Der größte Spaß, den wir je hatten - Claire Lombardo - E-Book
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Der größte Spaß, den wir je hatten E-Book

Claire Lombardo

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Beschreibung

Wie hält man das Glück der eigenen Eltern aus? Vierzig glückliche Ehejahre: Für die vier erwachsenen Sorenson-Schwestern sind ihre Eltern ein nahezu unerreichbares Vorbild – und eine ständige Provokation! Wendy, früh verwitwet, tröstet sich mit Alkohol und jungen Männern. Violet mutiert von der Prozessanwältin zur Vollzeitmutter. Liza, eine der jüngsten Professorinnen des Landes, bekommt ein Kind, von dem sie nicht weiß, ob sie es will. Und Grace, das Nesthäkchen, bei dem alle Rat suchen, lebt eine Lüge, die niemand ahnt. Was die vier ungleichen Schwestern vereint, ist die Angst, niemals so glücklich zu werden wie die eigenen Eltern. Dann platzt Jonah in ihre Mitte, vor 15 Jahren von Violet zur Adoption freigegeben. Und Glück ist auf einmal das geringste Problem.

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Über das Buch

Als Marilyn und David Sorenson sich in den 1970ern ineinander verliebten, ahnten sie nicht, was nach vierzig – glücklichen! – Ehejahren auf sie zukommen würde. Jede ihrer vier radikal unterschiedlichen Töchter befindet sich in ihrem Leben an einem Wendepunkt. Wendy, früh verwitwet, tröstet sich mit Alkohol und jungen Männern. Violet mutiert von der Prozessanwältin zur Vollzeitmutter. Liza, eine der jüngsten Professorinnen des Landes, bekommt ein Kind, von dem sie nicht weiß, ob sie es will, mit einem Mann, den sie nicht liebt. Und Grace, das Nesthäkchen, bei dem alle immerzu Rat suchen, lebt eine Lüge, die niemand ahnt. Was sie vereint, ist die Angst, niemals so glücklich zu werden wie ihre Eltern. Dann platzt Jonah in ihre Mitte, vor fünfzehn Jahren von Violet zur Adoption freigegeben. Und Glück ist auf einmal das geringste Problem.

Von Claire Lombardo ist bei dtv außerdem erschienen: Genau so, wie es immer war

Claire Lombardo

Der größte Spaß, den wir je hatten

Roman

Aus dem Englischenvon Sylvia Spatz

 

 

 

 

Für Sally und Tony Lombardo, meine Mutter und meinen Vater

Der größte Spaß, den wir je hatten

Der Nachwuchs

15. April 2000

Sechzehn Jahre zuvor

Andere Menschen wurden ihr schnell zu viel. Vielleicht seltsam für eine Frau, die zwar widerstrebend, aber sehenden Auges das Universum um vier Geschöpfe bereichert hatte, aber so war es: Insgeheim war es Marilyn lästig, dass all diese Körper um sie waren, sie bereute deren unvertraute, unbeherrschbare Präsenz. Von ihrem Rückzugsort unter dem Ginkgo, wo sie sich vor ihren Gästen versteckte, waren sie ihr mittlerweile richtig lästig. Sie war eigentlich immer eine gute Gastgeberin gewesen, aber es laugte sie auch jedes Mal vollkommen aus; hinter ihr lagen Jahrzehnte in Gesellschaft erst von vermögenden Kunden ihres Vaters, dann von humorlosen Kollegen ihres Mannes, von den lebhaften Freunden ihrer Kinder, wechselnden Nachbarn und Kunden, die ständig neue Bedürfnisse hatten. Und trotzdem heute wieder das gleiche Spiel: um die hundert Körper in Bewegung, Menschen, die sie kaum kannte und die sich festlich gekleidet in ihrem Garten tummelten; leicht angeheitert feierten sie die Hochzeit ihrer ältesten Tochter Wendy. Und wieder war es ihre Aufgabe, sich um diese Leute zu kümmern, dabei hatte sie eigentlich genug um die Ohren (sie war nicht einmal dazu gekommen, eines der Häppchen aus marktfrischen Zutaten von einem der drei überlangen Kartentische zu greifen), vier Mädchen nämlich, die sie in die Welt gesetzt hatte und für die sie als Mutter verantwortlich war; wie Farbtupfer waren die vier in ihren pastellfarbenen Sommerkleidern über den Rasen verteilt. Früchte ihres Schoßes, gezeugt mit ihrem liebevollen Ehemann, der im Augenblick wie vom Erdboden verschluckt war. Sie war Mutter geworden, ohne es geplant zu haben, und hatte eine Serie von Töchtern mit unterschiedlich getöntem Haar und unterschiedlich getöntem Unbehagen hervorgebracht. Sie, Marilyn Sorenson, geborene Connolly – ein unverwüstliches Produkt aus Geld und Drama, von dubioser irisch-katholischer Abstammung, aber mittlerweile universell einsetzbar: Ihr eigenes Haar hatte immer noch ein bewundernswert natürliches Blond; sie konnte einigermaßen kompetent über Literaturkritik und das Leben ihrer Kinder plaudern, und heute steckte sie in einem maßgefertigten moosgrünen Etuikleid, das ihre trainierten Waden und die sommersprossigen Schultern freigab. Für die Leute, und sie machten alle ein großes Aufhebens darum, war sie die Mutter der Braut; sie wiederum gab sich alle Mühe, der Rolle zu genügen und nicht durchscheinen zu lassen, dass ihr einzig das Wohlergehen ihrer Töchter am Herzen lag. Auch wenn es an diesem Abend anscheinend außer der Braut keiner von ihnen besonders gut ging.

Vielleicht übersprang ja alles, was Normalität ausmachte, immer eine Generation. Violet, ihre Zweitgeborene, auffallend hübsch, brünett und in einem Kleid aus Seidenchiffon, hatte ganz gegen ihre Art seit dem Frühstück eine Fahne. Wendy, eigentlich immer ein Sorgenkind, schien es heute ausnahmsweise mal besser zu gehen, entweder weil sie soeben einen Mann mit einem Bankkonto auf den Cayman Islands geheiratet hatte oder weil er, in ihren eigenen Worten, »die Liebe ihres Lebens« war. Und dann waren da noch Grace und Liza, neun Jahre auseinander, aber gleichermaßen verhaltensauffällig, Erstere eine schüchterne, für ihr Alter zu kleine Drittklässlerin und Letztere bislang ohne Freunde und in Kürze in ihrem ersten Highschool-Jahr. Wie kam es, dass man Menschen in seinem eigenen Körper austrug, sie aus vorhandenem Gewebe hervorbrachte und dann plötzlich nicht mehr wiedererkannte?

Normalität: konnte gut einen zweiten Blick vertragen, rein soziologisch gesehen.

Gracie hatte sie unter dem Ginkgo entdeckt. Ihre Jüngste war fast sieben, ein unerträgliches Alter, und noch Lichtjahre von jenem Tag entfernt, an dem sie das Elternhaus verlassen würde; dabei war sie immer noch kindlich genug, um, wie in der vergangenen Nacht, ins elterliche Bett zu schlüpfen, eigentlich nicht schlimm, wären sie und David halbwegs bekleidet gewesen. Wann immer Marilyn ängstlich war, wie auch letzte Nacht, suchte sie instinktiv Schutz bei ihrem Mann.

»Süße, warum spielst du nicht …« Sie zögerte. Die einzigen anderen Kinder auf der Hochzeit waren noch klein, und sie wollte Grace, die wenig mit anderen Kindern anfing, nicht in ihrer ohnehin blühenden Liebe zu Hunden bestätigen, indem sie vorschlug, doch mit Goethe zu spielen. Aber sie brauchte die Verschnaufpause, nur ein paar Sekunden allein in der lauen Luft des Frühsommers. »Schau mal, wo Daddy steckt, Liebes.«

»Aber ich finde ihn nicht«, sagte Grace und klang jetzt selbst wie ein Kleinkind.

»Dann such ein bisschen besser.« Sie neigte sich nach unten und küsste ihre Tochter aufs Haar. »Ich brauch einen Moment für mich, Gracie.«

Grace trollte sich. Bei Wendy war sie schon gewesen. Sie hatte auch schon mit Liza auf der Terrassenschaukel gesessen, bis so ein Typ, Turnschuhe zum Anzug, die Aufmerksamkeit ihrer Schwester für sich beanspruchte; sie hatte Violet dazu überredet, ihr was von ihrem Champagner abzugeben. Sie hatte alle in ihrer Familie durch.

Es fühlte sich komisch an, ihre Eltern mit anderen Leuten teilen zu müssen und dafür ihre Schwestern wieder hier im Haus in der Fair Oaks zu haben. Ihr Vater nannte sie manchmal »das einzige Einzelkind auf der Welt mit drei Schwestern«. Es missfiel ihr, dass ihre Schwestern in ihren Hoheitsbereich eindrangen, und wie so oft tröstete sie sich mit der Gesellschaft von Goethe, kuschelte sich mit ihm unter die Büsche mit den gelben Blüten und fuhr mit der Hand durch sein Borstenfell, und zwar am Hintern, wo es gelockt war wie von einer Dauerwelle.

Liza hatte einen Anflug von schlechtem Gewissen, als sie bemerkte, dass ihre jüngere Schwester beim Familienhund Trost suchte; sie selbst bevorzugte gerade die Zunge eines Fremden. Der Trauzeuge verströmte ein muffiges Aroma von Whiskey und Rucola, und außerdem fingerte er an der Innenseite ihres Schenkels herum, worauf sie ihren Blick abwandte und beschloss, Grace müsse ohnehin lernen, sich um sich selbst zu kümmern, besser, sie lernte das von klein auf.

