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Wirtschaftsspionin Eliza Roth-Schild hat sich nach New York abgesetzt – und ihr treuer Chauffeur, der Taxifahrer und Hobby-Detektiv Herr Wälti, ist geknickt. Doch dann kommt er zufällig an einen eher skurrilen Fall: Im Nobelhotel Castello Cavallo stiehlt jemand große Mengen Toilettenpapier, aber nicht irgendein beliebiges, sondern das luxuriöse mit Goldrand.Wälti soll den Dieb finden. Als Taxifahrer ist er schließlich Beichtvater, Lebensberater und Seelentröster in einem, schweigsam und diskret. Hilfe bekommt er bei diesem lächerlich scheinenden Latrinen-Auftrag von der neuen Mitarbeiterin in der Taxizentrale. Evita Mosimann ist jung, schräg, frech, hat ein Händchen für Computer, eine mysteriöse Vergangenheit und einige rätselhafte Angewohnheiten. Wälti und Evita suchen den Dieb und kommen dabei einer Verschwörung auf die Spur, die den Verlauf der Weltgeschichte verändern könnte.
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Seitenzahl: 265
Veröffentlichungsjahr: 2025
Marcel Huwyler
Der erste Fall
Kriminalroman
Atlantis
Hatte der Häftling jetzt tatsächlich mit einer Kakerlake gesprochen?
Ihr wirklich eben … Hallo gesagt?
Und gefragt, ob sie hungrig sei und etwas von seiner Tagesration naschen möchte, vom Zuckerrohrstängel, der Reissuppe im Becher und dem Trockenmilchpulver aus der Tüte? Oh, er teile gern – schließlich seien sie ja Zellengenossen. Und wo sie denn eigentlich hause hier drin, in diesem zusammengeschusterten Gefängnis aus modrigen Palmholzbrettern, Tarnfleckplanen und Wellblechpolyester; in welcher Ritze sie sich verstecke? Und ob sie hier drin noch Verwandtschaft besitze? Kakerlakengeschwister, Kakerlakentanten oder Kakerlakenkusinen?
Und übrigens, eine Bitte. Da der Regenwald doch ihr Zuhause sei – ob sie ihm vielleicht ein paar Tricks verraten könne, wie man diese triefende Wildnis überlebte? Diese Brutkastenschwüle, all der ganze Schlamm, Matsch und Schmodder, das undurchdringbare Buschwerk und Untergehölz und diese immerwährende, grauenvolle Feuchtigkeit, die alles durchtränkte, die von Blutsaugern malträtierte und entzündete Haut aufquellen ließ und die Fußsohlen mit der berüchtigten Tropenfäule angriff.
»Sag schon, wie kommst du mit alldem klar? Wie überstehst du Tag für Tag diese grüne Hölle?«
Fragte der Häftling die Kakerlake.
Doch die antwortete nicht und floh stattdessen mit erstaunlicher Geschwindigkeit über die festgestampfte ziegelrote Erde, vorbei an der abgeschossenen Emailletasse mit der Reissuppe drin und einem gelben Plastikteller, der kleinen weißen krummen Kerze und einer Spiegelscherbe, in der der Häftling sich manchmal betrachtete und nicht glauben konnte, was er darin sah.
Als die Mitbewohnerin unter der stinkenden Schlafmatte verschwinden wollte, fing der Häftling sie mit der hohlen Hand ein und legte dann rasch die andere wie einen Deckel über das Gefängnis. Aus dem Schneidersitz rappelte er sich hoch auf die Knie und streckte die vereinten Fäuste über den Kopf. Als würde er Gebete zum Himmel schicken. Den Allmächtigen anflehen.
Lieber Gott, bitte mach, dass dieser Horror endlich aufhört. Mach, dass ich freikomme. Und meine Eltern auch. Bitte, lieber Gott, schick jemanden, der uns befreit. Einen Heiligen oder einen Engel – oder noch besser, die Polizei oder das Militär.
Der Häftling fror und schwitzte zugleich. Ihm war übel, der Kopf fühlte sich hölzern an, die Zunge flaumig, und im Bauch hatte sich ein Luftballon eingenistet, der jeden Tag ein wenig mehr aufgeblasen wurde. Schloss er die Augen, zuckten braune Blitze. Und vor ein paar Tagen hatte er feststellen müssen, dass einige seiner Schneidezähne wackelten.
Die Kakerlake in seinem Faustverließ drin tobte, schabte – und biss schließlich zu.
»Aua! Na, na, warum denn so wild? Ich tu dir doch nichts.« Zwischen zwei leicht gespreizten Fingern konnte der Häftling die Gefangene beobachten. »Jetzt bist du auch eingesperrt, auch eine Geisel. Nun sind wir beide genau gleich. Sag, stinkst du auch so wie ich?«
Die Riesenschabe hatte einen nussbraun gemusterten Körper, der abgeflacht war, eklig glänzte und sich steinhart anfühlte. Zwei Flügelpaare waren satt über den Hinterleib zurückgeklappt. Der schwarze Fleck auf dem Kopfschild glich einem Totenkopf.
Ob sie vielleicht den Comandante hier im Camp kenne, wurde die Kakerlake gefragt, den Chef der Kidnapper; sie selbst nannten sich Guerilleros und feierten sich dafür. Und ihre Geisel bezeichneten sie als »politischen Häftling«; das sollte wohl edler klingen, nach Kampf für eine wichtige und richtige Sache, weniger kriminell. Ernesto hieß der Anführer, ein untersetzter, leicht hinkender Typ mit dürrem Gitarrensaitenbart, Kaki-Operettenuniform, lächerlicher Che-Guevara-Mütze und einer Kalaschnikow, deren kaputtes Magazin er mit gelbem Klebeband gefixt hatte.
