Genau so, wie es immer war - Claire Lombardo - E-Book

Genau so, wie es immer war E-Book

Claire Lombardo

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Beschreibung

Glück ist ein vorübergehender Zustand – Familie bleibt ein Leben lang Manchmal kann Julia Ames es gar nicht fassen, was für ein unwahrscheinlich schönes Leben sie führt. Mit Mark hat sie seit Jahrzehnten einen liebenden Ehemann an ihrer Seite, zusammen haben sie zwei Kinder in die Welt gesetzt, auf die sie stolzer nicht sein könnte. Doch Glück ist nur ein vorübergehender Zustand, wie Julia schnell feststellen muss – Familie bleibt einem hingegen ein Leben lang erhalten. Sohn Ben schockiert seine Eltern bei einem Besuch mit einer folgenschweren Nachricht. Tochter Alma ist kurz davor, aufs College zu gehen, was eine ungewohnte Angst vor dem leeren Nest in Julia weckt. Und beim Einkaufen trifft Julia zufällig auf eine Frau, die sie seit fast 20 Jahren nicht mehr gesehen hat – einst war die mütterliche Freundin ihre Rettung, bevor sie einer Katastrophe den Weg ebnete. Gefangen zwischen ihrer bewegten Vergangenheit und der chaotischen Gegenwart verliert Julia zunehmend die Kontrolle. Ein emotional mitreißender Roman über die Ambivalenz von Mutterschaft, die Bedeutung von Freundschaft und die Kraftanstrengung, die eine beständige Liebe voraussetzt. Nach dem großen Erfolg von ›Der größte Spaß, den wir je hatten‹ beweist sich Claire Lombardo erneut als eine meisterhafte Erzählerin: Brillant erkundet sie die komplizierten Gefühlswelt einer ganz normalen Frau und beleuchtet die flüchtigen und doch tief einschneidenden Momente, die über Erfolg oder Scheitern einer Ehe und einer Familie entscheiden können. »Ein zugleich zugänglicher und ungemein tiefsinniger Roman, der besonders einnehmend von Verlust- und Scheiternsängsten erzählt, aber nie schwermütig, sondern klug und witzig. Eine große Empfehlung.« Matt Haig »Ein überragender zweiter Roman. Lombardo schreibt mit bemerkenswertem Humor und Einfühlungsvermögen über komplexe weibliche Innenleben und die so häufig problembehafteten Dynamiken zwischen Müttern und ihren Kindern.« The Observer

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Seitenzahl: 844

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Über das Buch

Manchmal kann Julia Ames es gar nicht fassen, was für ein unwahrscheinlich schönes Leben sie führt. Mit Mark hat sie seit Jahrzehnten einen liebenden Partner an ihrer Seite, zusammen haben sie zwei Kinder in die Welt gesetzt, auf die sie stolzer nicht sein könnte. Doch Glück ist nur ein vorübergehender Zustand, wie Julia schnell feststellen muss – Familie bleibt einem hingegen ein Leben lang erhalten.

 

Der Sohn schockiert seine Eltern bei einem Besuch mit einer folgenschweren Nachricht. Die Tochter ist kurz davor, aufs College zu gehen, was eine ungewohnte Angst vor dem leeren Nest in Julia weckt. Und beim Einkaufen trifft Julia zufällig auf eine Frau, die sie seit fast 20 Jahren nicht mehr gesehen hat – einst war die mütterliche Freundin ihre Rettung, bevor sie einer Katastrophe den Weg ebnete.

 

Gefangen zwischen ihrer bewegten Vergangenheit und der chaotischen Gegenwart verliert Julia zunehmend die Übersicht. Brillant erzählt ›Genau so, wie es immer war‹ von der komplizierten Gefühlswelt einer ganz normalen Frau und beleuchtet die flüchtigen und doch tief einschneidenden Momente, die über Erfolg oder Scheitern einer Ehe und einer Familie entscheiden können.

Claire Lombardo

Genau so, wie es immer war

Roman

Aus dem Englischen von Sylvia Spatz

Für Molly

TEIL I

Verloren im Supermarkt

1

Es ereignet sich, wie bisher die meisten wichtigen Dinge in ihrem Leben, zufällig und weil sie etwas tut, das sie besser unterlassen hätte. Und wie bei vielen Zufällen gehen diesem Ereignis vollkommen einleuchtende Entscheidungen voraus. Man handelt ein klein wenig anders als normalerweise, was rückblickend so aussieht, als hätte man dem Zufall geradezu auf die Sprünge helfen wollen. Man entscheidet sich lediglich gegen die übliche Routine, und mit einem Mal befindet sich alles im freien Fall, und der Kosmos stürzt sich schadenfroh auf die Alternative, für die man sich nur selten entscheidet, und rennt, als wäre er von allen guten Geistern verlassen, mit seitlich ausgestreckten Armen durch die Gänge eines Supermarkts, um die Regale leerzufegen. Und ausgerechnet in einem Supermarkt, einem Feinkosttempel zwei Ortschaften von ihrem Zuhause entfernt, befindet sie sich gerade, um in letzter Minute noch ein paar Dinge für die Dinnerparty zu Ehren ihres Mannes einzukaufen, der heute sechzig wird.

Mithin ist es ein relativ kleiner Verstoß, sich für eine an sich unbedenkliche Alternative zu entscheiden: Weil ihr üblicher Supermarkt kein Krabbenfleisch mehr hatte, ist sie zu einem anderen gefahren.

Hinterher wird sie sich daran erinnern, wie ihr, als sie den ersten Supermarkt mit leeren Händen verließ, tatsächlich der Gedanke kam, dass selbst eine derart harmlose Routineänderung in ein Desaster münden konnte, etwas, das nicht passieren sollte. So sieht zumindest Mark – naturwissenschaftlich geprägt und unglaublich ängstlich – die Welt, nämlich als eine Kette von Entscheidungen, die man trifft oder eben auch nicht, mit ihren bis ins kleinste Detail berechenbaren Konsequenzen. Julias Verstand hat erst angefangen, auf die gleiche Art und Weise zu funktionieren, nachdem sie Mark schon eine ganze Weile kannte. Zuvor hatte sie sich stets mit der Vorstellung begnügt, dass man mit einer Entscheidung die Tür zu einer anderen schloss, dass im Kosmos keine fabelhafte Ordnung existierte und am Ende eigentlich alles ziemlich egal war. Vielleicht erklärt diese grundverschiedene Einstellung die Tatsache, dass Mark gewissenhaft ein Ingenieursstudium absolviert hat, während Julia ihr Studium in den Fächern Englisch und Rhetorik an der staatlichen Universität von Kansas kurz vor den letzten Prüfungen hinwarf.

Jetzt sind sie allerdings seit fast drei Jahrzehnten zusammen, und so hat sie tatsächlich eine Sekunde lang befürchtet, dass eine derart spontane Entscheidung fatale Folgen haben könnte. Aber darunter hatte sie sich eine kinoreife Tragödie vorgestellt – sie wird zum Beispiel von einem Frachtzug überfahren oder tritt auf eine Landmine –, und das alles nur, weil sie nicht auf das Krabbenfleisch verzichten wollte und eine Viertelstunde Richtung Westen gefahren ist. Sie hätte niemals damit gerechnet, auf eine Achtzigjährige zu treffen, die gerade eine Pyramide aus Kumquats inspiziert.

Julia erkennt sie im ersten Moment gar nicht. Ihr Verstand nimmt sie nicht bewusst wahr, und sie bleibt auch nicht stehen. Sie ist gerade zielstrebig auf dem Weg in die Fischabteilung, an der Bioabteilung vorbei, und überlegt, ob sie danach mit ihrem Einkaufswagen noch einen Abstecher in die Textilwarenabteilung machen soll, denn manchmal haben Läden in den weiter außerhalb gelegenen Suburbs doch die größere Auswahl. Vielleicht wird sie auch schnell eine Runde durch den ganzen Laden drehen, um zu sehen, was sie hier außer dem Üblichen, das sie sonst auf ihrem Rundgang durch den gewohnten Supermarkt eilig in den Wagen wirft, außerdem im Angebot haben. Und dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Ihr Gehirn hat das Gesicht der Frau, an dem das Alter nicht spurlos vorübergegangen ist, mit Verspätung doch noch registriert.

Sie hat nicht viele Leichen im Keller, es gibt in ihrem Leben nur eine Handvoll Personen, denen sie wirklich nie wieder über den Weg laufen möchte, und Helen Russo ist zufällig eine davon. Warum geht sie dann aber näher ans Ende des Gangs mit den Textilwaren und lässt den Strom von Kunden an sich vorüberziehen, damit sie sich nach der Frau umdrehen kann? Es ist mehr als achtzehn Jahre her, dass sie sich zuletzt begegnet sind, wirklich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie sich davor mindestens einmal in der Woche getroffen haben und dass ihre eigene Welt klein ist, so klein, dass schon die Entscheidung, einmal woanders einzukaufen, eine gewisse Tragweite hat.

Sie weiß auch nicht recht, warum sie wieder zurückgeht, aber Helen ist nicht mehr bei Obst und Gemüse, sondern steht mit einer Tüte Pinienkernen vor den Waagen. Der Preis liegt laut Schild bei 16,75 Dollar für 250 Gramm, und Julia erinnert sich an die Extravaganz, die ihr damals während der Nachmittage bei den Russos auffiel, das schwere Besteck, Gemälde, die verdächtig nach Originalen aussahen, Wein, den sie später zu Hause googelte, wobei sie herausfand, dass die Flasche 58 Dollar gekostet hatte.

