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Wir leben in einer Zeit, die vom kurzfristigen Denken beherrscht wird. Aber in fünfzig, in hundert, in fünfhundert Jahren werden immer noch Menschen auf unserem Planeten leben, arbeiten, lieben und träumen. Sie alle werden tiefgreifend davon beeinflusst sein, wie wir heute handeln. Die größte Frage, vor der jeder von uns steht, lautet also: Wie können wir gute Vorfahren sein? Roman Krznaric hat die Antwort. Von bahnbrechenden Konzepten wie dem »Kathedralendenken« über Zukunftsräte in Japan bis hin zu einer Bibliothek in Norwegen, die erst 2114 ihre Pforten öffnet, um einhundert bis dahin unveröffentlichte literarische Werke zu präsentieren: Inspiriert von Lösungen aus der ganzen Welt, erklärt er, wie wir lernen können, heute langfristig zu denken, um ein besseres Morgen zu schaffen. Der Pfad des guten Vorfahren liegt vor uns. Wir müssen ihn jetzt beschreiten.
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Seitenzahl: 434
Augenöffnend, inspirierend und optimistisch: Krznaric feiert die Entdeckung der Langfristigkeit.
Wir leben in einer Zeit, die vom kurzfristigen Denken beherrscht wird. Aber in fünfzig, in hundert, in fünfhundert Jahren werden immer noch Menschen auf unserem Planeten leben, arbeiten, lieben und träumen. Sie alle werden tiefgreifend davon beeinflusst sein, wie wir heute handeln. Die größte Frage, vor der jeder von uns steht, lautet also: Wie können wir gute Vorfahren sein? Roman Krznaric hat die Antwort. Von bahnbrechenden Konzepten wie dem »Kathedralendenken« über Zukunftsräte in Japan bis hin zu einer Bibliothek in Norwegen, die erst 2114 ihre Pforten öffnet, um einhundert bis dahin unveröffentlichte literarische Werke zu präsentieren: Inspiriert von Lösungen aus der ganzen Welt, erklärt er, wie wir lernen können, heute langfristig zu denken, um ein besseres Morgen zu schaffen.
Der Pfad des guten Vorfahren liegt vor uns. Wir müssen ihn jetzt beschreiten.
»Das Buch, für das zu lesen uns die Kinder unserer Kinder dankbar sein werden« The Edge, U2
© Kate Raworth
Roman Krznaric wuchs in Sydney und Hongkong auf und studierte an den Universitäten von Oxford, London und Essex, wo er in politischer Soziologie promovierte. Er ist ein bekannter TED-Talker und Mitglied des Club of Rome. Seine Bücher wurden in mehr als 25 Sprachen übersetzt.
Sebastian Vogel, geboren 1955, ist promovierter Biologe und renommierter Übersetzer von Sachbüchern. Er übersetzte u. a. Richard Dawkins, Richard Leakey und Daniel Dennett ins Deutsche.
Roman Krznaric
Der gute Vorfahr
Langfristiges Denkenin einer kurzlebigen Welt
Aus dem Englischenvon Sebastian Vogel
Auszug aus ›Hieroglyphic Stairway‹ von Drew Dellinger verwendet mit freundlicher Genehmigung des Autors. Zitat von Jonas Salk verwendet mit freundlicher Genehmigung der Jonas Salk Legacy Foundation und der Familie von Jonas Salk.
Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel ›The Good Ancestor‹ bei WH Allen, London.
© Roman Krznaric 2020
E-Book 2024
© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Sebastian Vogel
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln,
nach einer Vorlage von Jamie Keenan
Satz: Fagott, Ffm
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1018-6
www.dumont-buchverlag.de
Die wichtigste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet:»Sind wir gute Vorfahren?«
Jonas Salk
es ist 3:32 am Morgenund ich kann nicht schlafenweil meine Urururenkelmich in Träumen fragenwas hast du getan, als die Welt aus den Fugen geriet?
Drew Dellinger
Gerade als 2020 die englische Originalausgabe dieses Buches in den Druck ging, breitete sich das Coronavirus (Covid-19) um die ganze Welt aus. Durch die Pandemie konzentrierte sich unsere Aufmerksamkeit verständlicherweise auf das Hier und Jetzt: Familien, Gemeinden, Unternehmen und Regierungen wurden tätig und setzten sich mit den dringenden Notwendigkeiten der Krise auseinander. Welche Erkenntnisse liefert langfristiges Denken angesichts einer solchen unmittelbaren Bedrohung?
Dass Länder, die schon langfristige Vorkehrungen für mögliche Pandemien getroffen hatten, bisher mit dem Virus am effizientesten umgehen konnten, liegt auf der Hand: In Taiwan gab es nach dem SARS-Ausbruch von 2003 bereits Virustests und Kontaktnachverfolgung, in den Vereinigten Staaten dagegen wurden die Maßnahmen behindert, weil man die Pandemieeinheit des Nationalen Sicherheitsrates 2018 aufgelöst hatte. Gleichzeitig erinnern uns die katastrophalen Auswirkungen des Coronavirus eindringlich daran, dass wir uns mit Gedanken, Planung und der Bereitstellung von Finanzmitteln auf mehrere Risiken einstellen sollten, die am Horizont auftauchen – nicht nur auf weitere Pandemien, sondern auch auf die Klimakrise und ungebremste technische Entwicklungen.
Die Reaktion der Menschen auf das Virus wird sicher langfristige Auswirkungen haben, und die werden sich in den vor uns liegenden Jahrzehnten bemerkbar machen. Viele Regierungen könnten versuchen, an den Notstandsbefugnissen festzuhalten, die sie sich selbst eingeräumt haben, wie beispielsweise der stärkeren Überwachung ihrer Bürgerinnen und Bürger. Damit würden Reste von autoritären Maßnahmen bestehen bleiben, die neue demokratische Entwicklungen untergraben. Andererseits könnte der durch die Pandemie entstandene Riss auch Freiräume für grundlegende neue Gedanken über Politik, Wirtschaft und Lebensweise eröffnen. Wie die Asche des Zweiten Weltkrieges, aus der bahnbrechende Institutionen wie Wohlfahrtsstaat und Weltgesundheitsorganisation hervorgegangen sind, so könnte auch das Coronavirus langfristige Überlegungen darüber auslösen, wie man den Herausforderungen des kurzfristigen Denkens begegnet und Resilienz angesichts einer höchst unsicheren Zukunft aufbauen kann.
Wenn wir in den jetzigen Krisenzeiten kluge – und nachhaltige – Entscheidungen treffen, könnten wir durchaus zu den guten Vorfahren werden, die nachfolgende Generationen verdient haben.
Oxford, März 2020
Wir sind die Erben von Geschenken aus der Vergangenheit Denken wir einmal daran, welch ungeheures Vermächtnis uns unsere Vorfahren hinterlassen haben: Sie säten in Mesopotamien vor 10.000 Jahren zum ersten Mal Samen aus, rodeten das Land, bauten Wasserstraßen und gründeten die Städte, in denen wir heute wohnen; sie machten wissenschaftliche Entdeckungen, siegten in politischen Konflikten und schufen die großen Kunstwerke, die an uns weitergegeben wurden. Nur selten halten wir inne und denken daran, wie sie unser Leben verändert haben. Ihre Namen sind größtenteils in Vergessenheit geraten, aber einer, an den man sich noch erinnert, ist der Mediziner und Forscher Jonas Salk.
Im Jahr 1955, nach fast zehn Jahren mühseliger Experimente, hatten Salk und sein Team den ersten wirksamen und ungefährlichen Impfstoff gegen Kinderlähmung entwickelt. Es war ein gewaltiger Durchbruch: An der Kinderlähmung, auch Poliomyelitis genannt, starben damals weltweit jedes Jahr mehr als eine halbe Million Menschen. Salk wurde sofort als Wunderheiler gefeiert. Aber Ruhm und Geld interessierten ihn nicht – er stellte für den Impfstoff nie einen Patentantrag. Vielmehr hatte er nur den Ehrgeiz, »der Menschheit eine gewisse Hilfe zu sein« und für zukünftige Generationen ein positives Erbe zu hinterlassen. Dass ihm das gelungen ist, steht außer Zweifel.
In späteren Jahren brachte Salk seine Lebensphilosophie in einer einzigen Frage zum Ausdruck: »Sind wir gute Vorfahren?«1 Wir haben viele Reichtümer aus der Vergangenheit geerbt, und deshalb, so seine Überzeugung, müssen wir sie auch an unsere Nachkommen weitergeben. Dazu – und um globale Krisen wie die Zerstörung der Natur durch die Menschen und die Bedrohung durch einen Atomkrieg zu vermeiden – brauchten wir nach seiner Ansicht einen radikalen Wandel in unserer Sichtweise für die Zeit. Wir müssen uns, so Salk, weitaus stärker auf langfristiges Denken und die Folgen unseres Handelns über unsere eigene Lebenszeit hinaus konzentrieren. Statt im Maßstab von Sekunden, Tagen und Monaten zu denken, sollten wir unseren zeitlichen Horizont erweitern und Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende in den Blick nehmen. Nur dann seien wir in der Lage, kommende Generationen wirklich zu respektieren und ihnen gerecht zu werden.
