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Nein, dieses Buch ist weder eine Stadtgeschichte noch ein „Stadtdurchführer“, wie es ein polnischer Freund des Verfassers in etwas abenteuerlichem Deutsch meinte, sondern es ist gewissermaßen eine Liebeserklärung an die zweitgrößte Stadt des Nachbarlandes und an deren Menschen – allerdings mit den Augen eines ebenso neugierigen wie kundigen DDR-Schriftstellers Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gesehen. Der in Bansin geborene Autor Egon Richter wollte weder eine Stadtgeschichte noch einen Tourismusführer schreiben. Menschengeschichten zieht er historischen Fakten vor, auch wenn diese mehr oder zwangsläufig angeführt werden (müssen), um die Stadt und ihre Leute besser zu verstehen: Dem Autor geht es um anderes. Nur soviel sei noch gesagt: Als der polnische König Boleslaw Schiefmund auf einem der zahlreichen Befriedungsfeldzüge in das Land der Wenden im Jahre 1122 jene pommersche Festung erreichte, von der hier die Rede ist und die später Hansestadt und Regierungssitz wurde, fand er dort einen Herzog mit Namen Wartislaw vor, von dem wir annehmen müssen, dass er das Geschlecht der Greifenherzöge, wie sie nach ihrem Wappentier genannt wurden, begründete. Den Namen der Festung aber wissen wir nicht. In Boleslaw Schiefmunds Sprache hieß sie Szczecin. Bei seinen Erkundungen der damals dreihundertachtundfünfzigtausend Einwohner zählenden polnischen Metropole hält sich Richter an die Szczeciner wie zum Beispiel an einen Architekten und Städteplaner, einen Lehrer und Büchersammler, an eine Dichterin und eine Postangestellte, an eine Vizedirektorin einer der neun allgemeinbildenden Oberschulen, an eine Wirtschaftsfachmann und Pionier des polnischen Schulwesens nach dem Krieg und an den Begründer des neuen Hafens sowie an den einzigen weibliche Kapitän der polnischen Handelsflotte und an Schiffbauer, Taxifahrer und Milizionäre sowie an Striptease-Girls und leichte Mädchen – die es schon damals dort gab – und an einen bekannten Maler, der einen schreienden, protestierenden und in drei Sprachen redenden Papagei sein eigen nennt, und – um wenigstens einen Namen zu nennen – an Krystyna N., Szczecins bedeutendste und versierteste Fotografin. Und so spiegeln sich in diesem Buch, das weder eine Stadtgeschichte noch ein Stadtdurchführer sein will, nicht zuletzt auch das wechselvolle und teils sehr schwierige Verhältnis zwischen Polen und Deutschen, zumal während der deutschen Besatzung und damalige Hoffnungen auf Frieden, Freundschaft und Sozialismus.
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Seitenzahl: 207
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Egon Richter
Eine Stadt und zehn Gesichter
ISBN 978-3-95655-780-4 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1976 im VEB Hinstorff Verlag Rostock
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2017 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Zuerst habe ich nicht für möglich halten wollen, was sich nach eifrigem Forschen als unabänderliche Wahrheit darzustellen schien: es gibt keine Erinnerung.
In der kontinuierlichen bunten Zeilenfolge unseres Jugendlexikons klafft zwischen „Ergussgestein“ und „Erkältungskrankheiten“ keine Lücke, in welcher die „Erinnerung“ hätte auftauchen können. Die Jugend also hat keine Erinnerungen - oder sie bedarf ihrer nicht.
Was ist Erinnerung?
In philosophischen Wörterbüchern unterschiedlichen Umfangs findet sich keine Erklärung. Erinnerung fehlt. Die Philosophie nimmt sich ihrer nicht an. Sie scheint demnach unvereinbar mit exakter Wissenschaft zu sein, nicht einzuordnen in funktionstüchtige Kataloge und Systeme; etwas Diffuses also, Unzuverlässiges, Unerklärbares.
Was ist Erinnerung?
Die großen Rechtschreibwerke machen es sich einfach. Sie definieren das Wort lediglich als weiblich: Erinnerung Komma femininum Strich die. Sie begründen nichts, sie erklären nichts, dazu sind sie nicht da: sprachliche Objektivität. Erinnerung ist weiblich, das genügt. Jedoch, da findet sich ein Nachsatz in jedem guten Sprachführer: Doppelpunkt Ordnungsbuchstabe a Klammer sich erinnern Ordnungsbuchstabe b Klammer jemanden erinnern. Ende der Aussage. Zumindest die Dubiosität dieses Begriffsphänomens ist deutlich ausgesprochen, wenn das Verlangen nach Erklärung auch unbefriedigt bleibt.
An diesem Punkte mangelhafter Erkenntnis angelangt, bin ich geneigt zu sagen: Mir fehlt jede Erinnerung. Denn wenn, sage ich mir, dieser Begriff nur als inhaltloses sprachliches Etwas existiert, wenn er nicht wissenschaftlich katalogisiert werden kann und demnach höchst obskur ist, wie wir gern zu sagen bereit sind (obskur - dunkel, unbekannt, unberühmt), dann bin ich weder verpflichtet noch imstande, mich seiner als sachlicher Kategorie zu bedienen: Also, ich habe keine Erinnerung an die Stadt, um die es im folgenden gehen wird.
