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Yasmina Rezas Stücke sind grandioses Theater, aber auch ein großes Lesevergnügen. Der Gott des Gemetzels, 2006 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt, spielt auf der Grenze zwischen Gesellschaftssatire und menschlichem Desaster. Zwei Elfjährige haben sich geprügelt, dabei schlug der eine dem anderen zwei Zähne aus. Die beiden Elternpaare treffen sich zum klärenden Gespräch. Hinter der Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit tun sich Abgründe auf – schockierend und komisch zugleich. Der Gott des Gemetzels wurde zu Yasmina Rezas bekanntestem Stück, nicht zuletzt durch Roman Polanskis Verfilmung 2011 mit Kate Winslet und Christoph Waltz.
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Seitenzahl: 64
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Der Gott des Gemetzels spielt auf der Grenze zwischen
Gesellschaftssatire und menschlichem Desaster. Zwei Elfjährige haben sich geprügelt, dabei schlug der eine dem anderen zwei Zähne aus. Die Elternpaare treffen sich zum klärenden Gespräch. Hinter der Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit tun sich Abgründe auf. 2011 verfilmte Roman Polanski das Stück mit Kate Winslet und Christoph Waltz.
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Yasmina Reza
Der Gott des Gemetzels
Schauspiel
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Carl Hanser Verlag
Personen:
VÉRONIQUE HOUILLÉ
MICHEL HOUILLÉ
ANNETTE REILLE
ALAIN REILLE
(alle zwischen 40 und 50 Jahren alt)
Ein Wohnzimmer
Kein Realismus
Keine überflüssigen Elemente
Die Houillés und die Reilles sitzen einander gegenüber. Es sollte sofort erkennbar sein, dass es sich um das Wohnzimmer der Houillés handelt und die beiden Ehepaare sich soeben kennengelernt haben. In der Mitte ein niedriger Tisch, bedeckt mit Kunstbänden. Zwei große Tulpensträuße in Vasen. Es herrscht eine ernste, herzliche und tolerante Stimmung.
VÉRONIQUE: Also, unsere Stellungnahme … Sie fassen dann Ihre eigene ab … »Am 3. November um 17 Uhr 30 schlug Ferdinand Reille, 11 Jahre, bewaffnet mit einem Stock, nach einer verbalen Auseinandersetzung auf dem Square de l’Aspirant Dunand unserem Sohn Bruno Houillé ins Gesicht. Die Folgen dieser Tat sind neben einer geschwollenen Oberlippe zwei abgebrochene Schneidezähne, beim rechten Schneidezahn einhergehend mit Schädigung des Nervs.«
ALAIN: Bewaffnet?
VÉRONIQUE: Bewaffnet? »Bewaffnet« gefällt Ihnen nicht, aha, was sollen wir sagen, Michel, ausgestattet, ausgerüstet, ausgestattet mit einem Stock, ist Ihnen das recht?
ALAIN: Ausgestattet ja.
MICHEL: Ausgestattet mit einem Stock.
VÉRONIQUE:(korrigiert) Ausgestattet. Das Ironische an der Sache ist, dass wir den Square de l’Aspirant Dunand immer für einen Hort der Sicherheit gehalten haben, anders als den Parc Montsouris.
MICHEL: Ja, das stimmt. Wir haben immer gesagt, der Parc Montsouris nein, der Square de l’Aspirant Dunand ja.
VÉRONIQUE: So kann man sich irren. Jedenfalls danken wir Ihnen, dass Sie gekommen sind. Keiner hat was davon, wenn wir uns von Gefühlsmechanismen steuern lassen.
ANNETTE: Wir haben zu danken. Wir.
VÉRONIQUE: Ich glaube, wir brauchen uns nicht gegenseitig zu danken. Zum Glück gibt es immer noch die Kunst des zivilisierten Umgangs miteinander, oder?
ALAIN: Die die Jungs offenbar nicht beherrschen. Also, ich meine unserer!
ANNETTE: Ja, unserer! … Und was wird aus dem Zahn, dessen Nerv verletzt ist? …
VÉRONIQUE: Tja, das ist noch unklar. Die Ärzte sind zurückhaltend mit einer Prognose. Anscheinend liegt der Nerv nicht gänzlich bloß.
