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Vom Wesen des Grundsteins Die sogenannte "Grundsteinmeditation" ist einer der wichtigsten Meditationstexte Rudolf Steiners, weil sie in mantrischer Verdichtung wesentliche Grundgedanken der Anthroposophie enthält. Zur Deutung und Bedeutung dieser Meditation hat sein Schüler F. W. Zeylmans van Emmichoven eine wegweisende Einführung verfasst, die selbst zu einem Klassiker der anthroposophischen Literatur geworden ist.
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Seitenzahl: 131
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F. W. ZEYLMANS VAN EMMICHOVEN, 1893 geboren, war Arzt und Psychiater. 1920 begegnete er Rudolf Steiner und wurde bei der Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden 1923 deren langjähriger Generalsekretär. Er gründete 1927 eine Klinik bei Den Haag, hielt zahlreiche Vorträge und verstärkte insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg seine schriftstellerische Tätigkeit. Der Grundstein erschien erstmals 1956. Zeylmans starb am 18. November 1961 während einer Vortragsreise in Südafrika.
F. W. ZEYLMANS VAN EMMICHOVEN
Verlag Freies Geistesleben
Grundstein-Meditation
Einleitung
Die Grundsteinlegung von 1913
Das Goetheanum als Offenbarung des Weltenwortes
Der Brand
Die Grundsteinlegung 1923
Vom Stein der Weisen zum Liebesstein
Die sieben Rhythmen
Das Vaterunser
Vom Wesen des Grundsteins
Mensch und Menschheit
Rudolf Steiners Hingang
Der Fünfstern und die Christus-Sonne
Die neue Isis
Frederik Willem Zeylmans van Emmichoven und sein Buch über den Grundstein
Anmerkungen
Menschenseele!
Du lebest in den Gliedern,
Die dich durch die Raumeswelt
In das Geistesmeereswesen tragen:
Übe Geist-Erinnern
In Seelentiefen,
Wo in waltendem
Weltenschöpfer-Sein
Das eigne Ich
Im Gottes-Ich
Erweset;
Und du wirst wahrhaft leben
Im Menschen-Welten-Wesen.
Denn es waltet der Vater-Geist der Höhen
In den Weltentiefen Sein-erzeugend:
Ihr Kräfte-Geister
Lasset aus den Höhen erklingen,
Was in den Tiefen das Echo findet;
Dieses spricht:
Aus dem Göttlichen weset die Menschheit.
Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd:
Menschen mögen es hören.
Menschenseele!
Du lebest in dem Herzens-Lungen-Schlage,
Der dich durch den Zeitenrhythmus
In’s eigne Seelenwesensfühlen leitet:
Übe Geist-Besinnen
Im Seelengleichgewichte,
Wo die wogenden
Welten-Werde-Taten
Das eigne Ich
Dem Welten-Ich
Vereinen;
Und du wirst wahrhaft fühlen
Im Menschen-Seelen-Wirken.
Denn es waltet der Christus-Wille im Umkreis
In den Weltenrhythmen Seelen-begnadend;
Ihr Lichtes-Geister
Lasset vom Osten befeuern,
Was durch den Westen sich formet;
Dieses spricht:
In dem Christus wird Leben der Tod.
Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd:
Menschen mögen es hören.
Menschenseele!
Du lebest im ruhenden Haupte,
Das dir aus Ewigkeitsgründen
Die Weltgedanken erschließet:
Übe Geist-Erschauen
In Gedanken-Ruhe,
Wo die ew’gen Götterziele
Welten-Wesens-Licht
Dem eignen Ich
Zu freiem Wollen
Schenken;
Und du wirst wahrhaft denken
In Menschen-Geistes-Gründen.
Denn es walten des Geistes Weltgedanken
Im Weltenwesen Licht-erflehend.
Ihr Seelen-Geister
Lasset aus den Tiefen erbitten,
Was in den Höhen erhöret wird:
Dieses spricht:
In des Geistes Weltgedanken erwachet die Seele.
Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd:
Menschen mögen es hören.
In der Zeiten Wende
Trat das Welten-Geistes-Licht
In den irdischen Wesensstrom;
Nacht-Dunkel
Hatte ausgewaltet;
Taghelles Licht
Erstrahlte in Menschenseelen;
Licht,
Das erwärmet
Die armen Hirtenherzen;
Licht,
Das erleuchtet
Die weisen Königshäupter.