Dieser Zustand verursacht Unbehagen: Ein Mensch ohne Erinnerung fühlt sich wie Chamissos Schlemihl ohne Schatten.
Dank sei dem Zufall, den es, wissenschaftlich betrachtet, auch nicht gibt und der mir jenes fünfzehn Jahre alte Dünndruck-Lexikon in die Hände spielte, welches mich aus dem schattenlosen Vakuum zurückriss auf den Boden konkreter Begriffsbestimmung: Damals gab es noch Erinnerung.
Mein Gott, welche Offenbarung: Erinnerung Doppelpunkt Reproduktion früherer Bewusstseinsinhalte oder Erlebnisse durch das Gedächtnis mit dem Bewusstsein Komma diese schon einmal gehabt zu haben. Das muss man ganz auskosten.
Aber es ist schön, dass da von „Bewusstseinsinhalten“ oder„Erlebnissen“ die Rede ist, denn manches, was mich an die Stadt erinnert, von der bald zu berichten sein wird, ist weniger mit Erlebnissen als viel mehr mit Wissen, Kenntnissen und Erfahrungen verknüpft, die durch andere Einflüsse möglich geworden sind. Erlebnisse dagegen, wenn auch verfärbt oder verklärt durch die Jahrzehnte, frühere und „reproduzierbar“ gewordene Erlebnisse mit oder in der erwähnten Stadt sind außerordentlich gering.
In der Fremdwortliebe aber stets gefördert, haben wir es nicht allzu schwer, ein anderes Wort zu finden, das Wilhelm Liebknecht definierte unter R: Reminiszenz, auch dies ein Femininum, erklärt als a) Erinnerung und b) Anklang - was schon viel besser passen will: Anklang ist männlich. Doch ist nicht sicher, dass Anklang findet, was da anklingt.
Denn was da anklingt, sind längst vergangene, kaum vernehmbare Töne aus längst vergangener Vergangenheit. Wenn die Erinnerung nicht täuscht, dann sind es Laute, die beim Zusammenfall jener bunten Glasstückchen entstanden, die in schon fast vergessenen Kinderjahren bunt bemalte Papptüten füllten und nach jedem kräftigen Schütteln dem staunenden Betrachter ein neues Glitzermosaik darboten. Aus roten, blauen, grünen, gelben Scherben. Scherbentüte Erinnerung.
Ad eins: Ein naher Anverwandter wird, weil rot, in hitziger politischer Debatte von einem braunen Nazi tätlich angegriffen und schlägt zurück. Und nicht zu knapp. Wird vorgeladen, wie das üblich war, und vor Gericht gestellt, wie ebenfalls noch üblich. Vor diesem Tribunal, von dem ich nicht einmal den Namen weiß (Landgericht? Provinzialgericht?), geschieht ein Wundertütenwunder jener Zeit: Der Mann wird freigesprochen. Da muss in jener Stadt auf hohem Stuhl noch ein beim allgemeinen „Feuern“ vergessner Republikaner gesessen haben. Ein roter Stein in meinem Anklangs-Mosaik.
Ad zwei: Dann muss der „Führer“ wohl mal dort gewesen sein, vermutlich „seiner“ U-Boot-Werften wegen, mit Tschingderassabum und Heil-Geschrei empfangen. Denn ich erinnere mich, wenn auch nur äußerst dunkel, dass wohl ein Viertel unserer Ortsbevölkerung sich gierig in die Sonderzüge stürzte, um ihn zu sehen und sich die Kehle wund zu brüllen und - selbstverständlich - ordentlich zu saufen, wie so eines Teufels Auftritt das erforderte. Ganz selig waren sie. Ein gelber Stein.
Ad drei: Dem eben Dargestellten logisch folgend, entsteht ein anderer Anklang von Erinnerung: Drei Jungen, unter ihnen der Verfasser, elf Jahre alt, in blauen Uniformen, mit Beutehelmen schwer behütet, verharren, Wache schiebend, unter einem Baum - ein alter Ahorn war’s, wenn ich nicht irre. Die Nacht war dunkelblau und voll Gedröhn. Am Himmel zogen Bomberpulks nach Süden, Scheinwerferfinger griffen in das Blau, Geschütze belferten, und Scheiben klirrten, und Angst zerrüttete die mühsam hochgespielte Tapferkeit. Das Ziel der Pulks war klar, da gab es keinen Zweifel: Das Bombenziel war jene Stadt. In vorgeschrittener Nacht stand fern am Horizont ein flackernd roter Schein, diffuser Dunstkreis nur von heißem Sterben. Undefinierbar in der Farbe, drückt dieser Stein sich in dem Mosaik herum.