Und jetzt ist sie hier, um zur Feier des Tages die Zutaten für Krabbentörtchen zu besorgen, weil ihr Mann die ganz besonders mag. Beim Gedanken an Mark wird ihr kurz schwindelig. Sie ist immer noch mit einem leeren Einkaufswagen unterwegs und wirft peinlich berührt kurzerhand einen albernen Rotkohl hinein. In mancher Hinsicht wirkt Helen erwartungsgemäß viel älter als in ihrer Erinnerung, anderes an ihr – der fröhliche Zopf, die glänzende Kette aus großen blauen Perlen um ihren Hals – ist ganz wie damals. Julia geht zögernd auf sie zu. Eigentlich hat sie große Übung darin, Begegnungen aus dem Weg zu gehen, ihre Einkaufstrips gleichen einem ausgeklügelten Manöver, bei dem sie genauestens auf die Gesichter um sich herum achtet, damit sie möglichst in kein Gespräch verwickelt wird. Aber im Augenblick ist sie wie ferngesteuert und mittlerweile nah genug, um im Haar der Frau die hochgeschobene Billigbrille aus dem Drogeriemarkt auszumachen.

»Helen?«

Helen dreht sich zu ihr um und mustert sie mit einem seltsam ausdruckslosen Blick langsam von oben bis unten. Julia überlegt kurz, was sie für einen Eindruck macht, und fährt sich mit der Hand durchs Haar. Vielleicht sieht sie aus wie jemand mit finsteren Absichten, in ihren Clownshosen, wie Alma sie nennt, und einem von Marks ausrangierten Hemden. Sie bildet sich gerne ein, dass diese Kombination als improvisierte Eleganz durchgeht, aber wahrscheinlich ist es eher das Gegenteil. In einer Suburb ist es schwer zu sagen, ob eine wunderlich gekleidete Frau mit nichts als einem Biokohl im Einkaufswagen obdachlos ist oder luxusverwahrlost. Sie überlegt, wie sehr sie selbst sich seit der letzten Begegnung verändert hat, und der Umfang dieser Veränderungen trifft sie wie ein Schlag. Eigentlich ist aus ihr fast eine ganz andere Person geworden. Ihr rauscht das Blut in den Ohren, merkt sie nervös. Es ist durchaus denkbar, dass Helen sie gar nicht erkennt – hier ist sie wieder, die wohlvertraute Sorge, dass man jemandem längst nicht so viel bedeutet hat wie die Person einem selbst – doch dann sagt Helen etwas.

»Das ist nicht möglich!«

Das Rauschen des eigenen Pulsschlags wird leiser, und die Umgebungsgeräusche gewinnen wieder Oberhand, eine Frau, die mit dem Metzger streitet, ein Mann, der in ein verborgenes Ohrmikrofon spricht, ein Kind in einer Daunenweste, das schrill etwas über einen Baby-Hai singt. Helens Stimme klingt bemerkenswerterweise wie damals. Julia fühlt sich auf angenehme Weise an Nachmittage im Garten der Russos zurückversetzt, wo Helen – damals schon älter als Julia heute – Banales zum Elterndasein und markige Sprüche zum Besten gibt oder sich freimütig anvertraute, und das alles mit der Selbstverständlichkeit und dem Selbstvertrauen einer Frau, die ihr Leben genießt, was Julia damals verwundert zur Kenntnis nahm, denn sie selbst genoss ihr Leben in jener Zeit keinesfalls.

»Ich dachte … vielleicht bist du’s«, sagt sie etwas einfallslos.

»Sag mir bloß nicht, dass ich keinen Tag älter aussehe«, erwidert Helen, »sonst lasse ich dich umbringen.«

Sie wird nervös und lacht. »Nein, du siehst …«

»Denn du bist ziemlich gealtert, muss ich sagen, folglich sehe ich um Jahrhunderte älter aus.«

Sie fühlt sich davon eher überrumpelt als pikiert, aber mal ganz ehrlich, sie ist um einiges älter geworden, und merkt, wie sie errötet. »Ich finde, Jahrhunderte klingt ein bisschen übertrieben.«

Helen lacht. »Immerhin hast du mich erkannt. Und das ist ja schon mal was.«

»Du siehst toll aus«, sagt sie fast schüchtern.

»Lügen konntest du damals schon nicht«, bemerkt Helen. »Auch dein Einkaufswagen überzeugt nicht sehr.«

Sie lassen beide den Blick zum Kohlkopf wandern. »Ich habe gerade erst angefangen«, erklärt sie leise.

»Wie geht es dir?«, fragt Helen. »Erzähl mir kurz das Wichtigste.«

»Na ja, ich …« Was soll sie sagen? Bei der letzten Begegnung mit Helen war Alma noch nicht geboren, fällt ihr ein, aber es klingt doch komisch, wenn man zu einer mittlerweile Fremden sagt: Stell dir vor, ich habe vor siebzehn Jahren ein Kind zur Welt gebracht! Über die letzten beiden Jahrzehnte gäbe es eigentlich so viel zu erzählen, derart vieles hat diese Zeitspanne hervorgebracht, Toxisches und anderes, winzige grüne Schösslinge, die aus verwüstetem Erdreich trieben. Neuer Job, zweites Kind, was auch ein neuerliches Bekenntnis zu ihrer Ehe bedeutete. Darauf folgten ruhigere Fahrwasser, entstand Routine: Der Bekanntenkreis vergrößerte sich, die Kinder wuchsen heran, sie adoptierten eine kleine schwarze Terrier-Mix-Hündin namens Suzanne, der Stoff, aus dem jedermanns Alltag ist, Weichspüler und Präsidentenwahlen, der unerbittliche Lauf der Zeit. Die Ereignisse in ihrem Leben, die wie leuchtend bunte Billardkugeln immer vorwärtsdrängen, gegeneinanderknallen, neue Bahnen einschlagen und Eingreifen erfordern, wirken mit einem Mal unerheblich. Sie hat Helen seit achtzehn Jahren nicht gesehen, es fällt schwer, etwas zu irgendetwas zu sagen.

»Alles beim Alten«, sagt sie stattdessen. »Kinder, Arbeit und so weiter.« Ihr früheres Selbst würde sich über diese Frau von heute, die mit anderen Müttern zum Kaffee verabredet ist, eine spezielle Kreditkarte der Luxuskette Nordstrom und relative Seelenruhe besitzt, verwundert die Augen reiben.

»Kinder«, wiederholt Helen. »Im Plural?« Typisch Helen, entsinnt sie sich jetzt, schon damals hat sie anderer Leute Alltag aus frischer Perspektive betrachtet und blinde Stellen gefunden, die man aufpolieren sollte, oder glänzende, die einem selbst nicht aufgefallen waren: Zwei Kinder! Wie toll! Helen zieht theatralisch eine Augenbraue hoch, dann kommt es ihr offenbar wieder in den Sinn. »Stimmt. Bei unserem letzten Treffen waren die Dinge gerade langsam wieder in Schwung gekommen, oder?«

Sie hat gerade überlegt, ob Helen sich erinnern würde. Mit einem Mal sieht sie sich an jenem furchtbaren Nachmittag in der Bibliothek wieder dieser Frau gegenüberstehen, zum letzten Mal, wie sie damals glaubte.

»Stimmt«, bestätigt sie. »Ja – das stimmt. Eine Tochter.«

»Meine Güte, so ist das, wenn man jemanden Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. Und wie geht’s deinem Sohn? Er muss jetzt … damals war er … noch winzig, stimmt’s?«

»Jetzt ist er nicht mehr so winzig«, erwidert sie. »Vierundzwanzig.« Damals saß Ben zwischen ihren Füßen unter dem Tisch und spielte mit Vintage-Spielzeugzügen, die Pete, Helens Ehemann, aus dem Keller heraufgeholt hatte. Sie räuspert sich. »Und du? Wie geht es dir? Und Pete?«

»Tot«, antwortet Helen umgehend und unbefangen. »Letzterer, nicht Erstere, obwohl ich, wie wir gerade festgestellt haben, auch bald an der Reihe bin.«

»Oh Gott.« Sie empfindet sofort Trauer, muss überraschenderweise gar nicht erst danach suchen: Pete Russo winkt vom Dach, wo er gerade die Rinnen säubert, Pete Russo lässt Ben seine Farbeimer als Trommeln benutzen. »Helen, das tut mir so …«

»Ich habe dich so lange nicht mehr gesehen«, sagt Helen. »Da ist völlig klar, dass nicht mehr jeder am Leben ist.«

»Es tut mir leid.«

»Mir auch«, entgegnet Helen, und ganz kurz fällt die resolute Fröhlichkeit von ihr ab, und sie wirkt verletzlich und verlassen.

»Und wie geht es dir damit?«

»Ganz gut«, antwortet sie. »Es ist schon lange her. Im August sind es fünf Jahre, kaum zu glauben.«

»Ich habe nicht …«

»Julia.« Helen lächelt sie an. »Es ist okay. Reden wir von etwas anderem. Was ist mit deinem?«

»Meinem …?«

»Na ja, deinem Mann.«

»Ach, ja.« Genau wegen ihm steht sie eigentlich gerade hier, führt diese absurde Unterhaltung und ist nicht bereits wieder zu Hause, wo der Kosmos sie mittlerweile bestimmt gerne hätte, knietief im zähen, langweiligen Sumpf der Routine von Partyvorbereitungen. Was soll sie jetzt über Mark erzählen, dessen Leben sie wegen ihrer ersten Zufallsbegegnung mit Helen Russo fast ruiniert hätte und der, Gott sei Dank, im Laufe der vergangenen achtzehn Jahre nicht verstorben ist? »Es geht ihm … gut. Er ist eigentlich … Heute ist sein Geburtstag, deshalb bin ich hier.« Sie zeigt auf den lächerlichen Inhalt ihres Einkaufswagens.

»Ach, ja, natürlich«, sagt Helen nach einer Sekundenpause. »Der Geburtstagskohlkopf.«

Sie lacht mit Verzögerung.

