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In Geschichten und Berichten, in Wort und Bild beschreibt dieses Buch Leben und Treiben auf dem „siebenten Kontinent“. Es erzählt vom sagenumwobenen Mangaseja und vom Ursprungsland der Indianer, von einem Pelzkaufmann, der Amerika erobern, und einem Reporter, der keinen rohen Fisch essen wollte, von einem Kaiser, der Alaska verkaufte, und einem Mann, der eine diamanthaltige Friedenspfeife rauchte, von einem Schriftsteller, der eine Eisenbahn baute und nebenbei eine Millionenstadt gründete, von dem ältesten See der Welt und dem Wunderkraut Tshen-tshen. Das Buch berichtet über einen Professor, der die Stadt seiner Vorfahren versinken ließ, und über den Kosakenhetman, der ein Tatarenreich eroberte, sowie über einen Schamanen, der sein Kostüm verschenkte. Es schildert die dramatische Rettung von Schiffbrüchigen und den Zustand eines Marineoffiziers, der eine vergessene Flussmündung wiederfand sowie die Reise in einem Flugzeug, in dem ein Schaukelpferd reitet. Von Pferdehirten, Goldgräbern und Diamantenschürfern ist die Rede, von Eiswüsten, in denen Tomaten wachsen und Milch in Kiloblöcken verkauft wird, von einem Fernsehturm, der aus einem alten Kran besteht, von Männern, die niemals Glatzen bekommen, und von einer Stadt, in der Computer Erdölfelder „errechnen“. Berichtet wird von einem See, in dem man Fische zwischen Lärchenwipfeln fängt, und von einem voreiszeitlichen Urwald, in dem Tiger und Wölfe hausen und Bären aus den Bäumen springen. Ein Mann und eine Frau bereisen das Land zwischen Großem Fels und Stillem Ozean, kriechen ins Ewige Eis und fliegen über glühende Steppen, durchstreifen enge Straßen in alten Siedlungen und wandeln auf den breiten Boulevards neuer Großstädte. Sie lernen Unbekanntes kennen und scheinbar Unverständliches verstehen - überall treffen sie Menschen, die im Kampf mit den Unbilden der Natur einen Erdteil mit unermesslichen Reichtümern erschließen und die das einst unwirtliche Gebiet in ein Land unbegrenzter Möglichkeiten verwandeln.
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Seitenzahl: 239
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Egon Richter
Sehnsucht nach Sonne
Geschichten vom Großen Fels bis zum Stillen Ozean
ISBN 978-3-95655-813-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1977 im Hinstorff Verlag Rostock.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2017 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Ich danke Sofja Lwowna Friedland für ihre umfangreiche Hilfeleistung als Dolmetscherin und landeskundliche Beraterin.
E. R.
Die Stunden verrinnen. Ljuba hat es aufgegeben, sich nach dem Abflugtermin zu erkundigen. Die kornblumenblau gekleideten Aeroflot-Damenverweisen achselzuckend auf den Lautsprecher. Der Lautsprecher schweigt. Draußen rauscht der Regen. Von den hohen Glaswänden laufen Wasserbäche. Aufgeregte Franzosen warten auf eine Nonstopmaschine nach Chabarowsk, eine Arbeiterfamilie aus Kiew mit Kisten, Kästen, Koffern und „Seesäcken“ zieht um nach Bratsk, ein lauter Schwarm amerikanischer Touristen reist nach Irkutsk. VISIT SIBERIA!
Domodedowo, Moskaus jüngster, modernster und schönster Flughafen, ist Europas Tor gen Osten.
Ljuba fügt dem variationsreichen sibirischen Leitspruch HUNDERT KILOMETER SIND KEINE ENTFERNUNG - HUNDERT RUBEL SIND KEIN GELD - HUNDERT GRAMM SIND KEIN SCHNAPS nun noch die Bemerkung hinzu: „Hundert Stunden scheinen auch keine Zeit zu sein!“
Zehn Tage lang haben Ljuba und ich uns auf diese Reise vorbereitet, hat das lockende, abenteuerverdächtige Sibirien all unsere Gedanken in Anspruch genommen. Unermüdlich hat Ljuba Aussprachen und Interviews organisiert: Schriftsteller, Journalisten, Rundfunkleute, Aeroflotdirektoren und Geologen, Kohlespezialisten, Erdölfachleute, Verkehrsexperten und Meteorologen waren unsere Partner. Taschen und Mappen haben sich mit Prospekten und Tabellen, Monografien und Statistiken, unsere Notizbücher mit Merksätzen, Hinweisen, Exzerpten und Interview-Niederschriften gefüllt. Gestern Abend, als Ljuba die Flugkarten besorgt hatte, sank sie erschöpft in einen bunten Hotelsessel des „Rossija“ und erklärte: „Ich glaube, wir brauchen nicht mehr nach Sibirien zu fliegen. Wir wissen schon alles!“
Ljuba kenne ich seit Jahren. Stets hat sie solche „abschließenden Bemerkungen“ parat. Klein und kugelrund, erweckt sie in ihrer emsigen Betriebsamkeit den Eindruck quirliger Nervosität. Dabei steckt die vierzigjährige Moskauer Literaturwissenschaftlerin voll Hilfsbereitschaft und liebenswerter Fürsorglichkeit, weit über das für diensteifrige Reisebegleiterinnen übliche Maß hinaus. Ohne Ljuba wäre ich aufgeschmissen!
Unter ihrem schwarzen Wuschelhaar steckt ein Kopf voller Geschichten.