Ad vier: Ich sehe meine Mutter in einem überfüllten Zugabteil. Ich sehe mich, auf einem unbekannten Seesack hockend, im Rücken Arme und am Hals den Atem eines Babys, eingeklemmt von Knobelbecherbeinen, hustend im Junorauch, im Räderrhythmus ruckend. Das Fenster ist kaputt und schön verklebt. Mit Leukoplast. Dann jaulen die Sirenen. Der Zug erschrickt und hält. Im Bahnhof jener viel zitierten Stadt. Geschrei, Rauch, Staub, maßlose Rücksichtslosigkeit, zerrissenes Gepäck. Lautsprecher brüllen, Geschütze orgeln, Frauen kreischen, und jeder ist sich selbst der Nächste. Ein weißes L mit Pfeil an grauer oder backsteinroter Wand, ein schwarzer Keller voller Feuchtigkeit, Schweiß, Angst, Gedränge, und überall ein Beben - ich weiß nicht, wie wir dem entronnen sind. Das war die Stadt, als ich sie kennenlernte, ich hab sie wirklich und wahrhaftig nicht gesehn. Geplatzte Scherben im Kaleidoskop. Vielfarbig bunt und äußerst zweifelhaft.
Spätestens in diesem Stadium balladesken Anklangs wird mir klar, dass dies Verfahren ohnehin unwissenschaftlicher Erinnerungstätigkeit abgebrochen werden muss. Nicht nur, weil jeder, der sich bis hierher vorgearbeitet hat - hoffnungsvoll vielleicht - berechtigt fragt: Was will der eigentlich? Will er nun sich oder jemanden erinnern? Wenn letzteres - bin dieser Jemand ich? Und plötzlich macht das Ganze keinen Spaß.
Denn: Es kann ja auch andere Erinnerungen geben. Solche an Hochzeiten, Wallspaziergänge, Fußballspiele, Segelregatten, Strandbäder, Hafenkneipen, Militärparaden (noch mit Platzpatronen), Paradeplätze und Parade-Cafés, an „Bollwerksaster“ und Bordell, an schönen grünen Wald und Anglerseen, an Bronzestatuen vom Alten Fritz (von Gottfried Schadow), Verlobungsfeiern und Getreidehändler - das alles und unzählig mehr ist an Erinnerungen durchaus denkbar. Erinnerung ist individuell, und schon aus diesem Grunde ist sie nicht verlässlich: Erinnerung verklärt, verschönt, verschiebt die Proportionen, bei der Erinnerung steht Ratio selten Pate. Erinnerung ade! Was soll das auch. Wenn man es recht betrachtet, wen bringt die durchaus personengebundene „Reproduktion früherer Bewusstseinsinhalte“ schon weiter, und was kann sie bewirken. Sie ist effektlos und kann unterbleiben: Des Autors buntes Scherbentütchen wandert auf den Müll.
Jedoch: Da ist noch mehr. Es gibt, scheint mir, so etwas wie kollektive „Bewusstseinsinhalte“, die keineswegs mit persönlicher Erinnerung gleichzusetzen sind, Inhalte demnach, die sich aus Wissen und Wissenschaft, aus Kenntnis und Erkenntnis zusammensetzen und die wir gemeinhin mit dem Schulausdruck Geschichte bezeichnen.
Ein kluger Mann hat einmal gesagt, Geschichten zu schreiben bedeutet, gleichzeitig auch Geschichte zu schreiben. Selbst wenn wir solche Behauptung bezweifeln, scheint sie mir dennoch des Nachdenkens wert, zumal wir schon erlebt haben, dass aus einfachen historischen Fakten bunte Legenden werden und dass - zumindest seit Homer und den Evangelisten des Neuen Testaments - abenteuerliche Geschichten die Möglichkeit in sich bergen, als durchaus ernst genommene Geschichte empfunden zu werden. Wie dem auch sei: sowohl die Historie als auch die Historien werden üblicherweise interpretiert. Ihre Darstellung und Deutung scheint abhängig vom Willen wie vom Erkenntnisstand ihrer Interpreten, sie sind bedingt durch soziale und nationale Standpunkte, durch kluge Bemühungen und bornierte Dummheit, durch Überheblichkeit und schmeichelnde Bescheidenheit, durch unzählige emotionale und rationale, individuelle und nicht zuletzt gesellschaftliche und wissenschaftliche Gegebenheiten.
An dieser Stelle würde auch in mir der Verdacht auftauchen, dass der Autor sich - katzbuckelnd nach allen Seiten - mithilfe eines Rückversicherungsvertrages diesseits und jenseits aller nur denkbaren Grenzen vor der Gefahr bewahren will, von irgendjemand oder auf irgendeine Weise missverstanden und falsch interpretiert zu werden. Kotau vorweg: Das kann nichts schaden.
Jedoch dem ist nicht so. Es ist viel einfacher: Der Autor hat keine Lust, historische Fakten über eine Stadt chronologisch aneinanderzureihen auf die Gefahr hin, dabei Wichtiges als unbedeutend und Unbedeutendes als erwähnenswert zu begreifen - er ist auch nur ein Mensch und ist kein Statistiker. Er zweifelt an seinen Fähigkeiten, und das - scheint mir - ist eine gute Eigenschaft. Er weiß nicht, was aus dem Wust historischer Daten mitteilenswert und was aus der Fülle der Geschichten erzählenswert ist. Er geht von der keineswegs von ihm erfundenen schon eingangs vorgetragenen Überlegung aus, dass alles relativ ist und er selbst nicht frei von Irrtümern. Wenn er sich also, lustlos, dennoch kurzen historischen Stichworten zuwendet, so ist das als ein - möglicherweise misslungener - Versuch zu betrachten, Geschichten zu erzählen und dabei einen durchaus eigenen Standort zu erreichen:
Als ich geboren wurde, war ich ein Pommer. Ich war das noch, ganz amtlich und administrativ, als ich, Oberschulchormitglied im Blauhemd, die erste demokratische Kreislehrerkonferenz in Ermangelung einer gültigen Nationalhymne durch das Absingen des etwas elegischen Pommernliedes einleiten durfte.