»Erzähl mir von dir«, sagte der Trauzeuge und fuhr mit seinen Knöcheln über die Spitze ihres Strings, den sie in eben der Hoffnung auf eine solche Begegnung übergestreift hatte.

»Was willst du wissen?«, fragte sie, es klang leicht feindselig, Flirten war nicht ihre Stärke.

»Ihr seid zu viert?«, fragte er. »Wie ist das so?«

»Eine gigantische hormonale Hölle. Ein Marathon aus Krisen und Haarkuren.«

Er lächelte verwirrt, und sie beugte sich kühn zu ihm und küsste ihn.

Violet, ein Häufchen Elend, saß allein und betrunken wie noch nie an einem der Tische, von dem sie die anderen Gäste vertrieben hatte, zumindest vermutete sie das. Von der vergangenen Nacht blitzten Erinnerungen wie zu grelle Sonnenstrahlen: diese Bar, eine ehemalige Bowlinghalle; ihr Begleiter mit blauen Augen und überaus gelenkigen Ellbogen; die athletische Kraft seiner Schenkel; der Rücksitz des Kombis, der seiner Mutter gehörte; ihre Bitte, sie nicht direkt vor dem Elternhaus abzusetzen, falls Wendy noch wach sein sollte; wie sie die Laute aus ihrer Kehle anfangs nicht einmal als die eigenen erkannt hatte, hier stöhnte ein Pornostar, das waren Urlaute. Er war zuerst gekommen – bald darauf, als sie wieder auf die Vordersitze krabbelten, fühlte sie, wie alles aus ihr herauslief –, und dann sorgte er mit Detailkenntnis und Fingerfertigkeit auch bei ihr für einen Orgasmus, den ersten in ihrem Leben.

Jetzt schaute sie Wendy zu, die in ihrem Gucci-Kleid mit dem herzförmigen Dekolleté auf einer Gartenhochzeit einen Akademiker aus dem Geldadel geheiratet hatte; gerade wurde sie von ihrem Angetrauten zu den Klängen von Can’t Hurry Love im Kreis gewirbelt. Zum ersten Mal hatte ihre Schwester sie, was Erfolg anging, überholt. Wendy war fröhlich, schön und drehte sich im Kreis, während Violet schon beim Zuschauen übel wurde. Sie kaute an einem großen Stück Focaccia und wischte sich die fettigen Finger an der Unterseite ihres Rocks ab. Aber Wendy entlockte ihr doch unwillkürlich ein leichtes Lächeln, sie scherte sich nicht darum, dass ihre Satinschleppe gerade Grasflecken bekam. Sie stellte sich vor, wie sie zu ihrer Schwester ging und ihr ins Ohr flüsterte: Du würdest auf der Stelle tot umfallen, wenn du wüsstest, mit wem ich letzte Nacht unterwegs war.

Wendy sah zu, wie Miles von der kleinen Cousine, die die Eheringe hatte tragen dürfen, weggezogen wurde, weil er sie zum Kuchentisch begleiten sollte, worauf er Wendy über die Schulter einen entschuldigenden Blick zuwarf.

»Ein gutes Training für spätere Väter«, sagte jemand und nahm sie am Ellbogen. Sie gehörte zu Miles’ Gästen, wahrscheinlich die Immobilienmaklerin von irgendwem, eine Silikon-Zwergin. Die Leute, die sich da auf dem Rasen tummelten, hatten alle Geld wie Heu. »Schön, dass du noch so jung bist, da hast du viel Zeit, um für Familiennachwuchs zu sorgen.«

Starker Tobak, und zwar aus verschiedenen Gründen, und so gab Wendy schlagfertig zurück: »Wer sagt denn, dass ich meinen Anteil des Erbes mal mit ein paar Kindern teilen will?«

Die Frau sah sie entsetzt an, Wendy und Miles genossen Witze dieser Art, es war ihnen egal, wenn Wendy in den Augen der anderen nur hinterm Geld her war. Sie liebte Miles Eisenberg, wie sie nie jemanden zuvor geliebt hatte, und allein diese Wahrheit zählte für sie beide, und er liebte sie ebenfalls, was einem kosmischen Wunder glich.

»Ich habe geplant, länger zu leben als alle anderen in der Familie und mich für den Rest meiner Tage im Reichtum zu suhlen«, sagte sie. Und damit stand sie auf und ging zu ihrem Mann, um ihm die Krawatte zurechtzurücken.

Die Bäume, bemerkte David, standen an diesem Tag in voller Pracht, ihre großen wunderbaren Blätter warfen tänzelnde Schatten auf den Rasen. Einen Monat lang hatten sie den Hund davon abhalten müssen, ihn zu betreten, waren jeden Morgen aufgestanden und noch im Schlafanzug in ihre Regenmäntel geschlüpft, um ihn auszuführen, anstatt einfach nur wie sonst die Tür zum Garten zu öffnen. David sah entgeistert, wie die gemieteten Tische und Stühle tiefe Furchen im makellosen Grün hinterließen, dass ihre Beine tiefe Löcher in die gedüngten Grassoden gruben. Goethe streifte durch den Garten wie aus der Haft entlassen und inspizierte das Grün mit dem Besitzerstolz eines Gärtners. David atmete die feuchte Luft tief ein – roch es nach Regen? Vielleicht würden sich die Gäste dann früher verabschieden – er wunderte sich über die schiere Anzahl an Leuten, die man in einem Leben ansammelt, und über die vielen Gesichter, die ihm nichts sagten. Er dachte an Wendy als Kleinkind, damals in Iowa, wie sie sich zu ihnen auf die Veranda gestohlen hatte, wo er und Marilyn zusammen auf der klapprigen Hollywoodschaukel aus Zedernholz saßen, wie sie sich zwischen sie klemmte und schläfrig murmelte: Ihr seid meine Freunde. Die Erinnerung daran überwältigte ihn, als er jetzt so dastand und sich genauso fehl am Platz fühlte wie fünfundzwanzig Jahre zuvor, noch vor der Hochzeit, als Marilyn an einem kalten Dezemberabend unter dem Ginkgo an seiner Brust gelegen hatte. Er ließ seinen Blick über ein Meer von frühlingshaften Pastelltönen schweifen, bis er endlich seine Frau fand, ein kleiner moosgrüner Anker: Er drückte sich am Zaun entlang, bis er bei ihr war, und legte ihr sehnsüchtig eine Hand auf den Rücken. Instinktiv lehnte sie sich dagegen.

»Komm mit«, sagte er und führte sie um den Ginkgo, dorthin, wo es schattig war, dann zog er sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

»Liebling, was ist los?«, fragte sie besorgt.

Er presste sein Gesicht in ihre Halsbeuge und atmete die trockene Wärme ihres leichten Dufts ein, Veilchen und Irischer Frühling. »Ich habe dich vermisst«, sagte er, die Lippen an ihrem Schlüsselbein.

»Oh, Liebster.« Sie umarmte ihn inniger und hob das Gesicht, bis ihre Blicke sich trafen. Er küsste sie auf den Mund, die Wange, die Stirn und die Stelle hinterm Ohr, wo er ihren Puls fühlen konnte, und dann wieder auf den Mund. Sie lächelte. Ihm würde das immer mehr bedeuten als alles sonst: die goldene Wärme seiner Frau, die geteilte leidenschaftliche Verzweiflung, zwei Körper, die auf die einzige Art, die sie kannten, Trost suchten, in der Sprache ihrer Lippen, seine Hände über ihren Rücken wandernd, die Ruhe, die eintrat, wenn sie einander gefunden hatten. Dann löste sich Marylin von ihm und sagte: »Die Mädchen dürfen uns nicht so sehen.«.

Aber natürlich hatten die Mädchen alles gesehen. Die vier hatten ihre Eltern aus unterschiedlichen Richtungen über den Rasen hinweg beobachtet. Jede von ihnen war von ihrer Abwesenheit aufgeschreckt worden, ein übrig gebliebener Reflex aus der Kindheit, und sie wollten sich vergewissern, wo die zwei steckten, die sie in die Welt gesetzt hatten; sie wollten sie in der Nähe wissen. Jede von ihnen unterbrach, was sie gerade tat, um zu beobachten, wie ihre Eltern auf ihrem eigenen unergründlichen Planeten weilten, zwei Menschen, die mehr Liebe verströmten, als das Universum es möglicherweise zuließ.

Erster Teil

Frühling

1

Violet ging Wendy möglichst aus dem Weg. Eine Zeit lang waren sie unzertrennlich gewesen, aber mittlerweile hatten sie nur noch zu konkreten Anlässen Kontakt. Als ihre Schwester sie vor Kurzem zum Lunch einlud, ging sie deshalb automatisch davon aus, dass es entweder um einen Gefallen ging oder um eine neu entdeckte Lebenskrise, über die Wendy mit ihr sprechen wollte, und zwar ausführlich und ohne Rücksicht darauf, wie viel manche Leute um die Ohren hatten. Wer konnte schon unter der Woche einfach so unbekümmert tagsüber im West Loop essen gehen?

Es war ein trendiges Restaurant in ungünstiger Lage; obwohl es ein Mittwoch und schon zwei Uhr nachmittags war, fand Violet keinen Parkplatz und überließ den Autoschlüssel kurzerhand einem Angestellten. Sie musste Wyatt um halb vier vom Kindergarten abholen. Das war ihre Ausrede, die sie ihrer Schwester sanft unter die Nase reiben würde, um das Treffen kurz zu halten: Da gibt es auch noch zwei Kinder, für die ich verantwortlich bin, die müssen zum Kindergarten und wieder zurück. Natürlich war das engherzig; natürlich flüchtete Wendy sich immer in irgendein Drama und in Alkohol, und zwar schon mittags, weil ihr alles Mögliche fehlte, weil sie das College nicht abgeschlossen hatte, wegen Miles und weil sie ihrer Schwester, auch was Unglück anging, immer einen Schritt voraus sein musste.