Neulich, als wir in Museen und Archiven einen trocken-historischen Studientag hinter uns gebracht hatten, versuchte sie mich mit folgender Legende auf Sibirien „einzustimmen“: „Weißt du - wir überlegen alles noch einmal. Bestimmt kennst du noch nicht den Angestellten des alten Nowgoroder Kaufherrn Gjurata, der schon vor neunhundert Jahren hinter den Ural wanderte, wo das Pelzland Mangaseja lag und wo die Jugrer wohnten. Na, du kennst ihn nicht, bitte sehr. Dabei will er dort das ‚allerkälteste Meer' gefunden haben und ganz verabscheuungswürdige Leute, die ‚Aas und Leichen verzehrten'.“
„Ljuba“, sagte ich, „weißt du nicht etwas Besseres?“
„Doch“, sagte sie. „ich muss mich von Sergei verabschieden!“
Jetzt also stehen wir beide erwartungsvoll vor den regennassen Glaswänden des Flughafens Domodedowo - Ljuba hat sich von ihrem Sohn Sergei und dem Ingenieurs-Gatten verabschiedet - und unser in Taschen und Koffern verpacktes Papierwissen schaukelt auf einem Elektrokarren einem unsichtbaren Flugzeug entgegen.
Keiner von uns hat Sibirien je gesehen. Jeder hängt seinen eigenen Vorstellungen über das ferne Unbekannte nach. Trotz der informationsreichen Moskauer Studientage fällt mir jetzt nur das Übliche ein, Kindermärchen, Schulbuchweisheiten, Literaturbruchstücke, euphorische Zeitungsberichte, schemenhafte Bilder aus lyrischen Dokumentarfilmen: Hundeschlittengespanne und Rentierherden, klirrende Fröste und hungrige Wolfsrudel, ein sagenhafter Meteor und das größte E-Werk der Welt, Holzhäuser, Bohrtürme, ewiges Eis, Transsibirische Eisenbahn und Anton Tschechows Wort über die Taiga: Nur die Zugvögel wissen, wo sie endet. Ljuba und ich erwarten ein Land voller Wunder.
Endlich taucht ein gelber Bus auf. Durch den strömenden Regen bringt er uns zum Flugzeug. In der Garderobe der TU 104 nimmt uns die Stewardess die feuchten Mäntel ab. Schließlich erwischen wir zwei Sessel über den Tragflächen. Ljuba schneidet Grimassen: Unter uns dröhnen die Düsenaggregate. Auf den Bulleyes zittern Wasserschlieren.
Gegen 14 Uhr Moskauer Zeit starten wir. Die Maschine zieht steil nach oben, zuerst durch eine graue Regenwand, dann, minutenlang, durch weiches milchiges Nichts. Moskau schrumpft zu einem Mosaik fast geometrischer Formen zusammen, zu kleinen Fetzen, die entschwinden.
Plötzlich überfällt uns strahlendes Licht. Ein glänzend blauer Himmel tut sich auf. Ljuba blinzelt. „Na. was sagst du? Wir fliegen in die Sonne!" Weit unter uns bilden Wolkengebirge eine schneeweiße Südpollandschaft. Nach anderthalb Stunden öffnet sich der grüne Plüschvorhang, der die Pantry von den Passagiersalons trennt, und die Stewardessen balancieren blaue Plastetabletts mit einem Imbiss durch die Gänge. Sehr zu Ljubas Überraschung, die mir noch kurz vorher versichert hat, auf Inlandsstrecken gebe es kein Essen. Aber ihre europäischen Aeroflot-Erfahrungen haben hier keine Gültigkeit: Wir bekommen die obligatorische Bordmahlzeit - gebratenes Huhn auf Reis mit jungen Erbsen. Schwarz- und Weißbrotschnitten von anderthalb Zentimeter Stärke, einen Berg fetter, stark gewürzter Wurstscheiben, ein süßes Brötchen, einen makronenartigen Kuchen, Kompott aus gelben Pflaumen, Tee und ein Glas Wasser. Aeroflot ist nicht nur die größte, sie ist auch die am meisten abstinente Luftverkehrsgesellschaft der Welt: kein Tropfen Alkohol wird während des Fluges ausgeschenkt.
Ljuba zieht die Gardine vor das Fenster und schläft ein. Unter uns singen die Düsen. Je weiter wir nach Osten kommen, desto mehr verändern die Wolkenfelder unter uns ihre Farbe: aus Weiß wird im wechselnden Sonnenlicht Rosa, dann golddurchwirktes Rot, endlich ein mattes Grau. Irgendwo weit unter dem Farbenspiel liegt in abendlicher Dunkelheit der Ural, Europas Grenze. Ich kann ihn nicht sehen. Nicht einmal die Stewardess hält es für nötig, den Erdteilwechsel mitzuteilen. Die meisten Passagiere schlafen. Wir fliegen über Sibirien.