Ich war es noch bis zu jenem denkwürdigen Tag, an dem Anfang der fünfziger Jahre unseres so ereignisreichen Jahrhunderts eine Stadt, deren Existenz ich aufgrund ihrer bisherigen Bedeutungslosigkeit einfach nicht wahrgenommen hatte, zum Territorialzentrum avancierte. Von diesem Zeitpunkt administrativer Neugliederung an war ich kein Pommer mehr, und Wolgast, die jahrhundertealte zweite Hauptstadt des nun nicht mehr existierenden Pommernlandes, entpuppte sich als meine neue Kreisstadt. Von ihr soll nicht die Rede sein, wiewohl sie es inzwischen durchaus verdient hätte.
Berichtet werden soll vielmehr von der ersten, bisweilen mächtigeren, auf jeden Fall größeren pommerschen Metropole, mit der sich meine Kreisstadt in grauer Vorzeit den Regierungssitz, aber keineswegs das Geld teilte, mit der sie sich zerstritt oder vertrug, die sie bekämpfte und der sie aus der Patsche half - deren Ursprung wir nicht exakt bestimmen können. Was wissen wir?
Wir wissen, dass die Wenden neben der Ostseemetropole Julin, welche auch als das reiche Vineta in die Legende eingegangen ist, gemeinsam mit den Dänen die Wikingerfestung Jomsburg erbauten. Sie zu besiegen und einem erträumten großpolnischen Staatsgebilde einzuverleiben, zog von der Warthe her Herzog Mieszko I. heran, schlug am 22. September 967 die wikingisch-wendischen Pommern von und bei Julin und entdeckte auf seinem Weg gen Norden rund 60 Kilometer vor der Ostseeküste an der Oder eine wendische Burg mit ein paar Siedlungsbauten rundherum. Wir wissen nicht, ob diese pommersche Feste einen Namen hatte, wir wissen nicht einmal, wie die wendischen Pommern gesprochen haben. Nur dass diese von dem abziehenden Mieszko zu einer Art Grenzburg erklärte Niederlassung an der Oder die Vorläuferin jener Stadt war, um die es hier geht - das wissen wir. Und dass von nun an die widerspenstigen und aufsässigen Pommern dem Polenherzog Boleslaw untertan und tributpflichtig waren - das wissen wir auch. Wir wissen von der Stiftung des Erzbistums Gnesen, die von Boleslaw und dem deutschen König Otto III. in trauter Einmütigkeit im Jubiläumsjahr 1000 vollzogen wurde. Wir wissen, dass Otto von Bamberg von hier aus seine Missionstätigkeit in Richtung Pommern begann, wir wissen von den guten und den weniger guten Folgen der Christianisierung, von einwandernden und ins Land gerufenen Westfalen und Niedersachsen, Friesen und Schwaben, von zwölf Jahrzehnte lang währenden Kriegen und Raubzügen, Verwüstungen und Unterwerfungen; wir wissen von Landesteilungen, freiwilligen und unfreiwilligen, von Lehnseiden und Vertragsbrüchen, von Wankelmut und Eigensinn der Herrschenden, von wendischem, polnischem, schwedischem und preußischem „divide et impera“. Von all dem wissen wir, jedoch: Der Autor schreibt keine Stadtgeschichte. Historische Fakten und Vorgänge nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen aufzubereiten ist seine Absicht nicht und nicht sein Ziel. Dies zu unternehmen, sind andere berufen. Wer will, kann nachschlagen, alles ist aufgezeichnet in Polnisch und Lateinisch und Deutsch. Dem Autor geht es um anderes. Nur soviel sei noch gesagt: Als der polnische König Boleslaw Schiefmund auf einem der zahlreichen Befriedungsfeldzüge in das Land der Wenden im Jahre 1122 jene pommersche Festung erreichte, von der hier die Rede ist und die später Hansestadt und Regierungssitz wurde, fand er dort einen Herzog mit Namen Wartislaw vor, von dem wir annehmen müssen, dass er das Geschlecht der Greifenherzöge, wie sie nach ihrem Wappentier genannt wurden, begründete. Den Namen der Festung aber wissen wir nicht. In Boleslaw Schiefmunds Sprache hieß sie Szczecin.