Salks Frage könnte sich als sein größter Beitrag zur Geschichte erweisen. In aktiverer Form – Wie können wir gute Vorfahren sein? – halte ich sie für die wichtigste Frage unserer Zeit, die auch Hoffnung für die Evolution der menschlichen Zivilisation macht. Die Aufgabe, sie zu beantworten, gab nicht nur die Anregung zu diesem Buch, sondern spukt auch überall auf seinen Seiten herum. Wir stehen vor der Frage, wie zukünftige Generationen uns beurteilen werden und ob das Erbe, das wir ihnen hinterlassen, ihnen nützt oder sie lähmt. Der alte biblische Anspruch, ein guter Samariter zu sein, reicht nicht mehr. Im 21. Jahrhundert ist es Zeit für eine Aktualisierung: Lasst uns gute Vorfahren sein.
Ein guter Vorfahre zu werden ist eine schwierige Aufgabe. Ob es uns gelingt, hängt vom Ausgang eines Konfliktes ab, der sich derzeit auf der ganzen Welt in den Köpfen der Menschen abspielt: des Konfliktes zwischen den Kräften des kurz- und langfristigen Denkens.
Welche Kraft in unserer historischen Epoche die Vorherrschaft hat, ist klar: Wir leben in einem Zeitalter der pathologischen Kurzfristigkeit. Politiker blicken kaum weiter als zur nächsten Wahl, zur neuesten Meinungsumfrage oder dem aktuellsten Tweet. Unternehmen sind Sklaven des nächsten Quartalsberichts und der ständigen Forderung, den Nutzen für die Aktionäre zu mehren. Märkte boomen und brechen plötzlich zusammen – Spekulationsblasen werden von Algorithmen im Millisekundentempo vorangetrieben. Staaten geraten an internationalen Konferenztischen aneinander und konzentrieren sich auf ihre unmittelbaren Interessen, während der Planet brennt und Arten verschwinden. In unserer Kultur der sofortigen Belohnung nehmen Fast Food, im Sekundentakt abgefeuerte Textnachrichten und »Jetzt-Kaufen«-Knöpfe überhand. »Es ist die große Ironie unserer Zeit«, schreibt die Anthropologin Mary Catherine Bateson, »dass wir immer länger leben und immer kürzer denken.«2 Wir sind gefangen in einem Zeitalter der Tyrannei des Jetzt.
Kurzfristiges Denken ist alles andere als ein neues Phänomen. Die Geschichte ist voller Beispiele dafür, von der erbarmungslosen Zerstörung der alten Wälder im Japan des 17. Jahrhunderts bis zu der außer Kontrolle geratenen Spekulation, die 1929 zum Crash an der Wall Street führte. Es ist auch nicht immer etwas Schlechtes: Genau wie Eltern, die ein verletztes Kind zügig ins Krankenhaus bringen müssen, so muss auch eine Regierung schnell und flexibel auf Krisen wie ein Erdbeben oder eine Epidemie reagieren. Betrachtet man aber die täglichen Nachrichten, so erkennt man in vielen Fällen ein schädliches kurzfristiges Denken.3 Regierungen bevorzugen die schnelle Lösung, mehr Verbrecher hinter Gitter zu bringen, statt sich mit den tiefergehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ursachen des Verbrechens auseinanderzusetzen. Oder sie subventionieren weiterhin die Kohleindustrie, statt den Übergang zu erneuerbaren Energien zu fördern. Oder sie retten nach einem Crash zahlungsunfähige Banken, statt dem Finanzsystem eine neue Struktur zu geben. Oder sie investieren nicht in vorbeugende Gesundheitsfürsorge, Kinderarmut und Sozialwohnungen. Oder, oder, oder … Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Aber die Gefahren des kurzfristigen Denkens gehen weit über solche politischen Bereiche hinaus und haben uns mittlerweile an einen kritischen Punkt gebracht. Das liegt zum einen an dem wachsenden Bewusstsein für sogenannte »existenzielle Risiken«: Damit sind in der Regel Ereignisse mit geringer Wahrscheinlichkeit und starken Auswirkungen gemeint, die durch neue technische Entwicklungen verursacht werden könnten. Ganz oben auf der Liste stehen dabei die Bedrohungen durch künstliche Intelligenz, beispielsweise in Gestalt tödlicher, selbsttätig agierender Waffen, die von ihren menschlichen Herstellern nicht mehr kontrolliert werden. Weitere Möglichkeiten sind unter anderem gentechnisch verursachte Pandemien oder ein Atomkrieg, der in einem Zeitalter wachsender geopolitischer Instabilität von einem Schurkenstaat angezettelt wird. Der Risikoforscher Nick Bostrom macht sich insbesondere große Sorgen über die Auswirkungen der molekularen Nanotechnologie und fürchtet, Terroristen könnten sich selbst vermehrende bakteriengroße Nanobots in die Hand bekommen, die außer Kontrolle geraten und die Atmosphäre vergiften. Angesichts solcher Bedrohungen sind viele Expertinnen für existenzielle Risiken überzeugt, dass die Menschheit mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu sechs dieses Jahrhundert nicht überstehen wird, ohne dass es zu einem katastrophalen Verlust von Menschenleben kommt.4
Genauso ernst zu nehmen ist die Möglichkeit, dass die Zivilisation durch die erbarmungslose Zerstörung der ökologischen Systeme zusammenbricht, von denen unser Wohlergehen – und unser Leben – abhängt. Wenn wir weiterhin gedankenlos fossile Brennstoffe aus der Erde pumpen, Ozeane vergiften und biologische Arten in einem Tempo zerstören, das sich zu einem »sechsten Aussterben« summiert, rückt die Aussicht auf verheerende Auswirkungen immer näher. In unserem ungeheuer vernetzten Zeitalter hat diese Gefahr heute weltweite Ausmaße: Wir haben keinen Planeten B, auf den wir flüchten könnten. Nach Angaben des Umwelthistorikers Jared Diamond stand eine solche ökologische Zerstörung in der Menschheitsgeschichte immer wieder am Anfang des Zusammenbruchs von Zivilisationen. Ihre wichtigste Ursache, so schreibt er, sei ein Übermaß an »kurzfristigen Reaktionen« in Verbindung mit dem Fehlen »couragierter, weitsichtiger Entscheidungen«.5 Wir sind gewarnt.
Solche Herausforderungen konfrontieren uns mit einem unausweichlichen Widerspruch: Die Notwendigkeit langfristigen Denkens ist eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit und erfordert sofortiges Handeln in der Gegenwart. »Wir stehen gerade jetzt vor einer von Menschen gemachten Katastrophe globalen Ausmaßes, vor unserer größten Bedrohung seit Jahrtausenden: dem Klimawandel«, sagte David Attenborough 2018 bei der UN-Klimakonferenz zu den politisch Verantwortlichen der Welt. »Wenn wir nicht handeln, stehen der Zusammenbruch unserer Zivilisation und das Aussterben eines großen Teils der Natur am Horizont.« Und weiter erklärte der Naturforscher: »Was jetzt und in den nächsten Jahren geschieht, wird tiefgreifende Auswirkungen auf die nächsten Jahrtausende haben.«6
Solche Aussagen sollten uns in höchste Alarmbereitschaft versetzen. Aber oftmals vermitteln sie nicht, wer die Folgen unserer vorübergehenden Kurzsichtigkeit tragen wird: nicht nur unsere eigenen Kinder und Enkel, sondern auch die Milliarden Menschen, die in den kommenden Jahrhunderten geboren werden und weitaus zahlreicher sind als alle, die heute leben.
Insbesondere für die Bewohner der wohlhabenden Staaten ist die Zeit gekommen, in der sie eine beunruhigende Wahrheit erkennen müssen: Wir haben die Zukunft kolonisiert. Wir behandeln sie wie ein fernes Land, in dem keine Menschen leben und in dem wir ökologische Zerstörung, technologische Risiken und Atommüll nach Belieben abkippen können, während wir sie gleichzeitig nach Belieben plündern. Im 18. und 19. Jahrhundert, als Australien von Großbritannien kolonisiert wurde, berief man sich auf eine juristische Lehre, die heute unter dem Namen terra nullius – »Niemandes Land« – bekannt ist. Sie diente als Rechtfertigung dafür, den Kontinent zu erobern und die indigene Bevölkerung zu behandeln, als würde sie nicht existieren oder als hätte sie keinerlei Anspruch auf das Land.7 Heute pflegen wir eine gesellschaftliche Haltung des tempus nullius: Die Zukunft ist für uns »Niemandes Zeit«, ein Territorium, das niemandem gehört und keine Bewohnerinnen hat. Wie die fernen Regionen des britischen Empire steht es uns zur Inbesitznahme zur Verfügung. Und wie die indigenen Australier noch heute gegen das Erbe des terra nullius kämpfen, so wird auch ein Kampf gegen die Doktrin des tempus nullius geführt werden müssen.