Göttliches Licht,
Christus-Sonne
Erwärme
Unsere Herzen;
Erleuchte
Unsere Häupter;
Dass gut werde,
Was wir
Aus Herzen gründen,
Was wir
Aus Häuptern führen
Wollen.
(Wortlaut der Grundstein-Meditation, wie er von Rudolf Steiner im Nachrichtenblatt Nr. 1 vom 13. 1. 1924 den Mitgliedern der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft mitgeteilt wurde. Siehe: Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923 / 1924, GA 260, Dornach 51994.)
Die Grundsteinlegung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft konnte als ein Mysterium erlebt werden, dessen Tiefe sich erst im Laufe der Zeit für die Menschheit wird offenbaren können. Der Gesellschaft eine Form zu geben, «wie sie die anthroposophische Bewegung zu ihrer Pflege braucht»: mit diesen Worten charakterisierte Rudolf Steiner die damalige Aufgabe. Wenige Monate später sprach er in Arnheim von der Neugründung, der «eigentlichen Gründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft».1 Das Ereignis der Weihnachtstagung von 1923 könnte nicht richtig beurteilt werden, wenn man in ihr eine Angelegenheit sähe, die nur für den Kreis der Mitglieder von Wichtigkeit ist. Der Sinn dieses Mysteriums, namentlich der Grundsteinlegung, ist von viel größerer Reichweite. Es soll versucht werden, etwas von diesem Sinn darzustellen. Manches wird zunächst nur angedeutet werden können, und das Wichtigste lässt sich wohl überhaupt nicht in feste Form bringen, weil es sich um etwas Fortwirkendes handelt, das sich erst in ferner Zukunft voll offenbaren kann. Doch vielleicht wird zwischen den Zeilen ein Bild dieses Zukünftigen aufleben können.
Die Grundsteinlegung von 1923 steht nicht für sich allein, als abgesondertes Einzel-Ereignis vor unseren Augen; sie ist eine Tat, die sich am besten im Zusammenhang mit einer Reihe von Vorgängen betrachten lässt. Da war zunächst die Grundsteinlegung für das erste Goetheanum im September 1913, dann unmittelbar anschließend die Erschaffung dieses Baues selber, und als Abschluss jener Phase der Brand des noch nicht vollendeten Goetheanums. Ein Jahr darauf folgte dann die Grundsteinlegung zur Gründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Neun Monate später erkrankte Rudolf Steiner und verließ nach sechsmonatigem Krankenlager den physischen Plan.
Wenn man versucht, diese in annähernd zwölf Jahren sich vollziehende Reihe von Geschehnissen im Zusammenhang zu überblicken, und dabei die Tatsache berücksichtigt, dass die moderne Menschheit am Schwellenübergang steht, dann liegt es wohl nahe, an eine Art geistigen Versuchs zu denken, eine Gruppe von Menschen durch eine Einweihung auf höhere zukünftige Aufgaben vorzubereiten. Diese Einweihung vollzog sich in den geschilderten Etappen und war besonders dadurch charakterisiert, dass sie immer größere Menschengruppen umfasste und immer deutlicher die dazukommenden Menschen als eine aus dem Geiste herausgeborene Gemeinschaft ansprach. Selbstverständlich war die hier gemeinte Einweihung für die Einzelnen schon durch viele Jahre vorbereitet. Das gesamte Lebenswerk von Rudolf Steiner, beginnend in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts, war dieser Aufgabe gewidmet.2
Es wurde ein Keim gelegt für die eigentlich moderne Einweihung, die zunächst jeder Einzelne für sich durchzumachen hat, bei der aber das Wesentliche darin bestehe, dass dieser Einzelne sich umso mehr als Teil einer Totalmenschheit erlebt, wenn er sich selbst immer tiefer kennenlernt. Das Ich des Menschen wird vorbereitet, Träger des Menschheits-Ichs zu werden. Der Mensch wird zur Menschheit; die Menschheit lebt als Ganzes in dem Einzelnen.
