Der Herzog und die Schöne - Constance Hall - E-Book
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Der Herzog und die Schöne E-Book

Constance Hall

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Beschreibung

Eine romantische Neuinterpretation von »Die Schöne und das Biest«: Das Romantik-Highlight »Der Herzog und die Schöne« von Constance Hall als eBook bei dotbooks. Das malerische Stillmore Castle im Jahre 1823. Seit Jahren liegt ein Schatten über dem Schloss der Herzöge von Salford. Edward Noble, der letzte Erbe, hat sich von der Welt zurückgezogen: Sein Gesicht ist von Narben gezeichnet, und er ist sicher, niemandem vertrauen zu können. Doch dann tritt Kelsey Vallarreal in sein Leben. Die schöne Malerin hat den Auftrag, ein altes Fresko vor dem Verfall zu retten … und noch eine Rechnung mit dem Herzog offen, den sie für das Unglück ihres Vaters verantwortlich macht. Wut und Abscheu, zarte Hoffnung und unterdrückte Leidenschaft: Zwischen Kelsey und Edward fliegen die Funken – aber kann es für zwei Menschen, die so unterschiedlich sind, wirklich eine Zukunft geben? Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Der Herzog und die Schöne« von der erfolgreichen Romantik-Autorin Constance Hall wurde von der »Romantic Times« als »Best First Historical Romance« nominiert und erhielt beim renommierten »Affaire-de-Coeur-Award« den Preis in der Kategorie »Best Regency«. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 576

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Über dieses Buch:

Das malerische Stillmore Castle im Jahre 1823. Seit Jahren liegt ein Schatten über dem Schloss der Herzöge von Salford. Edward Noble, der letzte Erbe, hat sich von der Welt zurückgezogen: Sein Gesicht ist von Narben gezeichnet, und er ist sicher, niemandem vertrauen zu können. Doch dann tritt Kelsey Vallarreal in sein Leben. Die schöne Malerin hat den Auftrag, ein altes Fresko vor dem Verfall zu retten … und noch eine Rechnung mit dem Herzog offen, den sie für das Unglück ihres Vaters verantwortlich macht. Wut und Abscheu, zarte Hoffnung und unterdrückte Leidenschaft: Zwischen Kelsey und Edward fliegen die Funken – aber kann es für zwei Menschen, die so unterschiedlich sind, wirklich eine Zukunft geben?

Über die Autorin:

Constance Hall lebt mit ihrer Familie in Richmond, Virginia. Sie hat bereits zahlreiche Romane unter ihrem eigenen Namen und unter Pseudonymen veröffentlicht; unter anderem schrieb sie erfolgreiche Filmromane. Ihre große Leidenschaft gilt aber dem Historischen Roman, und ganz besonders hat es ihr das 19. Jahrhundert angetan.

Bei dotbooks veröffentlichte Constance Hall bereits ihre historischen Liebesromane »Das Verlangen des Marquis«, »Der Ritter und die stolze Lady« und »Das Geheimnis des Lords«.

***

eBook-Neuausgabe April 2019

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »My Darling Duke« bei Kensington, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Dunkle Nächte des Verlangens« im Bastei Lübbe Taschenbuch.

Copyright © der Originalausgabe 1998 by Connie Koslow. Published by Arrangement with Kensington Publishing, Corp., New York, NY 10018 USA

Copyright © für die deutschsprachige Erstausgabe 2003 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach.

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Miloje, Standa Rika, Drop of Light, Maria Kolyadina und adobe stock/VJ Dunraven

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-769-1

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Constance Hall

Der Herzog und die Schöne

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Britta Evert

dotbooks.

Für Norman, Daniel und David, die Lieben meines Lebens.