Tragisch ist dabei, dass die ungeborenen Generationen von morgen nichts gegen die kolonialistische Plünderung ihrer Zukunft unternehmen können. Sie können sich nicht wie eine Suffragette vor das Pferd des Königs werfen, können nicht wie Bürgerrechtsaktivistinnen die Alabama Bridge blockieren und sich nicht wie Mahatma Gandhi auf einen Salzmarsch begeben, um sich ihren kolonialistischen Unterdrückern zu widersetzen. Ihnen werden keine politischen Rechte oder Vertretungen zugestanden, sie haben an der Wahlurne oder auf den Märkten keinen Einfluss. Die große, schweigende Mehrheit der zukünftigen Generationen ist machtlos und aus unseren Köpfen verbannt.
Die Geschichte der Menschheit ist damit aber nicht zu Ende. Wir stehen an einem potenziellen historischen Wendepunkt: Zahlreiche Kräfte fließen in einer globalen Bewegung zusammen, die das Ziel hat, uns von unserer Gegenwartssucht zu befreien und ein neues Zeitalter des langfristigen Denkens zu gestalten.
Unter ihren Vertretern sind Stadtplanerinnen und Klimaforscher, Krankenhausärztinnen und Vorstandsvorsitzende von Technologieunternehmen. Sie alle erkennen allmählich, dass ein kurzfristiger Scheuklappenblick die Wurzel vieler heutiger Krisen bildet; dazu gehören die Gefahr, dass Ökosysteme zusammenbrechen, die Risiken der Automatisierung, die zunehmende weltweite Massenmigration, die immer größere Ungleichheit der Einkommensverteilung – und das naheliegende Gegenmittel ist langfristiges Denken. Al Gore meinte dazu: »Die herrschenden Institutionen wurden von Kapitalinteressen bestochen, die nicht auf langfristige Nachhaltigkeit, sondern auf kurzfristigen Gewinn versessen sind.« Deshalb, so die Sorge des Astrophysikers Martin Rees, »vernachlässigen wir Planungen, das Absuchen des Horizonts, die Gefahr langfristiger Risiken«. Seiner Ansicht nach sollten wir, was langfristige politische Planung angeht, von China lernen.8 Der frühere Facebook-Manager Chamath Palihapitiya räumte ein: »Die von uns geschaffenen kurzfristigen, von Dopamin getriebenen Rückkopplungsschleifen zerstören die Funktionsweise der Gesellschaft«, und der Chefökonom der Bank of England kritisierte ganz offen die »steigende Flut der Kurzsichtigkeit« in Kapitalmärkten und Unternehmenshandeln.9 Gleichzeitig wächst international die Einsicht, dass man das Leben zukünftiger Menschen bei heutigen moralischen und politischen Entscheidungen nicht beiseiteschieben darf. In den letzten 25 Jahren erwähnten mehr als 200 UN-Resolutionen ausdrücklich das Wohlergehen »zukünftiger Generationen«, und Papst Franziskus erklärte: »Ohne eine Solidarität zwischen den Generationen kann von nachhaltiger Entwicklung keine Rede mehr sein … Wir reden hier nicht von einer optionalen Haltung, sondern von einer grundlegenden Frage der Gerechtigkeit …«10
Eine solche wachsende öffentliche Überzeugung, wonach langfristiges Denken in der Zivilisation oberste Priorität einnimmt, hat es bisher noch nicht gegeben. Aber weit eindrucksvoller als die vielen schönen Worte war die explosionsartige Vermehrung handfester Projekte und Initiativen, die sie in die Tat umsetzen wollen. Im Svalbard Global Seed Vault, einem Bunker in den Felsen der fernen Arktis, will man über eine Million Samen von 6000 biologischen Arten für mindestens 1000 Jahre sicher aufbewahren. Es gibt neue politische Strukturen wie den Future Generations Commissioner (»Kommissar für zukünftige Generationen«) in Wales und das Ministerium für Kabinettsangelegenheiten und Zukunft in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Begleitet wurden sie von Aktivitäten der Jugend, darunter die Kampagne Plant-for-the-Planet, die 2007 von dem neunjährigen Deutschen Felix Finkbeiner ins Leben gerufen wurde und bewirkt hat, dass in 130 Ländern insgesamt mehrere Dutzend Millionen Bäume gepflanzt wurden. In den kreativen Künsten begann am 31. Dezember 1999 um Mitternacht in einem Londoner Leuchtturm die Aufführung der Komposition Longplayer des Musikers Jem Finer, die sich ohne Wiederholungen 1000 Jahre fortsetzen soll.
Das langfristige Denken gewinnt also offensichtlich an Zugkraft, es wirft jedoch ein Problem auf. Man findet es zwar in den Winkeln der wissenschaftlichen und künstlerischen Community sowie auch unter manchen weitsichtigen Unternehmen und politischen Aktivisten, es ist aber nach wie vor eine Randerscheinung, und das nicht nur in Europa und Nordamerika, sondern auch in den aufstrebenden wirtschaftlichen Kraftzentren. Bisher ist es nicht tief in die Strukturen des modernen Geistes eingedrungen: Der ist weiterhin in der Zwangsjacke des kurzfristigen Denkens gefangen.
Auch als Konzept ist das langfristige Denken verblüffend unterentwickelt. Ich selbst habe in unzähligen Gesprächen erlebt, dass es als Lösung für die Übel auf unserem Planeten angeboten wurde, aber was es eigentlich ist, kann niemand so richtig sagen. Die Formulierung liefert bei einer Onlinesuche fast eine Million Treffer, aber nur in den seltensten Fällen wird dabei eindeutig erklärt, was es bedeutet, wie es funktioniert, welche zeitlichen Horizonte gemeint sind und welche Schritte wir unternehmen müssen, um es zum Normalfall zu machen. Auch wenn Prominente wie Al Gore seine Vorteile betonen, bleibt der Begriff ein abstraktes, formloses Sammelsurium ohne Prinzipien oder Programme. Dieses intellektuelle Vakuum führt zu nichts weniger als einem begrifflichen Notstand.11
Wenn wir gute Vorfahren sein wollen, ist es unsere erste Aufgabe, dieses Vakuum zu füllen. Das vorliegende Buch ist ein Versuch, das zu tun: Es beschreibt sechs Visionen und praktische Methoden, um das langfristige Denken zu kultivieren. Zusammen bilden sie ein unentbehrliches mentales Werkzeugarsenal, mit dem wir unserer Versessenheit auf das Hier und Jetzt entgegenwirken können.
Dass ich mich auf diese sechs Wege konzentriere, liegt an meiner tiefen Überzeugung, dass Ideen wichtig sind. Wie H. G. Wells – vielleicht der einflussreichste unter allen Autoren und Autorinnen, die über die Zukunft nachgedacht haben – bin ich der Ansicht, dass »Menschheitsgeschichte im Wesentlichen eine Geschichte der Ideen ist«.12 Die vorherrschende Ideenkultur prägt die Entwicklung einer Gesellschaft, bestimmt darüber, was denkbar und was undenkbar, was möglich und unmöglich ist. Ja, Faktoren wie Wirtschaftsstruktur, politische Systeme und Technologie spielen eine wichtige Rolle, aber die Macht der Ideen sollte man niemals unterschätzen. Um nur einige zu nennen, die einst großen Einfluss hatten: dass die Erde der Mittelpunkt des Universums ist, dass wir vorwiegend von Eigeninteresse angetrieben werden, dass der Mensch und die Natur nicht eins und Männer den Frauen überlegen sind, dass Gott oder der Kapitalismus oder der Kommunismus der Weg zur Erlösung ist. Man kann sie Weltanschauungen, geistige Rahmenbedingungen, Paradigmen oder Denkweisen nennen: Sie alle haben über den Weg der Zivilisationen bestimmt.13 Und in der historischen Gegenwart ist kurzfristiges Denken – der Glaube an den Vorrang des Jetzt – eine jener Ideen, die uneingeschränkt herrschen und dringend infrage gestellt werden müssen.