Helen mustert sie erneut, diesmal mit einem veränderten Gesichtsausdruck, den sie nicht deuten kann. »Ich will dich nicht länger aufhalten. Es war aber schön, dich zu sehen. Du wirkst glücklich.«

»Wirklich?« Die Frage ist ihr unwillkürlich entschlüpft.

Helen lächelt. »Ja.«

Jetzt wäre eigentlich der richtige Augenblick, Helen zu versichern, dass sie ebenfalls einen glücklichen Eindruck mache. Jetzt wäre für sie beide eine günstige Gelegenheit, um sich etwas abzuringen wie man kann sich ja mal treffen oder so richtig über alles austauschen.

»Noch viel Spaß«, meint Julia ziemlich unsinnig mit einer Geste in Richtung Helens Einkaufswagen, in dem – wie sie erst jetzt bemerkt – ebenfalls absurd wenig liegt, nämlich vier Limonen und das kleine Päckchen mit den Pinienkernen.

»Mmmh«, sagt Helen. Sie berührt Julia leicht am Arm, und die ist froh über ihren langen Ärmel, der ihre Gänsehaut verdeckt. »Dir auch.«

Wie ferngesteuert kauft sie weiter ein, stellt sich bei der Expresskasse an und legt ihre Waren aufs Band.

»Haben Sie nicht an Einkaufstaschen gedacht?«, fragt die Kassiererin vorwurfsvoll.

»Im Geiste schon«, antwortet sie, aber die Kassiererin lacht nicht.

*

Sie atmet erst richtig auf, als sie im Auto sitzt. Das Krabbenfleisch und der Kohl – er hat ihr leidgetan, und sie hat es nicht übers Herz gebracht, ihn wieder auf den Berg von Kohlköpfen zurückzulegen – liegen fröhlich neben ihr auf dem Beifahrersitz. All die für sie so entscheidenden Momente mit Helen ereigneten sich im Laufe von einigen Monaten, aber Julias Verstand komprimiert sie gegenwärtig auf Sekundenlänge: wie sie über der Küchenspüle heult, entspannt auf Helens Veranda Wein trinkt und auch die letzte Begegnung in der Bibliothek. Ihr ist schwindlig, sie öffnet das Sonnendach und holt tief Luft.

Auf der Fahrt hierher hat sie pflichtbewusst, wenn auch leicht gelangweilt die Nachrichten im Radio gehört, aber als sie vom Parkplatz abfährt, entscheidet sie sich für eine Playlist ihrer Tochter. Klassischer Rock ist wieder in, sie kennt jeden zweiten Song, und zwischen Bowie und den Stones ertönen Bands mit originellen Namen wie You Will See Our Smiling Faces on the Nine Train und Reckon with Your Racist Grandfather oder Slight Right For The Sanitary Landfill. Bei den Namen gerät sie immer wieder durcheinander, was ihre Tochter in den Wahnsinn treibt. Sie muss zugeben, dass sie mit der Musik von heute, Almas Lieblingsmusik, nicht viel anfangen kann, aber sie hat gelernt – im beständigen und verzweifelten Ringen um die Liebe ihrer Tochter – sie zu mögen. Und so dreht sie die Anlage auf und lässt das Fenster herunter.

Früher hat sie sich für jemanden gehalten, der etwas von Musik verstand und cool war. Mit Mark ist sie an fast jedem Wochenende zu Konzerten gegangen, und sie konnte die gesamte Diskografie der Band Pavement aufsagen, sowohl chronologisch nach Erscheinungsjahr als auch gemäß ihrer persönlichen Hitliste, und Ben tat es ihr irgendwann automatisch nach, weil sie ihre CDs auf der Fahrt zum Kindergarten oder auf einem ihrer verrückten Tagestrips durch die Stadt abspielte, übrigens sehr viel lauter als heute. Und dabei muss sie natürlich sofort wieder an Helen denken, kaum zu glauben, dass sie überhaupt auf diese Frau zugegangen ist, und sie spürt wieder Helens Hand auf ihrem Arm. Auch an die Helen von damals im botanischen Garten muss sie denken, in dem Gewächshaus für Sukkulenten. Helen hat sofort Antennen dafür gehabt, dass sie, eine einsame, unbeholfene junge Mutter in einem T-Shirt mit dem Aufdruck Jesus and Mary Chain und tiefen Augenringen, mit den Nerven am Ende ist, und hat sie aus der Menge herausgepickt.

Auf der Playlist ist gerade »Smells like Teen Spirit« an der Reihe, und sie dreht weiter auf, zu laut – an der roten Ampel starrt der Mann im Auto neben ihr sie unerbittlich an –, aber sie dreht die Lautstärke noch ein bisschen höher und fädelt sich, dankbar über einen Vorwand, ordentlich aufs Gas treten zu können, in den Verkehr auf der Eisenhower ein.

*

Als sie nach Hause kommt, ist Mark nirgends zu sehen, ein Glück, denn sobald sie die Küche betritt, werden ihr mit einem Mal die Knie weich, das Blickfeld verschwimmt, und sie lässt sich auf einen der Hocker an der Kochinsel fallen. Sie spürt, wie Suzanne mit den Vorderpfötchen insistierend gegen ihre Schienbeine drückt. Der Hund mustert sie beleidigt, weil Julia das Begrüßungsritual ausgelassen hat. Sobald Julia zurückkehrt – ob sie nun fünf Minuten oder fünf Stunden weg war –, ist Suzanne außer sich vor Freude, der Blick wird wild, der Körper zittert vor Begeisterung. Und niemand ist jemals so verrückt nach Julia gewesen wie Suzanne, nicht einmal Julia selbst hat ein Lebewesen, Mensch oder Tier, auch nicht die Kinder, derart ins Herz geschlossen wie dieser Hund sie. Das ist schmeichelhaft, aber manchmal geht ihr diese innige Liebe auch auf die Nerven.

»Alles gut, kleine Dame«, beruhigt sie den Hund. »Ich bin nur gerade nicht ganz auf der Höhe.«

»So war das zwar überhaupt nicht, aber meinetwegen«, sagt Alma, die gerade in die Küche kommt. Und dann: »Mom?«

Sie öffnet die Augen und hebt das Kinn. Der Blick ist wieder klarer. Ihre Tochter, widerspenstiges dunkles Haar und kluge grüne Augen, ist eine strahlende und einschüchternde Amazone. Sie hält eine leere Rührschüssel gegen die Brust gedrückt und in den Händen jeweils eine zerquetschte La-Croix-Sprudelwasserdose.

»Hallo, Ollie.«

Der Hund jault, und Julia greift nach unten und hebt ihn hoch.

»Weine nicht«, säuselt sie, das Gesicht ins Fell gedrückt.

»Sag ihr nicht, wie sie sich fühlen soll«, sagt Alma, aber dann fragt sie stirnrunzelnd: »Bist du okay?«

Das ist eine für Alma ungewöhnliche Nachfrage, und ganz kurz wünscht sich Julia, dass sie nicht okay ist und ihre Tochter umstandslos um Hilfe bitten kann, zum Beispiel einen Splitter entfernen oder eine Schulter einrenken. Das würde sie mit diesem Menschen, den sie geboren hat, in engen Körperkontakt bringen, falls Alma, ausnahmsweise mal nicht narzisstische Kriegerin, diesen tatsächlich anbietet.

Die Antwort ist ein potenzielles Minenfeld. Wenn sie körperliche Beschwerden andeutet, wird ihre Tochter (die sich zwar nicht über die Anwesenheit ihrer Eltern freut, ihnen aber auch nicht den Tod wünscht) sofort misstrauisch werden. Und bei der Wahrheit zu bleiben – sie sei eben der Frau, die ihre Ehe fast zum Scheitern brachte, über den Weg gelaufen und müsse sich nun innerlich dafür rüsten, dem Ehemann gegenüberzutreten – verbietet sich selbstverständlich von selbst.

»Alles gut«, erwidert sie. Suzanne windet sich und springt von Julias Schoß. Der Hund hat wie eine Katze, wie ihre Tochter klare Grenzen, er fordert zwar permanent Zuwendung, aber strikt nach seinen eigenen Regeln. »Gut, gut, gut.«

Sie streckt den Rücken durch, erhebt sich vom Hocker, wird wieder geschäftig. In der Küche gibt es immer was zu tun, besonders wenn Alma Freunde zu Besuch hat, aufwischen, Geschirr abtrocknen, und der Abfall – zwei abgeknabberte Apfelgehäuse, die lilafarbene Rinde von einem exquisiten, in Rotwein gereiften Ziegenkäse – wandert auch nicht von selbst in den Mülleimer.

Freundlicherweise gibt Alma sich mit dieser Antwort zufrieden, endlich steht sie, mit der überbordenden Selbstgewissheit eines Teenagers, wieder allein im Zentrum der Aufmerksamkeit, wie es sich gehört.

»Die haben gerade angerufen, mein Zahnarzttermin hat sich verschoben«, teilt sie mit. »Dr. Gallagher hat einen Todesfall in der Familie.«

»Oh, das ist aber …«

»Eigentlich gut, weil wir in dieser Woche in der Bibliothek eine Arbeitsgruppe zur Vorbereitung auf die AP-Examen in europäischer Geschichte haben – ich wollte sagen, gut, dass der Termin abgesagt worden ist, nicht gut, dass jemand gestorben ist –, und deshalb wollte ich fragen, ob ich das Auto haben kann, damit ihr mich abends nicht immer superspät abholen müsst?«

Aus Alma, einem ungewöhnlich anhänglichen Kind, ist eine weitgehend unabhängige und ganz und gar undurchschaubare Siebzehnjährige geworden. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, sieht umwerfend aus und ist ungewöhnlich gut in Mathe. Mit ihren Freundinnen teilt sie Insider-Witze, etwa über Garry Shandling und Avocado-Toast, malt sich winzige Kirschen auf die Fingernägel und versucht sich in ambitionierten Backprojekten, was bedeutet, dass der Kühlschrank oft rammelvoll ist mit länglichen Bagels und sechsstöckigen Torten.