Kapitel 1

Jarrow, England, 1823

Kelsey Vallarreal pustete eine lange dunkle Haarsträhne, die sich aus dem Band in ihrem Nacken gelöst hatte, aus ihrem Gesicht. Sie biss sich auf die Lippen, als sie einen Kohlenkübel hoch wuchtete, und öffnete die Schlafzimmertür. Die Scharniere quietschten laut in den rostigen Angeln. Kelsey kümmerte sich nicht darum, ob das Geräusch ihren Vater störte, sondern ging direkt zum Kamin, wo sie ihre schwere Last mit einem kräftigen Scheppern abstellte.

Ihr Vater stöhnte.

Der Laut zauberte ein grimmiges Lächeln auf ihr Gesicht. Energisch schaufelte sie eine Ladung Kohlen aus dem Eimer und warf sie auf den Kaminrost. Das laute Klappern von Kohlestücken auf Metall rief ein weiteres Stöhnen hervor. Kelseys Lächeln vertiefte sich. Sie wischte sich die Hände an der Vorderseite ihres alten, farbverschmierten Kittels ab, richtete sich auf und ging zum Fenster, um die verschlissenen Vorhänge mit einem Ruck zurückzuziehen.

Das Sonnenlicht traf Maurice Vallarreal mitten ins Gesicht, und die dünnen Fältchen um seine Augenwinkel vertieften sich, als er gequält das Gesicht verzog. Er schirmte seine Augen mit einer Hand ab und stöhnte: »Geh weg!«

»Zeit zum Aufstehen, Papa. Es ist beinahe Mittag, und du hast eine Sitzung.« Kelsey langte nach der leeren Rumflasche, die neben ihrem Vater lag, und stellte sie auf den Nachttisch.

Er zuckte zusammen und hielt sich die Schläfen. »Oh, ma chère, ich kann nicht! Ich sterbe!« Er rollte sich auf die Seite und vergrub seinen Kopf in den Kissen.

»Mrs. Watson wird jeden Moment hier sein.« Kelsey konnte die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Ich habe deine Palette angemischt und alles im Atelier vorbereitet.«

»Mon Dieu! Die Frau hat ein Gesicht wie eine Krähe! Diesen Anblick ertrage ich so früh am Morgen nicht. Sag ihr, ich wäre tot.«

»Ich werde nichts dergleichen tun.« Kelsey verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn, als wäre er ein trotziges Kleinkind, aber ihr strenger Blick blieb ohne Wirkung.

»Beende du das Porträt, ma chère. Du malst genauso gut wie ich –vielleicht sogar besser.«

»Das meiste davon habe ich ohnehin gemacht, aber sie ist nicht hergekommen, um sich von deiner Assistentin malen zu lassen, und das weißt du ganz genau, Papa. Sie will dich. Du bist der berühmte französische Maler Vallarreal, nicht ich. Alles, was du zu tun hast, ist, ein paar letzte Striche auf die Leinwand zu tupfen und deinen Namen darunter zu setzen.«

»Sag ihr, dass ein Künstler nur arbeiten kann, wenn seine Kreativität in vollen Strömen fließt. Sag ihr, dass meine Ströme versiegen, wenn ich sie anschaue. Sag ihr ...«

»Bei dir fließt etwas ganz anderes in Strömen – leider. Los, steh schon auf.« Kelsey zog ihrem Vater das Kissen vom Kopf und gab ihm einen leichten Klaps auf den Rücken, dann sicherheitshalber noch einen.

Als er sich nicht rührte, versuchte sie es mit einer anderen Strategie. »Das waren unsere letzten Kohlen, Papa. Und unsere Speisekammer ist bis auf ein paar Steckrüben und zwei Eier leer. Wir brauchen ein neues Dach. Und wenn du jetzt nicht aufstehst und dieses Bild zu Ende malst, verhungern wir, und du« – sie pikte ihn mit dem Zeigefinger in die Rippen und hatte die Genugtuung, ihn in die Höhe schießen zu sehen – »hast kein Geld mehr für deinen Rum, denn im Schrank steht keine einzige Flasche mehr. Du wirst außerdem auf deine« – Kelsey verschluckte das Wort Dirnen, das ihr auf der Zunge lag, und benutzte statt dessen den Ausdruck ihres Vaters für derartige weibliche Wesen – »Damenbekanntschaften verzichten müssen. Und du weißt, dass von dem monatlichen Zuschuss, den du von Onkel Bellamy bekommst, nichts mehr übrig ist. Du hast alles innerhalb einer Woche ausgegeben.«