»Aber sag, wie heißt denn du eigentlich? Verrätst du mir deinen Namen?«
Und als von der Kakerlake keine Antwort kam: »Gut, wie du willst. Dann werde ich mir für dich jetzt einen Namen ausdenken. Einen richtig schönen, einen, der zu dir passt. Hm, lass mich mal überlegen … Gib mir noch etwas Zeit. Aber ich habe schon mal ein Begrüßungsgeschenk für dich. Hör zu!«
Und dann sang der Häftling seiner Freundin, seiner neuen Freundin, seiner einzigen Freundin hier … »La Cucaracha« vor.
Heute war Tag 31 der Geiselhaft – und der Häftling war wohl gerade wahnsinnig geworden.
Damit war Eliza Roth-Schild definitiv Geschichte. Sienahm die Mittagsmaschine nach New York – und weg war sie.
Irgendwann würden sie sich bestimmt wiedersehen, hatte sie Herrn Wälti versichert. Was als Trost gedacht war, ließ ihn trostlos zurück.
Er hatte darauf bestanden, sie zum Flughafen zu bringen.
»Zum Dank für alles, was ich mit Ihnen in den vergangenen Jahren erleben durfte«, hatte er gesagt und sich während der ganzen Autofahrt zusammengerissen, seine Gefühle vor ihr zu verbergen. Trotzdem brüchelte ihm immer mal wieder die Stimme, und seine Unterlippe zitterte. Und er hatte Knopfaugen bekommen.
Frau Roth-Schild zu Ehren hatte Wälti seine taubengraue Uniform angezogen, die Schiebermütze aus schwarzem Samt aufgesetzt und das Taxischild seines Aromat-goldenen Mercedes abgeschraubt, um ihr ein allerletztes Mal ganz und gar und exklusiv als Privatchauffeur zu Diensten zu stehen.
»Wie man hört, sollen in New York die Taxifahrer ja ganz fürchterlich sein. Rotzfreche Rüpel ohne Respekt und Umgangsformen, und nicht mal den Stadtplan im Kopf.«
»Tja, ein Täxeler Ihres Formates ist und bleibt halt unerreicht«, hatte Eliza geantwortet und im Rückspiegel gesehen, wie Wälti vergeblich versuchte, sich das Augenwasser zu verkneifen.
Selbstverständlich hatte er sie in die Abflughalle und zum Priority-Check-in begleitet, wo er ihr mit dem Berg an Gepäckstücken behilflich war. Während Eliza der uniformierten und überparfümierten Angestellten am Schalter Reisepass, Buchungsbestätigung und Senator-Karte vorlegte, kümmerte sich Herr Wälti um das Dutzend Trolleys, Handkoffer und Weekender. Er legte die edlen Stücke so flott und dennoch behutsam auf die Waage des Zubringerförderbandes, als würde er klammheimlich frisch geborene Mehrlinge an einer Klosterpforte oder Kinderklappe aussetzen. Es war ihm halt wichtig, dass die gepolsterten Griffe, das Sumpfbüffelleder und die goldfarbenen Monogrammlettern ERS nicht verschrammt wurden.
Als es schließlich so weit war, hatte Wälti ein hohles Kreuz gemacht und ihr zum Adieu die Hand hingestreckt – sie jedoch hatte ihn gepackt und leidenschaftlich umarmt.
»Frau Roth-Schild, ich …«
»Ich bin Eliza. Schenken wir uns zum Abschied doch das Du. Ja? Einverstanden, lieber …« Sie schaute ihn mit hochgerissenen Augenbrauen an, wie eine Stummfilmdiva.
Woraufhin er ihr einen etwas längeren, mehrsilbigen, artikulationsakrobatischen Namen ins Ohr raunte.
Sie schaute ihn geplättet an. »Oh, aha. Echt jetzt?«
»Ich kann’s nicht ändern.« Er senkte das Kinn auf die Brust. »Bei uns Wältis tragen die männlichen Erstgeboren seit Generationen diesen Vornamen.«
»Jänu«, sagte sie schnell. »Wir alle haben unser Bürdeli zu tragen.«
Dann ein letzter Drücker, ein finaler Seufzer, ein endgültiger Wehwink – und weg war sie. Wälti stand da, die gekreuzten Handflächen auf das Brustbein gepresst, als besänftige er das Herz dahinter, und schaute Eliza nach, wie sie zur Sicherheitsschleuse lief. Kurz bevor sie den Detektor passierte, blieb sie stehen, tippte sich an den Kopf, drehte sich um und kam nochmals zurück.
»Fast hätte ich es vergessen.« Sie zog einen mittelgroßen Briefumschlag aus ihrer Handtasche heraus und hielt ihm den entgegen.
»Aber, nein, Jesses, so etwas Schönes.« Wälti strahlte. »Jetzt werde ich noch ganz verlegen.« Mit pastoraler Mine nahm er beidhändig den Umschlag in Empfang. »Das wäre doch nun wirklich nicht nötig gewesen. Wie großzügig.«
Sie stutzte eine Sekunde und verzog dann das Gesicht, als schmerzten ihr die Füße in ihren kirschlackschwarzen Louboutins. »Oh, nein, nein, mein Lieber, das ist nicht … äh … kein … Sorry, Missverständnis.« Sie zeigte mit dem Zeigefinger auf den Brief.
Erst jetzt bemerkte Wälti die mit Tinte geschriebene Adresse auf dem Umschlag. Und die zwei Briefmarken. Ihm entgleisten sämtliche Gesichtsmuskeln, und seine Ohren glühten. Mit geknicktem Stolz und gesenktem Kopf suchte er am Boden nach einem Loch, in dem er versinken konnte.