Mein Vater hat nie reisen können. Das Geld reichte stets nur für Miete und Lebensunterhalt. Mein Vater liebte die Atlanten und die Fotobände, die Forschungsberichte und die Reisebeschreibungen, Er machte damit weite Fahrten in alle Winkel der Erde, er träumte sich in ferne Kontinente und unbekannte Welten hinein. Seine einzige „Auslandsreise“ war ihm ein Gräuel und endete mit einer schweren Verwundung in einem ukrainischen Dorf. Danach wurden die Atlanten zugeklappt. Erst später, als Ukrainer, Russen und mandeläugige „Mongolen" aus Sibirien unseren Ort bevölkerten und mein Vater anfing, gemeinsam mit ihnen ein Land aufzubauen, in dem solcher Art „Auslandsreisen" für immer verboten sein sollten, schlug er ab und an die vergilbten Reisebücher wieder auf. Aber die Zeit lief ihm davon. Nur das Fernweh und die Sehnsucht vererbte er den glücklicheren Nachkommen. Die Sehnsucht nach dem fernen Land, über dem die Sonne aufgeht. Von ihm erfuhr ich auch von jener Säule auf der Passhöhe des Ural, deren westliche Seite die Aufschrift EUROPA und deren östliche, nach Sibirien weisende, die Bezeichnung ASIA tragen soll. Asia - das war Märchenhaftes und Abenteuerliches. Furcht einflößendes und Gewaltiges. Fridtjof Nansen und Amur-Partisanen. Asia war Wunschtraum und Verlangen. Asia war vor allem unüberschaubare Größe. Mein Vater und unsere heimischen Lexika sprachen von der „sibirischen Landmasse“ zwischen Ural und Pazifik, Eismeer und „Mongolei“ - dies war zeit meines Lebens Sibirien für mich: siebeneinhalbtausend Kilometer „lang“ und viertausend Kilometer „breit“, ein Ozean von Land, wie ich einmal bei Belinski gelesen hatte. Ein fast menschenleerer Ozean: mein Vater redete stets von 10, unsere Lexika sprachen von 20 Millionen Einwohnern - genau wusste es niemand. Es war eben Sibirien. Es war, sagte mein Vater, „die Hälfte der Sowjetunion und drei Viertel von ganz Russland“ (= RSFSR); es ist, sagt unser Lexikon, anderthalbmal so groß wie die USA und könnte die DDR einhundertdreißig Mal aufnehmen. Und dennoch ist, wie unsere Moskauer Recherchen ergaben, das nicht Sibirien! Sibirien ist „nur“ 10 Millionen km2 groß und reicht auch nur vom Ural bis zu den der Pazifikküste vorgelagerten Gebirgsketten des Tscherski- und des Stanowoigebirges. Dahinter liegt der Ferne Osten, das sagenumwobene Daurenland am Amur und die eisige Halbinsel der Tschuktschen. die Ljuba immer Tschukotka nennt.
„Es“ - das sind Sibirien und Fernost - hat nicht 10 oder 20, sondern gut 31 Millionen Einwohner, und auch das ändert sich von heute auf morgen. „Sibirien“, sagte Ljuba, als wir mit unseren Moskauer Untersuchungen am Ende waren, „ist überhaupt ganz und gar unfertig!“
Ich fühle einen schmerzenden Druck in den Ohren. Am Ende des Ganges flammt ein Leuchttransparent: NJE KURITJ! FASTEN BELTS. PLEASE. Ljuba ist aufgewacht und sagt aufgeregt etwas. Ich kann es nicht verstehen - aus neuntausend Meter Höhe fällt die TU mit rund neunhundert Stundenkilometern in einem steilen Landeanflug einer grauen Wolkenwand entgegen, durchstößt sie und taucht in tintenschwarze Nacht. Weit unter uns ist ein heller diffuser Schimmer. der sich nur langsam nähert und dann in einzelne Lichtflecken auflöst. Der Druck in den Ohren lässt nach, und Ljuba stellt freudig fest: „Wir landen.“
Unter uns überqueren zwei Lichterketten den kilometerbreiten Ob. Schließlich setzt die Maschine auf und rollt über weite Pisten einem hell erleuchteten Flughafengebäude entgegen. Ljuba und ich sind erregt, nach last fünfstündigem Flug können wir die Begegnung mit Sibirien kaum erwarten. Ljuba drängelt, kaum dass die Stewardess die Luke geöffnet hat, dem Ausgangzu und mahnt mich: „Beeil dich, beeil dich, sonst bekommen wir nichts Sibirisches mehr zu essen. Was denkst du denn, wie spät es ist!“ Ich schaue schnell auf die Borduhr und mein linkes Handgelenk und sage, etwas unsicher angesichts der nächtlichen Dunkelheit: „Es ist 18 Uhr.“ - „Ja“, sagt Ljuba, während sie eilig vor mir die Gangway hinuntertrippelt, „bei Aeroflot vielleicht. Da ist es immer so spät wie in Moskau. Aber draußen, da ist es 22 Uhr. In einer Stunde schließen die Restaurants, und wir haben noch nicht einmal ein Taxi. So“, sagt sie und hüpft demonstrativ auf den betonierten Flugplatzboden von Nowosibirsk, „jetzt sind wir in Sibirien!“
„Ja“, sage ich und denke an die unerfüllten Sehnsüchte meines Vater-, „da sind wir.“
Wir sind zwei Eisenbahntagereisen von Moskau entfernt. Wir haben die alte Säule im Ural nicht gesehen. Ein Elektrokarren befördert unser Gepäck zum Schalter. Ljuba gestikuliert indessen vor einem Taxi. Ich beginne zu frieren. Es sind, mitten im warmen September und im „Herzen Sibiriens“, genau null Grad.
Das Taxi rollt in einer dichten Autokarawane dem Stadtzentrum entgegen. Beim Passieren der kilometerlangen Ob-Brücke, deren Lichterketten schon aus der Luft zu erkennen waren, staunen wir: Die Brücke scheint kein Ende zu nehmen. Sie wird für uns zum ersten Wahrzeichen sibirischer Monumentalität. Tief unter uns dehnt sich schwarz schillernd der Ob. Sibirien, das Land der Wunder, hinterlässt bei uns als Erstes den Eindruck der Endlosigkeit. Schließlich hat sich die so selten sprachlose Ljuba wieder gefangen und versucht den Chauffeur anzutreiben. Der Chauffeur ist die Ruhe selbst.
Wir fahren durch dunkle, niedrige Stadtviertel, durch lange Alleen nachtschwarzer Bäume. Endlich glitzert um uns das Stadtzentrum in buntem, unerwartetem Neonlicht.
