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Der Grendel, eine Schreckgestalt aus den uralten Mythen des Junganischen Imperiums, ist der Verbannung entflohen und lebt nun unerkannt unter den Menschen des frühmittelalterlichen Schwarzwaldes. Noch ahnt er nicht, dass seine Widersacherin, die Hexe Gwendolyn, sich auf die Suche nach einem magischen Artefakt begibt, das die Macht besitzt, ihn zu vernichten. Ebenso wenig ahnt er, dass in den Tiefen des Alls Kräfte danach streben, ihn zu befreien, während das Imperium seine Streitkräfte sammelt, um gegen ihn zu Felde zu ziehen. Einer Sache ist sich der Grendel jedoch gewiss: Vor ihm liegt ein arbeitsreicher Tag voller Entführungen, grausamer Rache und einem lausigen Frühstück in der übelsten Spelunke aller Zeiten.
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HYBRID VERLAG
Vollständige elektronische Ausgabe
10/2023
Der Grendel – Das Grab des Wächters
© by Robin Li
© by Hybrid Verlag
Westring 1
66424 Homburg
Umschlaggestaltung: © 2023 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco
Lektorat: Rudolf Strohmeyer
Korrektorat: Petra Schütze
Buchsatz: Rudolf Strohmeyer
Autorenfoto: Patricia Schichl
Coverbild ›Menschen und andere seltsame Wesen‹
© 2022 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco
Coverbild ›Humbug über Xenosol‹
© 2021 by Creativ Work Design, Homburg
Stock-Illustration-ID:1203818959 / Bildnachweis:WhataWin Weltall
Stock-Fotografie-ID:1195952247 / Bildnachweis: cihatatceken
Lizenzfreie Stockfoto-Nummer: 181424567 / Bildnachweis: Aphel-leon – Planet
ISBN 978-3-96741-234-5
www.hybridverlag.de
www.hybridverlagshop.de
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Printed in Germany
Robin Li
Der Grendel
Das Grab des Wächters
Fantasy-Roman
Wir erinnern uns …
Kapitel 1 — Auf der Jagd
Kapitel 2 — Was zum Geier …
Kapitel 3 — Schwein oder nicht Schwein
Kapitel 4 — Operation Tabula rasa
Kapitel 5 — Am Abgrund
Kapitel 6 — Der Rekrut
Kapitel 7 — Vielen Dank für das Gespräch
Kapitel 8 — Rückschlag
Kapitel 9 — Heldenträume
Kapitel 10 — Alte Feinde, neue Freunde
Kapitel 11 — In der Falle
Kapitel 12 — Der Köder
Kapitel 13 — Bei Anruf Pannendienst
Kapitel 14 — Kämpfernatur
Kapitel 15 — Grabesstille
Kapitel 16 — Das Duell der Götter
Kapitel 17 — Verrat
Kapitel 18 — Da waren’s nur noch zwei
Kapitel 19 — Reingefallen
Kapitel 20 — Ideale
Kapitel 21 — In den Händen des Feindes
Kapitel 22 — Der General
Kapitel 23 — Bettgeschichten
Kapitel 24 — Wiedersehen
Kapitel 25 — Psychologische Kriegsführung
Kapitel 26 — Das Imperium grüßt zurück
Kapitel 27 — Im Schmutzigen Eber
Kapitel 28 — Verhandlungssache
Nachwort
Danksagung
Die Autorin
Hybrid Verlag …
Gewidmet all jenen, die nicht aufgeben.
Ich bewundere deine Fähigkeit, mit wenigen Worten die Fehlerhaftigkeit der Existenz zu offenbaren.
Aber irgendwann ist auch mal gut, Gwen!
Imperator N.G.E. Toddendron
Junganische Schätze der Literatur,
Die weisen Worte des Imperators — Band 112,
kommentierte Sonderausgabe
Wir erinnern uns …
Wer hat nicht schon vom Grendel gehört — von dem Monster, das vor 6000 Jahren das gesamte Imperium in Angst und Schrecken versetzte.