Von der Grundsteinlegung, die in Dornach am 20. September 1913 für den «Johannesbau», wie man ihn damals noch nannte, stattfand, ist uns eine Nachschrift bekannt, aus der man entnehmen kann, dass dieser Akt sich ganz in die Weltenzusammenhänge – in die physischen sowohl wie in die geistigen – hineinstellt. Nachdem Rudolf Steiner sich nach den vier Weltenrichtungen gewandt hatte, rief er die höheren Hierarchien an als Schützer und Lenker der sich vollziehenden Handlung. Der Grundstein war bekanntlich ein doppeltes Pentagon-Dodekaeder, das «als Sinnbild der Menschenseele» geformt worden war. «Er ist uns», so sagte Rudolf Steiner, «in seiner doppelten Zwölfgliedrigkeit Sinnbild der strebenden, als Mikrokosmos in den Makrokosmos eingesenkten Menschenseele.» Späterhin sollte er noch zweimal darüber sprechen, dass dieser Stein «geformt ist nach den Weltenbildern der Menschenseele» oder, wie er sich auch ausdrückte, «geformt als Eckstein des im Geiste sich suchen wollenden, in der Weltenseele sich fühlen wollenden, im Welten-Ich sich ahnenden Menschen».
Damit wird ganz klar, dass das nun zu bauende Goetheanum im engsten Zusammenhang mit diesem Grundstein ebenfalls zu einem Wesen werden sollte; dass auch in dem Bau die Weltenkräfte, welche die Menschenseele formen, zum Leben erweckt werden können. Aus der Ansprache, die Rudolf Steiner damals, im September 1913, gehalten hat, tönt eine ungeheure Verantwortung gegenüber dem ganzen Sein und Werden der Erde. Das Goetheanum, das erstehen sollte, wird ein «Wahrzeichen» des Geisteslebens der neueren Zeit genannt. Dieses Geistesleben wird charakterisiert als eine große Mission der Menschheit auf unserem Erdenplaneten. Immer stärker wirken die Kräfte der Verfinsterung; durch sie werden die Seelen der heutigen Menschen verdorren und veröden müssen, und der geistige Kampf, der zu führen ist, gilt in erster Linie diesen Mächten der Finsternis.3
Über diese Ansprache zu referieren, ist kaum möglich. Man kann die gewaltigen, von Rudolf Steiner geprägten Worte nachlesen. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, dass bei jener Gelegenheit zum ersten Male aus dem Inhalt des Fünften Evangeliums gesprochen wurde, das «vom Westen her als das urälteste Evangelium» ertöne, ,«weil das makrokosmische Evangelium wie ein Echo nun entgegenklingen soll dem Evangelium des Ostens».
So wie die vier Evangelien vom Osten ausgegangen sind und nach dem Westen gewirkt haben, so kommt nun vom Westen herüber das «Evangelium der Erkenntnis». Als erster Inhalt dieses Fünften Evangeliums wurde dann gegeben das makrokosmische Vaterunser, ein «makrokosmisches Weltengebet, das verbunden ist mit dem Mond und dem Jupiter, so wie die vier Evangelien mit der Erde verbunden sind».
«Aum, Amen!
Es walten die Übel,
Zeugen sich lösender Ichheit,
Von andern erschuldete Selbstheitschuld,
Erlebet im täglichen Brote,
In dem nicht waltet der Himmel Wille,
Da der Mensch sich schied von Eurem Reich
Und vergaß Euren Namen,
Ihr Väter in den Himmeln.»4
Wer dieses makrokosmische Vaterunser meditativ in sich erklingen lässt, spürt wohl ganz tief den Schmerz der Inkarnation, den die ganze Menschheit seit der lemurischen Zeit zu durchleiden hatte. Aus diesem Leide konnte der Christus seinen Jüngern das Vaterunser als ein erlösendes Weltengebet geben. Aus der Erkenntnis der in die Tiefen der Erdenkräfte hineinführenden göttlichen Mächte war es Rudolf Steiner möglich, auf Erden solche Taten zu vollbringen, die der Menschheit das eigentliche Christus-Mysterium näherbringen konnten in einem Zeitalter, das von jedem Menschen die Erkenntnis im eigenen Innern fordert.