Im dunkelgrauen Betonklotz des Hotels „Nowosibirsk“ hinterlassen Ljubas unaufhörlicher Redestrom und ihre demonstrativ-hauptstädtische Eile einen gewissen Eindruck bei den gemütlichen vollschlanken Service-Damen: Passzeremonie und Schlüsselübergabe sind in knapp zehn Minuten abgewickelt. Es ist genau halb elf, dreißig Minuten vor dem Gaststättenschluss. Ljuba jedoch stößt einen lauten Seufzer der Erleichterung aus, öffnet mit Schwung die Tür des Hotelrestaurants und verkündet: „Bestimmt trinken wir jetzt einen Riesenbecher Kwas und essen eine ganze Schüssel sibirische Pelmeni auf!“
Eine Wolke von Essenduft, Bierdunst und Zigarettenrauch hüllt uns ein. In dem wohlgefüllten Restaurant finden wir nur in Türnähe noch zwei Plätze, lärmende Gemütlichkeit schlägt uns entgegen. Nichts erinnert an die vornehme Flüsteratmosphäre europäischer Interhotels, Die Serviererinnen schleppen Riesentabletts mit Abendessen, Kuchen, Mineralwasser, Bierflaschen, Wodka- und Kwaskaraffen durch den schlauchartigen Raum. Eine halbe Stunde vor Gaststättenschluss denkt niemand an „Abkassieren“, Küchenschluss und Stühle-auf-die-Tische-Stellen. Letzteres wäre allerdings auch beim schlechtesten Willen nicht möglich, denn alle Tische sind noch voll eingedeckt: Teller, Schälchen, Schalen, schlanke und bauchige Karaffen und langstielige, römerähnliche Gläser, aus denen man von Mineralwasser über Bier, Kwas, Wein und Apfelsaft bis hin zum besten Champagner buchstäblich alles trinkt, türmen sich vor den essenden, trinkenden und laut schwatzenden Gästen. Vier Teller pro Person sind das Mindeste, was einem an Geschirr geboten wird, jedes Essen wird zur freude spendenden Zeremonie. Hier hat nüchterne Rationalisierung die liebenswerte Tradition nicht verdrängt.
Die sowjetischen Gäste machen den Eindruck einer miteinander vertrauten Familie von Dienstreisenden. Die stille Zurückhaltung der Ausländer gleicht einem Schneefleck im Sommer.
Ljuba trinkt mit Wohlbehagen den kalten schäumenden Kwas. In der hohen Literkaraffe mit dem hellbraunen Getränk schwimmen würfelgroße Eisstücke und kleine schwarze Punkte. „Das ist so“, sagt Ljuba, als sie meine Skepsis sieht, „der Kwas ist von Natur ein Böser. Hinterhältiger, verstehst du? Und natürlich mag er kein Süßes, wie alle Bösen kein Süßes mögen. Lind was macht man? Man gibt ihm gerade Süßes und vor allem viele süße Rosinen, damit er in Wut gerät und anfängt zu schäumen. Und dann schmeckt er erst, na bitte!“ Also probiere ich den schäumenden süßsauren Kwas, der perlend im Glas emporsteigt wie der quirlig brodelnde Übermut in diesem sibirischen Restaurant. Vielleicht existiert diese Stimmung nur in meiner Einbildung, vielleicht ist sie nur eine Folge abenteuerdurstiger Erwartung, gleichviel: sie ist da. Die erste sibirische Station überfällt mich mit lärmender Lebenslust. Schon nach dem ersten Schluck Kwas entdecke ich eine unvorhergesehene, aber stetig wachsende Zuneigung zu dem Brot-Frucht-Getränk, das man normalerweise abends gar nicht zu sich nimmt, aber was ist normal in dieser Stimmung. Meine neu gewonnene Kwas-Liebe ermuntert mich sogar dazu, eine mit Kwas versetzte Gemüsesuppe zu bestellen. Ljuba feilscht indessen wort- und gestenreich mit einer wohlbeleibten Kellnerin um „Maxim Gorkis Lieblingsgericht“, sibirische Pelmeni. Aber jetzt, kurze Zeit vor Gaststättenschluss, ist selbst die entgegenkommende Nowosibirsker Hotelküche zur Zubereitung der fleischgefüllten Teigtäschchen, deren Name der ursibirischen Chanten-Sprache entlehnt ist und „Öhrchen“ bedeutet, nicht mehr in der Lage. Pelmeni sind ein Mittagsgericht. Ljuba gibt sich also mit Beef Stroganow zufrieden, einem Filetgulasch, das in Sibirien gern und häufig gegessen wird. Pünktlich um 23 Uhr kündet ein dreimaliges kurzes Flackern der Saalbeleuchtung diskret den Gaststättenschluss an. Ohne Hast beginnen die Serviererinnen, die Zechen zu kassieren und das Geschirr von den Tischen zu räumen, aber niemand denkt daran, den Raum eilig zu verlassen. Keine Serviererin nimmt auch nur eine einzige Kopeke Trinkgeld an. Ljuba verzehrt nun endlich genießerisch ihr Beef Stroganow. Mir scheint, dass man diesem „sibirischen Abendmahl“ auch etwas „rein Wissenschaftliches“ abgewinnen kann: „Ohne die Stroganows gäbe es wohl nicht ein bisschen Sibirien, sogar das Essen ist nach ihnen benannt!“ Diese Fleischstücke, so lang wie Pommes frites, offenbaren historische Geheimnisse! Ljuba lacht.
„Aber nein, von ‚strogatj' kommt das. ,Strogatj' heißt ,hobeln'. Von einem großen Stück werden die Fleischstreifen abgehobelt. Die Stroganows haben nichts damit zu tun.“ Und da stehe ich und weiß nichts anzufangen mit meiner kulinarischen Wissenschaft.