MICHEL: Nur eine kleine Stelle liegt bloß.
VÉRONIQUE: Ja. Ein Teil liegt bloß, der Rest ist noch geschützt. Deswegen wird der Zahn nicht verödet, jedenfalls vorerst nicht.
MICHEL: Der Zahn soll noch eine Chance bekommen.
VÉRONIQUE: Es wäre auf jeden Fall besser, eine Wurzelkanalbehandlung zu vermeiden.
ANNETTE: Ja …
VÉRONIQUE: Also wird der Zahn jetzt beobachtet, damit der Nerv eine Chance hat, sich zu erholen.
MICHEL: So lange bekommt er ein keramisches Inlay.
VÉRONIQUE: Ein Zahnersatz kann jedenfalls nicht vor dem achtzehnten Lebensjahr gemacht werden.
MICHEL: Nein.
VÉRONIQUE: Dauerhafter Zahnersatz wird erst nach abgeschlossenem Wachstum eingesetzt.
ANNETTE: Natürlich. Ich hoffe, dass … Ich hoffe, dass alles gut wird.
VÉRONIQUE: Hoffen wir’s.
Leichte Unschlüssigkeit.
ANNETTE: Hinreißend, diese Tulpen.
VÉRONIQUE: Die sind von dem kleinen Blumenladen im Mouton-Duvernet-Markt. Sie wissen schon, ganz oben der.
ANNETTE: Ah ja.
VÉRONIQUE: Sie kommen jeden Morgen frisch aus Holland, zehn Euro für einen Arm voll, fünfzig Stück.
ANNETTE: Ach was!
VÉRONIQUE: Sie wissen schon, ganz oben der.
ANNETTE: Ja, ja.
VÉRONIQUE: Haben Sie gewusst, dass er Ferdinand nicht verraten wollte.
MICHEL: Nein, wollte er nicht.
VÉRONIQUE: Das war beeindruckend, dieses Kind mit seinem zerschmetterten Gesicht, den zerschmetterten Zähnen zu sehen, das ihn partout nicht verraten wollte.
ANNETTE: Kann ich mir vorstellen.
MICHEL: Aber seien wir ehrlich, Véronique, das lag auch daran, dass er vor seinen Klassenkameraden nicht als Denunziant dastehen wollte, das war nicht nur Tapferkeit.
VÉRONIQUE: Stimmt schon, aber Tapferkeit ist auch eine Art Gemeinschaftssinn.
ANNETTE: Natürlich … Und wie …? Also, ich meine, wie haben Sie erfahren, dass es unser Ferdinand war?
VÉRONIQUE: Wir haben Bruno erklärt, dass er diesem Jungen keinen Gefallen tut, wenn er ihn deckt.
MICHEL: Wir haben zu ihm gesagt, wenn dieser Junge denkt, er kann ungestraft drauflosprügeln, warum sollte er dann damit aufhören?
VÉRONIQUE: Wir haben zu ihm gesagt, wenn wir die Eltern dieses Jungen wären, wir würden unbedingt Wert darauf legen, dass man uns informiert.
ANNETTE: Natürlich.
ALAIN: Ja … (sein Handy vibriert) Entschuldigen Sie bitte … (er entfernt sich von der Gruppe; während er spricht, zieht er eine Tageszeitung aus der Tasche) … Ja, Maurice, danke für den Rückruf. Ja, im »Echo« von heute, ich lese Ihnen die Stelle vor … »Laut einer in der englischen Zeitschrift ›Lancet‹ veröffentlichten, gestern in der ›F.T.‹ nachgedruckten Studie haben zwei australische Forscher die neurologischen Nebenwirkungen des Blutdrucksenkers Antril vom Hersteller Verenz-Pharma untersucht, die von verminderter Hörfähigkeit bis zu Ataxie reichen können.« … Wer hat bei Ihnen eigentlich ein Auge auf die Presse? … Ja, das ist eine große Scheiße … Nein, was mich vor allem ankotzt, ist die Versammlung in zwei Wochen, Sie haben doch bald Ihre Aktionärsvollversammlung. Sind Sie auf diesen Konflikt vorbereitet? … Okay … Und Maurice, Maurice, fragen Sie Ihren Pressechef, ob das noch andere Zeitungen gebracht haben … Bis gleich. (er legt auf) … Entschuldigen Sie bitte.
