Seite her an den Baracken vorbei über den Platz gelaufen und gestikuliert und schreit sicher auch, aber wir können natürlich nichts verstehen, weil ich den Hadreia nicht abgestellt habe, und bevor der Zwerg ran ist, sind wir fertig, und ich steige ein und fahre los, durch den verfluchten Modder und Splittschutt, der auf solchem Werkhof rumliegt, und dabei springt der Kerl mir doch auf das Trittbrett, klammert sich am Außenspiegel fest und haut mit der Faust gegen die Scheibe, und ich lach bloß. Der quakt da rum, ich versteh kein Wort in dem Lärm, aber ich kann ihn ja schließlich nicht mitnehmen, und vielleicht kommt der noch auf die Idee und versucht sich am Türgriff festzuhalten, und dann rauscht er natürlich ab, denn ganz intakt ist das Schloss nicht mehr bei unserm alten Kasten.
Jedenfalls denk ich, es ist besser, ich halt an, und ich muss ihm ja auch noch paar Takte sagen. Kurz vor der Ausfahrt, bei den Brennöfen, wo die kochenden Ziegel noch in den Paletten stehen, steig ich vom Bock, und der Rumpelstilz steht vor mir und kann gar nicht schreien vor Wut, ganz grün ist der im Gesicht, und ich kann mich nicht halten vor Lachen. Endlich findet der die Sprache wieder. Du, krächzt der, du kommst nicht weit, dir hetz ich die Polente auf die Fersen, los, runter mit den Steinen, du Strolch.
Würden Sie sich so was sagen lassen, Herr Staatsanwalt, ehrlich? Na bitte. Ich kann nämlich genau unterscheiden zwischen Spaß und Ernst.
Hör mal, sag ich, wenn hier einer die Polente nötig hat, dann bist du das, damit wir uns recht verstehen, und die Steine bleiben drauf, den Lieferschein hat dein Kumpel. Der hört gar nicht zu, der schreit weiter. Runter mit den Steinen, sagt der, oder du bist geliefert.
Na, so was geht ja nicht, wie? Ich werde ein bisschen lauter. Hast wohl die Pfunde vergessen, die du von mir haben wolltest, wie oft hast du so was schon gemacht, was, soll ich dir die Ohren abdrehen? Du, wenn hier einer hinter schwedische Gardinen gehört, dann bist du das, du Müllkopf! Da kommt der auf mich zu, greift mir ans Jackett, brüllt los: Dieb, Volksschädling - was weiß ich alles.
So was mag ich nicht, wenn mich einer angrapscht, Herr Staatsanwalt, so was kann ich auf den Tod nicht leiden.
Ich gebe dem einen Schubs, spring in meinen Wagen und hau ab. Warum? Ja, warum sollte ich denn mit diesem wildgewordenen Halbpförtner noch weiter diskutieren? Bei dem Mist hatte ich schon zwei Stunden verloren, und die Kumpels saßen rum und konnten keinen Handschlag machen! Ich hatte wirklich nicht gesehen, was passiert war. Ich wollte den nur vom Wagen weg haben, damit der mir nicht noch vor die Räder läuft, und er sollte mich nicht anfassen. Mann, das hat doch nichts mit Gewalttätigkeit zu tun! Das war doch einfach - Notwehr war das, weiter gar nichts. An die Paletten hab ich doch gar nicht gedacht in dem Moment! Denken Sie vielleicht in allen Momenten an alles?
Also, ich komm zur Baustelle und freu mich, dass ich den Zug voller Steine habe, da stehn die Kumpels da wie Pik sieben, und der Meister fehlt und der Brigadier fehlt und Rolli fehlt natürlich auch, und bevor die anfangen abzuladen, sagt der eine: Mensch, sagt der, du hast ja vielleicht ein Ding gedreht, geh man rein, die warten schon auf dich. Aber keiner redet, die laden die Steine ab, und ich also rein in unsere Bude. Da sitzt Rolli doch Tatsache hinter seinem Parteischreibtisch unter den Dreierköpfen, die er sich da angepinnt hat, und der Wandzeitung mit den strahlenden Bauarbeitergesichtern aus Dresden-Neustadt und den vielen kleinen roten Sternchen, die er an die Leistungstabelle heftet, sitzt da und macht ein Gesicht wie Feliks Dzierzynski und Alfred Hitchcock zusammen, und der Brigadier guckt aus dem Fenster und pafft, und der Meister hockt in der Ecke mit einem Hab-ich-alles-gewusst-Blick, und da steh ich und guck die an. Weil keiner was sagt, nehm ich mir einen von Rollis Glimmstengeln.
Da steht Rolli auf wie Fürst Igor, mit so einem Blick, von dem er glaubt, dass der ganz durchdringend ist, und sagt: Genosse Zallmer, sagt der, ich als Parteigruppenorganisator frage dich, wie du dein Verhalten im Ziegelwerk zu erklären gedenkst. Junge, Junge, brummt der Brigadier und pustet gegen die Scheibe, schmeißt den gegen die heißen Paletten! Moment mal, Moment, sage ich, kann mir vielleicht einer sagen, worum es hier geht?
Wissen Sie, Herr Staatsanwalt, ich wollte noch weitersprechen, ich wollte ihnen erklären, wie ich zu den Steinen gekommen war, die meine Kumpels draußen schon vermauerten nach drei Stunden Produktionsstillstand, aber die hörten gar nicht zu. Und am schlimmsten war Rolli, er war so richtig in sozialistischer Fahrt, Entschuldigung, aber das ist so ein Ausdruck, sagt man einfach so. Hat nichts zu bedeuten.
Also, der Meister, der murmelte was von Rowdytum, und der Brigadier pustete gegen die Fensterscheibe und nuschelte was von Verbrennungen, und ich verstand kein Wort, bis Rolli mit unbeteiligter Rundfunkstimme eine seiner großen Formulierungen losließ. Die weiß ich noch heute, so was vergisst man nicht.
Ein Genosse, sagt der, der andere Werktätige schlägt, der sie absichtlich gegen glühende Steine schleudert, so dass sie sich Verbrennungen zuziehen, und der dann fluchtartig das Gelände eines Fremdbetriebes verlässt, ist es nicht wert, die Ehrenbezeichnung Genosse zu tragen. Sagt der.
Das müssen Sie sich mal vorstellen, Herr Staatsanwalt!
Also, selbst der Brigadier hörte auf zu paffen und sagte: Roland, ich glaube, bei dir stimmt's nicht. Und der Meister sagte keinen Ton, wie gewöhnlich. Ich sage: Spinnt ihr hier alle, oder was ist?
Na ja, sie haben's mir dann alle drei zugleich erklärt, dass ich den Rumpelstilz gegen die Paletten mit den heißen Steinen gefeuert hätte und der hätte sich Verbrennungen zugezogen und das nur, weil ich ihm die Steine illegal weggenommen hätte und er ganz friedlich nach dem Lieferschein gefragt hätte, und das alles wüssten sie von der BGL und Direktion und Parteileitung der Ziegelei, die schon angerufen hätte, und das würde noch ein gewaltiges Nachspiel haben, das sei ja wohl sicher.
Ich sage: Leute, dieser Gauner hat mich erpresst, der wollte mir die Moneten aus der Tasche ziehen, nur damit ich kalte Steine kriege, der ist ein Erpresser, ein großer Strolch ist das, und so was nehmt ihr in Schutz, und kein Mensch hat den mit Absicht gegen die Paletten geschmissen, so was fällt doch keinem ein, Mann!