In den folgenden zehn Jahren wuchs nun das Goetheanum empor wie eine geistige Pflanze aus dem Samen der Grundsteinlegung. Dass es sich dabei nicht um ein gewöhnliches Gebäude, etwa eine Festhalle oder etwas Ähnliches handelte, wurde besonders deutlich, wenn man es in der Frühlingszeit zwischen den blühenden Obstbäumen sah. Man erkannte dann, dass es ein Wesen war, herausgeformt aus lebendigen Kräften, ja man kann schon sagen, aus ätherischen Kräften.
Das doppelte Pentagon-Dodekaeder des Grundsteins war so gelegt worden, dass der größere Teil nach dem Osten gerichtet war, wo die kleinere Kuppel sich erhob; der kleinere Teil dagegen nach dem Westen, in Richtung der größeren Kuppel. Man kann es so ausdrücken: innerhalb der Erde wirken die kosmischen und irdischen Gesetzmäßigkeiten in mineralischer Gestalt; über der Erde stieg nun das Goetheanum auf nach ätherischen Gesetzmäßigkeiten. Das war auch daran zu erkennen, dass die strengen Formen des Grundsteinkörpers sich im Goetheanum-Bau in immer wieder abgewandelten Variationen der Urform zeigten. Wie konnte es auch anders sein, wenn, wie Rudolf Steiner sagte, ein Haus gebaut werden sollte, in dem die Seele des Menschen den Geist wird finden können? Er hat auch darauf hingewiesen, dass der Goetheanum-Bau und der Inhalt der Anthroposophie in ihrem Wesen eins sind, dass beide sich zueinander verhalten wie die Schale zur Nuss. Die Formen entsprachen sich gegenseitig, ja er hat gelegentlich den Vergleich gebraucht, dass die Goetheanum-Formen gleichsam der Kuchenform entsprächen, in der der Napfkuchen gebacken werde. Eine präzise Formulierung dieser Gesetzmäßigkeiten wurde von ihm gegeben, als er über die geistigen Formkräfte sprach und von ihnen sagte, sie seien, «was im Geiste lebt und was die Kraft hat, dass es sich eindrückt dem, was uns als Hülle umgibt in unserem Bau».
Ein andermal sprach er davon, dass der Bau ein lebendiges Wort sei, ein Sprachorgan für den Geist, ein Wegweiser zum Geiste. Zusammenfassend nannte er ihn ein «Haus der Sprache»5. Dieses Haus der Sprache ist auf Erden sichtbar gewesen. Nachdem es im Feuer vernichtet worden, ist es in der Geistwelt als Imagination zu finden. Es ist sogar eine Aufgabe für die heutige Menschheit, sich innerlich imaginativ damit zu beschäftigen.
Wie kann man dieses geheimnisvolle Bauwerk und seine Bedeutung für die heutige Menschheit verstehen lernen?
Da war zunächst der doppelte Kuppelbau auf einem Beton-Fundament. Die Formen des Fundaments waren dem Felsenboden angepasst. Im Grundriss zeigen sich die beiden Kreise, die sich durchdringen, in einem Verhältnis, das den heutigen Entwicklungszustand der Menschen zum Ausdruck bringt. Das geistige und das im Physischen entwickelte Bewusstsein berühren sich, durchdringen sich nur teilweise, stellen aber in ihrem Verhältnis zueinander ein Problem dar, um das die heutige Menschheit zu ringen hat. Auf diesem Unterbau erhoben sich dann in Holz die beiden Kuppelräume; die größere Kuppel getragen von 2 mal 7 Säulen, die kleinere von 12 Säulen. Das Ganze hat nur eine Symmetrie-Achse, die vom Westeingang nach dem Osten läuft. Der Mensch, der in den Bau hineinkommt und nach dem Osten schreitet, kommt an einer Reihe sich in der Metamorphose entwickelnder Säulenmotive vorbei. Er erlebt geistig-seelisch eine Entwicklung mit, die vom Saturn- bis zum Venus-Zustand unserer Erde führt. Es wurde dies von Rudolf Steiner bezeichnet als die Willensrichtung, die der Mensch innerlich empfindet, wenn er diesen Weg geht.6 Wenn die Seele auf diese Weise mitaufsteigt, den Säulen entlang nach oben sich weitend, erlebt sie die Impulse des Fühlens, die schließlich ganz oben in den Kuppelformen abgeschlossen werden und zu den Denk-Impulsen führen. Aus den Kuppeln heraus wirken in farbigen Flächen die Geheimnisse der Geist-Entwicklung der gesamten Erden-Menschheit. Wenn der Mensch dieses innerlich erlebt und dadurch die Äherkräfte in der Kopfgegend sich etwas lösen, schaut er die Kuppelmalereien in ihren eigentlichen, tieferen Zusammenhängen. Man kann empfinden, wie die Menschenseele im Wollen, Fühlen und Denken ein Verhältnis zu den Goetheanum-Formen und dem Bau im Ganzen gewinnt.