»Der Brief soll auf die Post«, sagte Eliza. Sie hüstelte gekünstelt. »Hab vergessen, ihn einzuwerfen. Da sind Dokumente drin, die ich meinem letzten Auftraggeber zurücksenden muss. Wenn Sie, äh – meine Güte, das ist so neu und ungewohnt – also, wenn du die Güte hättest …«
»Jäso, verstehe.« Wälti schaute vom Boden wieder hoch und versuchte, die Peinlichkeit wegzublinzeln. »Erledige ich doch gern für Sie.« Und als er ihre gespitzten Lippen sah. »Für … dich, Exgüsi.«
Jetzt lächelten sich beide verlegen an. Sich gegenseitig zu duzen, fühlte sich für die beiden in etwa so trittsicher an wie ein frisch verliebtes Paar, das nach der ersten gemeinsamen Nacht mit den frühmorgendlichen Körperausdünstungen, Kaffeeritualen und Badezimmer-Geräuschen des andern zurechtzukommen versuchte.
Auf der Autobahn zurück in die Stadt geriet Herr Wälti in einen veritablen Verkehrsstau. Totaler Stillstand. Es ärgerte ihn, verschaffte ihm aber auch die Möglichkeit, seine Gedanken bedenkenlos über die Fahrbahn und die Leitplanken hinaus abschweifen zu lassen.
Er und Eliza. Sternefoifi …
Was hatten sie nicht alles erlebt und erlegt zusammen. Spioniert, recherchiert, kombiniert – ja, ja, richtige Detektive waren sie gewesen. Also er zumindest hatte sich wie einer gefühlt, dabei hatte alles ganz zufällig begonnen.
Eliza hatte regelmäßig beim zweitgrößten Taxiunternehmen der Stadt, Kaiser Reisen, einen Wagen bestellt und so deren Fahrer Herrn Wälti kennengelernt. Der Anfangsechziger war ihr damals sofort positiv aufgefallen. Er schien ihr dermaßen fahrtüchtig und lebenserfahren, dass sie ihn künftig immer mal wieder für ihre Einfraufirma Roth-Schild Business Research als Privatchauffeur buchte, wenn mehrtägige Aufträge mit weiten Strecken, langen Arbeitstagen und Hotelübernachtungen anstanden.
Wälti schmunzelte, wenn er an seine ersten Exklusivfahrten für Madame dachte. Er hatte damals sehr wohl bemerkt, wie sie ihn einschätzte – nämlich unterschätzte. Ein Taxifahrer halt, hatte sie wohl gedacht. Tat sein Lebtag lang nichts anderes als Fahrgäste von A nach B zu karriolen. Vermutlich zu beschränkt für Arbeiten, die noch ein C oder gar D erforderten. Darum bloß Andere-Leute-Herumkutschierer als Job – in Wältis Fall seit dreiundvierzig Jahren (so viel Persönliches hatte er ihr später in einer schwachen Minute verraten). Nicht gerade das, was man ein Berufsleben auf der Überholspur nannte. Ja, noch nicht einmal Hauptstraße. Eher Sackgasse. Barriere statt Karriere.
Doch dann hatten es die Umstände während seiner Chauffeurseinsätze immer mal wieder mit sich gebracht, dass er etwas mehr Informationen mitbekam als nur gerade ihr Fahrziel. Und er hatte sich so seine Gedanken gemacht über die seltsamen und geheimnisvollen Dinge. Tja, und dann hatte ihn die Roth-Schild bei einem ihrer Fälle eines Tages um seine Einschätzung gebeten. So war er unbeabsichtigt in diese Rolle als Hilfsermittler hineingerutscht, völlig unvorbereitet und ganz überraschend, wie bei einem plötzlichen Wintereinbruch mit Sommerreifen am Taxi. Aber ein Herr Wälti geriet nicht so schnell ins Schlingern.
Jetzt wartete er schon über zehn Minuten in der stehenden Kolonne. Wälti stellte das Radio an, wählte einen Lokalsender und hoffte auf eine Erklärung des für den Stau zuständigen Moderators nach den Nachrichten und dem Wetter.
Roth-Schild Business Research hatte bald registriert, dass dieser Täxeler ungeahnte Talente besaß. Sein immenses Allgemeinwissen selbst auf exotischsten Fachgebieten, die schnelle Auffassungsgabe und das Improvisationstalent hatte er die darauffolgenden Jahre für die Einzelfirma gewinnbringend einsetzen dürfen. Und so war Wälti Elizas fester freier (und einziger) Mitarbeiter geworden.
Vom Fahrer zum Gefährten.
»An Ihnen ist ja ein richtiger FBI-Profiler verloren gegangen«, hatte sie ihn einmal gelobneckt. Das war für Wälti das schönere Geschenk gewesen als ein vierzehntes Gehalt bei Kaiser Reisen.
Er drehte das Radio lauter, der Sprecher leierte gerade die Staumeldungen herunter. Wälti schloss die Augen und stöhnte leise. So etwas in der Art hatte er befürchtet: mehrere Auffahrunfälle im Moostann-Tunnel in Fahrtrichtung City, also exakt seine Route. Das hier konnte also dauern. Als der Sprecher verstummte, erklang seltsame Musik; Wälti stellte das Radio aus und die Klimaanlage einen Tick kühler – bei so viel schönen Erinnerungen wurde ihm gerade etwas wärmer ums Herz.