Später, als ich den flachen, klingelkastenähnlichen Wandlautsprecher, der mein Zimmer mit quarrend verzerrter Folklore füllt, auf Null gedreht habe, kann ich nicht einschlafen. Wo in diesem weiß getünchten Standardzimmer mit Duschnische und Sanitärzelle ist Sibirien? Jenseits der Fenster flammt in rhythmischem Aufleuchten die Werbung des Hotels. Ich bin „hinter dem Ural“. Wo aber ist das sagenumwobene Asia? Hier, schlaflos in einem daunenweichen Hotelbett liegend, fällt mir alles Mögliche ein. Ich denke an Ljubas „sibirisches Hobelfleisch“, an die schier endlose Brücke über den Ob, an die Hand meines Vaters, die vorsichtig über Länder, Meere und Gebirge glitt. Ich erinnere mich dunkel an die dicke, keineswegs „holzfreie“ Seite in meinem ersten, primitiv pappgebundenen Lehrheft für Russisch, auf der, laut Unterschrift, in einer recht naturalistischen Grafik der Held Jermak dargestellt war, hoch zu Ross, mit eiserner Pickelhaube, Kettenhemd und schimmerndem Schwert, den leuchtenden Blick siegesgewiss gen Asia gewendet, im Hintergrund seine lanzenbewehrte Schar, auf der Passhöhe des Uralgebirges haltend. Der Wirrwarr der Eindrücke ist vollkommen. Wo ist der Ariadnefaden in diesem Labyrinth?
Ljubas eifrige Recherchen in Sachen sibirischer Historie hatten folgendes zutage gefördert: Nach jenem legendären Handelsgehilfen aus dem Hause Gjurata, von dem Ljuba sogar behauptete, er habe angeblich die Spuren des großen Mazedoniers Alexander an der Obmündung wiedergefunden, unternahmen noch zahlreiche Nowgoroder und Moskowiter Kaufleute, Priester, Abenteurer und Fürsten Versuche, nach „Mangaseja“ vorzudringen. Stets verwehrten Klima oder Widerstand der Eingeborenen den Pelzgierigen einen beständigen Erfolg: Fürst Semjon Kurbski führte 1499 eine viertausend Mann starke Expeditionsgruppe im Auftrag des Moskauer Hofes ins Land der Jugrer und durch die eisigen Tundragebiete bis an den Ob. Dort blieb sie stecken, kehrte aber endlich mit tausend Gefangenen, mit Elfenbein und Pelzen sowie mit der wichtigen Erkenntnis zurück, dass auf diesem kalten nördlichen Wege dem Land hinter dem „Eisernen Tor“, dem Ural, nicht beizukommen sei. Indessen widmete sich auf seinen profitablen Handelsniederlassungen an der Dwina der reiche Kaufherr Luka Stroganow, nachdem er die zentralistischen Bestrebungen der Moskauer Großfürsten, da dem Fluss seiner Geschäfte forderlich, gutgeheißen hatte, vor allem der Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen der Moskowiter Herrscher: Er nahm den größten Teil ihrer Dwinabesitzungen in Pacht, und im Gegensatz zu den höfischen Beamten gelang es ihm, dort reichliche Abgaben einzutreiben und in die Hauptstadt zu schicken. Obwohl Luka einen beträchtlichen Teil dieser „Steuern“ für sich behielt, erwarb er das Vertrauen des Hofes. Seinen größten Erfolg jedoch erreichte er mit einer zunächst sehr verlustreichen Investition: Großfürst Wassili der Dunkle fiel bei einem seiner Einigungsfeldzüge in die Hände der Kasaner Tataren. Der Khan stellte immer höhere Lösegeldforderungen. Indessen drangsalierten seine Untertanen den Gefangenen, legten Bretter auf dessen Körper und veranstalteten darauf Zechgelage. Luka Stroganow war der einzige russische Kaufmann, der Wassili und dem Moskowiterreich aus der Patsche helfen konnte. Und er tat es. Ohne zu zögern, stellte er dem Hof das Lösegeld von (wahrscheinlich) dreißigtausend Rubel zur Verfügung, eine Summe, über die nicht einmal die Staatskasse verfügte.
Moskau stand von nun an ebenso in Lukas Schuld wie Kaiser Maximilian in der Schuld der Fugger und Welser. Hier wie dort hatten die patrizischen Handelsherren bedeutenden Einfluss „bei Hof“ und hielten die monarchischen Banknoten fest in der Hand. Luka Stroganow hatte begonnen, Geschichte zu machen.