Aber hatte der Grendel diesen Hass, und vor allem seine Jahrtausende währende Verbannung auf den Planeten Erde, wirklich verdient? Eine berechtigte Frage, der sich nicht nur die Bewohner des Junganischen Imperiums stellen mussten. Auch für die Erde spielte sie zur ersten Jahrtausendwende des christlichen Zeitalters eine entscheidende Rolle.
In Sonnenberg, einem Herzogtum im Schwarzwald des frühmittelalterlichen Europas, muss der frischgebackene Herzog Konstantin einen schweren Schlag hinnehmen. Kurz nach dem Tod seines Vaters ereilt ihn auch der Verlust seines mächtigsten Kriegers, des bei Freund und Feind berüchtigten Hauptmanns Kaiman Morgenstern.
Der Hauptmann verlässt Sonnenberg nicht ganz freiwillig. Er ist das Opfer einer Entführung durch eine weitere Verbannte, die sich im Schwarzwald als Hexe Gwendolyndie Gute einen Namen gemacht hat. Weil diese vermutet, dass es sich bei dem Hauptmann ebenfalls um einen Verbannten handeln könnte, hilft sie ihm, tief verborgene Erinnerungen an sein früheres Leben freizulegen, ohne zu ahnen, dass sie damit den gefürchteten Grendel höchstpersönlich entfesselt. Gegen ein so mächtiges Wesen scheint ihr jeder Widerstand aussichtslos, aber dennoch fühlt sie sich verpflichtet, ihren Fehler zu korrigieren und den Kampf aufzunehmen.
Eine weitere Persönlichkeit, gegen die jede Gegenwehr lange Zeit aussichtslos erschien, ist der Junganische Chefinspektor Kol Menonsens, ehemals Richter und im Anschluss daran für beinahe 6000 Jahre der Leiter des Junganischen Archivs. Nach und nach wurde er zum mächtigsten Mann des gesamten Junganischen Reiches. Selbst der Imperator wagt es nicht, an seinem Thron bzw. Chefsessel zu rütteln.
Niemandem wäre es eingefallen, ihn mit Verfehlungen zu konfrontieren, die er vielleicht, vielleicht aber auch nicht, während seiner Amtszeit beging. Niemandem — außer der Archivsachbearbeiterin Kimmi, die den Mut aufbringt, die Wahrheit hinter dem Grendelmythos aufzudecken und somit nicht nur an Menonsens’ Stuhl zu sägen, sondern das komplette Archiv ins Chaos zu stürzen. Derzeit ahnt sie noch nicht viel von den Unruhen, die ihr Ausflug an die Grenzen des Imperiums erzeugen wird. Noch fliegt sie unverdrossen Seite an Seite mit Red, einem alten Schulfreund des Grendel, durchs All und gibt sich alle Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr der Kerl ihr auf die Nerven geht.
Aber ich will nicht vorgreifen. Lassen Sie uns nun gemeinsam verfolgen, wie es dem Grendel ergeht. Viel Vergnügen mit unserer Reihe Der Grendel wünschen Ihnen Ihr Lieblingsmoderator Karlos Integer und Ihr bevorzugtes unabhängiges Nachrichtenportal Vereine im Weltall, freundlicherweise gesponsert von Ihrem Lieblings-Intergalaktik-Shop SELFISH und es ist purer Zufall, dass Kimmi ihr Schiff, einen Flitzer Variante b, genau dort erworben hat.
Kapitel 1 — Auf der Jagd
Junganisches Imperium,
Archiv,
Büro von Chefinspektor Kol Menonsens,
5 Minuten vor 12
11:55 Uhr Imperialzeit
»Er ist was?«
Ross wagte es nicht, sich die Spucke seines Vorgesetzten aus dem Gesicht zu wischen. Er fürchtete, die bläulich pulsierenden Adern auf dessen krebsroter Stirn könnten platzen, wenn er sich noch mehr aufregte.
Endlich ließ sich Chefinspektor Kol Menonsens wieder in seinen Sessel fallen. »Na schön. Jetzt mal hübsch langsam. Was genau ist passiert?«
Ross schluckte. Er hatte all seinen Mut benötigt, um Kol zu beichten, dass der gefährlichste Gefangene aller Zeiten seinem Gefängnis entkommen war. Andererseits ist das Schlimmste damit vielleicht erledigt, sagte er sich. Am besten, ich fange am Anfang an.