Über diese Stadt sind viele Bücher geschrieben worden, dokumentarische und belletristische, historische und gegenwartsverbundene, gute und schlechte, wahre und verlogene. Thomas Cantzow verherrlichte das frühmittelalterliche Greifengeschlecht; Schleiermacher, Bernoulli und die Brüder Humboldt betrachteten in ihren Tagebuchaufzeichnungen Pommern einschließlich seiner Hauptstadt als mindestens so exotisch wie das Land an Amazonas oder Orinoco; ein gewisser Timotheus Hermes ließ in seinem schauerlichen Kitsch-Roman „Sophieens Reise von Memel nach Sachsen“ die Einwohner von Stadt und Land im Zwielicht des Fremdländischen dahinwursteln; Robert Prutz wetterte von der pommerschen Metropole aus mit literarisch-politischen Flugschriften gegen den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV.; der Gymnasialprofessor Johann Jakob Seil beklagte in „Briefen aus Stettin“ die Trunk- und Spielsucht der Einwohner, die Sorglosigkeit der Polizei, das Bettlerunwesen, die Cliquenbildung und den ungeheuren Mangel an geistigen und politischen Interessen; irgendwo taucht aus meinen Kindheitserinnerungen noch der Name des Naturliebhabers und Arztes Carl Ludwig Schleich auf; mein Freund Pachlowski nahm sich in liebevollen Erzählungen der Hochseefischer aus dieser Stadt und mein Freund Kaminski in umfangreichen Romanen der wendisch-pommerschen Geschichte an.
Es sind, wie diese lückenhafte Aufzählung beweist, demnach genug mehr oder minder literarische Erklärungen über die Stadt abgegeben worden, über ihr Werden und Sein, ihre Bewohner und ihre Beherrscher. Zeugnisse unterschiedlichen Wertes in deutscher und polnischer, lateinischer und schwedischer Sprache - wozu ein neues Buch?
Diese Frage mag sich auch einer meiner Szczeciner Freunde vorgelegt haben, bevor er mich mit der Vermutung konfrontierte: „Ah, du willst einen Stadtdurchführer schreiben?“
Nein, ich beabsichtige nicht, ein Stadtporträt zu verfassen. Dennoch wird ein Orbisblick auf Äußerliches nötig sein. Zuerst auf glatten grauen Stein, am Fuß leicht angemoost, sehr hart und streng: Herzog Boguslaw X. Das Material entspricht dem Fürsten: Er war sehr streng, besonders mit Szczecin. Dem Stein fehlt der Lorbeerkranz, den pommersche Geschichtsschreibung aus Sagen und Legenden wob. Boguslaw aus dem Greifengeschlecht war schlau und klug, despotisch und patriotisch. Es gelang ihm mit energischem Griff, Pommern nach jahrhundertelanger Trennung wieder zu vereinigen, es eng mit Polen zu verbinden und seine wirtschaftliche Kraft und seine politische Unabhängigkeit zu stärken. Nach einer kinderlosen Ehe mit der Brandenburgerin Margarete ehelichte er sowohl aus Liebe als auch aus staatspolitischen Interessen die polnische Prinzessin Anna, Tochter des Jagiellonenkönigs Kasimir. Sie steht neben ihm, ebenfalls in grauen Stein gehauen; doch selbst so ist ihr Liebreiz sichtbar, der ohne Zweifel auf die heutigen Szczecinerinnen abgefärbt hat, und ihre Sanftmut, die sicher nicht in gleichem Maße auf die emanzipierte Gegenwartsgeneration übergegangen ist. Aber beides hat den älteren und strengeren Gemahl nicht von seiner absolutistischen Politik abgehalten. Die wohlhabende Handels- und Seefahrerstadt, die er sich zur Residenz erkoren hatte, um damit dem Nomadisieren des herzoglichen Hofes endgültig ein Ende zu setzen, war ihm in ihrer mangelhaften Huldigungsbereitschaft und patrizischen Hoffahrt ein Dorn im Auge. Er belegte sie mit erhöhten Abgaben, mit zusätzlichen Steuern; doch sie erhielt auch das „goldene Privileg“ der Zollfreiheit, und nicht zuletzt wurde ihr die „Gnade“ zuteil, die Mittel für eine vollständige Rekonstruktion des herzoglichen Schlosses, für An- und Erweiterungsbauten an diesem Palast aufbringen zu dürfen.
In alter, in neuer schlichter Schönheit steht das Schloss jetzt da, vor ihm das Denkmal. Die Nazis hatten es zweckentfremdet als Bürohaus genutzt. Es war zerbombt, zerschossen und ausgebrannt wie fünfundsechzig Prozent der ganzen Stadt an jenem Tag, an dem hier der Frieden einzog. Die Mauerreste hätte man, schon um der Steine willen, radikal abreißen können. Doch das Schloss der Greifen wuchs unter den geschickten Händen der Arbeiter (die durchaus noch nicht alle in sehnsüchtig erwarteten notwendigen Wohnungen lebten) und den Argusaugen der Denkmalpfleger nach wieder aufgefundenen Bauplänen und Stichen neu aus den Trümmerbergen hervor. Kupferhauben zieren seine gedrungenen Türme. Hinter seinen dicken Mauern sind Rund- und Spitzbogensäle in großzügige Ausstellungsräume für Bildende Kunst, Musik- und Theatersäle, stilechte und deshalb teure Cafés und Weinkeller, in Ballettstudios, Klubräume und Konferenzzimmer umgewandelt worden. Szczecin hat wieder sein herzogliches Schloss. Jahre hat der Bau gedauert, Milliarden gekostet. So ist aus Boguslaws Greifenhorst das geistig-kulturelle Zentrum der Stadt geworden. Es ist am grauen Stein des Herzogdenkmals nicht festzustellen, ob der Pommer lächelt.