Der architektonische Impuls, der damit gegeben wurde, war für unsere Erdentwicklung vollkommen neu. Gewiss lässt sich sagen, dass die wahrhaft großen Bauwerke der Menschheit immer aus bestimmten, geisterfassten Bewusstseinslagen der jeweiligen Epoche entsprangen; so die großen indischen Tempelbauten, die aus der ganzen Erde heraus emporgewachsen sind wie vergeistigte Naturkräfte; so die ägyptischen Bauwerke, in denen sich das Erlebnis der Sterblichkeit ausdrückt; ebenso auch die harmonischen Formen der griechischen Tempel. In unserer Zeit handelte es sich für Rudolf Steiner darum, ein Bauwerk entstehen zu lassen, das nicht nur äußerlichen Zwecken dienen sollte, sondern das auf neue Weise entsprach dem inneren Suchen der Menschen; dabei aber ganz konkret ausdrückte, was geistiger Inhalt dieses Suchens ist. So diente das Goetheanum der geistigen Entwicklung unserer Zeit, indem es den Menschen unmittelbar einen Weg zeigte vom Physisch-Sinnlichen in das Imaginativ-Inspirative hinein.
Besonders wichtig war z. B. Folgendes. Wenn man in das Goetheanum eintrat und sich dann nicht, wie man das in anderen Bauwerken gewöhnlich tut, ästhetisch beurteilend verhielt, sondern sich ganz hingab und abwartete, wie dieses Wesen einen aufnahm, dann konnte man zu einer neuen Art des Raumerlebens gelangen. Während architektonische Räumlichkeiten im Allgemeinen eine gewisse Abgeschlossenheit zeigen, war es hier gerade umgekehrt; die Seele wurde nicht durch die Wände aufgehalten, stieß nicht sozusagen an die Wände an, sondern das Gefühl entstand: Durch die hier sichtbar gemachten Formen wird man weitergeführt in die Welt des Geistes hinein. Die Wand war in ihren Formen lebendig und nahm die Kräfte der Seele in sich auf, sodass sie sich weiten und mit dem Weltall verbinden konnte. Solch lebendige Formen konnten dadurch entstehen, dass sie von den ätherischen Gesetzen, nach denen sich auch die Pflanzen bilden, abgelesen worden waren; dadurch wurden die Formen zu Organen, durch die sich Geistiges unmittelbar aussprechen konnte. So also hatte Rudolf Steiner das Recht davon zu sprechen, dass solche Formen zu Kehlköpfen werden können, deren sich die Götter bedienen, um zu uns zu sprechen.
Die Wände waren nicht nur lebendig gestaltet, sondern zum Teil auch durchsichtig. Die Glasfenster in ihren verschiedenen Farben waren so geschliffen, dass das von außen einströmende Licht die Formen erschuf. «Diese ganze Reliefgestaltung ist Organ für die Sprache der Götter, die zu uns sprechen sollen von allen Seiten des Universums.» Aus ihnen heraus klang das Wort: «So findest du, o Mensch, den Weg zum Geiste.» Die Glasradierungen offenbarten uns eine Initiation, die nach zwei Seiten hin verschiedene Aspekte zeigte.7
Wie in den rein architektonischen Formen die Gesetze des Physischen in der umgebenden äußeren Welt zum Ausdruck kamen – man denke z. B. an die merkwürdig tragenden Formen der Treppen, die aus dem Unterbau nach oben führten –, so wurden in der reichen Plastizierung des Holzes die Formen des Ätherisch-Physischen zur Sichtbarkeit gebracht, während in den malerischen Gestaltungen die Farben aus dem Reiche des Ätherischen herabgeholt waren.