»Nun, Chefinspektor, Sie erinnern sich vielleicht, dass Sie diese Archivmitarbeiterin Khimera Wallectris suspendiert haben?«
»Natürlich erinnere ich mich. Diese Wahnsinnige hat autorisiert, dass einer meiner Wächter einen Drachen auf die Bevölkerung eines primitiven Planeten loslässt. Was hat das damit zu tun?«
Ross schluckte. »Nun ja, sie hat die Rettungsaktion mit dem Drachen nur autorisiert, weil der zu Rettende einer unserer Gefangenen war. Der Gefangene, um genau zu sein.«
Der Chefinspektor rollte mit den Augen. »Und was hat das damit zu tun, dass er geflohen ist? Hat er vielleicht den Drachen entführt?«
Als ob man barfuß über Glasscherben spaziert, dachte Ross. Er spürte, dass sich ein Schweißtropfen an seiner Schläfe entlang in die Tiefe arbeitete und wischte ihn fort. »Nein, das nicht. Aber die Archivmitarbeiterin musste ersetzt werden. Der Ersatzmann sah sich gezwungen, Entscheidungen zu treffen, ohne zuvor Gelegenheit gehabt zu haben, sich vollends mit der Situation vertraut zu machen.«
Kol stutzte und beugte sich vor. »Hatte ich nicht dich damit beauftragt?«
Nach einem tiefen Atemzug fand Ross endlich die Kraft, ihm zu antworten. »Durchaus, ja. Leider war es mir nicht möglich …«
»Wenn du nicht augenblicklich zum Punkt kommst, lass ich dich kielholen«, knurrte Kol.
Wir sind hier auf einer Raumstation, dachte Ross und erschauerte. »Also gut, die Kurzfassung: Eine andere Verbannte hat ihm zur Flucht verholfen und sein zuständiger Wächter, ein Mann namens Kondor, kann ihn nicht finden. Außerdem besitzt er ein Artefakt und …«
»Was?«, brüllte Menonsens. Genau wie zu Anfang war er aufgesprungen und stand Nase an Nase vor Ross. »Kannst du dir vorstellen, wozu ein Kerl wie der Grendel mit einer Superwaffe wie einem Artefakt imstande ist?«
»Nein«, gestand Ross. Seit 6000 Jahren hatte es niemand gewagt, sich den Grenzen der Macht eines Artefaktes auch nur zu nähern. Nicht, seit der Grendel die gesamten Streitkräfte der Galaxis damit ausradiert hatte. Ross wurde schwindlig bei dem Gedanken, wie weit der Grendel es noch treiben konnte. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«
Kol verschränkte die Arme hinter dem Rücken und tigerte in seinem Büro auf und ab. Ross stand stocksteif und hoffte, sich unauffällig aus dem Staub machen zu können, aber der Chefinspektor war noch nicht fertig mit ihm. Er stoppte mit erhobenem Zeigefinger. »Die Akte! Früher oder später verfällt jeder in ein Muster. Du und der Wächter, ihr kümmert euch darum und sucht in der Akte nach Hinweisen, wie und wohin er sich verdünnisiert haben könnte.«
Technisch gesehen wäre es möglich, im Boden zu versinken, überlegte Ross. Immerhin habe ich auch ein Artefakt. Leider würde das bei Kol nicht gut ankommen. »Ähm …«
»Was?«
»Ich fürchte, wir können uns nicht in die Akte vertiefen. Chefinspektor, Sie erinnern sich vielleicht, dass Sie mich beauftragt hatten, die Akte von Mitarbeiterin Wallectris zurückzufordern?«
Kols Stimme bekam einen lauernden Unterton. »Jaaaa?«
»Nun, leider habe ich beide noch immer nicht finden können.«
»Du hast …«
Um nicht wieder hervorquellende Adern sehen zu müssen, beeilte sich Ross mit der Erklärung. »Der Kontakt zu ihr und ihrem Schiff ist abgebrochen. Recherchen haben ergeben, dass sie zuletzt in Richtung der alten Sonnenwandererfabrik gesichtet wurde. Dort arbeitet nur noch eine einzige Person, ein gewisser Redorak Jorrdan. Den Aussagen meiner KI zufolge ist er ein alter Bekannter des Grendels. Außerdem wurde Wallectris im Museum für primitive Frühgeschichte gesichtet, wo eine steinerne Uhr ausgestellt ist, die angeblich vom Grendel konstruiert wurde. Und es kursieren Gerüchte, dass sie den Ratsherren Vincent Toddendron besucht hat, den Vater von Novas Toddendron, dem Erfinder des Artefaktes, der, wie Sie sich vielleicht erinnern, vom Grendel ermordet wurde.