»Ich frag dich nur jetzt schon, weil letztes Mal hast du gesagt, ich hätte dich nicht früh genug gefragt«, fügt Alma hinzu. Nach fast zwei Jahren brütenden Schweigens sucht sie seit neuestem wieder das Gespräch mit Julia und Mark und ist mittlerweile kaum noch zu stoppen. Bei Tisch unterhält sie ihre Eltern atemlos mit Geschichten, denen diese nicht folgen können, oder erzählt ausführlich Episoden aus Fernsehshows nach, von denen sie keinen Schimmer haben, oder sie legt eloquent und überzeugend ihre Argumente für alles dar, was sie haben möchte, einschließlich der Erlaubnis für etwas. Jede Unterhaltung mit ihr verlangt tatkräftigen Einsatz, bei dem man Gänge wechseln, zurückrudern, unsinnigen Übergängen von einem Thema zum anderen folgen oder sich ohne Auftanken aus der Realität in eine fiktionale Welt katapultieren lassen muss. Es ist so gut wie sicher, dass sie im nächsten Monat eine Zusage von einem der siebzehn entsetzlich teuren und hochgepriesenen Colleges erhält, bei denen sie sich beworben hat. Und weil Julia die Zeit, in der Alma noch zu Hause weilt, möglichst friedlich über die Bühne bringen will, antwortet sie auf die Frage ihrer Tochter so behutsam wie damals, als sie auf Zehenspitzen um das schlafende Kleinkind herumschlich, um es nicht zu wecken. Die Machtverhältnisse in ihrem Haushalt ähneln in mancher Hinsicht denen einer jahrelangen Geiselkrise.

»Das sehen wir dann«, sagt sie, und bevor Alma protestieren kann: »Hast du Besuch?« Aus dem Wohnzimmer dringen mindestens zwei Stimmen an ihr Ohr, und sie ist ziemlich sicher, dass eine davon Margo Singh gehört.

Alma lässt die Dosen in die Recyclingtonne fallen. »Jep.« Ihre Tochter äußert sich über Margo und vor allem über die Beziehung zu ihr nicht weiter. Jeden Vorstoß von Julia in diese Richtung hat Alma bislang verächtlich abgetan und ihr schweigend bedeutet, dass ihre Sicht auf Beziehungen viel zu starr sei.

»Sie ist nicht meine Freundin«, hat Alma vor kurzem erklärt. »Aber sie ist auch nicht einfach nur eine Freundin. Heutzutage nennt das niemand mehr so, Mom.«

Julia hat sich zurückgehalten und nicht weiter nachgefragt, wie niemand es denn dann nennt. Almas Privatsphäre ist auf der sich stetig ändernden Rangfolge von wichtigen Themen zwischen Almas Schulnoten, Almas aufkeimenden politischen Meinungen und Almas kurzlebigen lebenswichtigen Wünschen in der letzten Zeit wieder nach oben gerückt. Julia mag Margo. Sie wünscht sich, die junge Frau würde etwas entschlossener auftreten – sie hat die Tendenz, wie eine Totengräberin melancholisch aus dem Dunkel aufzutauchen –, aber sie wirkt recht vernünftig und macht Alma anscheinend glücklich.

»Sehr schön«, sagt sie. »Wo ist dein Dad? Ist dein Bruder da?«

Alma brummt etwas. Woher soll ich das wissen, soll das heißen. Sie stellt ihre Schüssel in der Spüle ab, spürt dann anscheinend Julias Blick und greift nach der Spülbürste. »Was gibt es zu essen?«

»Eine bunte Mischung«, antwortet sie geistesabwesend, öffnet erst eine Tür von einem Küchenschrank, dann eine andere, holt wahllos Dinge heraus und stellt sie auf die Kücheninsel. »Diese kleinen Quiches, Gurkensalat, Krabbentörtchen.« Sie legt die nötigen Utensilien bereit plus den Sellerie und Paniermehl. Bevor der heutige Nachmittag plötzlich einen anderen Verlauf nahm, hatte sie sich aufs Kochen gefreut. Das Ganze ist aufwendig genug, um später die Gäste zu beeindrucken, und trotzdem kann sie noch vieles andere nebenbei erledigen. Von ihren Kindern, das weiß sie aus Erfahrung, ist kaum Unterstützung zu erwarten.

Alma dreht sich gekränkt zu ihr um. »Oh, Mom, wirklich?« Sie tut tief verletzt, und Julia lässt erstaunt ihren Blick umherwandern, vielleicht ist gerade etwas Schreckliches passiert, aber es scheint alles beim Alten. Die abgewaschene Schüssel, die ihre Tochter in den Händen hält, tropft auf den Boden.

»Was ist denn?«, fragt sie besorgt.

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich keinen Fisch und keine Meeresfrüchte mehr esse«, beschwert sich Alma. »Und zwar bereits vor Wochen.«

Sie überlegt kurz und wünscht sich – eigentlich ein furchtbarer, aber nicht ungewöhnlicher Wunsch bei Unterhaltungen mit ihrer Tochter –, sie könnte sich einfach in Luft auflösen. Sie fühlt sich gerade vollkommen erledigt, als würde die Erdanziehungskraft sie lähmen. Muttersein ist für sie bis heute vor allem mit einem bestimmten Gefühl verbunden, nämlich dieser elenden Fassungslosigkeit, dass man von ihr nicht nur erwartet, sondern sie dazu verpflichtet, sich auch noch um diese letzte Kleinigkeit zu kümmern.

»Hast du’s etwa schon vergessen?«

»Vergessen wäre vielleicht zu viel gesagt«, erwidert sie und nimmt einen Bund frischen Koriander aus der Kühlschranktür. Sie kann sich nicht daran erinnern, weil sie gehofft hatte, dass dieses Gespräch, bei dem Alma etwas von »stufenweiser Umstellung auf vegane Ernährung« erzählte, wie so oft bei Teenagern nach ein paar Tagen vergessen sein würde, weil erneut etwas Einzigartiges, Unaufschiebbares es in den Hintergrund hatte treten lassen.

Sie atmet bewusst langsam und tief durch die Nase ein, bis sie die Luft im Rachen spürt. Bei Ben hat sie zur Geburtsvorbereitung halbherzig an Yogastunden teilgenommen. Damals ahnte sie noch nicht, dass ihr das nicht nur bei der Geburt helfen würde, sondern noch Jahrzehnte später für einen friedlichen Umgang mit ihrer Teenager-Tochter.

»Warum holst du so tief Luft?«

»Damit meine Gehirnzellen mehr Sauerstoff bekommen«, erklärt sie.

»Du hast gesagt, du würdest darüber nachdenken, ob wir als Familie nicht ganz auf tierische Produkte verzichten«, sagt Alma mit übertriebener Ruhe, was Julia innerlich sofort wieder in Rage bringt.

»Wenn du das Krabbenfleisch nicht essen magst, dann lässt du es, mein Herz. Es gibt genügend anderes.«

»Machst du dich etwa über mich lustig?«, fragt Alma und zeigt auf Julias Hand, in der sie geistesabwesend den Alibi-Kohl hält, gleich einem Volleyball oder einem abgetrennten Kopf.

Ihr ist nach Lachen zumute, aber als sie den Impuls unterdrückt, treten ihr Tränen in die Augen.

»Warum machst du jetzt dieses Gesicht?«, fragt Alma.

Glücklicherweise betritt in diesem Moment Mark die Küche. Er kommt verschwitzt vom Joggen zurück, in Lycra-Shorts und mit einer faltbaren Wasserflasche, die er an der Hüfte trägt und bei deren Anblick sie kürzlich an einen Stomabeutel denken musste. Wie alle anderen beugt er sich zu Suzanne hinunter und begrüßt sie, als hätte er sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Seit der Hund in der Familie ist, steht er für jeden von ihnen im Zentrum, auch wenn das angeblich vor allem für Julia gilt.

»Was ist denn das für ein Armband?«, fragt Alma. »Heute siehst du besonders komisch aus.«

Er zeigt sein Handgelenk, um das ein lilafarbener Plastikreifen gebunden ist, der Schrittmesser-Prototyp, den sie gerade bei seiner Arbeit testen. Seit Monaten hält er Julia darüber endlose Vorträge. »Die Geräte, die man im Handel bekommt, taugen nichts und haben noch nie was getaugt.«

»Kann schon sein«, sagt Alma. »Aber sie sehen wenigstens nicht so aus.«

»Harte Kritiker hier in der Küche«, bemerkt Mark und legt einen Arm um seine Tochter. Sie protestiert halbherzig, aber dann lehnt sie ihren Kopf an ihn, trotz Männerschweiß und allem anderen. Julia ist Alma schon seit langem körperlich nicht mehr so nah gewesen. Alma strahlt eine Energie aus, die dazu führt, dass sie sich lieber fernhält, nicht aber ihr Vater, den Alma scheinbar auch sehr viel lieber mag.

Mark küsst Julia, und Alma sieht ihnen angewidert zu. In ihrer Familie gehen die Uhren nie ganz richtig, Zuneigung wird an unpassender Stelle bezeugt, Kränkungen werden hochgespielt. Aber das ist immer noch besser, überlegt sie – bitte, lieber Gott, lass es besser sein –, als all das nicht zu haben.

»Gibt’s den zum Abendessen?«, fragt Mark und hält den Kohlkopf in der Hand wie eine Kristallkugel, worauf Alma mit einem übertriebenen Seufzer die Küche verlässt. Sie lauschen beide dem dumpfen Geräusch ihrer Socken, als sie ins Wohnzimmer tappt.