Violet spürte, dass Kopfschmerzen im Anflug waren, und kniff sich in den Nasenrücken. Vielleicht würde sie ein Glas Wein trinken, Wendy hatte sicher bereits eine Flasche bestellt, und man konnte über sie sagen, was man wollte – beim Wein hatte sie ein Händchen. Violets Ballerinas drückten ihr hinten in die Fersen. Wendy gegenüber wollte sie sich immer so elegant wie möglich präsentieren, und obwohl sie sich sonst damit begnügte, ihre Kinder in teurer Sportkleidung durch die Gegend zu kutschieren, hatte sie sich heute für eine schicke Seidenbluse mit Schmetterlingsärmeln entschieden, dazu eine enge Jeans, die vor Elis Geburt noch besser gepasst hatte.

Sie überlegte, wann sie ihre Schwester zum letzten Mal gesehen hatte, es musste am zweiten Thanksgiving gewesen sein, diesem jährlichen und entsetzlich verschrobenen Familientreffen im Elternhaus; das lag jetzt vier Monate zurück, eigentlich ein Unding, denn sie und Wendy wohnten gerade mal zwanzig Autominuten voneinander entfernt. Außerdem hatten sie fast ein Jahrzehnt lang ein Zimmer geteilt, ja, in der finstersten Phase ihres Lebens hatte Violet sogar bei Wendy und Miles gewohnt – und waren sie beide, kaum ein Jahr auseinander, nicht fast schon Zwillinge?

»Kann ich Ihnen weiterhelfen, Madam?«, fragte ein Angestellter, der die Gäste in Empfang nahm.

»Ich habe gerade kurz die Orientierung verloren«, sagte sie lächelnd.

»Wenn Sie Rettung brauchen, winken Sie nur, und ich komm rein und behaupte, jemand hätte Ihren Wagen gestohlen.« Flirtete er? Vielleicht war der Mann noch ihre Rettung.

»Ich werd’s mir merken.« Sie angelte eine weitere Zehn-Dollar-Note aus ihrer Brieftasche und hielt sie ihm auffordernd hin. Mittlerweile gehörte sie also auch zu den Leuten, die alles mit einer Geldübergabe besiegelten. Er nahm den Schein, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wünschen Sie mir Glück«, hauchte sie, worauf er ihr zuzwinkerte – zwinkerte! ihr! zu! –, und sie stellte sich vor, wie er, während sie ins Restaurant ging, ihren Hintern begutachtete. Hoffentlich fiel sein Urteil nicht allzu hart aus. Eine Bedienung begleitete Violet nach hinten auf die Veranda, und sie wünschte, sie hätte sich einen Pullover mitgebracht, aber dann kam ihr dieser Gedanke sofort furchtbar mütterlich vor. Wendy saß in der hintersten Ecke, wahrscheinlich, damit sie rauchen konnte, ohne andere Gäste zu stören, auch wenn gar keine anderen Gäste hier draußen waren, denn in Chicago hatte der Frühling angefangen, und es waren gerade mal sechzehn Grad.

Außer Wendy war da noch jemand, der halb mit dem Rücken zu ihr saß. Vermutlich ein junger Mann; es sei denn, Wendy befand sich gerade in einer dieser Selbstfindungsphasen und hatte sich mit einer jungenhaften Yogalehrerin aus ihrem Chakra-Kurs zusammengetan. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Klar, es genügte Wendy nicht, nur sie allein zum Lunch einzuladen, ein Essen in vertrauter Zweisamkeit: Das hier sollte beweisen, wie kreativ Wendy mit ihrem Leben umging, welch ein Kontrast zu ihrer eigenen sterbenslangweiligen Luxusexistenz, in der sie feststeckte, während Wendy mit ihrer jungen gelenkigen Yogaexpertin Stellungen ausprobierte. Das hätte sie sich denken können.

Aber auf den zweiten Blick: nein.

Auf dem Heimweg im Auto, nachdem sie dem Angestellten das dritte Trinkgeld in die Hand gedrückt hatte, erinnerte sie sich, wie in ihrer Brust etwas angeschwollen war und sich dann erhärtete. Nein, sie hatte ihn nicht wiedererkannt. Das war das falsche Wort. Und es war auch nichts Dramatisches passiert, kein Blitz durchzuckte ihre Gedanken, und sie war auch nicht wie vom Donner gerührt. Eigentlich hatte sie ihn kaum sehen können, denn er saß mit dem Gesicht von ihr abgewandt, und sie hatte nur sein linkes Ohr und das Profil seiner Nase im Blickfeld. Aber ihrem Urinstinkt reichte das offenbar, es war kein tief verankertes biologisches Wiedererkennen wie nach Wyatts und Elis Geburt, sondern etwas von ganz eigener Qualität, ein scharfes Ziehen in ihrer Gebärmutter, von dem sie sich fast krümmte. Sie erkannte den Jungen, der da bei Wendy saß, nicht wieder, vielmehr nahm sie seine Gegenwart in sich auf. Und während sie jetzt im Auto saß, nachdem sie aus dem Restaurant gestürmt war, auf der Flucht vor ihrer Schwester und dem Menschen, den sie fünfzehn Jahre zuvor in die Welt gesetzt hatte – ein Junge, dem das dunkle Haar in die Augen hing –, ging sie im Geiste all die Sätze durch, die sie Wendy gern an den Kopf geworfen hätte. Wie kannst du es wagen? Du bist für mich gestorben. Du bescheuerte Psychopathin. Wie kannst du es wagen, wie? Filmreife Sätze. Aber allesamt kein Grund dafür zu verschwinden, noch ehe sie ihm ins Gesicht sehen konnte.

Bevor Wendy zur Benefiz-Veranstaltung zugunsten des Lurie-Kinderkrankenhauses aufbrach, ging sie hinaus auf die Veranda, um mit Miles eine zu rauchen. Sie nahm die Hintertür, den Wodka in der einen Hand, während sie mit der anderen das schwarze Kleid bis zu den Knien hochzog – weil sie sich dummerweise für das Modell Meerjungfrau entschieden hatte –, zwischen den Lippen eine Zigarette, eine zweite lag auf dem Tisch.

»Es lief heute alles wie erwartet. Violet ist noch vor der Begrüßung abgehauen.« Sie steckte sich ihre Zigarette an und seufzte. »Du musst mir verzeihen. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist. Aber er ist ein netter Junge. Du würdest ihn mögen.«

Miles sagte nichts.

»Ich bin völlig bescheuert angezogen. Deiner Mom hätte es gefallen.« Sie legte den Kopf in den Nacken. »Ich habe mich gestern mit Dad getroffen. Als Rentner ist er eine ziemliche Katastrophe. Er will jetzt vielleicht Vögel beobachten, hat er mir erzählt. Kannst du dir das vorstellen? Das Stillsitzen hält er doch niemals aus.«

Seit seinem Tod machte sie das. Sie sprach zu ihm – zu einer Ahnung von ihm, die sie manchmal beschlich, meist aber nicht. Heute war einer jener meisten Tage, was sie aber wie immer nicht davon abhielt, trotzdem mit ihm zu reden. Und so machte sie es sich auf ihrem Stuhl bequem und rauchte einfach ihre Zigarette.

»Das heute wird wieder so eine Scheißveranstaltung«, sagte sie nach einer Weile. Diese Geldgeier sind wahrscheinlich alle schon hackedicht, hoffentlich fangen sie nicht an zu grapschen.« Sie schaute nach oben, in der Hoffnung auf ein Zeichen, dass er ihr zuhörte. Aber es gab nicht viel zu sehen, es war bewölkt. Also hielt sie ihre Zigarette hoch, vielleicht war er ja dort oben, und stieß eine Rauchwolke aus. »Ich hoffe, du bist stolz auf mich, Liebster«, sagte sie kurz darauf. »Ich versuche hier unten wirklich mein Bestes, okay?« Irgendwie hatte sie die drei Jahre ohne ihn durchgestanden. Sie steckte sich die zweite Zigarette an, die schon bereitlag, damit sie hier draußen nicht ohne blieb. »Könnte ich dich doch jetzt da innen am Ellbogen küssen«, flüsterte sie, fast unhörbar, denn die Nachbarn hatten manchmal ihre Fenster geöffnet. »Vielleicht muss ich heute Abend mit dem Erben eines griechischen Reeders vorliebnehmen. Der darf sich ein bisschen auf mir austoben, aber nicht zu viel, das verspreche ich dir. Was für ein Scheißleben, mein Herz, ich vermisse dich so.«

Sie nahm noch ein paar Züge, erzählte ihm in ihren Gedanken, was sie den Tag über gemacht hatte, und als die Zigarette fast runtergebrannt war, war der Augenblick für ihr Ritual gekommen – ein tiefer letzter Zug, und während sie den Rauch ausstieß, sagte sie immer wieder Ich liebe dich, bis ihr die Luft ausging.

Ein paar Stunden später hatte ein Mann im Frack eine Hand auf ihrer linken Brust. Sie schob kurz ihr Knie zwischen seine Schenkel, er taumelte zurück, stieß gegen einen Tisch und warf ein Gesteck aus Callas um.

»Vorsichtig«, sagte sie.