Betrachtet man all diese Faktoren, dann liegt der Schluss nahe, dass Wallectris dem Grendel nachspürt. Der Grund dafür ist mir nicht bekannt, aber vielleicht können wir herausfinden, wen sie als Nächstes besucht und sie auf diese Weise ausfindig machen.
»Nein!«, dröhnte Menonsens. »Das wirst du schön bleiben lassen. Noch weiß niemand, dass der Grendel sich abgesetzt hat, und das soll auch so bleiben. Du wirst mir nicht die ganze Galaxis in Aufregung versetzen, ist das klar?«
Ross ließ den Kopf hängen und gab sich alle Mühe, nicht allzu erleichtert auszusehen. Er lebte noch und wurde nicht gefeuert.
»Du lässt dir gefälligst etwas einfallen, wie du den Kerl wiederfindest, hast du verstanden?«
Eifrig nickend bewegte er sich rückwärts zur Tür.
Kapitel 2 — Was zum Geier …
Erde, Herzogtum Sonnenberg, gleicher Tag,
nur ist es hier noch unchristlich früh
»Na schön, ich habe einen Fehler gemacht. Einen kapitalen Fehler, zugegeben. Den Grendel zu befreien, gehört ganz bestimmt nicht zu meinen ruhmreichsten Taten. Mir zittern immer noch die Knie, wenn ich daran denke, in wessen Gesellschaft ich die letzten Tage verbracht habe. Wenn du nur all die Geschichten kennen würdest! Einmal habe ich mich zwei Tage lang in einem Schrank versteckt, weil meine Mutter drohte, den Grendel zu holen, wenn ich noch einmal die Süßigkeitenvorräte plündere. Selbstkontrolle war damals noch ein Fremdwort für mich. Aber bei der Aussicht auf eine ganze Schachtel Pendorianischer Pralinen hätte ich mich ohnehin nicht zurückhalten können. Weißt du, es heißt, der Grendel verschleppe des Nachts Kinder aus ihren Betten, um sie zu foltern. Er lockt sie mit verzauberter Stimme fort und bringt ihnen Mathematik bei.«
»Gwen?«
Gwen blinzelte. Wald und Weg wackelten im Takt mit dem Schritt des Pferdes, auf dem sie saß. Unwillkürlich klammerte sie sich fester um Alois’ Hüften und legte ihr Kinn auf seiner Schulter ab. »Ja?«
»Gwen, ich weiß immer noch nicht, wovon du sprichst. Seit ich dir aufs Pferd geholfen habe, plapperst du in einer Tour vor dich hin. Das ist ja ganz süß, aber ich wüsste schon gerne, worum es geht.«
Natürlich. Alois war Folterknecht in der Burg des Herzogs von Sonnenberg. Ein Mann von der Erde. Was wusste der Arme schon von den Schrecken ihrer Kindheit, die Jahrhunderte zurücklag und sich in einem vollkommen anderen Teil der Galaxis abgespielt hatte? Alois konnte nichts dafür, dass sein bester Freund sich als meuchelmordender Psychopath entpuppt hatte. Obwohl, wenn sie genauer darüber nachdachte, dann hätte dessen Ruf ihr durchaus einen Fingerzeig geben können. Als Hauptmann Kaiman Morgenstern hatte er sicher Hunderte von Feldzügen angeführt und Tausende von Menschen ermordet. Wahrscheinlich wäre es klug gewesen, diesem Umstand etwas mehr Beachtung zu schenken, bevor sie ihm die mächtigste Waffe des Universums aushändigte, nur um herauszufinden, ob er ein Kollege von ihr wäre. Wenigstens in diesem Punkt hatte sie recht behalten. Er war einer.