Gemeinsam hatten er und Eliza allerlei Aufträge erledigt, dabei mitunter auch Gauner zur Strecke gebracht, kleinere Lebensgefährlichkeiten überstanden, und einmal waren sie beide sogar für kurze Zeit im Gefängnis gelandet. Natürlich waren nicht alle Missionen einem hochmoralischen Drehbuch gefolgt; manche Research-Jobs in der Wirtschaftswelt, das hatte Eliza ihm beigebracht, mussten halt nun mal getan werden, und ein schönes Honorar half allemal über Gewissensbisse und die Durchschreitung von Grauzonen hinweg. Und trotzdem waren sie beide immer bemüht gewesen, das Rechte oder zumindest das Richtige zu tun. Bestenfalls sogar das Gerechte.
Ja, ja, Sternefoifi, richtige Abenteuer waren das manchmal gewesen. Mitunter knackige Action. Wie im Film oder in den Jerry-Cotton-Kioskheftchen, die er bei Wartezeiten am Taxistand beim Hauptbahnhof las. Oder wie während seiner Weekend-Nachtschichten in den Suff-Kiff-Siff-Vierteln der City.
Das Detektivspielen hatte ihm riesigen Spaß bereitet. Das Herumreisen und Logieren in den schönen Hotels auch. Ein echt toughes Schnüfflerteam hatten er und Eliza abgegeben.
Damit war es jetzt vorbei.
Am meisten würde er seine Undercover-Einsätze vermissen. Hach, was hatte er sich gern verkleidet, dazu Gesten einstudiert und Dialekte imitiert, um Zielpersonen zu täuschen und so an die gewünschten Informationen heranzukommen. Eliza Roth-Schild hatte ihn einmal im Spaß – und nachdem sie etwas zu oft und heftig ins Roséglas geguckt hatte – als »Rampensau« betitelt. Hatte er als großes Kompliment hingenommen.
Sein Bühnentalent würde er jetzt nur noch als Mitglied der Quartier-Laientheatergruppe »Shakes-Bier« ausleben können, deren Ensemble er seit zwei Jahrzehnten angehörte. Oder wenn er daheim seine Anni ein wenig anflunkerte, er müsse Überstunden machen, nur weil er nach Feierabend in Ruhe sein Bierchen auswärts trinken wollte.
Die Autokolonne bewegte sich noch immer keinen Millimeter vorwärts. Die Erinnerungen an Eliza, dazu die Stille im Wagen, deprimierten Wälti. Er drehte das Radio wieder an, wählte jetzt aber den CD-Modus und angelte blind aus dem Handschuhfach eine Disc, die er nur hörte, wenn er allein war. Vor Kundschaft wäre ihm diese Musik peinlich gewesen.
Die schönsten Soundtracks aus Westernfilmen.
Diese Präriemusik ging ihm sehr nahe, verspürte er doch beim Anhören eine gewisse Wesensverwandtschaft mit den Indianern und Westmännern. Im Grunde war er doch auch einer von ihnen – ein moderner Postkutscher. Wildwältiwest.
Seine gegenwärtige Stimmung – abschiedstrübselig – verlangte nach dem dritten Stück auf der CD, der Winnetou-Melodie.
Herrgott, was hatte er als Junge diese Karl-May-Filme geliebt. Und deren Musik. Diese zuckerfädigen Streicher-Mundharmonika-Sehnsuchtshymnen aus den Sechzigern. Als die Amis auf dem Mond, die Taxis unklimatisiert und handgeschaltet und Wälti ein pummeliger, bleicher Junge gewesen war. Die Hose kurz, die Sommer lang, die Zukunft chancenreich.
Er machte ein gequältes Gesicht. Erst kürzlich hatte er gelesen, dass manche Fernsehsender die Winnetou-Filme nicht mehr zeigen wollten. Weil: Verharmlosung der Kolonialzeit, falsche Darstellung der Ureinwohner und so weiter. Kam bei ihm an, als würde man nachträglich seine Kindheit verbieten. Er fühlte sich wie im falschen Film.
Auf dem Beifahrersitz lag Elizas Brief, den er noch zur Post bringen sollte. Meine Güte, war das vorhin peinlich gewesen. Er hatte doch tatsächlich geglaubt, sie würde ihm zum Abschied einen Bonus … Hätte ja durchaus sein können. Obwohl, Geld hatte bei der Spionagetätigkeit nie im Vordergrund gestanden. Es war der Spaß an der Freude gewesen, Agent Wälti sein zu dürfen.
Er legte den Kopf leicht schief wie ein Spatz, um die Adresse auf dem Briefumschlag lesen zu können. Herr Dr. Lorenz Weigel. Der Herr logierte offensichtlich derzeit in einem Stadthotel nahe dem See: Castello Cavallo / Suite 112.
Wälti kannte das Fünf-Sterne-Haus gut, es gehörte zu den drei Top-Hotels der Stadt, lag am Seeufer und direkt auf seinem Rückweg zur Taxizentrale. Da müsste er doch nicht eigens nach einem Briefkasten suchen. Wäre doch am unkompliziertesten, den Umschlag gleich selbst an der Hotelrezeption abzugeben.
In dem Moment flammten beim Wagen vor ihm die Hecklichter auf, und er rollte an. Aha. Wälti startete den Motor und schloss auf. Endlich ging es voran, der Stau schien sich aufzulösen, vorerst nur im Schritttempo, aber immerhin.
Jetzt befand sich Eliza bestimmt schon über Westfrankreich, bestenfalls bereits über dem Atlantik. Vielleicht las sie in einem Buch oder schaute einen Film. Ziemlich sicher mit einem Cüpli in der Hand. Ob sie sich wirklich auf Amerika freute? So ganz freiwillig hatte sie sich ja nicht dafür entschieden. Also eigentlich überhaupt nicht. Wälti seufzte abermals.