»Sorry«, erwiderte er. Auf den zweiten Blick war er doch viel jünger, gerade mal ein Mann. Er hatte sich ihr als Carson vorgestellt, sie hatte lachen müssen, aber als sie seinen verletzten Blick sah, tat sie so, als wäre sie nur nervös, und zerrte ihn durch die Diele zu den Callas.

Die verschwitzte Hand dieses sehr jungen Mannes hing an ihrer Brustwarze wie angeklebt, kein besonders angenehmes Gefühl. Er küsste sie auf den Hals. Sie rieb ihr Knie an seinem Schritt. Vielleicht Anfang, Mitte zwanzig. Und ziemlich von sich eingenommen.

»Ich habe Ihren Namen nicht richtig verstanden«, sagte er. Wendy fuhr innerlich ein wenig zusammen und dachte unwillkürlich an Jonah, der ihr beim Lunch heute Nachmittag gegenübergesessen hatte, an die reine Unschuld auf seinem Gesicht, seine unverfälschte Verwirrung, als sie beide bemerkten, dass Violet sich auf und davon gemacht hatte. Was, wenn dieser Typ hier nicht mal volljährig war?

»Wie alt bist du?«, fragte sie, und er ließ grinsend von ihr ab.

»Zweiundzwanzig.«

Sie nickte und ließ eine Hand unter seinen Hosenbund gleiten. Und genauso dreist und siegessicher wie dein Schwanz, dachte sie. Vielleicht irgendein Erbe von einem Erfinder, dessen Erfindung einem gar nicht mehr neu vorkam. Oder vielleicht der Sohn von einem Topmanager oder einem Fox-Korrespondenten mit Sonnenbankbräune. Ein Junge ohne Richtung im Leben, hoffentlich fuhr er nicht irgendwann jemanden zu Tode. Er küsste ganz passabel.

»Und wie alt bist du?«, fragte er.

»Achtundsiebzig«, sagte sie ungerührt.

»Du bist witzig«, sagte er.

Sie war mit einem Mal verärgert. »Was macht dein Vater beruflich?«, fragte sie ihn und zog ihre Hand aus seinen Shorts.

»Was?«

»Dein Vater, was macht er? Warum bist du heute Abend hier?«

»Warum nimmst du an, ich wäre mit –« Er unterbrach sich und rollte die Augen. »Ingenieur. Entwicklung von medizinischer Software. Roboter.«

»Aha.« Morgen würde sie die Gästeliste durchgehen und sich vergewissern, dass ein signifikanter Geldbetrag auf dem Spendenkonto eingegangen war. Manchmal wollten Typen aus den unteren Etagen nicht mehr als das Geld für die Tickets ausgeben.

»Und, wie heißt du?«, fragte er und dann noch einmal, und es klang fast ein wenig feindselig.

Sie seufzte. »Wendy.«

»Wie aus Peter Pan?«, merkte Carlton schlagfertig an, und jetzt war sie mit dem Augenrollen dran.

»Keine Ahnung, warum ich so heiße.«

Mom und Dad hatten ihr den Spitznamen Wednesday verpasst, und als sie ihre Mutter darauf ansprach – das lag gerade mal ein paar Jahre zurück –, war die Antwort enttäuschend gewesen.

»Wie gemein«, sagte sie. »Nach Wednesday Addams? Ich war dünn wie ein Skelett, Mom, fandet ihr das etwa lustig?«

»Du bist an einem Mittwoch auf die Welt gekommen, Liebling. Kurz nach Mitternacht. Ich hatte komplett vergessen, was für ein Wochentag war, und dein Vater – deswegen heißt du so.«

Das war also die Geschichte ihres Namens. Du, erste Panne in Sachen Empfängnisverhütung, hast meine Vorstellungen vom Raum-Zeit-Kontinuum zerstört.

Sie zog Carlton am Ärmel. »Komm, lass uns nach draußen gehen«, sagte sie.

»Wendy«, sagte er, »warte mal, meinst du – die Wendy?«

Sie wandte sich um und sah es, hatte die ganze Zeit gewusst, dass es dort hing: das Poster für die Benefizgala, mit allem Drum und Dran, ein Foto von einem krebskranken Vorzeigebaby und ganz unten die Zeile, veranstaltet von Wendy Eisenberg von der Chicago Philantrophic Women’s Society. Unwahrscheinlich, dass ein Roboterspezialist in Spenderlaune war, wenn er erfuhr, dass sein zweiundzwanzigjähriger Sohn mit dem vielversprechenden Namen die nicht mehr ganz so junge Organisatorin beknutschte. Aber es war der Anblick des Namens Eisenberg, der ihr einen Stich gab. Sie ertrug es immer noch nicht, irgendwo nur ihren Namen zu lesen. Sie ging auf Distanz zu ihrer kleinen maßgeschneiderten Rolle und versuchte ein Lächeln.

»Sehe ich so aus, als wäre ich die Gastgeberin einer solchen Veranstaltung?«, fragte sie.

»Wie ist dein Nachname?«

»Sorenson«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Also, könnte ich – kann ich dir texten?«, fragte er, und sie lächelte.

»Das würde mir gefallen«, sagte sie vieldeutig. »Aber ich muss jetzt los.«

»Ich dachte, wir wollten nach draußen gehen.«

»Keine Zeit, leider. Ich bin steinalt und muss gehen. Kutschen. Kürbisse. Leben retten.«

»Na gut. Das war … na ja … ziemlich schön.«

Oh, er war ein ganz Süßer. Die Belohnung dafür, dass sie auf den Weg der Tugend zurückgekehrt war.

»Tu dir einen Gefallen«, sagte sie, immer noch ein bisschen durcheinander, während sie am Absatz ihres linken Schuhs zog. »Wenn du das nächste Mal findest, eine Frau ist witzig, behalt’s für dich.«

»Und was soll ich stattdessen tun?« Auf seinem perfekt geschnittenen Gesicht lag eine Falte der Verblüffung, und sie verspürte ganz tief in ihrem Bauch ein Ziehen und musste unwillkürlich lächeln.

»Lach einfach«, sagte sie, und bevor ihr klar wurde, was sie da tat, strich sie ihm einige Strähnen aus der Stirn. »Das nächste Mal lachst du einfach über ihre Witze, okay, Conrad?«

»Carson.«

»Carson. Viel Glück, Kleiner.«

Ihr wurde schwindelig. Bei dem Wort Kleiner fielen ihr mit einem Mal ihre Eltern ein, ihr Vater, der sich auf Wendys Hochzeit bei Glory of Love von Otis Reading – »win a little, loose a little« – theatralisch vor ihrer Mutter verbeugt und verkündet hatte: »Das ist unser Song, Kleine.« Jeder Song war anscheinend ihr Song, sämtliche Aufnahmen aus den vergangenen sechs Jahrzehnten hatten etwas mit David und Marilyn zu tun, diese zwei unergründlichen Personen, von denen sie abstammte. Als sie Miles kennenlernte, hatte sie gewusst, sie hatte den Richtigen gefunden, ganz wie ihre Mom.

Plötzlich standen ihr Tränen in den Augen, und in der Brust spürte sie die übliche Enge. Eigentlich blieb ihr noch Zeit, aber sie wusste, wenn sie jetzt nicht aufbrach, würde heute Abend alles weiter den Bach runtergehen. Sie gab ihren Mantel an der Garderobe ab und lief hinaus auf die Straße.

Manche Leute behaupten, nach einem Jahr kehre wieder Normalität ein, andere sagen, nach einem Jahr werde alles noch schlimmer. Das sah sie vermutlich auch so, denn Miles war 2014 verstorben, und sie hatte sein Nachtschränkchen immer noch nicht ausgeräumt; sie kaufte immer noch Lebensmittel, die er mochte, sie aber nicht; sie funktionierte in ihrem Leben immer noch wie zuvor, als Teil einer Einheit, ohne die aktive Teilnahme eines anderen Menschen kam sie nicht aus. Das konnte man nicht einfach vorsätzlich verlernen. Sie hatte es versucht. Sie war in die Eigentumswohnung in River North umgezogen, aber sie hatte diese mehr oder weniger so eingerichtet wie ihr gemeinsames Haus in Hyde Park und vorher die Schubladen von seinen Möbeln – Schreibtisch, Kommode, Nachtschränkchen – mit Klebeband versehen, damit die Umzugsleute sie so, wie sie waren, mitsamt dem Inhalt, transportieren konnten.

Für manche Leute dauerte es ein Jahr; aber es war nicht unwahrscheinlich, dass es auch außer Wendy noch andere gab, die selbst nach drei Jahren noch völlig am Ende waren.

Sie setzte mit dem Frühling ein, wie Schneeschmelze. Eine tröstliche Ruhe, die Marilyn nicht mehr gespürt hatte, seit – na, eigentlich noch nie, wenn sie ehrlich war. Zuletzt vielleicht im Mutterleib, aber wahrscheinlich nicht einmal damals, wenn man die Vorliebe ihrer Mutter für Tanqueray bedachte oder die für die Fünfzigerjahre typische sorglose Nachlässigkeit, eines von beiden mochte es gewesen sein. Das Leben war gut. Ihr Leben war gut. Die Eisenwarenhandlung hätte nicht besser laufen können, außerdem schlief sie so gut wie noch nie, und seit sie jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Arbeit und, wie jetzt, auch wieder zurück fuhr, war sie wieder fast so gelenkig wie in ihrer Jugend. Ihre Geranien, eine leuchtend rote Explosion in dem eingebauten Pflanzkasten auf der Veranda vor dem Haus, gediehen prächtig.