»Gwen?«
»Ja, Alois?«
»Du bist so still. Führst du wieder Selbstgespräche?«
»Nein?«
»Lügst du mich gerade an?«
»Na schön! Es macht mir halt zu schaffen, dass er mich so leicht austricksen konnte, verstehst du?«
»Nein. Wer denn?«
»Na, Morgenstern natürlich!«
»Kai hat dich ausgetrickst?«
Gwen krallte ihre Finger mit Absicht fester in Alois’ Seite, aber er schien es gar nicht zu bemerken. »Er hat mich dazu gebracht, ihm mein Artefakt zu überlassen!«, rief sie empört.
Gwen konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er jetzt nachdenklich die Augen zusammenkniff und gleich mit seiner Ansicht der Dinge herausrücken würde. »Wenn ich mich nicht irre, dann hat nicht Kai darauf bestanden, deinen Schmuck aufzusetzen, sondern du.«
»Das ist doch jetzt nebensächlich. Wichtig ist, dass er damit abgehauen ist und ich mich ganz bestimmt nicht einfach so beklauen lasse! Ich muss ihm den Sternenreif wieder abjagen. Das Dumme ist nur, dass er jetzt …« Sie brach ab und überlegte, wie sie Alois die Situation am besten begreiflich machen könnte. »Er hat jetzt meine Magie und ich habe gar nichts. So kann ich nicht gegen ihn antreten.«
»Könntest du ihn nicht einfach bitten, dir den Schmuck zurückzugeben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wie Kai gerne mit so etwas herumläuft. Und von Magie hat er bisher auch nicht viel gehalten.«
»Ha!«, machte Gwen. »Du kennst ihn halt noch nicht so lange wie ich.«
»Wen? Kai?«
»Nicht Kai. Den Grendel!«
»Oh, gut, dass du auf ihn zu sprechen kommst. Dieser Grendel — wer genau soll das sein? Und warum wollte Kai, dass ich dir Grüße von ihm ausrichte?«
Gwen seufzte. »Nicht so wichtig. Wichtig ist nur, dass ich jetzt zur Burg komme und so schnell wie möglich mit Heinz von Kernten rede.«
»Dem Magier, gegen den du im Duell verloren hast?«
»Ich habe nicht gegen ihn verloren.«
»Es hat aber so ausgesehen.«
»Manchmal sind die Dinge eben kompliziert. Auf alle Fälle ist unser Ausflug nach Rom vorerst gestrichen, ich habe andere Pläne.«
»Komme ich zufällig darin vor?«
Gwen richtete sich auf, soweit ihr Sitz auf dem Pferd es zuließ. Sie drehte seinen Kopf zu ihr herum und gab ihm einen so innigen Kuss, dass sie sich erst von ihm löste, als ihr der Sauerstoff ausging.
»Du musst hier die Stellung halten. Vielleicht kommt der Mistkerl zurück, um an Sonnenberg grausame Rache zu üben.«
»Wir reden von Kai, oder?«
»Hast du mir zugehört?«
»Das habe ich, liebste Gwen. Ich fürchte, genau das ist das Problem. Aber wenn es um Morgenstern geht, da würde ich mir keine Sorgen machen. Der hat schon sein Leben lang Rache geübt, das gehört schließlich zu seiner Arbeit. Und ich weiß, wie wichtig ihm sein Feierabend ist. Heute Nacht wird er garantiert nichts unternehmen und morgen auch erst nach dem Frühstück.«
Gwen schmunzelte und kuschelte sich an seinen breiten Rücken. Manchmal war es gut, jemanden bei sich zu haben, der die Dinge aus einer anderen Perspektive sah.
Über dem Reiterpärchen fiel das fahle Licht eines satten Vollmondes durch die Baumwipfel. Gwen überlegte, ob nicht vielleicht die Mondphasen Schuld daran trugen, dass hier alles drunter und drüber ging. Oder der Mars stand im Quadrat zum Jupiter und überfiel gemeinsam mit Neptun Pluto im zwölften Haus oder so. Aber ob die Sterne nun etwas damit zu tun hatten oder nicht, es stand fest, dass einige Leute sich ausgesprochen ungewöhnlich aufführten. Zum Beispiel der Kerl, der plötzlich vor ihnen aus dem Gebüsch trat. Glücklicherweise stoppte das Pferd von selbst.