Unterhalb des Schlosses, etwas abgeschlagen, liegt, rekonstruiert in seiner gotisch backsteinroten und kachelbunten schmalen Gestalt, das uralte patrizische Rathaus der Stadt, ein Haus, das Boguslaw nicht sonderlich sympathisch war. Dennoch fand hier und nicht im herzoglichen Schloss der siebenjährige Nordische Krieg durch Vermittlung Pommerns und vornehmlich Stettins mit der Unterzeichnung der Friedensvertragsdokumente am 5. September 1570 sein Ende. Die einzige große diplomatische Tat der Stadt war eine Friedensstiftung. Noch heute dient das alte Rathaus als Stätte der Unterzeichnung friedlicher städtischer, nationaler und internationaler Abkommen.
Ihm gegenüber - alles liegt schön beisammen - erhebt sich schmal und weiß das Bankhaus Loitz. Bankhaus: das war einmal, vor gut und gern vierhundert Jahren, als die Gebrüder Loitz nicht nur den Bürgermeister stellten, sondern auch als Bankiers des Greifenhofes fungierten, des pommerschen Landadels und - dies wohl vornehmlich - der eigenen Familie. Das Haus, drei Stockwerke hoch mit fünfstöckigem Turmanbau, mit blühenden, spätgotischen Ornamenten über jedem Fensterbogen, muss schon zu jenen Zeiten einen unermesslichen Haufen Geld gekostet haben. Jedenfalls machten die Bankiers 1572 Konkurs, trieben damit die pommersche Landwirtschaft und die herzogliche Staatskasse an den Rand des Ruins, und Hans Loitz floh nach Polen, er hatte dort Außenstände. Allerdings war Stephan Bathory nicht bereit, die Anleihen, die sein königlicher Vorgänger und Pommernfreund Sigismund in Stettin aufgenommen hatte, zurückzuerstatten und den Loitzens wieder zu Ansehen zu verhelfen. Erst diejenigen Polen, die knapp vierhundert Jahre später in die Greifenhauptstadt einzogen, wandten Mittel und Mühen daran, in zehn langen Jahren das Loitzsche Bankhaus wieder in alter Schönheit erstehen zu lassen. Sie steckten viel Geld in das Haus - und was kam dabei heraus? Kunst! Bilder, Grafiken, Architekturentwürfe, Pläne für Garten- und Parkgestaltungen, für Schaufenster- und Theaterdekorationen. Das Haus ist voller Farben, voller Frische, voller Ideen und springlebendiger Jugendlichkeit, es ist eine der acht Spezialschulen der Stadt: das Lyzeum für Bildende Kunst.
So könnte man, in Reisebüromanier, beliebig fortfahren. Das ganze Zentrum ist vollgestopft mit stadtgeschichtlichen Souvenirs. Aber es liegt mir ja fern, ein Städtebild nachzuzeichnen; es ist im Original viel besser anzuschauen.
Ein Blick nur auf die Tempel Christi in dieser kirchenreichen Stadt, von welcher der amtierende Bischof angesichts der blutjungen und vorwiegend a- oder pantheistisch gesinnten Bevölkerung behauptet, es handle sich um eine Heidenmetropole und man müsse in ihr wirken wie weiland Otto von Bamberg. Doch den Kirchen sieht man Abstinenz nicht an, und die Priester sind selten im Stadtbild: sie gehen nicht zu Fuß, sie fahren im Mercedes.
Otto von Bambergs erstes Werk war die Errichtung einer von Boleslaw Schiefmund gestifteten winzigen Holzkirche mit Strohdach und dem Heiligennamen Peter und Paul. Schon im 14. Jahrhundert in gotischer Bauweise erneuert, wurde sie später durch Umbauten auch dieses stilechten Gewandes entkleidet und hockt nun geduckt vor dem mächtigen Hafen unterhalb des Schlosshügels. Geblieben ist ihr das riesige Deckengemälde der heiligen Dreifaltigkeit von Philipp Ernst Eichler. Geblieben sind ihr die in Backstein gehauenen Porträts städtischer Patrizier. Die Statue Ottos von Bamberg steht im Glockenturm des Schlosses.
An der anderen Seite der herzoglichen Residenz errichtete 1187 der ebenfalls aus Bamberg stammende Bürger Beringer die mächtige Jacobikirche, deren heutige Gestalt allerdings aus der Zeit der Backsteingotik stammt. Selbst das ist nicht ganz richtig, denn auch sie wurde ein Opfer des Krieges. Was heute an ihr zu bewundern ist, bleibt Werk und Leistung polnischer Restauratoren. In ihrem Innern surren Mischmaschinen, stehen Stahlgerüste, verblenden plasthelmbehütete junge Arbeiter betongegossene Pfeiler mit backsteinroten Klinkern - brennt aber auch wie in allen Kirchen die Ewige Lampe. Auf dem Hof zwischen Zementsackstapeln und Gerüstteilen steht auf einem provisorischen Sockel die sechs Tonnen schwere bronzegraue Jacobi-Glocke und wartet auf den Aufzug.