Eigentlich hätte sie endlich einmal in Hochstimmung sein können, aber sie hatte immer ihre Familie im Hinterkopf, und das dämpfte ihre gute Laune. Marilyn Connolly, wer hätte das gedacht? Geschäftsfrau, seit fünfzehn Jahren Nichtraucherin, gelegentliche Kirchengängerin mit den schönsten Rosenstauden in der Fair Oaks. Vielleicht war sie ja in ihren besten Jahren, obwohl sie nicht ganz sicher war, dass man als Mutter von vier Kindern auf so etwas Anspruch hatte. Und anstatt im Himmel zu jauchzen, wie einer von diesen gigantischen Drachen, die wie Menschen aussahen und die sie vor der Tankstelle an der Ridgeland Avenue in den Himmel entließen, war sie wie ein großer Kunststoffkörper, der im leichten Wind schaukelte, und wurde von dicken Nabelschnüren am Boden festgehalten. Wenige Augenblicke der Glückseligkeit, und schon nervte wieder das Handy, und sie hörte ein Oh, mein Gott, Mom, oder es klopfte an die Scheibe, und sie las ihrem Mann die Frage von den Lippen ab: Wo ist denn schon wieder der Rechen, Liebling?

Zu Hause angekommen, stellte Marylin ihr Fahrrad auf der Veranda ab und zupfte kurz ein paar welke Blätter von ihren Blumen. Loomis, Goethes Nachfolger als Familienhund, erwartete sie bereits drinnen.

»Hallo, Loomis«, sagte sie und kraulte den Hund hinter den Ohren. Sie und ihr Mann entsprachen mittlerweile ganz dem Klischee von Paaren, deren Brut ausgeflogen war und die sich, sobald auch das letzte Kind an einem College untergebracht war, verzweifelt auf den Familienlabrador stürzten.

»Hallo, Schatz«, rief David vom anderen Ende des Flurs. Sie folgte Loomis ins Arbeitszimmer. Bevor sie eintrat, hielt sie inne und blickte auf den Rücken ihres Mannes, den zarten Haarflaum in seinem Nacken und die kahle Stelle auf dem Kopf, die sich allmählich nach allen Seiten hin ausbreitete.

Sie brauchte ihn nicht, fuhr es ihr durch den Kopf, ein blitzschneller, treuloser Gedanke. Er kam ihr genau in jenem Augenblick und erfüllte sie sofort mit Melancholie, als sie ihn an seinem Schreibtisch sitzen sah, vor sich ein paar Bücher über seltene Viertel-Dollar-Münzen und einen Haufen Pistazienschalen. Nach Jahren, in denen er in einer Mischung aus Resignation und Gereiztheit mit einem feuchten Schwamm Krumen aufgewischt oder seufzend lange mittelblonde Haare aus dem Duschabfluss gefischt hatte, ließ er sich plötzlich gehen. Er war schlampig, träge und lüstern geworden, und als er jetzt aufstand und die papierdünnen Schnipsel von Pistazienschalen vom Hemd schüttelte, stand der Gedanke klar vor ihr: Ich brauche dich nicht. Sie neigte sich zu ihm, um ihm einen leichten Kuss auf die Stirn zu geben, aber er wollte gleich mehr, fuhr ihr mit der Hand durchs Haar, umschlang ihre Taille und liebkoste ihre Lippen, bis sie sich öffneten.

»Mmmm«, sagte sie und zog sich zurück. »Ich glaube, ich bekomme eine Erkältung, Liebling.«

Eine Lüge, ganz klar, denn eine Erkältung hatte sie früher nie abgehalten. Sie hatten immer mit Hingabe Keime ausgetauscht, hatten Kaffeebecher und gelegentlich auch die Zahnbürste geteilt, wenn sie zu müde waren, um das Licht anzumachen und zwischen Grün und Blau zu unterscheiden. Davids Immunsystem war unverwüstlich, und Marilyn kränkelte damals ohnehin beständig, schuld waren die Dreckfinger der Töchter, ihre schmutzigen Papiertaschentücher und die Makkaroni-Reste, die sie nach dem Essen aus ihren Schüsseln kratzte. Keime waren ihnen wurscht. Und vermutlich deshalb stand David jetzt vor ihr und wirkte gekränkt.

Natürlich brauchte sie ihn auf einer molekularen Ebene, wo es um menschliche Grundbedürfnisse ging. Aber sie brauchte seine Hilfe nicht, und sie wollte auch seinen Körper nicht, nicht wirklich, und fühlte sich an die Zeiten nach der Geburt ihrer Kinder erinnert oder als die drei Ältesten alle gleichzeitig klein und dann plötzlich alle gleichzeitig Teenager waren. Immer war sie einfach zu erschöpft gewesen, um sich nach etwas zu sehnen, das ihrem Körper auch nur den geringsten bewussten Einsatz abverlangt hätte.

Genauso fühlte es sich an, nur dass sie nicht erschöpft war.

»Wie war dein Tag?«, fragte sie ihn und schob ihn sanft in Richtung Küche.

»Ach, du weißt schon, ich habe den Rasen gemäht und den Hund ausgeführt, sogar zwei Mal«, sagte er und schwieg kurz. »Und wie war dein Tag?«, fragte er schließlich, und sie zögerte.

Es wäre nicht sehr einfühlsam gewesen, seinen traurigen Kurzbericht mit munteren Worten über die satten Profite in ihrem Laden zu kontern, über ihre gut gelaunten Angestellten im Teenageralter zu plaudern und all die frohen Momente, in denen sie in der letzten Zeit zwischen Kunden Zeit dafür fand, in sich zu gehen und sich den großen Fragen des Lebens zu stellen. Einer Aussage wie, Ich bin deprimiert und denke mir alles Mögliche aus, wie ich unser Zuhause verschönern kann, damit ich nicht aus dem Fenster springe konnte man nicht mit dem Satz begegnen: Und ich war im Leben noch nie so glücklich!

»Ganz gut«, sagte sie. »Hilfst du mir beim Abendessen?«

In der ersten Zeit ihrer Ehe, als sie in diesem gesichtslosen grünen Haus in Iowa City wohnten und David noch Medizin studierte, hatten sie es immer genossen, abends gemeinsam zu kochen. In der Küche konnten sie die Hände nicht voneinander lassen, fummelten am Tresen, während sie darauf warteten, dass das Wasser kochte, und manchmal vergaßen sie die ganze Kocherei auch schlicht und mussten irgendwann mit ihren Klamotten, die inzwischen auf dem Boden verstreut lagen, den Rauchmelder besänftigen. Etwas an seinem Gesichtsausdruck gab ihrem verhärteten Herzen einen Ruck, etwas an dem Anblick seines resigniert herabhängenden ergrauten Haars ließ sie zu ihm gehen, seine Taille umfassen und ihn küssen.

»Ich dachte, du hättest eine Erkältung«, sagte er und zog sich kurz von ihr zurück.

»Falscher Alarm«, sagte sie und steckte ihre Hände in seine hinteren Hosentaschen.

»Ich kann kochen«, sagte David und unterbrach den Kuss wieder, um Luft zu holen. Sie küsste ihn leidenschaftlicher und fühlte eine leichte Erregung aufflackern, die sie sanft daran erinnerte, dass sie diesen Mann doch mehr liebte als das Alleinsein. Sie presste ihre Hüften gegen seine, versuchte, das Gefühl auszukosten, es zu nähren, aber es verflog so rasch, wie es gekommen war. An seine Stelle trat Stille. Ein leichtes Ziehen in ihrer Wange.

2

Ein kleiner Briefumschlag bedeutete nicht unbedingt eine schlechte Nachricht, hatte Grace irgendwo gehört, aber das entsprach nicht ihrer Erfahrung, und so warf sie, als sie in ihrem Briefkasten einen kleinen Umschlag und eine Werbepostkarte für Zahnpflege fand, beides erst mal auf den Tisch, innerlich inzwischen abgehärtet gegen Enttäuschungen; auch gegenüber ihren vier Wänden, die in Farbton und Struktur an gehäckselten Weizen erinnerten, war sie unempfindlich geworden. Minikühlschrank, die Wände im Schlafzimmer aus unverputzten Betonziegeln, aus der Dusche rieselte es lauwarm, und sobald jemand in ihrem Block auch nur einen Teller abspülte, eiskalt.

Aber all das war ja nur vorübergehend. Ihr Plan: ein Jahr in einem billigen Loch durchhalten (manch einer würde behaupten, spärliche Lebensverhältnisse förderten die Produktivität und Kreativität), sich den nächsten logischen Schritt nach vorn überlegen und loslegen, sobald der Mietvertrag auslief. Im Laufe des vergangenen Jahres, als ihre College-Freunde nach und nach wegzogen und sogar noch, als sie die Ergebnisse der Zulassungsprüfung für das Jurastudium erhalten hatte und zuerst sicher gewesen war, dass sich jemand verschrieben hatte – hatte sie sich ihren Plan immer wieder in Erinnerung gerufen. Das hier ist nur vorübergehend, alles wird gut. Das konnte gar nicht anders sein, und bald würde sie ihren Platz in dieser Welt finden, den Job, der nur auf sie gewartet hatte, den Mann, der nur auf sie gewartet hatte, und das winzige Fleckchen Erde (wer weiß, vielleicht würde es ja gar nicht so winzig sein), das ebenfalls nur auf sie gewartet hatte, damit sie sich dort niederließ. Das alles hatte einmal nach einem tollen Plan geklungen. Durchhalten und ein bisschen Geld zur Seite legen. Ganz die fröhliche, zupackende Grace, Nachzüglerin und von Herzen geliebtes Kind ihrer ineinander vernarrten Eltern.