Die arme Frau … So ein unwürdiges Ende wünschte man niemandem. Plötzlich war alles brutal schnell gegangen. Und chaotisch. Samt Gewalt. Und Blut. Und einer Menge Tränen. Doch nie und nimmer hatte Eliza vorgehabt, ihren Lebensmittelpunkt ein für alle Mal nach New York zu verlegen, obschon ihr Liebster, Pierre Bovier, ein Wirtschaftsanwalt von hier, für mindestens ein Jahr dort drüben arbeitete. Sie hatte zwar geplant gehabt, ihn diesen Herbst für zwei Wochen zu besuchen – aber bloß um Urlaub zu machen. Doch nicht … für immer?
War aber auch so was von unschön gelaufen, die Sache mit diesem »Onkel Rico«, dem Besitzer des Jagdschlösschens. Eliza wohnte seit bald drei Jahren dort zur Untermiete und bildete eine WG mit Fabio Caprez, dem Patensohn des Schlösslibesitzers. Fabio amtete als Schlosswart, war ein wenig in die doppelt so alte Eliza verschossen und ließ sie darum kostenlos auf dem Anwesen wohnen. Ja, er verschaffte ihr sogar einen repräsentativen Firmensitz: Sie hatte nämlich im Gelben Salon mit dem dänischen Gussofen ihr Büro einrichten und Klienten empfangen dürfen. Dies alles natürlich, ohne Onkel Rico um Erlaubnis zu fragen oder wenigstens zu informieren. War auch nicht nötig, der Alte lebte auf seiner Finca in Paraguay und hatte sich seit Jahren nicht mehr in der alten Heimat blicken lassen. Glaubte und sagte Fabio jedenfalls.
Bis dann eben besagter Rico urplötzlich aufgetaucht war. Letzte Woche. Blöd halt nur, dass Eliza ihn für einen Einbrecher gehalten und mit dem Nudelholz niedergeschlagen hatte.
Der Rest ließ sich schnell und schmerzhaft zusammenfassen. Rico wurde im Spital mit elf Stichen und resorbierbarem Faden an seiner Kopfplatzwunde genäht, Fabio von seinem Patenonkel dermaßen zusammengeschissen – und Untermieterin Eliza hochkant rausgeschmissen.
Das alles war gerade mal vier Tage her.
Eine völlig entgeisterte Eliza hatte die Ereignisse als »Wink des Schicksals« bezeichnet, etwas von »Karma« gefaselt, und »können mich alle mal« – und zu packen begonnen. Sie hatte von einer Minute auf die andere entschieden, ihre Firma und das Leben hier aufzugeben.
Der Stau löste sich endlich ganz auf. Wälti beschleunigte erst sanft, dann flott und wählte auf der Western-CD ein Stück, das ihm zum Vorwärtspreschen in Richtung City als passend erschien: der Soundtrack zu Die glorreichen Sieben.
In der riesigen Lobby des Castello Cavallo herrschteTag und Nacht ein wuseliges Gewimmel. Ein derart luxuriöses internationales Haus schlief nie und war – ganz dem Hotelnamen verpflichtet – unaufhörlich auf Trab. Und versprühte seine ganz eigene Aura: Repräsentativ wie der Buckingham Palast, wundertruckig wie Ikea, charmant wie ein Pariser Bistro, verheißungsvoll wie ein Kinderparadies und hektisch wie im Hauptbahnhof.
Herr Wälti war schon oft hier gewesen, und Kundschaft aus diesem Hotel bedeutete allemal ein mehr als nur anständiges Trinkgeld.
Normalerweise parkte er sein Taxi direkt neben der Eingangstreppe in der eigens dafür reservierten »Guest-Pick-up-Area«, doch diesmal versperrten ihm rot-weiße Markierkegel und Absperrgitter den Weg. Toni, der Doorman – er selbst bevorzugte den altehrwürdigen Titel »Pförtner« –, gab Wälti mit großen Augen und noch größeren Gesten zu verstehen, dass er ein paar Meter weiter unten in der Auffahrt zu parken habe.
Der Stöckli Toni und Wälti kannten sich gut. Sie waren Jahrgänger, Pfadfinderbrüder und hatten im gleichen Quartierschulhaus die Oberstufe besucht. Toni hatte böses Hüftgelenksrheuma, eine Tessiner Ehefrau und eine durchgeknallte Tochter, die Cordula hieß, mit einem katalanischen Insektenfotografen abgehauen war, aber kein Jahr später wieder vor der Tür des Elternhauses gestanden hatte. Reumütig. Einsichtig. Und mit Zwillingsmädchen.
Wälti ließ das Seitenfenster herunter und lehnte sich ein wenig heraus. »Säg emol, Toni … Was veranstaltet ihr denn hier für einen Zirkus?«
»Sali, Wälti. Tja, wir haben diese Woche mehrere Großveranstaltungen im Hause und dann auch noch alle gleichzeitig. Du glaubst nicht, was hier los ist.« Er rang die Hände so theatralisch in die Höhe, dass ihm beinahe sein weinroter Zylinder, den er zum Uniformfrack trug, vom Kopf rutschte.
»Viel zu tun also?«
»Kannst du laut sagen. Und als ob das nicht genug wäre, findet in den nächsten Tagen auch noch etwas angeblich furchtbar Wichtiges mit Politikern statt. So eine Konferenz.«
»Lokal oder national?«
»International.«
»Ohä.«
»Es wimmelt jetzt schon von fremdländischen Regierungsbeamten und Funktionären. Und dann diese Sicherheitsleute …« Er warf Wälti einen Brummblick zu. »Weißt schon, so Gorillas mit Körpern wie Kranzschwinger und ausrasierten Nacken. Stecken ihre Nase überall rein und stehen uns im Weg herum.«
»Klingt schwierig.«
»Obermühsam.«
Die beiden Männer nickten sich mit gespitzten Lippen und wissenden Mienen zu. Wie Weinkenner, die sich bei einem Tropfen völlig einig waren.