»Improvisation«, sagt sie. »Zur Feier des Tages.«

Mark legt die Hände auf ihre Schultern. »Was kochst du?«

»Tierisches.«

»Kann ich helfen?«

»Nö.« Sie setzt eine fröhliche Miene auf und dreht sich für einen Kuss zu ihm um. »Mein Geschenk an dich.«

»Und nicht das einzige, wie ich sehe.« Er zeigt auf die Ablage, die an der Spüle aufgereihten Flaschen Malbec, die anderen Lebensmittel. Sie überlegt, ob jemand sie dabei beobachtet hat, wie sie in ihrer Clownshose zu Helen Russo gezuckelt ist. Mark knetet sanft ihren Nacken. Vielleicht erlangt man in einer Ehe einen sechsten Sinn: Ein Teil des Paares – nichts ahnend, dass der andere ihm unrecht getan hat – verhält sich mit einem Mal besonders fürsorglich und verschärft damit das schlechte Gewissen des schuldigen Parts. Die Vorstellung macht sie nervös.

»Geh dich duschen«, sagt sie und schlägt leicht mit einem Geschirrtuch nach ihm. »Sorg dafür, dass du ordentlich aussiehst.«

Sie sieht ihm nach, als er die Küche verlässt, fährt sich mit den Händen durchs Haar und versucht, die Energie von vor einer Stunde, vor ihrer Begegnung mit Helen, heraufzubeschwören und sich aufs Anstehende zu konzentrieren. Die Kohl-Julienne wird sie leicht dünsten und daraus einen Salat zubereiten. Mitunter ertappt sie sich, verwundert über ihren lächerlichen Hang zum Banalen, bei Gedanken wie: Ich hab ganz vergessen, den Typen fürs Rasenmähen zu bezahlen, und am Mittwoch wird das Futter für Suzanne geliefert.

»Das Leben ist für niemanden einfach«, psalmodiert sie manchmal, um Mark zum Lachen zu bringen, wenn sie beobachtet, wie der Wertpapierhändler von nebenan, ein Arschloch, seinen Bauunternehmer anschreit oder wie ein Eichhörnchen kopfüber Futter aus dem Vogelhäuschen stibitzt. Ihr ist es ganz recht, dass sie sich mit absurden Nebensächlichkeiten aufhalten kann.

Kohl-Julienne dünsten. Zum Teufel noch mal! Eigentlich gleicht es einem Wunder, wie unwahrscheinlich schön ihr Leben geworden ist.

2

Damals, vor ihrer ersten Begegnung mit Helen, in jenen vernebelten, wie in Watte gepackten Tagen, die so endlos lang und monoton waren, dass sie ununterscheidbar wurden, war das Leben alles andere als schön gewesen. Vor zwanzig Jahren, ein Haus zuvor. Sie waren aus der Stadt in die gute Gegend einer sehr guten Suburb gezogen und hatten Ben im Kindergarten Serenity Smiles angemeldet. In ihren Ohren klang der Name nach einem durchschnittlich teuren Striplokal oder noblen Rehabilitationszentrum, dabei war es eigentlich – oder auch – einer der exklusivsten Kindergärten weit und breit. Sie weigerte sich, das Städtchen beim Namen zu nennen, und sprach zu Marks Verärgerung stattdessen immer von Pinecone Junction. The Suburbs: Mekka für erfolgreiche Erwachsene mit exotischen Jobbezeichnungen und ihren jeweiligen frustrierten Ehepartnern, die zu Hause herumsaßen, zwischen Eichen, Überfluss und geschmackvoll verschleierter Verzweiflung. Meilenweise Straßen mit einfallslosen, althergebrachten Namen und restaurierten Pflastersteinen, Kombis und Jeeps, hektarweise dichtes, gestutztes Blattwerk, auf den Rasenflächen der Vorgärten Schilder, mit denen man bemüht zur Schau stellte, dass man mit bestimmten Kleingewerben zusammenarbeitete oder gemäßigt einer bestimmten politischen Richtung folgte, Gedenktafeln, die eigentlich niemandem und nichts gewidmet waren, und nicht einmal normales Fahren war erlaubt. Manchmal fand sie sich auf einer Straße wieder, auf der wie in altertümlichen Zeiten eine Höchstgeschwindigkeit von fünfzehn Meilen pro Stunde zugelassen war. Jeder wollte gern glauben, dass die eigene Suburb die beste war, aber eigentlich waren sie alle gleichermaßen gesichtslos und unterschieden sich voneinander nur leicht durch ihre Entfernung zum See oder ihren Grad an strukturloser »Diversität« oder »historischer Bedeutung«. Die Straße, in der sie wohnten, trug den Namen Superior, aber die Belustigung darüber war ihr, wie fast alles andere auch, nach ein paar Monaten vergangen.

Was war passiert? Schwer zu sagen. Ihr Leben zerbrach, oder sie und Mark fanden in Gesprächen nicht mehr zueinander, oder vielleicht lag es weder am einen noch am anderen, sondern lediglich daran, dass ihr Hormonhaushalt beschlossen hatte, sich nach der Schwangerschaft wieder einzupendeln. Sie waren aus der Stadt weggezogen, als Ben laufen lernte. Mittlerweile hielt er sich problemlos auf den Beinen, war mobil und selbstsicher, wenn auch nicht besonders anmutig. Er konnte sehr gut sprechen, neben Englisch auch ein wenig Spanisch, das immer mittwochs im Kindergarten unterrichtet wurde. Julia fühlte sich unterdessen starr, wie einbalsamiert. Sie schlief schlecht, ihre Stimme im Kopf spulte nervöse und überdrehte Monologe ab, und sie bemerkte bei der sporadischen Kommunikation mit anderen Erwachsenen, dass ihre laut gesprochenen Monologe ähnlich manisch klangen.

Wenn sie nicht gerade auf etwas wartete, etwas langweilig Alltägliches wie dass Ben aus dem Mittagsschlaf aufwachte, oder auf eine unwahrscheinliche Katastrophe wie den Einschlag eines Asteroiden, kam es ihr vor, als hätte sie jeden Kontakt zur Realität verloren. Meist starrte sie brütend vor sich hin wie eine rechtlose viktorianische Amme. Und so hörte sie Mark nicht in die Küche kommen.

»Alles gut?« Als würde er sie in Stacheldraht gefangen vorfinden. In letzter Zeit war das seine Standardfrage, die er stets in einem versöhnlich weichen Tonfall stellte.

Sie richtete sich auf. »Ich dachte, ich hätte unter der Spüle irgendwas am Abflussrohr gesehen.«

Mark erschauderte leicht. Ihn ekelte alles, was verdorben war oder nicht eindeutig identifizierbar. Auf dem Weg zur Espressokanne legte er leicht eine Hand auf ihre Schulter und fragte nicht weiter nach dem Rohr, dem potenziellen dunklen Geheimnis darin.

»Ich wünschte, heute wäre schon Freitag«, sagte er und merkte nicht, wie banal und kindisch das klang. Er rührte Zucker in seinen Kaffee. »Ich bin schon wie erschlagen aufgewacht, wenn das mal nicht ein schlechtes Zeichen ist.«

Wenn Julia überhaupt Schlaf fand, wachte sie immer wieder auf, weil ihr vor dem, was auf sie zukommen würde, ebenso graute wie vor dem, was hinter ihr lag. Aber Mark trug einen Schlips und hatte einen Masterabschluss, während Julia sich vornehmlich mit Legosteinen und dem Verabreichen von Karottenbrei beschäftigte, und deswegen hatte Mark mehr Anrecht darauf, über seine Verantwortung im Leben zu klagen. So funktionierte diese Welt nun mal. Sie hatte es schon längst aufgegeben, sich aus lauter Langeweile als auch Neid seine Tage auszumalen.

Wie klischeehaft öde ihrer beider Leben geworden war, geradezu zum Einschlafen, eigentlich schon fast wieder rekordverdächtig. Erinnerst du dich noch an unsere Hochzeitsreise nach Griechenland?, hätte sie gern gefragt. Erinnerst du dich an den Sex in einer Gasse auf Korfu, als uns eine Ratte zugeschaut hat? Erinnerst du dich an den Sex in der Toilette von Frank’s Nursery and Crafts, oder an den Sex in …

»Jules?«

»Hmm.« Sie blinzelte, er hatte die Stirn wieder in sorgenvolle Falten gelegt. »Ja, auf jeden Fall, ein ganz schlechtes Zeichen.«

Die Falten wurden tiefer, offenbar hatte sie gerade etwas nicht mitbekommen. »Ich hab dich gefragt, was du heute so machst.«

»Was ich eben jeden Tag so mache«, sagte sie. »Ach, die vielen Überraschungen, die da auf mich warten.«

Er sah sie über die Schulter hinweg an. »Als ich vor kurzem den Rasen gemäht habe, ist zufällig Erica vorbeigekommen und meinte, sie würde sich freuen, wenn ihr Sohn mal mit Ben spielt. Warum rufst du sie nicht an?«

»Wer ist denn Erica?«

»Die Frau ein paar Häuser weiter, sie geht immer joggen und zieht den Kleinen in einem kleinen Wagen hinter sich her …«

Sie zog die Nase kraus. »Die immer so ein Gesicht zieht?«

»Nun komm schon, Julia.«

Sie fixierte ihren Mann, der stets alles in Ordnung bringen wollte. Aber seine Probleme waren tendenziell einfacher zu lösen als ihre, das war schon immer so gewesen. Sie war mittlerweile fast krank vor Einsamkeit.