»Ich brauche euer Pferd«, verkündete der Mann schlicht.
»Der Geier? Was machst du denn hier?«, fragte Alois.
»Euch um das Pferd bitten.«
Der Folterknecht raunte Gwen zu: »Reg ihn bloß nicht auf. Der arme Kerl ist nicht ganz richtig im Kopf.«
»Da hast du wohl recht«, flüsterte sie zurück. »Warum sollte er sich sonst im stockfinsteren Wald rumtreiben?«
Der Geier räusperte sich. »Ich kann euch hören. Und ihr befindet euch ebenfalls im stockfinsteren Wald, wenn ich darauf hinweisen darf.«
Gwen ließ sich vom Rücken des Pferdes gleiten und betrachtete den Geier vom Boden aus. Sie hatte ihn schon einmal getroffen. An ihrem ersten Tag in Sonnenberg hatte er sie im Pferdestall angerempelt. Damals war er ihr allerdings kleiner erschienen und hatte einen schwachsinnigen Eindruck gemacht. Jetzt wirkte er verändert. Selbstsicherer. Wacher. Und größer. Es lag wohl daran, dass er aufrecht vor ihr stand. Von seinem Leiden, das ihn gezwungen hatte, eine nach vorn gebeugte und sehr unbequem anmutende Haltung einzunehmen, war nichts mehr zu erkennen.
Alois sprang elegant vom Pferd, trat näher und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Was ist los mit dir, mein Guter? Hast du getrunken?«
Der Geier ignorierte ihn und wandte sich an Gwen.
»Los jetzt, her mit dem Gaul. Ich hab’s eilig.«
Gwendolyn schob das Kinn vor. »Ach ja?«
Alois nahm die Hand von der Schulter des Mannes und drehte sich zu ihr herum. »Gwen, wir sollten ihn zum Schloss begleiten. Alleine …«
» … kommt er hervorragend zurecht«, beendete der Geier den Satz. »Vorausgesetzt, er bekommt seinen BioSynth zurück.«
Sein ausgestreckter Zeigefinger zeigte auf das Pferd. Gwen riss die Augen auf und entfernte sich so schnell von dem Tier, dass es selbst ihr vorkam, als hätte sie einen Raumrouter benutzt und wäre teleportiert.
»Kondor?«, fragte sie unsicher.
Alois, der Gwendolyns sportliche Leistung mit offenem Mund bestaunte, korrigierte sie. »Nein, Gwen, nicht Kondor, sondern Geier. Wir nennen ihn so, weil …«
»Natürlich«, unterbrach der Wächter. »Und vielen Dank, Gwendolyn, für deine Einmischung in Dinge, die dich nicht das Geringste angehen. Ich schätze, mir steht jetzt eine wirklich aufregende Nacht bevor.«
Vertraute und erfrischende Wut köchelte in Gwen empor. »Oh, ich danke dir. Danke, dass du mich nicht vor dem Grendel gewarnt hast und ich ihn für dich retten durfte!«, zischte sie.
Kondor starrte sie nachdenklich an und atmete tief durch. »Ich sollte dich übers Knie legen«, überlegte er laut.
Alois baute sich vor ihm auf. »Dafür musst du zuerst an mir vorbei!«
Gwen beobachtete, wie Kondor gemächlich seinen Blick von ihr löste und wie einen Scheinwerfer auf den Folterknecht richtete. Er schien ihn gerade das erste Mal zu bemerken. Seine Miene sagte aus, dass er schon Käfer gesehen hatte, die mehr Eindruck auf ihn gemacht hatten. »Ach ja?«
Plötzlich rutschte Alois ohne ersichtlichen Grund zur Seite. Seine Füße hinterließen tiefe Rillen in dem weichen Moos. Er schnappte nach Luft. Der Geier schlenderte an ihm vorbei und schwang sich kommentarlos aufs Pferd. Alois erholte sich von dem Schreck und starrte dem Davonreitenden hinterher. »Was ist denn in den gefahren?«
Gwen zuckte mit den Schultern. »Der ist nicht ganz richtig im Kopf.«
Kapitel 3 — Schwein oder nicht Schwein
Erde, Herzogtum Sonnenberg, etwas später am Morgen,
in der Schenke Zum Schmutzigen Eber,
die ihrem Namen alle Ehre macht
Der Wächter suchte nach ihm. Er wusste das, weil er ihn dabei beobachtete. Besser gesagt, er beobachtete einen kleinen Punkt auf einem improvisierten Bildschirm, der die Position des Wächters symbolisierte.