Wälti parkte dann wie befohlen ein paar Meter weiter unten in der Auffahrt, kam zu Fuß zurück zum Haupteingang und betrat eine andere Welt.
In der Hotellerie galt die Empfangshalle gemeinhin als Visitenkarte eines jeden First-Class-Hauses. Dementsprechend opulent und elegant war jene des Castello Cavallo ausgestattet. Marmorierte Säulen und Böden, viel Goldchrome, Teuertextil und Edelholz, an den Decken kaskadenartige Kronleuchter und ein Dutzend Sitzgruppen auf Orientteppichinseln. Über allem schwebte ein Frischschnittblumenduft.
Wälti in seiner taubengrauen Kluft fiel überhaupt nicht auf. Es schwirrten hier eine Menge, je nach Funktion verschieden uniformierte Bedienstete herum. Und wie Stöckli Toni angemerkt hatte, schien das Cavallo tatsächlich voll belegt zu sein: Das Haus vibrierte wie ein Bienenstock mit Wespenbefall.
Wälti genoss es, federnden Schrittes und klackenden Absatzes einmal quer durch die Lobby über den Marmor zu fredastairen.
Der Empfangsschalter bestand aus einem monumentalen Steinblock, war so lang wie eine halbe Kegelbahn und der Arbeitsplatz von zwei Dutzend Rezeptionisten. Wälti war jedes Mal aufs Neue fasziniert von dieser kosmopolitischen Atmosphäre – die ganze Welt vereint an einem Tresen aus poliertem Quarzit.
Nur schon in den ersten paar Sekunden, und allein beim Hinhören mit halbem Ohr, decodierte er sechs Fremdsprachen um sich herum sowie – sehr knifflig, aber er knackte den Code – einen Lötschentaler Dialekt aus dem Oberwallis. Es wurde ein- und ausgecheckt, gefragt, gebucht, gebeten, gedankt, Wünsche und Aufträge wurden geäußert und deren schnellstmögliche Erfüllung versprochen. Gediegene Geschäftigkeit, gravitätische Hektik …
»Grüezi im Castello Cavallo, chani hälfä?« Die junge Empfangsdame hatte eine Frisur wie ein Telefon aus den Siebzigerjahren und sprach ihn profifreundlich an. Auf Schweizerdeutsch. Ja, Sternefoifi, sah man ihm den Einheimischen denn derart gut an?
Etwas verschnupft überreichte ihr Wälti Elizas Briefumschlag – »ich habe das hier abzugeben« – und machte einen angedeuteten Bückling.
»Ah, für Dr. Weigel. Wir werden es ihm umgehend zukommen lassen.«
Wälti dankte, die Rezeptionistin auch.
Die Rezeptionistin lächelte, Wälti zurück.
Er wünschte ihr »einen schönen Tag«.
Sie ihm »es schöns Tägli« – und vermieste ihm damit eben diesen. Wälti hasste, solche Sprachverzwergungen. Dieser helvetische Niedlichkeitsterror, dieser Zwang zu Diminutiven! Käfeli, Reisli, Schätzli. All diese Wörtli. Ja, war er denn ein Kleinkind oder was? Seine Stimmung war hinüber. Bubizeugs das!
Eigentlich hätte er das Hotel jetzt wieder verlassen können, stattdessen – vielleicht, um sein Ärgerli verpuffen zu lassen – lief er zu einer der vielen Sitzgruppen in der Halle, wo er sich zwischen einem roten Samtsessel und einer Riesenvase mit pinken Freesien postierte. Sich hinzusetzen erlaubte er sich dann allerdings doch nicht, aber einfach rumstehen ging in Ordnung. Es hieß schließlich aus gutem Grund »Personalbestand«; wer diente, tat dies aufrecht und stehend und nicht im Sitzen.
Sein Ärgerli verflog schnell, das Lobbypanoramakino lenkte ihn ab. Kam ihm jedes Mal vor wie eine riesige Opera buffa, eine Menge Hauptdarsteller sowie die dazu passenden Kulissen, Kostüme und Komparsen.
Dann war da dieser Mann.
Er stand etwa zehn Meter von der Rezeption entfernt und bewegte den Kopf langsam hin und her, als scanne er den Betrieb. Er schien auf etwas oder jemanden zu warten.
Hinterher würde Wälti nicht erklären können, was es gewesen war, warum er ihm besonders aufgefallen war – zumal der Mann eben überhaupt nicht auffiel. Der Kerl war der Durchschnitt in Person, ein Schluck Hahnenwasser, ein Nichts. Nick Niemand aus Nadanix.
Er war weder besonders groß noch besonders klein, nicht dick, nicht dünn, er bewegte sich konturlos und besaß ein Allerweltsgesicht, das man nach einer Sekunde wieder vergessen hatte. Wälti schätzte ihn auf um die vierzig, er trug einen banalgrauen Anzug, simpelschwarze Businessschuhe, und der Gipfel seines Profanhaarschnitts war der stinklangweilige Scheitel. Die einzige minime Abweichung an seiner ereignislosen Erscheinung war der Weekender aus Wildleder, der neben ihm stand wie ein braves Hündchen bei Fuß.
Alles an dem Mann machte ihn praktisch zum Unsichtbaren – was er wohl auch beabsichtigte und eine Grundvoraussetzung war in seinem Beruf, wie Wälti schon bald merken solle.