»Und was soll ich mit ihr machen?«

»Keine Ahnung«, überlegte er mit dem Rücken zu ihr, während er im Kühlschrank herumsuchte. »Was Mütter halt so machen.«

Sie geriet sofort in Rage. »Und was machen Mütter so?«

»Ich wollte nur sagen … vielleicht mal einen Spaziergang. Oder wie wär’s mit einem Buchclub?«

»Genau, spazieren gehen. Eine literarisch überlieferte, typische Aktivität von Müttern.«

»Du weißt genau, was ich …«

»Einem Buchclub beitreten – nur über meine Leiche.«

Über Suburbexistenzen herzuziehen war nicht originell, dessen war sie sich bewusst. Sie stellte sich ihr Leben vor wie Schichten aus Schiefer, scharfkantig, zerbrechlich und zerbröselnd, ineinanderfließende Grautöne. Ein Leben woanders. Dann war es nicht mehr woanders. Woanders war überall und wieder nur ein und dasselbe. Sie war ein wandelndes Klischee und langweilte sich, wenn sie nur darüber nachdachte. Diese Depressionen wegen nichts, dieser Groll auf das sorgenfreieste Leben auf der ganzen Welt. Aber sie konnte nicht anders.

»Gut, Julia, vergiss, was ich …«

»Ich begreife einfach nicht, was das heißen soll, was Mütter halt so machen. Das ist das Gleiche wie zu sagen, was Leute mit Sweatshirts so machen oder Rechtshänder. Als Mutter gehört man doch nicht gleich einer anderen Spezies an.«

»Du weißt genau, was ich sagen wollte, Jules. Vielleicht würde es dir guttun, mal ein paar Leute um dich zu haben.«

»Ich habe doch dich«, erwiderte sie, und er wurde versöhnlicher.

»Das hast du«, sagte er, kam zu ihr, um sie zu umarmen, seine Brust warm und fest an ihrer Wange.

Eigentlich hatte sie sich auf den heutigen Tag, einen Mittwoch, gefreut, da Ben im Kindergarten sein und sie damit potenziell ihre Ruhe haben würde. Sie würde auf der Fahrt zum Forest Glen Kette rauchen und im Wald herumstreifen, sich auf einem warmen Fels ausstrecken und es genießen, dass wenigstens eine Weile lang niemand sie anstarrte. Aber jetzt hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich darauf freute, mal ohne ihr Kind zu sein, weil sie ihre Zeit nicht besser einteilte und ihre freien Stunden nicht mit kulturellen Anregungen und Erwachsenen verbrachte.

»Geht es dir gut?«, fragte Mark und löste sich aus der Umarmung, um sie eingehend zu mustern. »Du siehst müde aus.«

Sie war tatsächlich seit zehn nach drei wach, und wenn sie jetzt noch einen vierten Kaffee trank, würde sie sich bis zum Abend überdreht fühlen und immer noch zutiefst erschöpft. Trotzdem war sie gerade leicht gekränkt.

»Hättest du in unseren Anfängen derart eloquent um mich geworben, ich hätte dich vermutlich nicht geheiratet«, entgegnete sie, aber als der Satz über ihre Lippen kam, merkte sie, dass ihrem Tonfall unabsichtlich das Scherzhafte fehlte. Auch Mark hörte das, und sein Gesichtsausdruck – dieses geliebte Gesicht – wurde schlagartig ernst. Liebend gerne hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben.

»Treffer«, sagte er.

»Das ging daneben«, brachte sie vor. Es war wirklich nicht seine Schuld, und nun war sie an der Reihe für eine Berührung, aber nur eine leichte, als wäre er klebrig.

»Tut mir leid«, sagte sie, und im gleichen Augenblick sagte er, »Ich liebe dich«, und dabei drückten sie zum Abschied ihre Wangen aneinander. Und dann hörte sie, wie die Haustür aufging und sich wieder schloss. Er war zur Arbeit gegangen.

Wie immer war es dann Balsam für die Seele, als Ben in die Küche kam wie ein Sonnenstrahl, die Wangen zierte der Abdruck vom Kopfkissen, die großen Augen blinzelten den Schlaf weg, und von der kleinen Hand hing sein Stofftier, eine Giraffe. Ihr Herz wurde weit, ihr Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln, und ihre Freude, die in diesen Tagen so knapp bemessen war, galt allein ihm.

»Da ist ja mein Lieblingsmann«, begrüßte sie ihn, und auf seinem Gesicht breitete sich ebenfalls ein Lächeln aus, und sie zog ihn zu sich auf den Schoß, gab ihrem Sohn und der Giraffe einen Morgenkuss und atmete seinen Duft ein, die Sonne selbst.

Meine Güte, mein bester Freund ist drei, dachte sie mitunter bei sich. Vor kurzem hatte sie versucht, das Mark zu erklären, als der, ihre eigene Erkenntnis freundlicher formulierend, vorschlug, sie solle sich doch nach Bekanntschaften in ihrem Alter umsehen. Natürlich wusste sie, dass Ben kein Freund war, sondern ihr Kind, aber richtig bewusst wurde ihr das erst, als Mark es ihr auf den Kopf zusagte. Und die darauffolgende Einsamkeit, die sich zur bestehenden Einsamkeit gesellte, das Gefühl von Verlust, wo es ohnehin wenig zu verlieren gab, überwältigte sie. Es war in letzter Zeit so einfach geworden, nachzutreten, wenn sie bereits am Boden war – natürlich ohne Absicht, denn Mark war der netteste Mann der Welt. Denn eigentlich war sie immer am Boden, und es ging auch nicht unbedingt darum, getreten zu werden, sondern eher stolperte man über sie, ein regloses Opfer ihrer Emotionen.

»Bist du traurig?«, fragte Ben, und sie schluckte die drohenden Tränen herunter, obwohl er mittlerweile ganz bestimmt daran gewöhnt war.

»Natürlich nicht«, sagte sie, den Mund an seinem Haar. »Mama ist so glücklich.« Sie spürte seine Strähnen zwischen ihren Lippen, manchmal hätte sie ihn fressen können. »Mein Süßer, du machst Mama so glücklich.«

*

Später saßen sie im Auto auf dem Weg zu Serenity Smiles, und Ben erzählte von seinem Traum über einen »Allein-Beagle«, wie er ihn nannte, auf einem Kinderspielplatz. Die Protagonisten in Bens Träumen unterlagen nur dem Gesetz der Zeit, Raum spielte keine Rolle, sie wanderten einfach fröhlich zwischen verschiedenen Orten hin und her. Die meisten seiner Träume waren fantasiereich, ohne Traumata, es passierte einfach alles Mögliche, und die Zeit verging.

»Unser Sohn Virginia Woolf«, hatte sie erst vor kurzem mit Mark gescherzt.

»Und Mama?«, sagte Ben. »Wir wollten ihn streicheln, aber dann haben wir ihn nicht gestreichelt.«

»Genau, das haben wir nicht!«, stimmte sie zu. Ihr vorgetäuschter Jubel hatte etwas Hysterisches. Sie hatte ihm gar nicht zugehört, denn in Gedanken war sie bereits zehn Minuten in der Zukunft, machte sich gerade über die Autobahn davon, während die Band The Replacements derart laut aus der teuren Anlage dröhnte, dass das Lenkrad zitterte – und zugleich würde sie Ben hinten auf dem Rücksitz vermissen. Elternschaft war ein permanenter Wunsch, zugleich vereint und getrennt zu sein, einfach grausam. Manchmal stellte sie sich einen gewaltsamen Tod vor – ihr Subaru wurde von einem Sattelschlepper zerquetscht, eine Runde im Lake Michigan endete damit, dass sie langsam nach unten sank, bis ihre Füße an seinem tiefsten Punkt den Schlick berührten. Sie fand Trost in solchen Bildern, nichts war für immer, selbst die unentrinnbare Monotonie ihres Lebens konnte durch die Natur oder einen Zufall zunichtegemacht werden.

An einer Ampel merkte sie, dass sie weinte, und war gar nicht einmal so erschrocken über ihre Tränen – offenbar war sie in letzter Zeit nah am Wasser gebaut –, sondern mehr darüber, dass sie es nicht bemerkt hatte, dass sie funktionierte, es schaffte, das Leben zu meistern, während ihre Alltagsdepression geräuschlos wie Atem aus ihr herausrann.

»Alles gut?«, fragte Ben. Kinder mit ihrer zugleich arglosen und messerscharfen Beobachtungsgabe brachten sie immer wieder zum Staunen.

»Mama geht es gut, mein Herz«, sagte sie und flüchtete sich in die dritte Person, was Eltern erlaubt war. Wie sie mit negativen Gefühlen umgehen sollte, hatte sie noch nie gewusst, aber früher hatte das keine große Rolle gespielt, jetzt aber waren auch andere betroffen.

Die Einsamkeit des Mutterdaseins. Tagaus, tagein tödliche Melancholie. Dabei war sie mit diesem hellwachen kleinen Menschen, den ihr warmherziger fleißiger Ehemann mitkreiert hatte – er kam mit den trivialen Launen des Alltags so viel besser zurecht als sie –, doch von so viel Leben umgeben. Und sie wünschte sich sehnlichst nur das Eine: allein zu sein. Sie selbst hatte dieses Leben erschaffen, und trotzdem malte sie sich aus, wie schön es wäre, wenn ihr Sohn gerade nicht hier, sondern an einem dieser wenigen Orte wäre, wo man seine Kinder abliefern konnte, vielleicht bei einem Spielnachmittag, bei dem eine vorbildliche Mutter ihm Naschereien in den Mund stecken und bei seinem entzückten Geschrei vor Freude erröten und nicht innerlich zusammenzucken würde. Wie viel Energie und Mühe es doch kostete – manchmal stellte sie sich ihr Innenleben als lecke Batterie vor, deren Säure langsam ihre Organe verätzte –, die Stimme in eine für ihn angemessene Tonlage zu bringen.