Aber mittlerweile war es Anfang April, und die in aller Welt verstreuten Freunde waren mit ihrem Medizin- oder Masterstudium beschäftigt und nach New York, Seattle oder Singapur gezogen, während bei ihr eine Absage nach der anderen eintrudelte. Und so arbeitete sie nach wie vor für neun Dollar fünfzig die Stunde am Empfang eines gemeinnützigen Vereins, der kostenlose Rechtsberatung für professionelle Holzbläser anbot, wohlgemerkt, ohne selbst ein Holzblasinstrument zu spielen, weshalb sie auch unter den Musikern keine neuen Freunde fand. Folglich verbrachte sie viel Zeit in ihrer heruntergekommenen Wohnung, und das schlug selbst ihr auf die Stimmung.

Ein Jahr lag ihr Abschluss am Reed-College jetzt schon zurück. Die University of Oregon – deren wenig verheißungsvoller Briefumschlag jetzt auf dem Küchentisch lag – war ihre letzte Hoffnung. Sie dachte an die vielen Male, die ihr ein herzliches Nein, danke! zugeflogen war, aber diese Uni war kein vergleichbarer Griff nach den Sternen wie die anderen, bei denen sie sich beworben hatte. Außerdem wäre es ideal, sie müsste lediglich über den Fluss in die Stadt ziehen. Aber im Augenblick sah es so aus, als wäre es ihr bestimmt, hier in diesem Loch bei ihrem Minikühlschrank zu bleiben, der auch noch beschämend leer war, von einer Flasche Chardonnay und ein paar Weichkäsestreifen abgesehen.

Ihr Handy klingelte, und als sie sah, dass es Liz war, griff sie nach den Zigaretten und ging raus auf den Balkon. Eigentlich sollte der ihrer Wohnung das besondere Etwas geben, aber eigentlich kam man sich darauf vor wie in einem Laufstall oder Gefängnis. In der letzten Zeit unterhielt sie sich lieber mit Liz als mit ihren anderen Schwestern, und nicht ohne Schadenfreude; Liza war viel langweiliger als Wendy oder Violet, ohne Mann oder Kinder oder längst vergangene Dramen, die sie immer noch verfolgten, sie hatte weder viel Kohle noch Abenteuerlust, und sie war auch nicht von Erfolg verwöhnt. Liza mit ihrem unscheinbaren Vorstadthaus, ihrem scheinbar aussichtslosen Uni-Job und ihrem depressiven Lebenspartner war von den Sorenson-Kindern fast die Uninteressanteste, knapp gefolgt von Grace. Immerhin.

»Gracie«, sagte Liza, »ich habe – ich hab tolle Nachrichten.«

Na super. Sie presste sich gegen die Balkonstäbe und schloss die Augen.

»Rat mal, wer einen Lehrstuhl bekommen hat?«

Grace überlegte, ob sie einen Witz machen sollte – Peter Venkman –, aber Lizas offenkundige Freude in diesem Augenblick besiegte ihren Frust. »Wow. Das ist großartig, Liza.« Das bedeutete, dass Liza auf der Interessantheits-Skala ein ganzes Stück von ihr weggerutscht war, und zwar nach oben. Sie konnte sich natürlich einreden, dass ihre Schwestern, die alle um einiges älter waren, schon mehr Zeit gehabt hatten, um Lebenserfahrungen zu sammeln, aber es war doch nicht einfach, den überragenden Erfolg kleinzureden, im Alter von zweiunddreißig Jahren einen Lehrstuhl zu bekommen.

»Danke.« Liza klang atemlos und überglücklich. Grace musste unwillkürlich lächeln, schwesterliche Zuneigung wallte in ihr auf. Sie hatte vergessen, dass die Familie einen hin und wieder die Grenzen des eigenen bescheuerten Lebens vergessen ließ. »Ich hatte nicht damit gerechnet. Der Dean hat mir einen Cappuccino gemacht, stell dir das vor, er selbst, und zwar in seinem Büro.«

»Du gewöhnst dich offenbar gut an den neuen Lebensstil.«

Liz lachte. »Ich bin, mein Gott, ich fühl mich wie high, ich bin so verdammt glücklich.«

»Du solltest dich betrinken, du solltest feiern.«

»Ich bin auf dem Heimweg. Oder besser, auf dem Parkplatz von Binny’s.«

»Ort der Träume.«

»Ryan wird sich sicher freuen, was meinst du?« Liza sprach nur mit ihr so, als hätte ausgerechnet sie ein geheimes Wissen, das den anderen Schwestern verborgen blieb.

»Aber klar. Mach dir keine Sorgen, freu dich, Liz. Das ist wirklich toll.«

»Ich bin jetzt unkündbar!«

»Hör auf mit der Angeberei.« Dann sagte sie zögerlich, denn sie war sich nicht sicher, ob sie das jemals zu jemandem gesagt hatte, ganz sicher aber nicht zu einer ihrer Schwestern: »Ich bin stolz auf dich.«

Lizas Stimme hatte einen vollen Klang, als sie erwiderte: »Danke, Gracie. Mein Gott, ich bin ganz aus dem Häuschen. Ich glaube, so habe ich mich seit Langem, nein, eigentlich noch nie gefühlt.«

»Kannst du mir jetzt auch Sachen besorgen? Büromaterial, zum Beispiel. Oder Studenten, mit denen man ausnahmsweise mal was anfangen kann?«

»Genau dafür habe ich den Vertrag ja unterschrieben.« Und dann: »Moment mal, Gracie, was ist eigentlich mit deiner Bewerbung? Weißt du schon was?«

Aus einem unerfindlichen Grund zögerte sie mit der Antwort. Durch die Balkontür warf sie einen verzagten Blick Richtung Küchentisch.

»Gracie?«

»Na ja«, die gedehnte Betonung der letzten Silbe war eine spontane Eingebung. »Der Brief aus Oregon ist kurz vor deinem Anruf gekommen.« Rein theoretisch hatte sie die Wahrheit gesagt, rein theoretisch war das nicht faustdick gelogen.

»Gracie! Ich fass es nicht – du hast wirklich ein Talent, das Wichtigste bis zum Schluss aufzuheben. Das ist – das ist fantastisch! Ich wusste doch immer schon – mein Gott, aus meiner kleinen Schwester wird eine Anwältin! Du weißt, dass ich dir früher die Windeln gewechselt habe!«

»Ja, davon habe ich gehört.« Das Gefühl, plötzlich mit ihrer Schwester auf Augenhöhe zu sein, war ganz angenehm, vor allem, nachdem diese ihr mit der Bemerkung über die Windeln mal wieder unter die Nase reiben musste, dass sie neun Jahre älter war. Rein theoretisch hatte sie immer noch nicht gelogen, auch wenn ein heftiges Herzklopfen ihr gerade etwas anderes sagte. Aber es war ja Lizas Schlussfolgerung gewesen, nicht ihre.

»Ich bin so stolz auf dich, Gracie. Hast du’s Mom und Dad schon gesagt?«

Sie ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ich überlege noch, wie ich’s ihnen am besten mitteile.«

»Was für ein toller Tag heute«, sagte Liza. Sie war nicht nur die Zweituninteressanteste der Sorenson-Schwestern, sie war auch, ganz ehrlich, die netteste, und Grace hatte für einen Moment ein schlechtes Gewissen. »Hör zu, Gracie, ich muss nach Hause. Aber wir sprechen uns bald wieder, okay? Mom und Dad werden ausflippen. Und du musst unbedingt auch feiern. Ich verspreche dir, du musst mich nicht mit Frau Professor anreden, wenn ich nicht Euer Ehren sagen muss. Ich hab dich lieb.«

»Tu, was du für richtig hältst. Ich hab dich auch lieb.«

Als sie das Gespräch beendet hatte, stand sie mühsam auf – ihr Körper mit einem Mal wie um Jahre gealtert –, ging hinein zum Küchentisch und starrte auf den Briefumschlag. Vielleicht wurde ihre Unterlassungslüge ja bestätigt. Manchmal kommen gute Nachrichten in kleinen Umschlägen, hätte ihre Mutter jetzt gesagt. Die Leute in Oregon waren eben umweltfreundlich und achtsam. Vielleicht waren es nur zwei Sätze: Sie sind angenommen! Alle weiteren Informationen finden Sie auf unserer Webseite.

Sie nahm ein Messer aus einer Küchenschublade. Ihr Vater hatte sie alle dazu angehalten, Briefumschläge gesittet zu öffnen und nicht wie Wilde einfach aufzureißen. Was das Leben ihrer jüngsten Tochter betraf, waren ihre Eltern unverwüstliche Optimisten und hatten niemals auch nur den Schatten eines Zweifels gehabt, dass sie mithilfe von üppigen Stipendien Jura studieren und es ohne Umwege bis an den Supreme Court schaffen würde.

Grace schlitzte den Umschlag mit dem Messer auf und zog das Stück Papier heraus. Sie las rasch und mit geübtem Blick, was dort stand, und warf den Brief in den Müll. Der Chardonnay war eine Plörre von der Tankstelle namens Hodnapp’s Harvest. Manchmal stand auf den Etiketten von Weinen, die gerade in waren und was auf sich hielten, ein Hinweis wie PasstgutzuzartemGrillfischundFrühlingsrisotto – auf keinem dieser Etiketten war je die Rede von Weichkäsestreifen –, und auf diesem hier war ein Foto, vermutlich das Familienwappen der Hodnapps. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um zu lesen, was unter dem Namen stand: Dieser Wein passt gut zu Freundschaft.