Wie wichtig das Thema ist, erkannte der Musiker und Kulturphilosoph Brian Eno schon in den 1970er-Jahren: Damals prägte er den Begriff des »langen Jetzt«. Eno war aufgefallen, wie viele Menschen in einer Mentalität des »kurzen Jetzt« stecken, wobei »Jetzt« Sekunden, Minuten oder vielleicht auch einige Tage bedeutet. Eine solche Kultur des hohen Tempos und der Kurzfristigkeit hatte unter anderem zur Folge, dass die Sorge um zukünftige Generationen, die vor unzähligen Bedrohungen vom Umweltkollaps bis zur Aufrüstung stehen, auf der Strecke blieb. »Unser Mitgefühl wächst in der Zeit nicht sonderlich nach vorn«, schrieb er. Das Gegenmittel war für ihn ein längerer Begriff des Jetzt: Danach erstreckt sich unsere Vorstellung, was das Jetzt ausmacht, um Jahrhunderte oder vielleicht sogar Jahrtausende vorwärts und rückwärts, und mit ihr erweitern sich auch unsere moralischen Sichtweisen.14 Dieses Buch liefert Grundlagen für die Schaffung einer »Zivilisation des langen Jetzt«, einer Kultur, die ihre kolonialistische Mentalität, zukünftige Generationen zugunsten der Gegenwart zu versklaven, überwunden hat.
Mit meiner eigenen Forschung und dem, was ich seit über zehn Jahren über Empathie geschrieben habe, konzentriere ich mich auf die Frage, wie wir in der heutigen Welt in die Haut von Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Herkunft schlüpfen können, um ihre Gefühle und Sichtweisen zu verstehen (was in der Fachsprache als »kognitive Empathie« oder »Perspektivenübernahme« bezeichnet wird). Aber schon seit Langem schlage ich mich mit einer noch größeren Herausforderung herum: Wie können wir eine persönliche, emphatische Verbindung zu zukünftigen Generationen herstellen, mit denen wir niemals zusammentreffen werden und deren Lebensumstände wir uns kaum vorstellen können? Mit anderen Worten: Wie können wir nicht nur über Räume, sondern auch über Zeiten hinweg Mitgefühl empfinden? Dieses Buch geht der Frage nach, wie uns so etwas gelingen könnte. Seit ich vor drei Jahren mit dem Schreiben begonnen habe, ist mir klar geworden, dass Empathie nicht die einzige Brücke ist, die wir brauchen, um unsere moralischen Visionen in die Zukunft zu erweitern; auch andere, damit verwandte Konzepte wie die Generationengerechtigkeit und die Ansichten indigener Völker über unsere Verantwortung für den Planeten können eine Schlüsselrolle spielen. Das so entstandene Buch unternimmt eine interdisziplinäre Reise durch die verschiedensten Bereiche von Moralphilosophie und Anthropologie bis zu den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaft, der Konzeptkunst und der Politologie. Dabei bemühe ich mich, ein breites Spektrum gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Sichtweisen einzubeziehen, die Analyse wird aber zwangsläufig durch meine eigene gesellschaftliche Stellung eingeschränkt; wenn in diesem Buch von »wir« die Rede ist, meine ich damit in der Regel die wirtschaftlich gesicherten Bewohnerinnen und Bewohner der westlichen Industriestaaten, die manchmal auch als Globaler Norden bezeichnet werden.
Die nationalen Befreiungskämpfe des 20. Jahrhunderts wurden mit Gewehren ausgetragen. Der generationenübergreifende Befreiungskampf des 21. Jahrhunderts ist eine Schlacht der Ideen in Form eines gigantischen Tauziehens um Zeit (siehe unten). Auf der einen Seite drohen sechs Triebkräfte des kurzfristigen Denkens uns über die Klippe des Zivilisationszusammenbruchs zu stürzen. Auf der anderen ziehen uns sechs Wege, langfristiger zu denken, in Richtung einer Kultur längerer Zeithorizonte und der Verantwortung für die Zukunft der Menschheit.
Die sechs Wege des langfristigen Denkens, die wir im zweiten Teil genauer betrachten werden, sind die kognitiven Kernkompetenzen, die wir brauchen, um gute Vorfahren zu werden: eine Reihe grundlegender Einstellungen, Überzeugungen und Ideale. Sie lassen sich in drei Gruppen einteilen. Eine Vorstellung der Zukunft hat ihre Basis in der Demut gegenüber der Tiefenzeit (später mehr darüber) und entwickelt ein übergeordnetes Ziel für die Menschheit. Einfühlung in die Zukunft erfordert eine vermächtnisorientierte Haltung und ein Gefühl für Generationengerechtigkeit. Die Fähigkeit zur Planung für die Zukunft über unsere eigene Lebenszeit hinaus erwächst aus ethisch anspruchsvollem Denken und ganzheitlicher Vorausschau. Keine davon reicht allein aus, um in den Köpfen der Menschen eine langfristige Revolution in Gang zu setzen. Aber gemeinsam – und wenn sie von einer kritischen Menge von Menschen und Organisationen praktiziert werden – können sie mit ihrer Synergie zu einem neuen Zeitalter des langfristigen Denkens führen.
Die Triebkräfte des kurzfristigen Denkens, von denen in diesem Buch immer wieder die Rede sein wird, haben zwar eine beträchtliche Macht, aber dass sie in dem Tauziehen um Zeit den Sieg davontragen, ist keineswegs garantiert. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Ansicht dürfte das langfristige Denken eine der größten unbesungenen Begabungen unserer Spezies sein. Wir denken nicht nur schnell und langsam, wie Daniel Kahneman uns gelehrt hat, sondern wir denken auch kurz und lang. Die Fähigkeit, über lange Zeiträume zu denken und zu planen, ist in unserem Gehirn verdrahtet und hat uns zu gewaltigen Leistungen befähigt, so zum Bau der Londoner Kanalisation nach dem Großen Gestank von 1858, zu den öffentlichen Investitionen in Roosevelts New Deal und dem engagierten Kampf der Sklavereigegner und Frauenrechtlerinnen. Wie wir noch etwas detaillierter erfahren werden, ist genau das die geheime evolutionäre Zutat, die den sechs Wegen des langfristigen Denkens ihr Potenzial und ihre Macht verleiht.
Wie lässt sich der Fantasiesprung zum langfristigen Denken in Taten ummünzen, die der Geschichte neue Konturen verleihen? Diese Frage steht im Mittelpunkt des dritten Teils: Er erzählt die Geschichte einer Gruppe von Pionieren, die als »Zeitrebellen« gegen das um sich greifende kurzfristige Denken der modernen Welt kämpfen und sich bemühen, die sechs Wege in der Praxis anzuwenden. Dazu gehören die von dem schwedischen Teenager Greta Thunberg angeführte globale Klimastreikbewegung, aber auch Organisationen wie Extinction Rebellion in Großbritannien oder Our Children’s Trust in den Vereinigten Staaten. Andere Rebellinnen finden wir in der Bewegung für radikale regenerative Wirtschaft und unter den Fürsprechern von Bürgerversammlungen von Spanien bis Japan.
Sie haben allerdings mächtige Gegner, darunter jene, die das langfristige Denken für ihre eigenen Zwecke vereinnahmen wollen; das gilt insbesondere für den Finanzsektor: Gus Levy, der frühere Vorsitzende der Investmentbank Goldman Sachs, erklärte einmal stolz: »Wir sind gierig, aber nicht kurzfristig gierig, sondern langfristig gierig.«15 Außerdem müssen die Zeitrebellen sich mit der unangenehmen Realität auseinandersetzen, dass manche grundlegenden Organisationsprinzipien unserer Gesellschaft, von den Nationalstaaten und der repräsentativen Demokratie bis zur Verbraucherkultur und dem Kapitalismus als solchem, sich für das Zeitalter, in dem wir leben, nicht mehr eignen. Sie wurden vor Jahrhunderten im Holozän erfunden, der 10.000 Jahre dauernden geologischen Ära mit stabilem Klima, in der die Zivilisation der Menschen aufblühte; es war eine Zeit, in der unser Planet die ökologischen Folgen des materiellen Fortschritts, die Kosten und Risiken neuer Technologien und die Belastungen des Bevölkerungswachstums zum größten Teil verkraften konnte. Diese Epoche ist jetzt vorüber: Wir treten ins Anthropozän ein, eine neue Ära, in der die Menschen ein instabiles, vom ökologischen Zusammenbruch bedrohtes System Erde geschaffen haben.16
Es ist eine größere Version des klassischen QWERTZ-Problems: Diese ineffiziente Tastenanordnung wurde in den 1860er-Jahren geschaffen, um zu verhindern, dass die mechanischen Typenhebel der Schreibmaschinen sich verhakten, weswegen man häufig benutzte Buchstaben weit voneinander entfernt anbrachte; heute sind wir mit Institutionen belastet, die für die Herausforderungen einer ganz anderen Zeit gestaltet wurden. Es ist praktisch unmöglich, sich einer wichtigen Erkenntnis zu entziehen: Wenn wir eine Welt schaffen wollen, die sich für die jetzigen und zukünftigen Generationen eignet, werden wir Kernaspekte der Gesellschaft – wie unsere Wirtschaft funktioniert, wie unsere Politik funktioniert, wie unsere Städte aussehen – zutiefst neu denken und neu gestalten müssen, und wir müssen gewährleisten, dass sie von neuen Werten und Zielen unterfüttert sind, damit das langfristige Wohlergehen der Menschheit gesichert wird. Und dazu haben wir ungeheuer wenig Zeit.