Von hier zur Most Dlugi (Lange Brücke), der größten Zugbrücke Polens, ist es nur ein Katzensprung. Vor uns vier Fahrbahnen, Ströme von Autos, Hupen verboten! Vor uns der Stadtteil Dabie, abgeschirmt durch eine Fülle von Verkehrsampeln und einen verwirrenden Wust von Hinweisschildern. Linksabbiegen verboten. Rechtsabbiegen verboten. - Links und rechts die Oder, breit, dunkel, dreckig, von Piers und Ladebrücken bedrängt. Links die einstige Hugenottensiedlung und jetzige Hafenindustrieinsel Lastadie: Wald von Kränen und Schiffsmasten, unfreundlichen Lagerhäusern, Fabrikschloten. Rechts, noch auf altstädtischem Ufer, die Johanniskirche. Ihr dreischiffiges, kunstvoll gewölbtes Gebäude aus dem vierzehnten Jahrhundert diente vor dem Krieg unter deutscher Obhut als Magazin für Theaterdekorationen. Erst nach 1945 fand sich der Orden der Pallotinermönche bereit, mit tatkräftiger Unterstützung der neu in die Stadt strömenden Künstler und Kunsthandwerker das „Theatermagazin“ zur künstlerisch wertvollsten Kirche der Stadt umzugestalten. - Nein, das klingt mir zu sehr nach Stadtprospekt und zu sehr nach Touristenattraktion. Gemeint ist etwas anderes. Gemeint ist etwas, das auch jener Mann nicht ganz begreift, der auf dem Platz zum Weißen Adler seiner etwas gelangweilten, aber zahlreichen Familie in vogtländischem Akzent die ehemalige pommersche Hauptstadt erklärt, wobei er schön laut und demonstrativ immer Tschetschiehn dazu sagt, wie er es für richtig hält und wie es so scheußlich falsch klingt. Ich stelle mir immer vor, wie solche Art oberflächlicher, stimmgewaltiger und zu nichts verpflichtender Freundschaftsbekundung sich in Florenz anhören würde, wenn der Mann in angenommenen Italienisch Fiehrentze durch die Zähne stieße. Nur nebenbei: Da steht, nicht weit von unserem Mann entfernt, schräg gegenüber sozusagen, flankiert vom Pressehaus und dem Bezirkssitz der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, die Brama Krolewska, wortwörtlich klar „das Königstor“, efeuumrankt in friderizianischem Barock, Erinnerung an Friedrich Wilhelm I., Sitz der Marinemaler und Marineschreiber, Pendant zur nahen Brama Portowa, dem Hafentor, das eben jener Preußenkönig zur Erinnerung an seinen Sieg über die Schweden errichten ließ. Es war ein finanzieller Sieg, über den der König sich ärgerte und unter dem das ausgepresste Volk zu leiden hatte: Er kaufte das widerspenstige Stettin und einundachtzig Quadratmeilen Boden dem schwedischen Hof für zwei Millionen Taler Preußisch Courant ab - im Hafentor ist das Modell des neuen Szczecin zu besichtigen. Ich weiß nicht, ob der Mann, der auf dem Platz zum Weißen Adler steht, dies seiner Truppe ebenfalls erklärt. Auch weiß ich nicht, ob er, den kunstvollen hundertachtzigjährigen Adlerbrunnen fotografierend, mit Kind im Vordergrund („Nun lach doch mal!“), das klassizistische Palais in seinem Rücken zur Kenntnis nimmt. Hier wurde am 2. Mai 1729 als Tochter des preußischen Gouverneurs von Stettin die nachmalige russische Kaiserin Katharina II. geboren. Vielleicht weiß er das alles, und vielleicht ist es nicht mehr wichtig für ihn. Er sagt, viel leiser als das laute falsche Tschetschiehn, vorsichtig sichernd hinter vorgehaltener Hand, zu seiner Frau: „Dies ist der ehemalige Rossmarkt. Ich weiß nicht, was den Mann so ängstlich macht. Was er da verschwörerisch geheimnisvoll mitteilt, steht in jedem Szczeciner Stadtführer. Mir scheint, seine Furcht, in ein (gar nicht vorhandenes) Fettnäpfchen zu treten, hat ihre Ursache in mangelnder Kenntnis z. B. folgender Fakten:
Erstens: Die ganzen Altstadt-Souvenirs Szczecins, von den Nazis großenteils als Trümmer hinterlassen, sind - ähnlich wie in Gdansk und Wroclaw - von den jetzigen Bewohnern der Stadt unter Opfern und Mühen und Hintanstellung anderer berechtigter Wünsche originalgetreu wiederhergestellt worden. Die Szczeciner haben Gut und Geld daran gewandt, kulturgeschichtlich Wertvolles zu erhalten. Die Stadt hat die besten Denkmalschutzgesetze der Welt: Kein alter Stein darf bewegt, keine Spitzhacke gegen ein Kellergewölbe erhoben, kein Bulldozer gegen eine Mauer gesetzt, kein Axthieb gegen einen hundertjährigen Baum geführt werden, ohne dass zeitraubende Expertisen wissenschaftlicher Gutachter dies genehmigt hätten. Meist genehmigen sie es nicht.