Viele Jahre später erhielt sein siebzigjähriger Enkel Anika die Quittung für die „selbstlose Hochherzigkeit“ des Großvaters. Am 4. April 1558 unterzeichnete Iwan der Schreckliche eine in der russischen Geschichte einmalige Schenkungsurkunde. Darin gedachte er ausdrücklich der zinslosen Hilfeleistung Lukas („... die Stroganows dagegen nahmen keine Pfänder und suchten keinen Vorteil für sich ...") und überschrieb der Kaufmannsfamilie das sogenannte Permer Land, ein Territorium, das dem Zaren allerdings nur nominell gehörte. Das gesamte unbebaute Gebiet im Bereich der Flüsse Inwa, Obwa, Jaiwa, Ussolka und Koswa „von ihren Quellen bis zu ihren Mündungen“ wurde den Stroganows zur Nutzung übertragen. Sie durften darauf schalten und walten, wie sie wollten, genossen absolute Zollfreiheit, hatten das Recht, eine eigene Schutztruppe zu halten, Waffen zu produzieren und Städte zu gründen, und waren auf zwanzig Jahre von allen staatlichen Steuern und Abgaben befreit. Wenig später fügte Iwan dieser Schenkung von rund zwei Millionen Dessjatinen eine weitere von anderthalb Millionen hinzu. Damit besaßen die Stroganows im europäischen Vorfeld des Ural und im Uralgebiet selbst ein Territorium von etwa 37 000 km², ein Gebiet, das der Größe der Bezirke Potsdam, Magdeburg, Halle und Leipzig entspricht. Der Herrscher aller Reußen, der seit 1547 den Zarentitel führte, gestattete so mit Brief und Siegel gewissermaßen die Bildung eines bürgerlichen Pufferstaates zwischen seinem Reich und den unbekannten Fernen jenseits des „Großen Felsen“ - dies tat er zweifellos nicht aus Großmut. Der Aushändigung jener Urkunde an das Haus Stroganow war nicht nur die weitgehende Konzentrierung lebenswichtiger Wirtschaftszweige (z. B.des Salzhandels und großer Teile des Im- und Exports) in den Händen dieser Patrizierfamilie vorausgegangen, sie hatte auch bedeutende ökonomische Erfolge östlich des Ural vorzuweisen. Im Gegensatz zu früheren Expeditionen nämlich waren Anikas Abgesandte mit dem strikten Auftrag in das Jugorsche Land entsandt worden, den Eingeborenen absolut friedlich gegenüberzutreten, ihre Sprache zu erlernen, sich mit ihnen zu verständigen. Pelze und Elfenbein (Walrosszähne) nicht zu rauben und zu stehlen, sondern „redlichen Handel“ (als Tauschware dienten Glasperlen und ähnlicher Tand) zu treiben. Mit diesen „humanitären“ Methoden erreichten die Stroganows Pelz- und Elfenbeingewinne, die das Bisherige weit übertrafen, und drangen darüber hinaus ungehindert bis nach „Mangaseja“ vor. Mangaseja wurde zu einem Traumland. Die Vorstellungen, nach denen dort die Samojeden (russ. „Selbstesser“) als Kannibalen, menschliche Wesen mit der Mundöffnung auf dem Scheitel und andere Ungeheuer leben sollten, interessierten Anika Stroganow nicht: er wusste es besser. Als jedoch Berichte über die ungeheuren Schätze, welche die Stroganows in Mangaseja angehäuft hätten, an den Hof drangen, hielt Anika es für klüger, den unberechenbaren Iwan über das legendäre Land zu informieren. Ohne mit der Wahrheit über die Pelzreichtümer hinter dem Berg zu halten, wiederholte Stroganow die alte Erkenntnis des Fürsten Kurbski: „Du kannst dir dieses Mangaseja nicht nehmen, Zar, ehe du nicht einen anderen Weg dorthin freilegst. Die Straße führt durchs Permer Land. Dort liegt die Erde wüst und leer. Es leben keine Menschen da. Gib mir dieses Land!“ Dies tat Iwan, wie bereits mitgeteilt. Beide Partner wussten, dass sie sich belogen: Das Land, das dem tatkräftigen Anika und seinen fünfzigjährigen Söhnen überschrieben wurde, war keineswegs menschenleer; dort lebten Syrjanen, Tscheremissen, Wogulen und andere einheimische Stämme, deren Blutsverwandte jenseits des Ural bereits Untertanen des Khans Kutschum waren, der angesichts der Unterwerfung der Tatarenkhanate Kasan und Astrachan unter Iwans Zepter gar nicht daran dachte, sich gleichfalls - auch nicht mit wirtschaftlichen Methoden - dem russischen Reich einverleiben zu lassen. In den folgenden Jahrzehnten bekamen Anikas Söhne dies zu spüren. Immer wieder kam es zu Aufständen, immer häufiger wurden Betriebe und Bergwerke überfallen, immer stärker wurde dabei die Unterstützung, die den aufsässigen Stroganowschen Untertanen von jenseits des Ural zuteil wurde.
Zwar hatte Iwan dem Hause Stroganow die Besiedelung des Permer Landes gestattet, die Anwerbung von „entlaufenen Bauern, Deserteuren, Landstreichern, Dieben und anderem Gesindel“ jedoch strengstens untersagt. Als „Gesindel“ dieser Art betrachteten die Moskauer Justizbehörden auch die „frei schweifenden Kosaken im Süden des Landes. Dennoch sah der Zar nicht hin, als die Stroganows zwecks Verstärkung ihrer Schutztruppe einen Kosakenhaufen anheuerten, dessen Mitglieder erst kurz vorher den moskaufreundlichen Nogaier-Khan überfallen hatten, dann aber aus Angst vor einer zaristischen Strafexpedition in die Urwälder an Ural und Kama geflohen waren, wo sie ein kümmerliches Dasein fristeten und erst von einem gewissen Jermak Timofejewitsch einem vielversprechenden Dienst zugeführt wurden: Handbeil, Galgenstrick und Burgverlies hielt die Regierung für die Kosaken bereit - Reichtum und freies Land boten die Stroganows. Außerdem hatte Khan Kutschum den Zaren inzwischen wissen lassen, dass er gar nicht daran dachte, den Pelztribut (1000 Zobel und 1000 Eichhörnchenfelle pro Jahr) weiter zu entrichten, den er, der Zar seinem, Kutschums, Vorgänger Etiger völlig unrechtmäßig auferlegt habe. Das bedeutete aber zugleich den Verlust jeden Anspruchs auf das reiche Mangaseja. Iwan war keineswegs bereit, dies hinzunehmen. Das ,Rebellen‘-Feuer zu löschen übertrug er den Stroganows. Deshalb übersah er die kosakische Feuerwehr.