Grace goss sich ein Drittel des Flascheninhalts in einen Becher und ging ganz allein hinaus auf ihren Balkon, um ihre Zukunft zu bejammern.

Sie hatte das große Los gezogen, zumindest redete Liza sich das auf dem Heimweg ein, um sich in Hochstimmung zu bringen. Wendy hatte ihnen den Weg bereitet, als sie sich mit Vollidioten einließ, blonden Psychos mit hochgestelltem Kragen und Ferienhaus in Cape Cod. Sie hatte dieses Ritual in ihrem ersten Highschool-Jahr begonnen und es mit ihrem vergleichsweise normalen, wenn auch superreichen Ehemann Miles beendet. Violets Freund, den sie schon seit dem College kannte, vermied direkten Blickkontakt und verhielt sich, als habe er es bei Leuten in seiner Umgebung mit potenziellen Versuchstieren zu tun. Als dann Ryan auftauchte, waren Lizas Eltern schon so abgehärtet, dass sie angesichts seiner tätowierten Unterarme keine Miene verzogen. Aber sie fragte sich, wie sie auf seine weniger offenkundigen Mankos reagieren würden: seine lähmende Angst, die schweren Depressionen, all die Augenblicke, wenn sie in ein Zimmer kam und ihn nicht wiedererkannte, weil sie einen Kindsmann mit einem derart verzweifelten Gesichtsausdruck vor sich sah, dass sie selbst die schönsten Augenblicke in ihrer Beziehung anzweifelte.

So richtig hatte die Krise im vergangenen Jahr begonnen, als sie von Philly nach Chicago umgezogen waren, damit sie eine Lehrstelle an der Fakultät für Psychiatrie an der University of Illinois antreten konnte. Bald schon gab es Tage, an denen er nicht aus dem Bett kam; Tage, an denen sie erst nachmittags unterrichtete, aber bereits um sechs Uhr morgens auf den Beinen war, und wenn sie um zwei das Haus verließ, nachdem sie massenweise Arbeiten korrigiert hatte, schlief er immer noch. Oder sie kam spätabends nach Hause und stellte fest, dass er zu Mittag nichts als Toast gegessen und sechs Episoden von Breaking Bad geguckt hatte, und dann kuschelte sie sich zu ihm aufs Sofa, und er erzählte ihr von seinem Gefühl der Hoffnungslosigkeit – er benutzte tatsächlich den Begriff »existenzielle Hoffnungslosigkeit«, und zwar berechtigterweise –, und sie schlug ihm dann sanft vor, doch mal einen alten Kollegen anzurufen oder einen seiner Freunde von der Uni. Und schon kamen die Ausflüchte: Steve Gibbons wohne mittlerweile ihn Los Angeles; Mike Zimmermann habe ihn ohnehin nie gemocht …

Irgendwann hörte sie auf, ihm etwas vorzuschlagen, und machte sich, wenn sie nach Hause kam, zum Abendessen einen Toast und setzte sich zu ihm aufs Sofa. Doch immer wieder verspürte sie das dringende Bedürfnis, ihn bei seinen knochigen Schultern zu packen und ihm zu sagen, er solle endlich aufwachen. Schlaf so viel wie ein normaler Erwachsener, steh zu einer normalen Zeit auf und fang irgendwas an. Es ging nicht um seine Trägheit, die verstand sie: An den meisten Tagen hätte sie den Wecker ja selbst gern ignoriert. Sie mochte ihr Bett mehr als jeden anderen Ort auf der Welt. Ginge es nach ihr, würde sie ohne den Druck der äußeren Welt, der Hypothek und einer Gruppe von Studenten mit Anrecht auf Unterricht, an vielen Tagen das Bett von morgens bis abends nicht verlassen. Sie würde dem zuckersüßen Sirenengesang von Netflix erliegen, bei Penny’s fertige Frühlingsrollen einkaufen und eine tiefe Genugtuung empfinden, wenn sie ihr Handy einfach klingeln ließ. Den Teil verstand sie; sie wusste, was es bedeutete, erschöpft zu sein.

Trotzdem störte es sie, dass er gar nicht das Bedürfnis hatte, etwas aus sich zu machen. Sein Potenzial, das einige intelligente Leute, die es wissen mussten, als selten und vielversprechend bezeichnet hatten, ließ er einfach brachliegen. Auch das störte sie. Sie störten seine Ausflüchte, seine Achtlosigkeit, sein Unvermögen, in sich selbst das zu sehen, was sie in ihm sah.

»Du bist so klug«, sagte sie eines Abends zu ihm, nachdem sie auf einem richtigen Abendessen am Esstisch bestanden hatte. »Du könntest so vieles tun, wozu andere nicht in der Lage sind. Begreifst du das nicht?«

»Es kommt nicht darauf an, ob man klug ist, es geht darum, die richtigen Leute zu kennen.«

»Aber die kennst du doch.«

»Du begreifst es nicht«, sagte er. »Sei mir nicht böse, aber so ist es. Du begreifst es nicht.«

Manchmal raffte er sich untertags zu netten Gesten auf. Er legte die Wäsche zusammen, und zwar wirklich tadellos. Hin und wieder wusch er die Autos oder ging mit dem Staubsauger durch die Wohnung. Er wechselte kaputte Glühbirnen oder nahm Telefongespräche mit ihren Eltern entgegen, damit sie es nicht musste. Sie bedankte sich dann immer überschwänglich, gab ihm einen Kuss in den Nacken und schnurrte ihm ins Ohr, dass sie den Ölwechsel glatt vergessen hätte, was stimmte, ihrer Meinung nach aber eigentlich kein Grund für hymnische Dankesworte war. Meist aber saß er vor dem Fernseher, wenn sie nach Hause kam, oder untätig vor seinem Laptop, und sie brauchte ein paar Augenblicke, um sich zu konzentrieren, ihre Gedanken zu sortieren, bevor sie eine Begrüßung über die Lippen brachte. Weil zwar sein Gehalt den Kauf des Hauses ermöglicht hatte, aber sie es mit ihrem Gehalt allein abbezahlte. Weil einer der schmierigen Assistenten sie angebaggert hatte und sie nichts unternehmen konnte, weil er der Liebling des Fakultätsvorsitzenden war. Weil sie so gerne einfach nach Hause gekommen und bei einem Glas Wein mit jemandem über diese Dinge geredet hätte. Aber ihr Jemand war gerade in eine Folge von Dexter vertieft, und zwar in derselben grauen Jogginghose, die er bereits seit Dezember tagtäglich trug; außerdem hatte er keine Nerven, sich die nichtigen Sorgen von Leuten anzuhören, die tatsächlich etwas taten. Im Vergleich zu den Prüfungen, die ihm das Leben auferlegte, waren diese doch eher ein Klacks.

Sie fand weder bei ihren Eltern noch für sich selbst die richtigen Worte, um zu beschreiben, wie sehr es ihr wehtat – durchaus körperlich, ein Schmerz, der ihr in die Knochen fuhr –, wenn sie ihn küssen wollte und er das Gesicht abwandte und murmelte: Gerade ist kein guter Moment.

Oder heute Abend, da kam sie, nachdem man ihr einen Lehrstuhl angeboten hatte – sie war erst zweiunddreißig! –, freudestrahlend nach Hause, mit Eiscreme-Sandwiches von Mumbles und einer Flasche Pinot Noir, die achtundsechzig Dollar gekostet hatte (von Champagner bekam sie Kopfschmerzen), und bemerkte, dass im Obergeschoss alle Fenster verriegelt waren, und das an einem lauen Frühlingsabend; und dann sah sie ihn auf dem Sofa, immer noch im Schlafanzug und vollkommen passiv. Sie hatte keine Worte für das Gefühl, das sie empfand, als er zu ihr aufblickte, ja, ihr doch eigentlich ansehen musste, dass sie etwas Aufregendes zu berichten hatte, und dann in Tränen ausbrach.

»Scheiße, es tut mir so leid«, sagte er und hatte zu allem Überfluss auch noch ein schlechtes Gewissen. Er lehnte sich gegen sie, denn sie war zu ihm gegangen, weil die trostlose Beleuchtung, die abgestandene Luft und diese ganze Atmosphäre der Aussichtslosigkeit sie kurz aufgerüttelt hatten. Die Eiscreme-Sandwiches hatte sie in der Diele auf dem Boden abgelegt, daneben die Flasche Wein, und über ihre festlichen Überraschungen hatte sie den Regenmantel gebreitet, damit der Mann vor ihren Augen sich nicht noch mieser fühlte. Jetzt hielt sie ihn so fest umarmt, wie sie nur konnte, und er vergrub sein Gesicht zwischen ihren Brüsten und weinte, wie sie noch nie einen erwachsenen Mann hatte weinen sehen. »Ich mach alles kaputt, Liza, es tut mir so leid«, sagte er, und sie wiegte ihn und vergoss jetzt selbst ein paar Tränen, und das, obwohl sie nur wenige Momente zuvor außer sich vor Freude gewesen war.

»Natürlich nicht«, murmelte sie und küsste ihn aufs Haar – und ihr fiel unpassenderweise in diesem Augenblick ein, wie sie einmal Grace getröstet hatte; ihre Schwester war aus dem Bollerwagen gefallen, mit dem sie über die holprig gepflasterten Gehwege der Fair Oaks hin und her gerast waren. »Wegen dir bin ich hier, Liebster«, murmelte sie. Und wenn er jetzt dachte, sie habe damit gemeint, Du bist der Grund, weshalb ich hier festsitze?, dachte sie sofort schuldbewusst. Und das hatte sie ganz sicher, oder zumindest höchstwahrscheinlich, nicht gemeint. »Du kannst doch gar nichts ruinieren«, fügte sie hinzu, und wieder hätte sie sich auf die Zunge beißen können, denn vielleicht hörte er heraus: Du bist gar nicht in der Lage, was zu ruinieren, du spielst gar keine Rolle.