Zweitens: Dieses oft über Jahrhunderte geknebelte, zerstückelte, in seiner staatlichen Existenz zeitweilig sogar von der Landkarte gestrichene, dieses beleidigte, vertriebene polnische Volk hat in seinem ungebrochenen Lebenswillen einen bisweilen mit Unverständnis betrachteten Sinn für Tradition bewahrt und gefördert. Seine Geschichte ist bunt und vielfältig, in seine Kulturhistorie sind Elemente fast ganz Europas eingeflossen. Dieser Tatsache ist sich das Volk bewusst. Es hegt und pflegt das Andenken an jene wechselvolle Geschichte auch in den Baudenkmälern. Und es hat beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung in seinem Bewusstsein wohl niemals einen Bruch mit seiner Geschichte erlebt: die Szczeciner Hauptstraßen sind nach den Helden von Stalingrad benannt und nach Boleslaw Schiefmund, nach polnischen Partisanen und pommerschen Herzögen, nach Karl Marx und Königin Hedwig. Die Statuen und Baudenkmäler der Stadt erinnern an den historischen Befreiungstag vom 26. April 1945 und an den preußischen Huldigungstag, an die im gemeinsamen Kampf gefallenen sowjetischen und polnischen Soldaten und an Bischof Otto von Bamberg, an Adam Mickiewicz und den Reichsfürsten Herzog Boguslaw. Der Mangel an Wissen von diesem Geschichtsbewusstsein ließ unseren Mann die Hand vor den Mund halten, als er den Platz zum Weißen Adler als den früheren Rossmarkt „enthüllte“. Genug davon.
Inmitten der wiederhergestellten Originalität, zu der bedauerlicherweise auch die Kopfsteinpflasterstraßen gehören, eingebettet in Straßenzüge voll restaurierter, pastellfarbener Bürgerhäuser aus dem vorigen Jahrhundert (Neo-Klassizismus und Jugendstil aus der Zeit der Gründerjahre und der ersten Stettiner Dampfschiffe), ist in dreißig Jahren stürmischer Aufbauarbeit das neue Szczecin emporgewachsen, hellgrau bis weiß in luftige Höhen ragend. Der Lückenbebauung entsprechend sind auf den Trümmerstätten sinnvoll in das Gesamtensemble eingepasste fünf- bis sechsgeschossige Wohnhäuser errichtet worden; mit roten Ziegeldächern wie die alten Nachbarn. Die alten Straßen gehen über in neue Straßenzüge mit zehn- und mehrstöckigen Scheibenhäusern, behängt mit vielfarbigen Balkons. Die Parterretrakte dienen in jedem Fall allgemeiner Kommunikation: Espressos, Gaststätten, Geschäfte unterschiedlichster Art, eine bestürzende Fülle von Kosmetik-Salons, Klubs, Bibliotheken, französische Cafés mit weit auf die Gehwege vorgezogenen Kaffeegärten beherrschen das innerstädtische Bild, daneben Souterrain- und Kellergeschäfte privater Einzelhändler, bei denen man für teures Geld und ohne Garantieverpflichtung von der original-texanischen Niethose bis zum Lammfellpelz und zum Lacklederstiefel alles kaufen kann. Gott und das Finanzamt allein mögen wissen, woher sie das haben.
In ausgebauten getünchten und getäfelten Kellergewölben aus grauer Vorzeit haben gewerkschaftliche Klubs, Jugend-Diskotheken und Beat-Lokale (schmiedeeiserne Leuchter, maritime Versatzstücke, eine Fülle gut gestalteter Plakate) ihr Domizil gefunden. In den ruhigen, baum- und parkreichen Außenbezirken bestimmen vornehme Villen und gepflegte Einfamilienhäuser, an zentralen Punkten von weißen Kuben auch aus der DDR importierter Kaufhallen markiert, das Bild der Stadt. Hier und da ein kleines, verschwiegenes Restaurant, ein selbst im Winter gut bestückter Blumenladen (daneben dann ein Fleischgeschäft mit Kundenschlangen), Ruhe und Beschaulichkeit. In den Neubauvierteln weiße Hochhausschachteln ohne Kommunikationselemente, zwanzigtausend Einwohner und ein Supermarkt - kaum junge Bäumchen: Das könnte überall sein, bei uns, in Bratsk oder in Brasilia. Hier verliert die Stadt ihr Fluidum, ihr Gesicht, ihre Atmosphäre, an der sie sonst so reich ist. So reich wie an den Menschen, die sie so gemacht haben. Um die geht es.
Der Mann, der in vielerlei Hinsicht den wahrscheinlich größten persönlichen Anteil daran hat, dass die Stadt heute so aussieht, ist in den USA. Auf Vortragstournee. Er ist ein viel beschäftigter Mann.
Wer auszieht, um Erkundigungen über ihn einzuholen, braucht nur durch die Stadt zu gehen. Es gibt wenige Straßen, Plätze, Stadtteile, wo der Mann nicht seine Spuren hinterlassen hat. Seine Spuren und seine Handschrift.
Mit dreihundert Quadratkilometer Ausdehnung ist Szczecin die zweitgrößte Stadt Polens. Wenn es nach den Intentionen jenes Mannes geht (und es ist wenig wahrscheinlich, dass es nicht nach ihnen geht), dann sollte sie noch etliche Quadratkilometer größer und mindestens auch die zweitschönste Stadt des Landes werden.