Jermak Timofejewitsch, der sich im Livländischen Krieg als Kommandeur einer Kosakenabteilung erste militärische Verdienste erworben hatte, brachte „Zucht und Ordnung“ in den versprengten Kosakenhaufen und machte ihn zu einer schlagkräftigen Truppe. Widerspruch, Meuterei und Befehlsverweigerung soll er nach „alter Kosakensitte" im mildesten Fall mit Auspeitschungen und im härtesten mit Ertränken bestraft haben. Nachdem er ein Jahr lang auf diese Weise exerziert und der Zar den Stroganows indessen für die schweren Verluste, die sie bei einem Überfall des Kutschum-Prinzen Mahmetkul erlitten hatten, das (noch gar nicht gewonnene) Land Mangaseja geschenkt sowie den ausdrücklichen Befehl erteilt hatte, östlich des Ural am Flusse Tobol Festungen und Niederlassungen zu errichten, griffen die Patrizierbrüder in die große Schatztruhe und ließen Jermak in Aktion treten. Für die ungeheure Summe von 20 000 Rubel rüsteten sie seine 800 Mann mit Lebensmitteln, hauptsächlich allerdings mit Tolokno (geröstetem und gemahlenem Hafer), Waffen, Munition und Flößen aus. Pferde erhielten die Kosaken nicht. Die Eroberung Sibiriens vollzog sich keineswegs hoch zu Ross, wie mein erstes Russischlehrheft es dazustellen versuchte, sondern zu Wasser auf Kähnen und Flößen. Jermak stakte und ruderte mit seinen Mannen die Tschussowaja hinauf, schleppte Hab und Gut zu Fuß und auf dem Buckel über den urwaldbestandenen Ural, gelangte im September 1581 auf verschiedenen kleinen Flussläufen an den Fluss Tara und begann mit der Eroberung von Kutschums Imperium. Jermak war dabei auf sich allein gestellt.
Kutschums Reich an Ob und Irtysch bestand aus vielen kleinen ursibirischen Vasallenstämmen, die ihren fremden tatarischen Herrn nur zu gern bei der geringsten Schwierigkeit - und die Kosaken waren weit mehr als das - im Stich ließen. Dies geschickt ausnutzend, kam Jermak schneller voran, als er gedacht hatte. Der „große Blitz“ und der „Donner des Himmels“, den seine Kosaken aus ihren wenigen Flinten abfeuern konnten, machten die kleinen Wogulen- und Ostjakenfürsten gefügig und verscheuchten selbst die kriegerische, aber nur bogenbewehrte und zudem abergläubische tatarische Reiterei. Im folgenden Jahr, nach einer Überwinterung in den Ruinen der Tatarensiedlung Tshinga-Tura (Tjumen), erreichten sie auf Flößen und Kähnen den Tobol. Nach verschiedenen kleinen Scharmützeln schlugen sie im Oktober das Heer des Kronprinzen Mahmetkul am Zusammenfluss von Tobol und Irtysch. Wenig später zwangen sie bei einem verlustreichen Sturmangriff die Truppen des Khans in die Knie und zogen triumphierend in Kutschums Hauptstadt ein. Die Stadt hieß SIBIR.
Jermak sandte einen seiner Unterführer als Informanten nach Kankor, der Stroganowschen Hauptstadt an der Kama, und als „Botschafter“ nach Moskau. Eigentlich erwartete den Donkosaken und „Wolgapiraten“ Iwan Kolzo der hauptstädtische Galgen wegen des Überfalls auf den Nogaier-Khan. Der Zar aber drückte beide Augen zu, als Jermaks Abgesandter ihm 2400 Zobel-, 50 Biber-, 20 Schwarzfuchsfelle und das allerdings noch keineswegs gesicherte Khanat Sibir zu Füßen legte. Er verzieh den Kosaken und sandte Jermak zwei schwere Rüstungen als Geschenk. Der frei schweifende Kosakenhetman, der in Stroganowschem Auftrag das profitable Mangaseja erobern sollte, war damit zum offiziellen Statthalter des Zaren geworden: „Sibirien, ich fürchte mich nicht vor dir, auch du bist russische Erde!“ In einer stürmischen Aprilnacht des Jahres 1584 überfiel eine Tatarenhorde unter Führung Kutschums den russischen Stab, der auf einer Irtyschinsel übernachtete: Jermak fiel im gleichen Jahr, in dem sein Zar im Kreml starb. Die Stroganows aber rüsteten zur wirtschaftlichen Nutzung des legendären Mangaseja, das ihnen Jermak erobert und der Zar „geschenkt“ hatte und das von nun an endgültig SIBIRIEN hieß.
Wir durchstreifen Sibiriens einzige Millionenstadt, teils in einem grasgrünen Minibus, den uns der örtliche Schriftstellerverband zur Verfügung gestellt hat, meistens aber zu Fuß. Jeden Morgen klopft Ljuba stürmisch an meine Zimmertür, schleppt mich zum Frühstück in das „Büfett“ der zweiten Etage, wo wir Tag für Tag geschmorte Leber, Tee, fleischgefüllte Piroggen und Weißbrot verzehren, und zieht dann entdeckungsfreudig mit mir durch die Straßen, mit der Zeit immer schweigsamer werdend: Das Wetter ist miserabel, es regnet bei knapp zwei Grad über Null. Die Nowosibirsker tragen Gummigaloschen; wir haben keine Überschuhe und deshalb meist nasse Füße. Außerdem werden wir dieser Stadt nicht Herr, immer wieder und überall offenbart sie neue Seiten; jeder Versuch, sie systematisch von einem Punkt aus zu durchstreifen, scheitert an ihrer Vielfältigkeit. Selbst die großstadtgewohnte Ljuba meint: „Dieser Ort zerläuft wie Pudding!“ Unser Plan, diese erste sibirische Station gleich „gründlich zu erforschen“, misslingt. Die Stadt ist wie die Ob-Brücke: sie nimmt kein Ende. Alles, was Ljuba und ich registrieren, sind widerspruchsvolle Eindrücke vom Äußeren. Zum Beispiel:
In den Bezirken fern der City dominieren unfreundlichste Bretterholzhäuser: Eilig zusammengezimmert, stehen sie schief und schieläugig auf dem vom Regen verschlammten Boden. Hier und da stoßen Straßenbaumaschinen, Turmdrehkrane und Kolonnen von Hochhausmonteuren keilförmig in den dunklen Brettergürtel vor, das Ende dieser Vorstadtbezirke ist abzusehen. In der Innenstadt reinigen unablässig Straßenkehrmaschinen und Sprengwagen die breiten, mit unzähligen Blumenrabatten geschmückten und von großzügigen Parkanlagen begrenzten Alleen und Boulevards. Hierin unterscheidet sich die Stadt weder von Moskau noch von Leningrad. Die Architektur des Stadtkerns bezeichnet Ljuba als ein Konglomerat „von allem, was es gibt“. Nowosibirsk hat keine architektonische Tradition, dazu ist die Stadt zu jung. Doch sämtliche Stilelemente der letzten fünfzig Jahre sind in ihre Bauten eingeflossen - vom Jugendstil über die neue Sachlichkeit, den Kubismus und den Funktionalismus bis hin zu den nüchternen Blöcken und Reihenhäusern der Gegenwart. Kurz und gut: in Nowosibirsk steht das auf der Pariser Weltausstellung preisgekrönte Rieseneckhaus mit vier Etagen hohen kantigen Säulen, Kolonnaden. Veranden und säulenverzierten Umlaufbalkonen neben dem fast kubistischen Kino „Metalllist“, die einem Akropolistempel nachempfundene Eisenbahnerhochschule neben dem „Haus mit den Uhren“ im Dessauer Bauhausstil. Dazwischen drängen, ducken und rekeln sich bunte Häuser und Häuschen unterschiedlichsten Formats.