MICHEL: Sie sind …
ALAIN: Anwalt.
ANNETTE: Und Sie?
MICHEL: Ich habe einen Großhandel mit Haushaltsartikeln, Véronique ist Schriftstellerin und arbeitet halbtags in einer Kunst- und Geschichtsbuchhandlung.
ANNETTE: Schriftstellerin?
VÉRONIQUE: Ich habe an einem Gemeinschaftswerk über die Zivilisation von Saba mitgewirkt, vor dem Hintergrund der Ausgrabungen, die nach dem äthiopisch-eritreischen Krieg wieder aufgenommen wurden. Und jetzt im Januar bringe ich ein Buch über die Tragödie von Darfur heraus.
ANNETTE: Sie sind auf Afrika spezialisiert.
VÉRONIQUE: Ich interessiere mich für diesen Erdteil.
ANNETTE: Haben Sie noch weitere Kinder?
VÉRONIQUE: Bruno hat eine neunjährige Schwester, Camille. Sie ist gerade böse auf ihren Vater, weil ihr Vater heute Nacht ihren Hamster weggeschafft hat.
ANNETTE: Sie haben ihren Hamster weggeschafft?
MICHEL: Ja. Dieser Hamster veranstaltet nachts einen unerträglichen Lärm. Das sind nachtaktive Tiere. Bruno hatte Schmerzen, dieser Lärm hat ihn völlig fertiggemacht. Ehrlich gesagt hatte ich den Hamster schon längst abschaffen wollen, und jetzt hab ich gesagt, es reicht, ich hab ihn genommen und auf die Straße gesetzt. Ich hab gedacht, diese Tiere fühlen sich im Rinnstein wohl, in der Kanalisation, aber denkste, er saß auf dem Bürgersteig wie versteinert. Offenbar sind Hamster weder Haustiere noch Wildtiere, ich weiß nicht, wo die eigentlich leben. Bringst du einen Hamster auf eine Lichtung im Wald, ist er da genauso unglücklich. Ich weiß nicht, wo man mit so einem Tier hinsoll.
ANNETTE: Sie haben ihn draußen gelassen?
VÉRONIQUE: Er hat ihn draußen gelassen und Camille erzählt, er sei weggelaufen. Aber sie hat ihm nicht geglaubt.
ALAIN: Und heute Morgen war der Hamster weg?
MICHEL: Weg.
VÉRONIQUE: Und Sie, in welcher Branche arbeiten Sie?
ANNETTE: Ich bin Vermögensberaterin.
VÉRONIQUE: Wäre es vorstellbar … entschuldigen Sie, dass ich so direkt frage, dass Ferdinand sich bei Bruno entschuldigt?
ALAIN: Ich fände es gut, wenn sie miteinander reden.
ANNETTE: Er muss sich entschuldigen, Alain. Er muss ihm sagen, dass es ihm wirklich leid tut.
ALAIN: Ja, ja. Sicher.
VÉRONIQUE: Tut es ihm denn wirklich leid?
ALAIN: Er weiß, was er angestellt hat. Die Folgen waren ihm nicht bewusst. Er ist erst elf.
VÉRONIQUE: Mit elf ist man kein Baby mehr.
MICHEL: Aber auch noch kein Erwachsener! Wir haben Ihnen ja gar nichts angeboten, Kaffee, Tee, ist noch was von dem Clafoutis da, Véro? Ein ausgezeichneter Clafoutis!
ALAIN: Gern einen Espresso.
ANNETTE: Nur ein Glas Wasser.
MICHEL:(zu Véronique, die hinausgeht) Für mich auch einen Espresso, Liebling, und bring den Clafoutis mit. (nach kurzer Unschlüssigkeit)