Sie drehte die Anlage weiter auf, und es ertönte »No Sleep Till Brooklyn«. Sie hatte Ben beigebracht, den Kopf zum Rhythmus der Musik zu bewegen, aber er blickte sie im Rückspiegel ernst an und blieb still sitzen. Ihr Sohn war kein Durchschnittskind, kein molliger Cherub, wie sie ihn sich während der Schwangerschaft erträumt hatte – da waren ihr Scharen von dicklichen, lebhaften Kindern erschienen, formlos, bleich und niedlich, die Witze erzählten und in ihren Latzhosen Freude verbreiteten. Ben war zart und klein und derart ernst, dass sie sich oft besorgt fragte, ob er sich am Leben so freute, wie er sollte. Sein Blick war durchdringend und reif, sein Schweigen meditativ und in sich zurückgezogen. Gerade machte er sie wieder nervös, also konzentrierte sie sich ganz auf den Verkehr.

Als sie in die Haltespur am Kindergarten einbog, spürte sie, wie ihr Atem sich langsam beruhigte. Gleich würde sie allein sein. Aber als Megan, die Assistentin bei Serenity Smiles, die Wagentür öffnete, um Ben herauszuheben, heulte er los. Ben heulte nicht. Ben war unkompliziert und freundlich und sanft. Ben hatte ein Gespür dafür, wann seine Mutter Zeit für sich brauchte, ob das nun gut war oder nicht, und er widersetzte sich eigentlich niemals.

»Mein Schatz«, sagte sie. Die Zeit, die Ben im Kindergarten verbrachte, verging in ihrer Wahrnehmung wie im Fluge; sie konnte nur bedingt lange fortbleiben, nur bedingt viele Zigaretten rauchen. Sie schaute Megan an, eine junge, bedauernd dreinblickende Brünette in einer Patagonia-Weste, und setzte ihr schönstes Ach-was-bin-ich-müde-Lächeln auf. »Komm, Zeit für den Kindergarten, Süßer.«

»Nein«, widersprach Ben.

»Süßer, lass Megan den Gurt lösen, und dann kannst du reingehen und so richtig Spaß haben.« Schon unglaublich, dass Kinder einem so einen Mist abnahmen. Auf Bens Tagesagenda standen »Gespensterkegeln mit Toilettenpapierrollen«, »B für Bakterien und wie ich sie finde«, und sein Mittagssnack würde aus einem einzigen biologisch-organischen Vollkornmehl-Cracker bestehen. Da kam bei niemandem Freude auf.

Und doch machte er immer mit. Er gab ihr immer bereitwillig einen Abschiedskuss und kehrte nachmittags müde und stolz zu ihr zurück, um ihr zweckentfremdete Toilettenpapierrollen und seltsame aus Q-Tips gebastelte Figürchen zu präsentieren.

»Nein«, wiederholte Ben mit klarer Entschlossenheit und klang in diesem Augenblick auf unheimliche Weise wie Mark. Julia schaute Megan flehend an, deren Bezahlung dafür, dass sie die Grobheiten von neureichen Serenity-Smiles-Moms zu ertragen hatte, bei weitem nicht ausreichte. Und auf jeden Fall nicht ausreichte, um mit dem Nervenzusammenbruch dieser einsilbigen Mutter fertigzuwerden, die allen immer aus dem Weg ging. Lieber Gott, hilf mir.

»Vielleicht sollten Sie ihn heute selbst reinbringen«, meinte Megan mit einem Achselzucken, und bevor Julia etwas erwidern konnte, hatte sie die Wagentür schon geschlossen und war zum nächsten Auto gegangen.

Julia fuhr auf einen Parkplatz ein paar Häuser weiter und drehte sich zu ihrem Sohn um.

»Soll Mama heute mit dir reingehen, Häschen?«, fragte sie. Es verblüffte sie immer noch, dass Ben auf die falsche Fröhlichkeit ihres Tonfalls und frei erfundene Kosenamen hereinfiel. Wollen wir jetzt baden, mein Gürkchen? Sie begleitete ihn nie hinein. Wenn möglich, vermied sie es, den Kindergarten zu betreten. Normalerweise schlängelte sie sich auf den entsprechenden Fahrstreifen elegant wie eine Forelle durch den Fahrzeugstrom, bis sie ihren Sohn möglichst ohne Kontakt zu anderen absetzen oder abholen konnte. Sie starrte sehnsuchtsvoll auf das imposante Gebäude, aber sie fühlte sich außerstande, die Schadenfreude der anderen Eltern zu ertragen, wenn sie – die einsilbige Mutter, die allen immer aus dem Weg ging – mit ihrem heulenden, protestierenden Sohn hereinstolperte. Alle verfolgten gespannt, wenn ein Kind gerade ungezogen war oder eine Szene machte, alle schauten zu, vermieden aber direkten Blickkontakt mit der Mutter. Wie wenn ein Fremder in der U-Bahn einen Nervenzusammenbruch erleidet. Da kamen Überlegenheitsgefühl und Voyeurismus zusammen, nach dem Motto, Gott sei Dank passiert mir das nicht und Oh Gott, was macht sie jetzt als Nächstes?

Er blickte sie im Rückspiegel unnachgiebig an. »Nein.«

»Bitte, Bennilein«, sagte sie verzweifelt. »Mama muss noch wohin.«

Mama muss heute mal für sich sein oder sie gibt sich noch die Kugel.

»Nein«, insistierte er, und sie legte ihre Stirn an das Lenkrad.

»Bitte«, flehte sie. »Tut mir leid, Ben, bitte, entschuldige, dass ich heute so bin. Ich brauche einfach ein bisschen Zeit für mich.« Sie brach erneut in Tränen aus, und bald auch er. Hier weinte ein sehr trauriger kleiner Erwachsener und kein übermüdetes Kind, was verstörend war und eigentlich nicht sein durfte.

»Mein Schatz«, rief sie sanft. »Mein Schatz.« Und darauf kletterte sie über die Konsole nach hinten, befreite ihn aus dem Gurt und zog ihn zu sich auf den Schoß. Er weinte einen großen dunklen Fleck auf ihr türkisfarbenes Shirt. Sie streichelte über das dünne dunkle Haar von ihrem Zwerg und hatte ein grundlegend schlechtes Gewissen, weil dieser winzige Mensch nicht nur Englisch und Anfängerspanisch beherrschte, sondern auch Experte für ihre Launen, die Höhen und Tiefen der mütterlichen Gefühlsachterbahn, geworden war. Sie hatte sich bereits vor seiner Geburt geschworen, dass er sich um seine Mutter keine Sorgen machen sollte wie sie selbst einst um ihre Eltern, aber genau so war es gekommen. Sie hatte es dazu kommen lassen.

»Tut mir leid, mein Herz«, sagte sie, und er umschlang sie fester. »Mach dir um Mama keine Sorgen«, fügte sie hinzu. Das klang simpel, war es aber nicht, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, und sie hegte mittlerweile die unheilvolle Vermutung, dass der Schaden längst angerichtet und sie in ihrem einzig wirklich wichtigen Job im Leben gescheitert war. »Mach dir um Mama niemals Sorgen.«

»Kann ich mitkommen?« Er beruhigte sich langsam, weil er vermutlich bekam, was er wollte, schaute sie gleichmütig an und blinzelte die Tränen weg.

Sie musste lachen und legte ihre Hand auf seine Kniescheibe, klein wie ein Silberdollar unter dem weichen Stoff seiner winzigen Cordhose.

»Schwänzen wir, mein Hase?«

Er nickte ernst.

»Lass uns zusammen wo hinfahren«, sagte sie erleichtert, denn so machte man das doch, die Kinder kamen immer an erster Stelle, egal wie sehr man sich wünschte, für sich zu sein und auf alle Regeln zu pfeifen.

Sie fuhren langsam über die Temposchwellen die Allee hinunter. Wie hatte sie sich nur danach sehnen können, er würde nicht hinter ihr sitzen, ihr Zwerg, und seine Ärmchen zum Rhythmus der Musik schwenken? Sie mochten Summerteeth und London Calling und eigentlich alles von den Talking Heads. Sie mochten »Debaser« und »Beercan« und »Oh! You Pretty Things«. Sie mochten Slanted and Enchanted, weil sich Heiterkeit und Geschrei abwechselten. Und bei »Blister in the Sun« war Ben immer ganz außer sich, und sie musste es sofort noch mal abspielen, noch mal, Mama, noch mal, hahahaha.

Als sie auf den Highway 290 einfuhr, wechselte sie die CD zu Pleased to Meet Me, ein anderes ihrer gemeinsamen Lieblingsalben. Sie warf ihm im Rückspiegel einen komplizenhaften Blick zu, als die ersten Takte von »I Don’t Know« ertönten. Die morgendliche Rushhour war vorüber, es ging vorbei am Medical District und durch den Congress-Tunnel, auf dem Jackson Drive kamen sie kurz etwas ins Stocken, und dann fuhren sie auf dem Lake Shore Drive entlang, und neben ihnen flirrte der See vorüber. Wie hatte sie sich nur danach sehnen können, ihn nicht dabeizuhaben?

»Are you guys still around?«, sang sie mit.

»I don’t know«, antwortete Ben singend.

Und dabei hatte sie unterschwellig das Gefühl, dass sie sowohl sich als auch Ben vor etwas bewahrt hatte, ohne genau zu wissen, wovor. Wieder begegnete sie im Rückspiegel seinem Blick. Ihr war klar, dass sie innerlich knapp vor dem Abgrund stand, aber sie ahnte noch nicht, dass Helen Russo auftauchen und sie in etwa einer Stunde im botanischen Garten in Sicherheit bringen würde.

»Watcha gonna do with your lives?«

»Nothin’!«

3

Bevor Marks Geburtstagsparty beginnt, genießt sie die Ruhe beim Duschen. Bald werden ihre Freunde da sein und anstandsgemäß über alles und jedes in Begeisterung ausbrechen – die Krabbentörtchen, die Tigerlilien, die kleinen Piratenschwerter, die in den Cocktailoliven stecken und vor lauter Kitsch schon wieder geschmackvoll sind. Dass sie diesen Freundeskreis haben, gleicht an sich einem kleinen Wunder, schießt es ihr durch den Kopf.