Plötzlich kam Leben in den Kerl. Er ergriff seinen Weekender und schlenderte an das rechte Ende der Rezeption, wo der Check-out erledigt wurde. Ein älteres Ehepaar mit Chesterfield-Mänteln und einem respektablen Gepäckarsenal stand dort am Desk und schien eben bei den letzten Formalitäten. Während der Alte mit der Rezeptionistin sprach und eine ganz schwarze Kreditkarte zückte, stand seine Gattin etwas hinter ihm und behielt die zahlreichen Gepäckstücke beieinander wie eine Schafhirtin ihre Herde.
Nick Niemand aus Nadanix trat hinter das Ehepaar und blieb stehen, als warte er, bis er mit dem Check-out an der Reihe war.
In dem Moment drehte sich der Alte zu seiner Frau um und sagte etwas zu ihr, woraufhin sie ebenfalls ans Desk trat.
Wälti stellten sich die Nackenhaare auf. Er spürte instinktiv, dass hier gleich etwas passieren würde.
Im Rücken des Ehepaares trat Nick Niemand aus Nadanix vor die Kofferherde, senkte seinen Weekender exakt über dem schwarzledernen Schmuckkoffer von Madame ab – und verschlang diesen.
Wälti vergaß zu atmen. Himmel, der Kerl war ein Dieb! Einfach nur ein gemeiner, dreister Gepäckdieb – wenngleich im High-End-Gästebereich tätig. Sein Weekender musste am Boden über einen Klappmechanismus verfügen, mit dem sich andere Gepäckstücke aufpicken ließen. Wie der Hokuspokus-Fidibus-Verschwindibus-Trick eines Zauberers.
Der Dieb drehte sich um und lief davon in Richtung Ausgang. Er tat dies ohne Nervosität oder sichtliche Anspannung in Mimik oder Benehmen. Beinahe schon lässig. Ein Routinier.
Ein wahrer Profi, dachte Wälti. Aber er war auch einer.
Und so legte der ehemalige feste freie Mitarbeiter von Roth-Schild Business Research solo los.
Energischen Schrittes steuerte er auf den Dieb zu. Er würde den Kerl ansprechen, zur Rede stellen, mit der Tat konfrontieren – wenn nötig festhalten – und nach der Hotelsecurity rufen. Mitten im Lauf stutzte er. Das alles, sein Eingreifen … würde ziemlichen Radau verursachen. Hektik, Stress, laute Worte, Gezeter, womöglich gar Schreie. Im schlimmsten Fall käme es zu einer Rangelei. Und mit Sicherheit gäbe es verängstigte Gäste, verstörtes Personal, ein irritiertes Management – und das in so einem Nobelhaus. Unschön. Und noch viel schlimmer: So etwas spräche sich herum. Über ein Grandhotel, das seine Gäste nicht vor Kofferdieben und wüsten Verhaftungsszenen verschonen konnte, würde getratscht. Und es bekäme unweigerlich ein Imageproblem. Oh, nein, daran wollte Wälti dann beileibe nicht schuld sein. Schon klar, der Dieb musste dingfest gemacht werden. Aber diskret. Ohne Lärm und Aufsehen. Auf Wältiweise.
»Entschuldigen Sie, der Herr.«
Wälti trat auf den Dieb zu, der seinen Schritt verlangsamte, ohne allerdings stehen zu bleiben. Für einen kurzen Moment sah Wälti das Flackern in seinem Blick.
»Ich hoffe, Ihr Aufenthalt in unserem Haus hat Ihren Erwartungen entsprochen.« Wälti legte sich die Hand auf die Brust und verneigte sich.
»Äh, ja, danke.«
»Auf dass Sie uns bald wieder beehren.«
»Sicher, sicher, ja, klar. Wunderschönes Hotel.«
»Danke, das freut uns sehr. Das Lob unserer Gäste ist unser höchstes Gut, und deren Wohl liegt uns am Herzen.«
»Ja, schön, äh, hören Sie, ich hab’s eilig …« Der Dieb wollte weiter, doch Wälti stellte sich ihm jetzt in den Weg.
»Die Direktion erlaubt sich, Ihnen einen Limousinenservice zur Verfügung zu stellen. Kleine Aufmerksamkeit. Auf Kosten des Hauses selbstverständlich. Ich bin Ihr Fahrer.« Er lächelte ölig und legte den Kopf leicht schief.
Der Dieb starrte ihn mit einem derart versteinerten Qualblick an, wie jemand, der sich vor dem Badezimmerspiegel die Nasenhaare herauspinzettierte. Wälti konnte geradezu von seiner Stirn ablesen, wie es dahinter aussah: Verflucht, gerade noch hatte alles so schön geklappt, und jetzt vermieste ihm dieser kleine, kriecherische Chauffeur den Abgang. Wie reagieren? Den Uniform-Affen einfach abblitzen lassen? Davonlaufen? Aber dann hätte dieser Arschkriecher bestimmt lautstark interveniert und damit die Aufmerksamkeit der halben Lobby auf sich gezogen. Und Aufmerksamkeit war nun wirklich das Allerletzte, was man in seiner Branche wollte. Zudem spielte die Zeit gegen ihn. Jeden Moment konnte das alte Ehepaar den Verlust des Schmuckkoffers bemerken, und dann wäre hier der Teufel los.
»Gern, sehr gern. Wie aufmerksam vom Hotel. Dann bringen Sie mich doch bitte zum Hauptbahnhof.«
»Wie der Herr wünschen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, der Wagen steht in der Auffahrt. Bitte, nach Ihnen. Darf ich Ihre Tasche …«
Selbstverständlich bestand der Dieb darauf, sein Gepäck selbst zu tragen. Er hüstelte nervös, schielte immer wieder zur Check-out-Ecke und folgte dann diesem hartnäckigen Chauffeur durch die Drehtür ins Freie.