Gibt es einen idealen Zeithorizont, den wir in dem Tauziehen gegen das kurzfristige Denken anstreben sollten? Das vorliegende Buch schlägt vor, 100 Jahre als Minimum für die Grenze zum langfristigen Denken anzusetzen. Dies ist derzeit die Dauer eines langen Menschenlebens und führt uns über die egoistische Grenze unserer eigenen Sterblichkeit hinaus; damit können wir uns eine Zukunft ausmalen, die wir beeinflussen, ohne dass wir selbst noch daran teilhaben.17 Sie erstreckt sich viel weiter als der Ausblick von maximal fünf oder zehn Jahren, den man in Unternehmen findet, und geht in Richtung des Zeithorizonts für Taten wie das Pflanzen einer Eiche, die erst dann ausgewachsen ist, wenn wir längst nicht mehr da sind. Auch von Menschen mit einer längeren Sichtweise können wir lernen. Die auf die siebte Generation ausgerichteten Entscheidungen vieler indigener Völker umfassen einen Zeitraum von fast zwei Jahrhunderten. Noch ehrgeiziger ist die Long Now Foundation in Kalifornien: Sie setzt einen Zeithorizont von 10.000 Jahren an und begründet dies damit, dass die ersten Kulturen der Menschen sich vor zehn Jahrtausenden, am Ende der letzten Eiszeit, entwickelten – deshalb, so erklärt die Stiftung, sollten wir eine ähnliche Perspektive auch für die Zukunft einnehmen.18 Mit unserer zeitlichen Fantasie müssen wir abenteuerlustig sein. Wenn wir uns vornehmen, »langfristig« zu denken, sollten wir wenigstens einmal tief durchatmen und uns darunter »100 Jahre oder mehr« vorstellen.
Können wir wirklich diesen welterschütternden Paradigmenwechsel vollziehen, damit langfristiges Denken nicht nur unsere persönlichen Entscheidungsprozesse durchdringt, sondern auch das ganze Gewebe unserer öffentlichen Institutionen, unserer Wirtschaftssysteme und unseres kulturellen Lebens? Der Literaturkritiker Terry Eagleton trifft eine nützliche Unterscheidung zwischen Optimismus und Hoffnung.19 Optimismus ist danach eine fröhliche Neigung, immer und auch entgegen allen Indizien die positive Seite des Lebens zu sehen. Eine solche Einstellung kann leicht zu Selbstzufriedenheit und Untätigkeit führen. Hoffnung dagegen ist ein aktiveres, radikales Ideal: Sie erkennt die reale Möglichkeit des Scheiterns an, hält aber gleichzeitig entgegen allen Wahrscheinlichkeiten an der Erfolgsaussicht fest und wird durch ein tiefes Engagement für ein wünschenswertes Ergebnis angetrieben.
Dieses Buch handelt nicht von Optimismus, sondern von Hoffnung. Es besteht eine reale Möglichkeit, dass die Menschheit nicht aus ihrem Schlummer des kurzfristigen Denkens erwacht, bis eine extreme Katastrophe eintritt – und dann ist es vielleicht zu spät, um uns noch von dem selbstzerstörerischen Kurs abzubringen, den das Römische Reich und die Maya eingeschlagen haben. Aber der zukünftige Zusammenbruch der Zivilisation ist keineswegs unausweichlich, insbesondere wenn wir die Macht des kollektiven Handelns nutzen und radikale Veränderungen herbeiführen. Als erste Lektion lehrt uns die Geschichte: Nichts ist unvermeidlich, solange es nicht eingetreten ist. Wir sollten Hoffnung empfinden, wenn wir uns daran erinnern, dass Kolonialismus und Sklaverei zu Ende gegangen sind. Wir sollten Hoffnung in das Veränderungspotenzial der sechs Wege setzen, auf denen wir langfristig denken können, und auch in die aufkeimende Zeitrebellion, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Tauziehen gegen das kurzfristige Denken zu gewinnen. Ebenso sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass zukünftige Generationen uns nie verzeihen würden, wenn wir aufgeben, solange noch die Möglichkeit einer Veränderung besteht, ganz gleich, wie groß die Chancen sind. Wir müssen ihre Stimmen in unseren Träumen hören und in unseren Entscheidungen berücksichtigen.
Der Weg des guten Vorfahren liegt vor uns. Ob wir ihn einschlagen oder nicht – wir haben die Wahl.
Schließen wir einmal die Augen und stellen uns vor, wir hätten in jeder Hand einen kleinen Gegenstand, ein Sinnbild für das alltägliche Dilemma in unserer belasteten Beziehung zur Zeit. In der linken Hand haben wir ein weiches rosa Marshmallow, in der rechten eine grün glänzende Eichel.
Beide zusammen stehen für das faszinierende Spannungsverhältnis zwischen unseren mentalen Zeithorizonten. Unser Gehirn ist für kurz- wie auch für langfristiges Denken verdrahtet, und zwischen beiden findet ein ständiges Tauziehen statt. Vom Persönlichen bis zum Politischen, vom Privatleben bis zur Öffentlichkeit: Die Spannung ist immer da. Sollen wir Geld für einen Strandurlaub ausgeben oder lieber fürs Alter sparen? Werden Politiker unser Land für die nächsten 100 Jahre fit machen oder sich kurzfristig darauf konzentrieren, die bevorstehende Wahl zu gewinnen? Posten wir eher ein Selfie auf Instagram, um Likes einzuheimsen, oder legen wir für die Nachwelt einen Samen in die Erde?
Jeder von uns hat ein »Marshmallowgehirn«, wie ich es nenne: Mit ihm fixieren wir uns auf kurzfristige Wünsche und Belohnungen. Wir alle besitzen aber auch das »Eichelgehirn«, mit dem wir uns die ferne Zukunft ausmalen und auf langfristige Ziele hinarbeiten. Das Wechselspiel zwischen diesen beiden mentalen Zeithorizonten ist ein beträchtlicher Teil unseres charakteristischen menschlichen Wesens.
Ganz buchstäblich tritt das Eichelgehirn in Der Mann, der Bäume pflanzte in Erscheinung, einer Kurzgeschichte von Jean Giono, in der ein Schäfer jeden Tag, während er seine Schafe hütet, Eicheln in die Erde steckt. Nach einigen Jahrzehnten ist daraus ein stattlicher Eichenwald herangewachsen – eine Geschichte, die wir überzeugend finden. Aber trotz alledem und trotz unserer offenkundigen Fähigkeit zu langfristigem Denken betont unser beherrschendes gesellschaftliches Narrativ unsere Neigung zur Kurzfristigkeit.
Während der Recherchen zu diesem Buch habe ich mit Psychologinnen und Wirtschaftswissenschaftlern, Zukunftsforscherinnen und Beamten gesprochen; dabei begegnete mir immer wieder die Überzeugung, wir bezögen unseren Antrieb vor allem durch unmittelbare Belohnungen und sofortige Vorteile, und deshalb bestehe wenig Hoffnung, dass wir uns den langfristigen Herausforderungen unserer Zeit stellen können. Sehr deutlich wird diese Sichtweise in einem Aufsatz von Nathaniel Rich über unser Versagen angesichts der Klimakrise. »Menschen«, so schreibt er, »ob in Weltorganisationen, Demokratien, der Wirtschaft, in politischen Parteien oder als Einzelne sind nicht in der Lage, die gegenwärtige Bequemlichkeit zu opfern, um damit einer Strafe zu entgehen, die zukünftigen Generationen auferlegt wird.«1
Wenn wir gute Vorfahren sein wollen, müssen wir diese Annahme infrage stellen und anerkennen, dass unser Geist tatsächlich zu langfristigem Denken in der Lage ist. Das ist der Ausgangspunkt für den Aufbau einer Gesellschaft, die unsere derzeitige kurzsichtige Konzentration auf die Gegenwart überwindet. Die verschiedenen Formen des langfristigen Denkens, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen werden – Kathedralendenken, ganzheitliche Vorhersage und das Streben nach einem übergeordneten Ziel –, haben ihre Grundlage in unserer angestammten Fähigkeit, uns die Zukunft auszumalen und für sie zu planen. Ohne sie hätten wir niemals die Landwirtschaft erfunden, die Kathedralen des mittelalterlichen Europas errichtet, ein öffentliches Gesundheitswesen aufgebaut oder Reisen in den Weltraum unternommen. Und heute brauchen wir sie mehr als je zuvor.