Damals hat fast keiner von diesen Freunden sie gekannt. Mark und sie unternahmen alles Erdenkliche, um nach dem, was mit Helen Russo passiert war, neu anzufangen. Sie ließen möglichst viele Relikte des alten Lebens zurück, das sie sich aufgebaut hatten – und das Julia überhaupt zu Helen Russo geführt hatte –, zogen um, brachen soziale Kontakte ab, wechselten Schulbezirke. Würden die Freunde von heute die Julia von damals wiedererkennen, würde sie sich selbst wiederkennen? Lethargisch, zutiefst verunsichert und unter chronischem Schlafmangel leidend stolperte sie um den Spielplatz herum, behielt dabei Ben im Auge und ging jeder Unterhaltung mit anderen Eltern aus dem Weg, oder sie saß allein auf der Hintertreppe und trank Wein oder schlief auf dem Parkplatz von Whole Foods im Auto. Und das waren beileibe nicht die schlimmsten Dinge auf der Liste der Absonderlichkeiten, mit den gröberen Verstößen jener Tage will und kann sie sich erst gar nicht beschäftigen.

Damals, als sie noch mit Helen befreundet war, war ihr Leben so anders gewesen, um einiges öder und depressiver und härter. Aber es lag nicht an Helen, dass ihre Familie fast auseinandergebrochen wäre. Helen brachte nur bestimmte Dinge in Bewegung, stieß ein paar entscheidende Zahnrädchen an, bis sie sich drehten. Julia selbst trug vor allem die Schuld, sie, die eigentlich eine Einheit mit Mark und Ben bildete, tat, als sei das nicht so, und beging wiederholt grobe Fehltritte.

Sie ist irritiert von dieser Frau, die sie heute in Helens Gegenwart augenblicklich wieder geworden ist. Eine Frau, die trotz fast sechzig Lebensjahren, einer gewissen Seriosität und den zwanzig Jahren seit den Verfehlungen, in denen sie bereut hat und ihr vergeben wurde, plötzlich wieder ein schlechtes Gewissen plagt.

Sie hat Mark nichts von dem Zufallstreffen gesagt, natürlich nicht, obgleich sie sich zugegebenermaßen gerne irgendjemandem anvertraut hätte. Es war der gleiche drängende Impuls wie zu Teenagerzeiten, wenn sie sich in einen Jungen verguckt hatte und selbst bei banalsten Unterhaltungen seinen Namen fallen ließ, damit sie ihn laut aussprechen und ihrem jeweiligen Gegenüber zu verstehen geben konnte, dass sein Leben irgendwie ihr eigenes streifte. Oh ja, Jonathan trinkt auch gern Orangensaft. Aber es gibt niemanden, dem sie davon erzählen könnte, so gut wie niemand von heute war damals schon in ihrem Leben.

Sie lüftet das Bad, schlüpft in ein dünnes schwarzes Kleid und legt sich eine Kette aus Türkisperlen um, ein Geschenk von Mark, das er ihr von einer Geschäftsreise nach San Francisco mitgebracht hat. Sie föhnt sich gerade das Haar, als sie über den Lärm hinweg den unverkennbaren Tenor von Brady Grimes hört. Sie flucht leise, denn sie hatte mit fünf Minuten mehr Zeit zum Fertigmachen gerechnet, aber eigentlich hätte sie auch wissen können, dass Brady und Francine wie immer zu früh erscheinen würden. Vielleicht wollen sie damit ihre enge Vertrautheit mit Mark und Julia demonstrieren, oder es geht um eine Leck-mich-doch-am-Arsch-Demonstration von Macht, nach dem Motto, wir haben so viel Kohle, dass Zeitvorgaben für uns nicht gelten.

Sie trägt gerade heftig blinzelnd Wimperntusche auf, als plötzlich im Spiegel Ben auftaucht wie in einem Noir-Film, ein sanfter Mörder.

»Oh!«, sagt sie und pinselt versehentlich eine schwarze Linie unter ihr linkes Auge. »Mist. Hallo, mein Süßer.« Sie reißt einen Streifen Toilettenpapier von der Rolle, stellt sich auf die Zehenspitzen, um Ben auf die Wange zu küssen, faltet dann das Papier zu einem kleinen Rechteck zusammen und spuckt leicht darauf. Sie betupft damit leicht die Haut unterm Auge und sagt zu seinem Spiegelbild: »Hübsches Hemd.«

Beide Kinder haben ihre Körpergröße vom Vater geerbt. Auf seiner Seite der Familie sind alle hochgewachsen und hager, während sie gerade mal 1,67 misst und immer kleiner wird. Ben hat von Mark auch die lässige Ruhe geerbt, einen Wunsch nach innerer Haltung, auch wenn er das in seinem Alter noch nicht überzeugend nach außen trägt. Sie dreht sich zu ihm um und zieht ihm den Hemdkragen gerade. Aus der Nähe sieht er ausgelaugt aus, fällt ihr auf, mit Ringen unter den Augen und einem leichten Bartschatten. Seinem Kinn fehlt noch das Kantige des erwachsenen Mannes. Er ist im zweiten Promotionsjahr in Geophysik, arbeitet als Lehrassistent für die ersten Semester, und manchmal versucht sie sich vorzustellen, was er für eine Figur als Dozent in einem Seminarraum macht.

»Wann hast du zuletzt geschlafen?«, fragt sie sein Spiegelbild.

»Sehe ich so fertig aus?« Komischerweise sitzt er auf dem Rand der Badewanne, mit dem Rücken gegen die Kachelwand gelehnt, und lächelt verhalten, und das erinnert sie derart an Mark, dass sie wegschauen muss und sich auf ihr eigenes Gesicht konzentriert.

»Fertig nicht, aber ein bisschen angegriffen.«

»Angegriffen?« Er stößt einen leisen Pfiff aus und lässt einen von ihren Töpfchen mit Hautpeeling von einer Hand in die andere wandern. Wenn sie genauer darüber nachdenkt, ist es ziemlich merkwürdig, dass er hier bei ihr ist. Alma hat gern an ihrem Rockzipfel gehangen, selbst als grimmiger in sich zurückgezogener Teenager, während Ben schon als Kleinkind recht selbstständig war. Er schaut immer mal uneingeladen vorbei, um sich im Fernsehen ein Basketballspiel anzuschauen oder in seinem alten Zimmer zu übernachten, wenn die Freundin seines Mitbewohners über Nacht bleibt. Aber er sucht nicht sehr oft ihre Nähe, und vor allem nicht im Bad. Sie schiebt die Wimperntusche zurück in die Hülle, und während sie Lippenstift aufträgt, fragt sie ihn beiläufig und zugleich mit Fingerspitzengefühl – immer dieser Eiertanz mit den Menschen, die man auf die Welt gebracht hat: »Alles gut bei dir, mein Herz?«

Sie hatte damals nach seiner Geburt keine Vorstellung von ihrer Mutterrolle – eigentlich hatte sie keine Vorstellung vom Leben, Punkt, aus! –, bis er schon recht groß und seine Persönlichkeit gefestigt war. Und damit entbehren Unterhaltungen wie diese eines soliden Fundaments und entspinnen sich planlos, sind etwas verkrampft und ohne große Erfolgsaussichten. Es ist zudem wenig hilfreich, dass sie von unten neben Brady mittlerweile die Stimmen weiterer Gäste hört.

»Jaja«, sagt Ben. Es klingt nicht sehr überzeugend und etwas zögerlich, fast nach einer Frage. Alma ist extrovertiert, und die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus, aber Ben hat sich beim Äußern von Gedanken – ob tiefgründig oder banal – immer Zeit gelassen, sie kommen ihm eher schleppend und zurückhaltend über die Lippen. Sie erinnert sich noch an seine Kindheit, als die Familie morgens oft spät dran war, aber warten musste, bis er endlich entschieden hatte, ob er nun eine Orange oder eine Banane in seinem Lunchpaket haben wollte.

Sie presst die Lippen zusammen, mit einem Ohr bei den Geräuschen aus dem Erdgeschoss – sie hört, wie Pari sich erwartungsgemäß begeistert über die Cocktailschwerter äußert –, und wartet ab.

»Nur irgendwie …« Er schüttelt den Kopf.

»Wie irgendwie, mein Herz?«, fragt sie und bedauert sofort ihren Tonfall. Wenn man Ben drängt, riskiert man, dass er den Faden verliert und doppelt so lange braucht, bis er seinen Gedanken formuliert hat. »Mein Schatz«, hebt sie an, wird aber von einem schrillen Hilferuf unterbrochen. Es ist Erica, sie klingt bereits ziemlich beschwipst. »Julia, ich versuche ja so gut es geht hier deinen Job zu machen, aber wir finden keinen Campari!«

Während ihre Freundin noch redet, hat Ben sich wieder gefangen und ist wie gewohnt gefasst und zuvorkommend. Er war immer schon das einfachere Kind, er ist freundlich und belastbar und – eigentlich nimmt sie das Wort perfekt ungern in den Mund, aber genau das ist er, wenigstens fast, und sie hat sich zwar stets Sorgen gemacht, dass seine Belastbarkeit angesichts der Unzulänglichkeiten seiner Mutter für ihn überlebenswichtig war, aber mittlerweile ist ausreichend Zeit vergangen, und es scheint sich tatsächlich um einen Charakterzug zu handeln.

»Mach dir keine Gedanken, Mom«, sagt Ben. Und Mark ruft herauf »Jules?«, und sie ruft über die Schulter zurück, »Bin gleich da!«, und unterdessen hat Ben sich erhoben und geht ihr voraus aus dem Bad, über den Flur und die Treppen hinunter, wo bereits alle auf sie warten.

*

Irgendwann in den vergangenen fünfzehn Jahren hat sie herausgefunden, dass sie nicht nur eine fantastische Gastgeberin ist, sondern diese Rolle zumeist auch genießt