Seinen Weekender wollte er dann auch partout nicht in den Kofferraum legen, sondern nahm ihn mit in den Fond der Limousine. Nachdem der Dieb eingestiegen und Platz genommen hatte, drückte Wälti zwei Mal auf die Zentralverriegelungstaste der Fernbedienung.
Einmal drücken schloss den Wagen ganz normal ab. Zweimal drücken binnen drei Sekunden aktivierte das Doppelverriegelungssystem. Selbst von innen ließen sich nun weder Türen noch Fenster öffnen.
Dann rief Wälti nach seinem alten Schulkumpel und Doorman Stöckli Toni und bat ihn, den Securitychef des Hotels zu informieren.
Der Mann für die Sicherheit hier hieß Zweifel, wie dieKartoffelchips-Marke, wirkte allerdings nicht annähernd so knackig. Tiefe Augenringe, zerknitterte Sakkoärmel und der mit Aktenstapeln und flachgequetschten PET-Flaschen zugemüllte Schreibtisch seines Büros wiesen darauf hin, dass er momentan ziemlich viel um die Ohren hatte.
Er bot Wälti den Besuchersessel gegenüber an, eine Tasse Kaffee oder Tee »oder lieber etwas Kaltes?« sowie eine Belohnung für seine Heldentat.
»Die Polizei sagt, Sie hätten da einen ziemlich dicken Fisch erwischt.« Zweifel reichte Wälti das gewünschte Glas Mineralwasser und setzte sich ihm gegenüber mit einer Backe auf die Kante seines Schreibtischs. »Die haben den Kerl in ihrem System drin, mehrfach vorbestraft, dürfte für eine stattliche Anzahl ähnlicher, bislang ungeklärter Delikte verantwortlich sein. Gratuliere. Und nochmals danke. Auch für Ihre diskrete und lautlose … Fangmethode. Guter Mann, good job.« Er zog die beiden letzten Wörter zu einem einzigen, quarkigen »guudtschooob« zusammen, wie Amerikaner es tun. Oder Leute von hier, die aber unbedingt möchten, dass man merkt, dass sie für längere Zeit eben dort drüben gelebt haben.
»Gern geschehen.« Wälti nippte am Glas und ließ den Schluck im Mund verweilen, als handle es sich um Jahrgangschampagner. »Freut mich, wenn ich helfen konnte.«
Zweifel betrachtete ihn mit den cremigen Augen eines übernächtigten Mannes an. Wälti schätze ihn auf allerhöchstens Mitte dreißig und fand, er sei … wie nicht ganz im richtigen Film. Wohlverstanden, dieser Zweifel mochte in seinem Metier ziemlich gut sein und über die nötigen Ausbildungen und Qualifikationen verfügen, sonst wäre er nicht an diesem Platz. Aber irgendwie passte er für Wältis Dafürhalten nicht ins Gesamtkunstwerk des Castello Cavallo. Für so ein altehrwürdiges Hotel wirkte der Securitychef zu jung, zu unbewandert, zu jupidupig auch. Es hatte etwas mit fehlender steifer Würde zu tun, man vermisste die Grandezza an ihm, als zeigte sich die Mona Lisa in einem pinken Plastikrahmen, Londons Big Ben bimbamte einen DJ-Antoine-Remix oder Eliza Roth-Schild trüge ein bauchfreies Netz-Tanktop.
Kein Zweifel, dieser Zweifel verfügte über ein schnittiges und selbstsicheres Auftreten, und doch hatte er etwas Gehemmt-Geschraubtes an sich, so wie diese Mit-Hündli-an-der-Leine-Jogger.
Eliza hatte Wälti ja immer getriezt, weil er die Meinung vertrat, das Äußere eines Menschen ließe sich am präzisesten mit Tieren beschreiben. So, so, meint der Herr Bärchenwälti mit Dackelblick. Ihm war’s egal gewesen, er schwor auf die Methode. Anwesender Securitychef beispielsweise: Doggenschultern, Raubvogelgesicht (mit ersten Anzeichen von Krähenfüßen), Wurmlippen und einen Frosch im Hals, weil die Stimme übermüdet und darum belegt war. Vervollständigt wurde Zweifels Erscheinungsbild von einem dunkelbraunen Balkanbarbershopschopf sowie einer scharfkantig getrimmten Gesichtsbehaarung, wie sie sonst den Verkäufern in Handyshops vorbehalten war. Klarer Fall. Wälti ging jede Wette ein, dass der Securitychef früher bei der Polizei gewesen war.
Blieb die Frage, wie er sich diese Position im Castello ergattert hatte: Glück und Zufall oder Können und Ehrgeiz – oder Vitamin B?
Zweifel verschränkte die Arme und neigte sich gönnerhaft zu Wälti hinunter. »Das Haus würde sich gern erkenntlich zeigen und offeriert Ihnen als Dankeschön ein Wochenende in einer unserer Seeblick-Suiten samt Vollpension und Gourmetdinner. Selbstverständlich für zwei Personen, oder sind Sie …« Seine Handbewegung sollte wohl etwas Halbes oder Einzelnes erfragen.
»Meine Frau Anni wird begeistert sein«, bedankte sich Wälti.
Zweifel klatschte in die Hände. »Wunderbar, dann wäre das ja geklärt.« Dann übermannte ihn eine Gähnattacke, die er hinter dem Handrücken wegzudrücken versuchte. »Sorry for that, aber wir sind derzeit gerade alle ein wenig überarbeitet.«
»Ich habe es gehört: Soll ja ganz schön was los sein bei Ihnen diese Woche. Sogar eine internationale Konferenz mit Politikern steht an.«
»Sie wissen davon?«