In diesem Kapitel wird gezeigt, dass wir zu solchen langfristigen Denkleistungen in der Lage sind; dazu gehen wir der Frage nach, wie das Eichelgehirn funktioniert und wie es sich in zwei Millionen Jahren unserer Evolutionsvergangenheit entwickelt hat. Zunächst einmal müssen wir jedoch die innere Funktionsweise seines großen Rivalen offenlegen: des Marshmallowgehirns.
Ich sitze in einem Café in Oxford. Bei mir ist der Neurowissenschaftler Morten Kringelbach, ein weltweit angesehener Experte für Gehirn und Lustempfinden; er ist erpicht darauf, mit mir über die Fähigkeit der Menschen zu langfristigem Denken zu sprechen. Er bestellt sich einen Schokoladenbrownie, und als das Gebäck gebracht wird, schiebt er den Teller zu mir. Ich lehne ab und erkläre ihm, ich wolle gesund leben. Dann schaue ich hinunter auf den Brownie. Das Gebäck lacht mich an. Wir tauschen Blicke aus. Nach einigen Minuten kann ich meiner Schokoladensucht nicht mehr widerstehen und nehme einen Bissen.
Wir Menschen, so erklärt mir Morten, tragen in unserem Gehirn ein Lustsystem, das uns dazu antreibt, nach kurzfristigem Vergnügen und Belohnungen zu streben, während es uns gleichzeitig veranlasst, unmittelbare Schmerzen zu meiden. Viele derartige Vergnügungen spielen in unserem Leben eine positive Rolle, wie das warme Gefühl der Sonne auf der Haut, eine tröstliche Umarmung oder die Freude, die wir beim Austausch in Gesprächen empfinden. Manchmal aber spielt das Lustsystem auch verrückt und wird von kurzfristigen Bestrebungen und Impulsen beherrscht, die leicht in Sucht umschlagen können: Wir sind gierig auf den Zuckerschub durch eine Limonade oder können uns nicht von einem Videospiel losreißen. Dieses »Suchtgehirn«, so Morten, müssen wir im Auge behalten, denn es treibt uns zu schädlichen kurzfristigen Verhaltensweisen (darunter die Vorliebe für Schokolade). Solche kurzfristigen Sucht- und Impulsmerkmale bezeichne ich aus Gründen, die ich noch darlegen werde, als Marshmallowgehirn.
Erste Erkenntnisse über seine Funktionsweise gewann man 1954 in einer bahnbrechenden Studie: Man pflanzte Elektroden in den Hypothalamus von Ratten ein und verband sie mit einem Hebel, den die Ratten betätigen konnten, um in ihrem Gehirn einen elektrischen Reiz zu erhalten. Die Tiere drückten den Hebel immer wieder – bis zu 2000 mal in der Stunde – und gaben zu diesem Zweck ihre normalen Tätigkeiten wie Fressen, Trinken und Sexualität völlig auf. Der Befund wurde später mehrfach nachvollzogen und lässt darauf schließen, dass bestimmte Gehirnareale für das Suchtverhalten zuständig sind und dass der Botenstoff Dopamin in diesen Arealen eine entscheidende Bedeutung für die Signalübertragung hat.2 Ob es uns gefällt oder nicht, mit den Ratten verbindet uns eine gemeinsame Abstammung (die ungefähr 80 Millionen Jahre zurückreicht); deshalb ist es nicht verwunderlich, dass spätere Forschungsergebnisse auch bei Menschen auf ähnliche Gehirnareale hindeuteten.3
Nach den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie entwickelte sich unsere Vorliebe für kurzfristige Vergnügungen, Wünsche und Belohnungen als Überlebensmechanismus unter Bedingungen der Nahrungsmittelknappheit oder der Lebensgefahr. Lange bevor Schokobrownies erfunden waren, entwickelte unser Gehirn Systeme zur kurzfristigen Verarbeitung, die uns veranlassten, so viel wie möglich zu essen und wegzulaufen, wenn uns natürliche Feinde begegneten. Das ist der Grund, warum wir automatisch und ohne nachzudenken dem Geruch eines frisch gebackenen Kuchens folgen und andererseits sofort die Beine in die Hand nehmen, wenn ein Rottweiler auf uns zugelaufen kommt.4
Wenn es uns also schwerfällt, der Verlockung durch Essen oder Drogen zu widerstehen, wissen wir, dass unser urtümliches Suchtgehirn tätig ist. Wenn wir über unser Telefon wischen und es auf neue Nachrichten prüfen, gleichen wir den Ratten, die wie besessen immer wieder den Hebel betätigen und den sofortigen Reiz einer Dopaminwelle anstreben, der gezielt in die Technik eingebaut wurde. Und wenn wir nach ein paar Drinks auf einer Party nicht der Zigarette widerstehen können, gehorchen wir dem tief sitzenden Ruf unserer Säugetier-Urvorfahren. Ist das nicht eine gute Entschuldigung?
Tatsächlich kann man einen großen Teil des alltäglichen kurzfristigen Denkens der Konsumkultur – von der Gier nach Junkfood bis zum Kundenansturm beim Ausverkauf – auf den Instinkt des Hier und Jetzt zurückführen, der ein Teil unseres evolutionären Erbes ist. Der Neurowissenschaftler Peter Whybrow schreibt: »Die Neigung zu übermäßigem Konsum ist das Überbleibsel einer Zeit, in der das individuelle Überleben vom erbitterten Wettbewerb um Ressourcen abhing … Das urtümliche Gehirn, das uns antreibt, machte seine Evolution unter Bedingungen von Knappheit durch, wird von Gewohnheiten getrieben und ist auf das kurzfristige Überleben konzentriert; damit passt es nur schlecht zu dem hektischen Überfluss der heutigen materiellen Kultur.«5
Menschen ziehen kurzfristige Bedürfnisse sogar ihrem eigenen langfristigen Interesse vor. Ein naheliegendes Beispiel ist das Rauchen. Wir nehmen aber auch fette Nahrung zu uns, obwohl wir ganz genau wissen, dass wir davon irgendwann eine Herzkrankheit bekommen können, oder verwenden unser Erspartes auf einen luxuriösen Karibikurlaub, statt das Geld für schlechte Zeiten beiseitezulegen. Wenn es um den persönlichen Zeithorizont geht, kommt unsere eigene Zukunft oftmals erst an zweiter Stelle nach den unmittelbaren Vergnügungen der Gegenwart. In der Regel bevorzugen wir eine kleinere, schnellere Belohnung gegenüber einer großen, die erst später kommt – ein Phänomen, das als »hyperbolische Diskontierung« bezeichnet wird.6
Eines der bekanntesten Beispiele für unsere kurzfristige Impulsivität und unser Streben nach sofortigen Belohnungen ist der sogenannte Marshmallow-Test aus den 1960er-Jahren. Der Psychologe Walter Mischel von der Stanford University legte Kindern zwischen vier und sechs Jahren ein einziges Marshmallow hin und sagte ihnen, wenn sie es nicht essen würden, sobald er sie für 15 Minuten allein im Zimmer ließ, würden sie zur Belohnung ein zweites Marshmallow erhalten. Die Tatsache, dass zwei Drittel der Kinder nicht widerstehen konnten und das vor ihnen liegende Marshmallow dennoch aßen, gilt oft als Beleg für unsere kurzfristig ausgerichtete Natur.
Aber so berühmt der Marshmallow-Test auch ist, er spiegelt unser Wesen nur zum Teil wider. Zunächst einmal muss man zur Kenntnis nehmen, dass immerhin ein Drittel der Kinder in Mischels Experiment der Versuchung widerstand. Und außerdem zeigte sich bei der Wiederholung des Tests, dass die Fähigkeit, eine Belohnung hinauszuschieben, stark vom Kontext abhängt. Wenn die Kinder nicht darauf vertrauen, dass der Wissenschaftler zurückkommt, greifen sie viel häufiger nach dem Leckerbissen, und solchen aus wohlhabenden Verhältnissen fällt es leichter, der Versuchung zu widerstehen. Mangelndes Vertrauen und die Angst vor Knappheit treiben uns in Richtung des kurzfristigen Denkens.7
Noch wichtiger ist etwas anderes: Neurowissenschaftler wie Morton Kringelbach räumen ein, dass wir weit mehr als nur Ratten sind, die Hebel betätigen oder sich auf Süßigkeiten stürzen; das urtümliche Marshmallowgehirn liegt neben neueren Teilen unserer Neuroanatomie, und die versetzen uns in die Lage, langfristig zu denken und zu planen. Es wird Zeit, dass wir das Eichelgehirn entdecken.