Sorglos griff der Grendel zu dem Becher mit dünnem Wein, der vor ihm auf dem schmierigen Eichentisch stand. Angewidert verzog er das Gesicht. Natürlich hätte er mit Hilfe des Artefaktes leicht Abhilfe schaffen können, aber in den letzten Jahrtausenden war er gut mit Unbequemlichkeiten fertig geworden, indem er sie einfach akzeptierte. Trotzdem wünschte er sich eine Tasse von Gwens Kaffee, möglichst heiß und ohne Milch.
In dieser Nacht hatte er kein Auge zugetan, sondern stattdessen wie verrückt gearbeitet. An genau dem Scanner, den er jetzt in Händen hielt. Er war die Mühe wert.
Die Spur aus winzigen Punkten auf der nagelneuen Scanneroberfläche verlief im Zickzackkurs durch den Wald. Offenbar hatte der Wächter nicht die geringste Ahnung, wo er mit seiner Suche beginnen sollte. Womöglich folgte er immer noch dem unschuldigen Häschen, dem der Grendel bei seiner Flucht den Peilsender anvertraut hatte.
Verständnislos schüttelte er den Kopf. Vom Weltraum aushätten die Chancen weitaus günstiger gestanden, ihnausfindig zu machen. Aber in der Atmosphäre ließ sich noch immer kein Schiff blicken. Zumindest nicht hier und in näherer Umgebung des Flusswaldes. Sie sind vorsichtiger geworden, vermutete er. Bestimmt erinnern sie sich noch sehr gut an das letzte Schiff, das mir zu nahe gekommen ist. Und auch jetzt werde ich es ihnen nicht leicht machen, mich einzufangen.
Er besaß nun ein Artefakt. Und er kannte ihren schwachen Punkt: Die Jungas verließen sich ihr ganzes Leben lang auf Technik. Allerdings schrumpfte die Zahl der Experten offenbar proportional zur verstreichenden Zeit. Wobei der Begriff Experte ungefähr so zutreffend war wie der Begriff Drucker für einen Bleistift. Glück für ihn, Pech für die Jungas. Sie hielten sich für sehr, sehr mächtig. Vielleicht waren sie das sogar, gemessen an den übrigen Bewohnern der Galaxis. Gemessen an mir sind sie einfach nur in der Überzahl, dachte er. Ein Blick auf den Scanner zauberte ein schmallippiges Lächeln auf sein Gesicht. Er musste sich ja nicht gleich mit dem gesamten Imperium anlegen. Dieser eine verwirrte Wächter genügte für den Anfang.
Aber in einer schmuddeligen Taverne würde er nicht viel ausrichten können. Hier kannte man ihn, wenn auch als Hauptmann von Sonnenberg, und damit war die Taverne kein gutes Versteck. Er brauchte einen Ort, um in aller Ruhe an seiner Erfindung Grendels Weg zu arbeiten, damit er sich den Wächter greifen konnte.
»Darf es noch etwas sein, Hauptmann?«
Der Grendel lächelte freudlos. Grendel oder Hauptmann, überall fürchteten sich die Leute vor ihm. In diesem Fall allerdings zu Recht.
Die massive Wand neben ihm, die sich bei näherer Betrachtung als Mann mit schmieriger Schürze entpuppte, wartete geduldig auf eine Antwort. Kessler, der Wirt des Zum schmutzigen Eber, bediente ihn ausgesucht höflich, während die übrigen Gäste sich ihre Bestellungen zu überhöhten Preisen an der Theke abholen durften.