Als er sich beruhigt hatte, hielt er in ausdruckslosem Tonfall einen weitschweifigen Monolog darüber, wie schrecklich er sich fühle und wie schrecklich das sei, weil er die Ursache nicht kenne; andererseits habe er das Gefühl, dass sein Projektvorschlag für LemonGraphics nicht gut ankommen werde, und vielleicht war das ja der Grund; er wisse es auch nicht. Am Anfang ihrer Beziehung hatte er sie einmal verzweifelt angeschaut und gefragt: Was können wir tun, damit das hier aufhört? Und seine Hoffnung, dass sie eine Antwort wusste und sich in ihren dämlichen Lehrbüchern (in denen Depression als Zustand beschrieben wurde, der zwei Wochen oder länger dauern konnte und in denen jemand deprimiert war oder an seinen üblichen Tätigkeiten kein Interesse mehr zeigte) die Lösung versteckte, hatte ihr fast das Herz gebrochen; die Lehrbücher lieferten absolut keinen Hinweis darauf, wie mit einem Dreiunddreißigjährigen umzugehen war, der vollkommen teilnahmslos in seinen Boxershorts herumsaß und seiner Freundin davon erzählte, wie er bereits mit elf davon geträumt hatte, in einer Garage bei laufendem Motor im Auto zu sitzen, weil das angeblich die humanste Art war, sich aus dem Leben zu verabschieden. Auch damals hatte sie ihn umarmt, nach Worten gesucht und irgendwann etwas gemurmelt wie, Zusammen schaffen wir das, und er hatte einen völlig entmutigten Eindruck gemacht, war desillusioniert von ihrem Unvermögen, die Welt für ihn heil zu machen. Seit damals hatte er sie nie wieder gefragt, wie das gehen könnte.

Jetzt flüsterte sie, Ich liebe dich oben in sein Haar und wiederholte es immer wieder, denn daran gab es kaum etwas misszuverstehen. Sie blieben über eine Stunde lang so sitzen, bis sie dringend auf die Toilette musste.

»Ich gehe ins Bett«, sagte er, als sie aufstand. »Ich bin so müde, tut mir wirklich leid, Liz.« Er sah ihr forschend ins Gesicht, und sie wusste, sie müsste jetzt etwas sagen, aber sie empfand nur Abneigung, denn sie musste eigentlich schon seit dem Mittag pinkeln, seit ihrem Gespräch mit dem Hochschulleiter, woran sich unmittelbar ein Gespräch mit dem Fakultätsleiter angeschlossen hatte und daran wiederum ein schlecht getimtes Treffen mit einem ihrer Studenten, der völlig überfordert und überarbeitet und vermutlich auf Amphetaminen war, was sie aus dem Tick an seinem linken Auge schloss. Jetzt war es fast halb neun Uhr abends und sie kurz davor, sich in den engen Kaschmirrock zu pinkeln, mit dem sie den Hochschulleiter beeindruckt hatte, aber sie musste ihren Impuls unterdrücken und zuerst Ryans Kopf zwischen ihre Hände nehmen und einen Kuss auf sein tränenfeuchtes, leicht salziges Gesicht drücken.

»Mach dir nichts draus«, sagte sie, »alles gut, alles wird gut.«

Seine Miene verdüsterte sich wieder, seine Augen standen erneut voller Tränen. »Scheiße. Ich will dir das alles nicht antun.«

»Alles gut, Liebster. Es wird alles gut.« Ihre Prognosen verloren zunehmend an Eloquenz, denn sie konzentrierte sich mittlerweile ganz und gar darauf, ihre Blase unter Kontrolle zu halten.

»Ich weiß einfach nicht, ob ich …«

»Bitte, Ryan. Ich muss seit acht Stunden aufs Klo.« Es hatte nicht so unfreundlich klingen sollen, und seinem Blick sah man die Kränkung prompt an, und dafür hasste sie ihn ganz kurz.

Sie entfernte sich mit ein paar ungelenken Hüpfern. »Liebster, ich liebe dich, gib mir nur ein paar Sekunden, okay?« Darauf rannte sie ins Bad, und als sie gerade hocherleichtert und inbrünstig einen Strahl ins Klo pisste, der an Kraft und Ausdauer einer Stute Ehre gemacht hätte, erschien er im Türrahmen. Wie ein kleiner Junge stand er da, verschlafen und ängstlich, und sie spürte, wie ihre ganze Wut verflog.

Er beugte sich über sie und küsste sie aufs Haar. »Ich muss wirklich ins Bett.«

Sie war fertig und stand auf, sie wusch sich nicht die Hände, damit er ihr in diesem kurzen Moment nicht entwischen konnte. »Gut, Liebster, ich komme auch gleich.« Sie griff nach seinem Handgelenk und zog ihn zu sich. »Schlaf heute Nacht richtig gut«, sagte sie und machte es wie einst ihre Mutter, wenn die ihre vier widerspenstigen Töchter mit besänftigenden Worten in den Kindergarten entlassen hatte. Er schlurfte nach oben, und erst als sie das Quietschen der Sprungfedern hörte, ging sie in die Diele, um ihre Sachen zu holen. Die Eiscreme-Sandwiches, leckere Monster, so groß wie Gesichter, waren unter ihrem Regenmantel zu einem ekligen klebrigen Haufen zusammengeschmolzen, und das flüssige Eis war um den Boden der Weinflasche gelaufen. Als sie sie anhob, blieb auf dem Holz ein weißer, pappiger Ring zurück.

Als sie am nächsten Morgen runter in die Küche kam, bereitete er gerade das Frühstück vor.

»Zur Feier des Tages«, sagte er mit einem unsicheren Lächeln. In der Nacht hatte er dann doch noch die große Neuigkeit erfahren, »Ich bin wirklich stolz auf dich Liz. Glückwunsch.«

Unerwartet schossen ihr Tränen in die Augen. Sie umschlang ihn von hinten, und er drehte sich zu ihr um, und sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah mit einem Mal in seinen Augen etwas Vertrautes aufblitzen.

Es war nicht unbedingt Lust, eher ein etwas forcierter Optimismus, eine wahrscheinlich idiotische Sehnsucht nach etwas, das ihnen abhandengekommen war – warum konnten sie nicht einfach ein Paar sein, das ihre Erfolge leichthändig bei ein paar Blaubeer-Pfannkuchen feierte. Sie wusste nicht mehr, wann sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Wie lange auch immer das inzwischen zurücklag, damals hatte sie nicht wissen können, welche Düsternis ihnen bevorstand.

»Ich bin feucht«, sagte sie, und Ryan fragte: »Warum?«

Und sie sagte: »Keine Ahnung.«

Und dann hatten sie Sex an der Küchenanrichte, so unkompliziert und leidenschaftlich wie in alten, besseren Zeiten.

Nach dem jäh abgebrochenen Lunch hatte Wendy ihr unzählige Nahrichten auf die Mailbox gesprochen, aber Violet ließ sich mit dem Rückruf drei Tage Zeit. Gerade war Wyatt in der Schule, Eli hielt Mittagsschlaf, und sie marschierte im Obergeschoss auf und ab und redete sich gut zu, endlich Wendys Nummer zu wählen. Matt hatte am Morgen über seinem Müsli noch versucht, es ihr auszureden, Wendy halte sie zum Narren, das solle sie nicht mit sich machen lassen. Ihr Mann hatte recht, aber das änderte nichts an der Existenz des Jungen. Schließlich war Matt ohne Abschiedskuss aus dem Haus gegangen. Violet steckte einen Finger in die Erde ihrer Zwergdattelpalme. Eigentlich hatte sie der Haushaltshilfe genau aufgeschrieben, wann sie die Pflanze gießen sollte, war sich aber nicht sicher, wie gut Malgorzatas Englisch inzwischen war, und sie einfach zu tadeln war möglicherweise politisch nicht korrekt. Sie entfernte sich, um die Gießkanne zu füllen, aber eigentlich wollte sie damit nur den Anruf vor sich herschieben und wusste das auch. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass der Junge nicht der war, für den sie ihn hielt, aber die Nachrichten, die Wendy hinterlassen hatte, und ihr Bauchgefühl sagten das Gegenteil.

Auf dem Weg in die Küche blieb sie stehen und wählte Wendys Nummer, bevor sie es sich doch noch anders überlegen würde. Bring’s hinter dich, als wäre der Anruf bei ihrer Schwester der Schlussakkord und nicht der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Ereignissen.

»Träum ich?«, fragte Wendy.

Violets Antwort fiel gereizt aus. »Du hast überhaupt keinen Grund, Witze zu machen«, sagte sie zu ihrer Schwester.

»Ich habe dich unzählige Male angerufen, ich habe schon gedacht, du hättest dich in Luft aufgelöst.«

Violet rief sich ihren Juraabschluss in Erinnerung. Hatte sie nicht einst eine Fluggesellschaft dazu überredet, einen Schadensersatz in siebenstelliger Höhe auf den Tisch zu legen, für verdorbenen Orangensaft, der an Bord serviert worden war? »Dazu hattest du einfach kein Recht«, sagte sie. »Du hattest kein Recht, mich in diese Lage zu bringen.«

»Hast du dir meine Nachrichten nicht angehört? Mir ist das schon klar, Viol, ich habe die Situation falsch eingeschätzt.«