Vor rund 12.000 Jahren, in der frühen Jungsteinzeit, tat einer unserer Vorfahren etwas Bemerkenswertes: Er oder sie aß ein Samenkorn nicht, sondern säte es für das nächste Jahr aus. In diesem Augenblick begann die landwirtschaftliche Revolution. Es war ein Wendepunkt in der Evolution des menschlichen Geistes und symbolisiert die Geburt des langfristigen Denkens.
Vorausschauend Körner zum Anbau von Nutzpflanzen aufzubewahren und sie während der langen, hungrigen Wintermonate nicht aufzuessen: Darin zeigt sich die bemerkenswerte Fähigkeit des Homo sapiens, sich im Geist aus der Gegenwart in die ferne Zukunft zu versetzen und Projekte mit einem langen Zeithorizont in Angriff zu nehmen. Dieser Aspekt unserer Nervenverdrahtung hat einen eigenen Namen verdient: Eichelgehirn. Wir alle besitzen es. Aber wie funktioniert es eigentlich, woher kommt es, und welche Leistungen kann es vollbringen?
Die Funktionsweise des Eichelgehirns ist Gegenstand eines neuen Forschungsgebietes: Die prospektive Psychologie, wie sie genannt wird, vertritt die Ansicht, dass Menschen einzigartig sind, weil sie über die Zukunft nachdenken können. Oder, um einen Begriff des Psychologen Martin Seligman zu übernehmen: Wir sind die Spezies Homo prospectus, die sich »von Alternativen leiten lässt, welche sich in die Zukunft erstrecken«.8 Freud mag uns aufgefordert haben, eine Reise in unsere Vergangenheit zu unternehmen, aber von Natur aus neigt unser Geist dazu, in die entgegengesetzte Richtung zu blicken. Wir malen uns ständig Möglichkeiten aus, schmieden Pläne und brüten über den Umrissen der nahen und ferneren Zukunft. Oder, wie der Psychologe Daniel Gilbert es formuliert: Wir sind der »Menschenaffe, der nach vorn blickt«.9
Die Belege sind überzeugend. Offensichtlich denkt kein anderes Tier so bewusst an die Zukunft und macht Pläne wie der Mensch. Eichhörnchen vergraben vielleicht Nüsse für den Winter, aber das tun sie instinktiv, wenn die Tage kürzer werden, und nicht, weil sie sich willentlich dafür entschieden hätten, ihr Überleben zu planen. Wie wir aus Tierverhaltensstudien wissen, haben auch andere Arten – zum Beispiel Ratten – ein ausgezeichnetes Gedächtnis, aber zeitlich können sie nur eine halbe Stunde vorausdenken. Schimpansen streifen die Blätter von einem Zweig ab und machen ihn so zu einem Werkzeug, mit dem sie in einer Termitenhöhle stochern können, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie ein Dutzend solche Werkzeuge anfertigen würden, um sie beiseitezulegen und in der nächsten Woche zu benutzen.10
Aber gerade solche Dinge tun Menschen. Wir sind hervorragende Planer. Wir planen den nächsten Sommerurlaub, legen Gärten an, die in zehn Jahren wunderschön aussehen werden, sparen für die Ausbildung unserer Kinder und stellen sogar die Lieder für unser eigenes Begräbnis zusammen. Bei alledem ist das Eichelgehirn aktiv. Mit unserer Fähigkeit vorauszuschauen, können wir überleben und gedeihen. »Unser einzigartiger Weitblick hat die Zivilisation geschaffen und erhält die Gesellschaft aufrecht«, schreibt Martin Seligman. »Die Kraft der Vorausschau macht uns klug. Bewusst und unbewusst in die Zukunft zu blicken, ist eine zentrale Funktion unseres großen Gehirns.«11
Alles beginnt in der frühen Kindheit. Mit ungefähr fünf Jahren können Kinder sich zum ersten Mal die Zukunft vorstellen, zukünftige Ereignisse vorhersagen und sie von Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden – deshalb gaben meine Zwillinge mir ungefähr in diesem Alter zum ersten Mal mehrere Monate im Voraus kleine Wunschzettel für ihren Geburtstag. Wenn Kinder ins Teenageralter kommen, haben sie bereits eine Fähigkeit zu mentalen Zeitreisen entwickelt, mit denen sie über lange Zeiträume vorausblicken und planen, sich über Jahrhunderte erstreckende historische Zeit verstehen und über den eigenen Tod nachdenken können.12
In welchem Umfang nutzen wir im Alltag unsere Fähigkeit zu Vorausschau und Planung? Wir tun es weitaus stärker, als es die traditionelle Psychologie in der Regel unterstellt. In einer Studie wurden 500 Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt Chicago zu zufälligen Zeitpunkten im Laufe des Tages über eine Smartphone-App gefragt, woran sie gerade dachten; wie sich herausstellte, verbrachten sie ungefähr 14 Prozent des Tages mit Gedanken über die Zukunft und nur 4 Prozent mit Gedanken über die Vergangenheit (die übrigen Gedanken beschäftigten sich entweder mit der Gegenwart oder mit keiner bestimmten Zeit). Von der Zeit, in der sie sich mit der Zukunft beschäftigten, dienten ungefähr drei Viertel dem Schmieden von Plänen.13 Über die Zukunft denken wir also ungefähr dreimal so häufig nach wie über die Vergangenheit, und von jeweils sieben Stunden, die wir mit Denken verbringen, ist ungefähr eine den Dingen gewidmet, die noch nicht geschehen sind.
Die neuronalen Vorgänge, die sich mit der Zukunft beschäftigen, laufen zum größten Teil im Stirnlappen des Gehirns ab, einem Areal, das sich vorn im Kopf über den Augen befindet. Ist es geschädigt, wirken die Betroffenen häufig vollkommen normal: Sie können fröhlich über das Wetter plaudern, eine Tasse Tee trinken oder sich einem Gedächtnistest unterziehen. Dagegen versagen sie oft völlig bei jeglicher Form der Planung, beispielsweise wenn sie sagen sollen, was sie am Nachmittag tun werden, oder wenn sie ein Rätsel lösen sollen, das Vorausdenken erfordert. Der Stirnlappen, und dort insbesondere ein Teil, der als dorsolateraler präfrontaler Kortex bezeichnet wird, ist das Steuerungszentrum des Eichelgehirns, eine Zeitmaschine, mit der wir uns Situationen ausmalen, die noch Wochen oder sogar Jahrzehnte in der Zukunft liegen und mit der wir komplizierte Pläne und Prozesse über lange Zeiträume vorzeichnen können.
Eigenartig ist am Stirnlappen, dass er zum Gehirn erst relativ spät hinzukam: Er entwickelte sich im Laufe der letzten zwei Millionen Jahre (die ersten Lebewesen mit einem Gehirn erschienen schon vor rund 500 Millionen Jahren auf der Bildfläche). Im Laufe dieser Zeit hat sich die Masse unseres Gehirns mehr als verdoppelt, von den rund 700 Gramm des Homo habilis zu den fast 1400 Gramm des Homo sapiens. Aber dieser plötzliche Wachstumsschub war nicht gleichmäßig verteilt: Er machte sich besonders im vorderen Teil des Gehirns bemerkbar, sodass die niedrige, fliehende Stirn unserer ältesten Vorfahren allmählich immer weiter in die Höhe wuchs, bis sie ihre heutige, nahezu senkrechte Lage erreicht hatte. Und genau dort liegt der Teil unseres Gehirnapparats, der vorwiegend für die Zukunftsplanung und andere sogenannte »exekutive Funktionen« verantwortlich ist, so für abstrakte Überlegungen und Problemlösung.14
Aber trotz solcher evolutionären Fortschritte in unserer Fähigkeit zu langfristigem Denken konzentriert sich die Vorausschau zum größten Teil auf die sehr nahe Zukunft. Wie sich in der Studie aus Chicago zeigte, hatten rund 80 Prozent der zukunftsorientierten Gedanken mit demselben oder dem nächsten Tag zu tun, 14 Prozent betrafen Zeiträume von mehr als einem Jahr, und nur 6 Prozent blickten mehr als zehn Jahre in die Zukunft.15 Das Eichelgehirn ist also als Teil unserer neuroanatomischen Funktionen sicher vorhanden, beherrscht wird es aber von dem kurzfristigen Marshmallowgehirn, und es hat Mühe, dessen Einfluss zu entkommen.