Auf der anderen Seite der langen Ob-Brücke wächst in Gestalt des Kirowviertels ein neuer, komfortabler weiß leuchtender Hochhausbezirk heran. Dort gibt es keine Stilbrüche - dort ist alles voll rationeller Harmonie. Mir scheint nur, dort wird es auch eintöniger sein als im Kunterbunt der City. Abends und nachts erstrahlen Straßen und Häuserfronten in der Pracht einer bunten, flimmernden Neonreklame. Ich habe den Eindruck, dass sie vielfältiger und farbenfreudiger ist als in Moskau, aber Ljuba, die eingefleischte Hauptstädterin, behauptet, ich hätte lediglich einen „nächtlichen Sympathiekomplex“ für Nowosibirsk. Ich bestreite dies - denn trotz aller reizvollen Werbung gibt es kein aufregendes gastronomisches Nachtleben. Ab 23 Uhr wirkt die Millionenstadt still und artig. Wer nach Kino-Nachtprogramm oder später Theatervorstellung noch irgendwo „feiern“ will, tut dies zu Haus und mit Freunden.
Am Tage dröhnt pulsierendes Leben durch das scheckige Häusergewirr: Nowosibirsk ist die industrielle „Nachfolgeeinrichtung“ des Kusnezbeckens, der sogenannten „zweiten Kohlenbasis“ der Sowjetunion. Aber der „Kusbass“ liefert außer Kohle auch Buntmetalle, Erze und Holz aus dem unermesslichen Waldbestand der Taiga. Hier steht im „Sapsib“, dem Westsibirischen Hüttenkombinat von Nowokusnezk, der größte Hochofen der Welt, der in einem Jahr die gleiche Stahlmenge liefert, die 1913 alle russischen Hüttenwerke zusammen erzeugten. Aus einem Marktflecken, dessen Industrie aus sieben Mühlen, vier Seifensiedereien, zwei Sägewerken, zwei bedeutungslosen Eisengießereien und einer Gerberei bestand, ist Nowosibirsk zur wichtigsten Industriestadt Sibiriens geworden: Stahlwerke, eine Vielzahl von Schwermaschinen-, Landmaschinen- und Turbinenbaubetrieben, Spielwaren- und Werkzeugmaschinenfabriken beherrschen das Bild bis zum rauchverhangenen Horizont. Ljuba sagt: „Wir sind ja von Fabrikschloten eingezäunt.“ Ein Dunstschleier dämpft das Sonnenlicht - die Stadt wirkt wie eine Ruhrpottmetropole. Nowosibirsk ist in rund 45 Jahren von einer winzigen Holzhaussiedlung zu einer Millionenstadt herangewachsen. (Moskau benötigte dafür 750 und New York 200 Jahre.) Ohne Sowjetmacht und „Kusbass“ wäre diese rasche Entwicklung nicht denkbai gewesen - die Existenz ihrer Stadt aber verdanken die stolzen Einwohner, die Nowosibirsk immer die Rolle einer sibirischen Hauptstadt zuordnen wollen, mehr einem Zufall als der Kohle oder den Erzen unter ihren Füßen. Eigentlich sollten die Nowosibirsker auf ihrem Bahnhof ein Museum errichten, denn mit der Bahn fing ihre Geschichte an.
Als Anton Tschechow Ende des vergangenen Jahrhunderts quer durch Sibirien nach Sachalin reiste, fuhr er mit Mietwagen und Postkutsche. Auf seinem Wege gab es keine Siedlung namens Nowosibirsk, und er wusste auch nichts von einem kohle- und erzreichen Bodenbecken am Ob. Mit der Industrie, schreibt er, war es überhaupt recht mäßig bestellt in Sibirien, und über den Ob ist er erst gekommen, als ein verdrießlicher Fährmann sich endlich entschlossen hatte, auf sein Winken und Schreien zu reagieren. Sibirien war der elendeste Teil eines zurückgebliebenen Landes. So ist es denn nicht verwunderlich, dass seine Eisenbahngeschichte viel später beginnt als die Europas und Amerikas. Im Gegensatz zu ihnen, wo das qualmende Stahlrossrelativ schnell Alltäglichkeit geworden war, hatte 1861 im Zarenreich das gesamte Eisenbahnnetz nur eine Ausdehnung von 1488