»Nein, danke. Das hier war schon schlimm genug. Wie lange war denn das Schwein schon tot?«
Kessler besah sich die Überreste auf dem Teller. »Welches Schwein?«
Entschlossen schob er den Teller von sich.
Kessler zog offenbar seine Schlüsse daraus. Sein Vorgänger war nach einer ähnlichen Szene in den Folterkeller des Schlosses umgezogen. Er räusperte sich. »Geht auf Kosten des Hauses, Hauptmann.«
Der Grendel klaubte ein Stück Brot vom Tisch, das in einer Bierlache gelegen hatte. Er nahm es hoch und sah zu, wie es Fäden zog. »Das kommt einer angemessenen Entschädigung schon fast nahe.«
Als Wirt einer derartigen Gaststätte kannte Kessler sich zwangsläufig sehr gut mit Menschen aus. Er legte den Kopf ein wenig schief und riskierte damit, von dem Gewicht einer vor Bratfett starrenden Mähne zu Boden gezogen zu werden. »Bin ich verhaftet?«
Der Grendel dachte ernsthaft darüber nach, entschiedsich aber dagegen. »Nein. Ich schätze, jeder, der freiwillig hier einkehrt, hat es nicht besser verdient. Mich eingeschlossen.«
Das breite Grinsen des Hünen entblößte zahlreiche Folgen schlechter Zahnhygiene. Er schien ungemein erleichtert darüber, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, und beschritt ihn beharrlich weiter. »Gut zu wissen. Für das Zimmer brauchst du ebenfalls nicht zu bezahlen.«
»In Ordnung.« Er stand auf und zog sich seinen Mantel über, behielt den Scanner dabei aber stets im Blick.
»Wann bekomme ich das Zimmer denn zurück?«
Unvermittelt schenkte der Grendel ihm seine konzentrierte Aufmerksamkeit. »Jetzt gleich. Es ist alles noch da, keine Sorge. Ich habe sämtliche Kakerlaken sorgfältig nummeriert, du kannst sie ganz bequem nachzählen.«
Kessler stemmte die Hände in die Hüften. »Machst du dich über mich lustig, Hauptmann?«
Schön wär’s, dachte der Grendel. »Wie war das?«, donnerte er.
Sein Gegenüber verstand die Botschaft und schien einen halben Meter zu schrumpfen. Unruhig drehte er seine speckige Schürze in den Händen. »Ich sagte: sehr lustig, Hauptmann.«
»Wie du meinst.« Der Grendel steckte den Scanner ein, knöpfte den Mantel zu und strebte dem Ausgang und der damit einhergehenden frischen Luft entgegen.
»Also, dann gehe ich jetzt und — wechsle das Stroh oder so.«
»Gute Idee. Das ist sicher eine ganz neue Erfahrung für dich. Ich bin immer dafür, dass die Leute dazulernen.«
Begleitet vom verhaltenen Gelächter der wenigen anderen Gäste stiefelte Kessler die schmale Stiege hinauf.
Ein Hauch von Frühling wehte dem Grendel um die Nase. Hier draußen, wo ihn die anderen Gäste nicht sehen konnten, gönnte er sich ein breites Grinsen. Er dachte daran, was für ein Gesicht Kessler wohl machen würde, wenn er sah, dass die Kakerlaken tatsächlich Nummern auf dem Rücken trugen.
Kapitel 4 — Operation Tabula rasa
Junganisches Imperium, Archiv,
selbes Büro,
nur viel ungemütlicher
Inspektor Kol Menonsens knirschte mit den Zähnen.
»Und wie, glaubst du, könnte der Imperator herausgefunden haben, dass der Grendel sich abgesetzt hat?«
Ross duckte sich unwillkürlich. »Angeblich verfügt der Imperator über ein ausgezeichnetes Nachrichtennetz.« Das hatte vermutlich nicht viel mit der Situation zu tun, stimmte aber trotzdem. Mit etwas Glück würde sich Kol damit zufriedengeben.
»Verflucht seien diese Spitzel!«
Ross atmete auf. Vielleicht war ihm bei seinem Gespräch mit dem Artefaktexperten die eine oder andere Information entschlüpft, die er besser für sich behalten hätte.