Daraus ergeben sich weitreichende Folgerungen. Eine davon nennt Daniel Gilbert, einer der Begründer der prospektiven Psychologie: Wenn Außerirdische unsere Spezies zerstören wollten, würden sie keine kleinen grünen Männchen schicken, die uns den Garaus machen, denn das würde sehr schnell unsere gut abgestimmten Verteidigungsmechanismen in Gang setzen. Sie würden vielmehr etwas wie die globale Erwärmung erfinden, was unter dem Radar des menschlichen Gehirns bleibt, weil wir einfach nicht gut auf langfristige Bedrohungen ansprechen. Einem Baseball, der auf unseren Kopf zufliegt, werden wir schnell ausweichen, aber viel weniger geschickt sind wir im Umgang mit Gefahren, die erst in mehreren Jahren oder Jahrzehnten auf uns zukommen. Und doch ist die Tatsache, dass wir überhaupt langfristig denken können, nach Gilberts Ansicht »eine der erstaunlichsten Neuerungen unseres Gehirns«; wir müssen nur begreifen, dass sie sich noch in einem frühen Entwicklungsstadium befindet.16
»Wie alle Säugetiere können wir sehr gut klare gegenwärtige Gefahren erkennen. In den letzten paar Millionen Jahren haben wir aber einen neuen Kunstgriff gelernt – oder zumindest teilweise gelernt. Unser Gehirn ist im Gegensatz zu den Gehirnen nahezu aller anderen Arten darauf vorbereitet, die Zukunft so zu behandeln, als wäre sie die Gegenwart. Wir können bis zu unserem Ruhestand oder zu einem Zahnarzttermin vorausblicken, und wir können heute tätig werden, für den Ruhestand sparen oder uns die Zähne putzen, damit wir nicht in einem halben Jahr schlechte Nachrichten zu hören bekommen. Aber diesen Trick lernen wir gerade erst. Er ist im Tierreich eine ganz neue Anpassung, und wir beherrschen ihn noch nicht sonderlich gut.«17
Das heißt nicht, dass wir nicht in der Lage wären, über die ferne Zukunft nachzudenken – das wäre ein wirklich katastrophales neurologisches Hindernis, und es würde jede Reaktion auf die ökologischen, gesellschaftlichen und technischen Gefahren hemmen, die am Horizont stehen, von Konflikten um Wasserressourcen bis zu den Gefahren von Cyberangriffen für die Landesverteidigung. Das Problem liegt nur darin, dass wir es nicht sonderlich gut können. Wie nicht anders zu erwarten, haben manche Menschen es bereits gut gelernt, von den indigenen Gemeinschaften, die in ihren Entscheidungen bis zur siebten Generation vorausdenken, bis zu Ingenieuren, die Brücken mit einer Haltbarkeit von mindestens 100 Jahren planen, und den Kosmologinnen, die sich mit den Rätseln der Tiefenzeit beschäftigen. Aber die meisten von uns gleichen alten Hunden, die sich neue Kunststücke nur mit Mühe aneignen.
Das Eichelgehirn der Menschen verfügt sicher über ein gewaltiges Potenzial, und wenn wir gute Vorfahren werden wollen, müssen wir lernen, seine Möglichkeiten zu nutzen. Der erste Schritt ist die einfache Erkenntnis, dass wir es besitzen. Aber schon die Existenz des Eichelgehirns wirft eine entscheidende Frage auf: Wie hat es sich überhaupt entwickelt?
Im Laufe von zwei Millionen Jahren erwarben unsere Vorfahren eine unglaubliche Errungenschaft: Ihnen wuchs ein Gehirn, mit dem sie dem gegenwärtigen Augenblick entkommen und zu Teilzeitbewohnern der Zukunft werden konnten. Nach den Vermutungen von Evolutionspsychologinnen und Archäologen muss ihnen die Fähigkeit, langfristig zu denken und zu planen, einen evolutionären Vorteil verschafft haben. Die Fähigkeit, zu berücksichtigen, was vor einem liegt, Veränderungen vorherzusehen und Pläne zu schmieden, wurde zu einem Überlebensmechanismus und schuf einen Ausgleich für alles, was unserer Spezies an Kraft, Geschwindigkeit oder Wendigkeit fehlte.18 Möglich wurde dieser welterschütternde kognitive Sprung durch vier Hauptursachen: das Finden von Wegen, den »Großmuttereffekt«, soziale Kooperation und neue Werkzeuge (siehe unten). Jeder dieser Faktoren bildet eine wesentliche Szene im Zeitlupen-Psychodrama der menschlichen Evolution.
»Unser Wesen liegt in der Bewegung; vollständige Ruhe ist der Tod«, schrieb der Philosoph Blaise Pascal im 17. Jahrhundert. Es war eine zutreffende Beobachtung: Unsere vormenschlichen Urahnen streiften seit frühester Zeit durch die Landschaft – sie sammelten Nahrung, gingen auf die Jagd, suchten nach Wasser, wanderten mit den Jahreszeiten und stellten sich auf neue Umweltbedingungen ein. Im Laufe vieler Jahrtausende entwickelte sich bei ihnen eine Überlebensfähigkeit, die als »Wegfinden« bekannt wurde, die Fähigkeit, sich physisch im Raum zu orientieren und den Weg von einem Ort zum anderen zu finden. Zum Teil basierte diese Fähigkeit auf der Schaffung »kognitiver Landkarten«, die sie im Kopf hatten und dazu nutzten, wichtige Orientierungspunkte festzuhalten, bekannten Routen zu folgen und wohlbehalten nach Hause zurückzukehren. Zu der mentalen Kartografie gehörte aber nicht nur das Kartieren von Orten, sondern auch die zeitliche Einordnung. Jäger konnten kostbare Energie sparen und sogar ihr Leben retten, wenn sie nicht nur die Route planten, sondern auch die Zeit, die sie für den Weg von Ort zu Ort brauchten. Wie der Ökologe Thomas Princen erläutert, entwickelte sich bei den Menschen auf diese Weise zum ersten Mal die Fähigkeit, für die Zukunft zu planen: »Die kognitive Fähigkeit, sich solche Orte vorzustellen und sich auszumalen, welche Zeit man braucht, um dorthin zu gelangen, war also sowohl geografischer Natur (wo befindet sich der Bach im Verhältnis zum Wald) als auch zeitlich geprägt (wie viele Tage und Nächte dauert es, zum Bach und zum Wald zu gelangen).«19
In der Anthropologie hat man während der letzten 100 Jahre genauer untersucht, wie indigene Gruppen ihre Wege finden, von den Stäbchenkarten der Kanufahrer auf den Marshall-Inseln, auf denen gefährliche Riffe und komplizierte Gezeitenströme eingetragen sind, bis zu den Traumpfaden der australischen Aborigines, die damit eine Abfolge von Orientierungsmarken über ein riesiges Gebiet hinweg ganz buchstäblich singen können.20 Wir sind die Erben solcher Traditionen: Sie haben uns die kognitive Begabung verliehen, nicht nur unsere Wege in einer Landschaft zu planen, sondern auch unsere Reise durch die Zeitlandschaften der Zukunft, für die ein Zeit-GPS im menschlichen Geist als Leitfaden dient.
Ein zweiter Mechanismus, der langfristiges Denken möglich macht, wird manchmal als »Großmuttereffekt« bezeichnet. Er erwächst aus einer biologischen Besonderheit unserer Spezies: der langen Abhängigkeitsperiode von Kindern. Die meisten Säugetiere können wenige Stunden nach der Geburt gehen und pflanzen sich nach einem Jahr fort. Bei Menschen ist das anders. Wir sind während unserer ersten Lebensjahre ziemlich hilflos und verletzlich – vollkommen selbstständig und fortpflanzungsfähig werden wir erst als Teenager. Aber nicht nur die Eltern sorgen dafür, dass Kinder heranwachsen und am Ende ihre Gene weitergeben können: Wie sich in Studien gezeigt hat, trägt auch die Gegenwart der Großeltern – und insbesondere der Großmütter mütterlicherseits – dazu bei, die Säuglings- und Kindersterblichkeit zu senken. In einem Hirschrudel bessern sich die Überlebensaussichten der jüngeren Tiere, wenn ältere, nicht mehr fortpflanzungsfähige Weibchen zugegen sind, weil diese wissen, wo man auch in Zeiten der Knappheit Futter oder Wasser findet. Genauso bietet auch eine menschliche Großmutter Fürsorge, Wissen und andere wertvolle Formen der Unterstützung.21
Dass wir Großmütter haben, die bis weit über das fortpflanzungsfähige Alter hinaus am Leben sind, ist eine Folge der darwinistischen Selektion: Ihretwegen konnten alle besser überleben. Durch den Großmuttereffekt waren unsere Vorfahren in generationenübergreifenden Familiengruppen eingebunden, und die halfen ihnen bei der Entwicklung eines Zeithorizonts – und eines Ethos der Fürsorge und Verantwortung –, der bis zu fünf Generationen umfasste, zwei in die Zukunft und zwei in die Vergangenheit, und die eigene Generation dazwischen.22
Verstärkt und ausgeweitet wurde der Großmuttereffekt durch einen dritten Faktor: unser tief verwurzelter instinktiver Drang zu sozialer Kooperation. Seit mindestens drei Jahrhunderten – seit den Schriften von John Locke oder Thomas Hobbes – wurde uns gesagt, Menschen seien von Natur aus eine egoistische, individualistische Spezies.23