Bei Erwähnung der Tatsache, dass er sich mit seinen Zerstreuungen würde einschränken müssen, hoben sich seine verschwollenen Lider, und ein Paar rotgeränderter Augen blinzelte sie an. Der jahrelange Missbrauch, den Maurice mit seinem Körper getrieben hatte, hatte sein Äußeres nicht beeinträchtigt. Für einen Mann von fünfzig sah er immer noch gut aus. Seine dichten, dunklen Locken waren leicht mit Grau gesprenkelt und seine markanten, gut geschnittenen Züge entlockten der Damenwelt immer noch ein Lächeln, sobald er einen Raum betrat, doch heute morgen würde er niemanden damit betören. Nein, er würde aufstehen!

»Starr mich nicht so an, ma chère. Es bringt mich zum Weinen. Ich weiß, wie geschlagen du mit mir bist.« Er machte ein zerknirschtes Gesicht.

»Oh, Papa, ich bin nicht böse auf dich.« Der herbe Ausdruck wich von ihrem Gesicht, und sie beugte sich vor, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Der säuerliche Geruch von Rum wehte ihr entgegen, und sie rümpfte leicht die Nase, bevor sie sich wieder aufrichtete und die Hände in die Hüften stemmte. »Ich will nur, dass du aufstehst. Bitte!«

»Es gibt keinen Grund aufzustehen.« Schließlich war immer noch er es, der die Entscheidungen traf. »Ich habe einen weit lukrativeren Auftrag.«

Kelsey, die ihn am Arm gepackt hatte, um ihn aus dem Bett zu ziehen, hielt inne. »Was sagst du da?«

»Ich sagte, ich hätte einen lukrativeren Auftrag ... in Höhe von dreitausend Pfund.« Er lächelte sie voller Stolz an, und das Strahlen, das sein Gesicht erhellte, ließ ihn zehn Jahre jünger wirken.

»Dreitausend Pfund?« Sie starrte ihn ungläubig aus schmalen Augen an.

»So ist es, ma chère. Der Herzog von Salford will ein Fresko in seinem Ballsaal restaurieren lassen.«

»Der Herzog von Salford!« Sie schrie den Namen so laut heraus, dass Maurice zusammenzuckte und sich den Kopf hielt.

»Ein bisschen mehr Rücksicht, wenn ich bitten darf. Mein armer Kopf ...«

»Wie konntest du nur, Papa!« Sie trat vom Bett zurück und drehte sich zum Fenster um, unfähig, den Anblick von Maurice länger zu ertragen.

Sie klammerte sich an das Fensterbrett. Ihre Hände zitterten leicht, so fest bohrten sich ihre Finger in den Holzrahmen. Schloss Stillmore, der prachtvolle Wohnsitz des Herzogs, erhob sich hinter dem Dorf auf dem Kamm eines Hügels. Der ursprüngliche Bergfried sowie die vier flankierenden Türme waren bei der Renovierung unangetastet geblieben, aber Burggraben, Zugbrücke und Wehrmauern waren seit langem verschwunden. Dadurch hätte das Äußere des Schlosses freundlicher wirken müssen, aber so war es nicht. Wie eine uneinnehmbare mittelalterliche Festung strahlte es weder Wärme noch Willkommen aus. Die krenelierten Zinnen wirkten wie gebleckte Zähne, die aus jedem Blickwinkel höhnisch auf die armen Dorfbewohner hinabzugrinsen schienen, heute mehr denn je.

Maurice starrte die zierliche Gestalt seiner Tochter an, die so ernst am Fenster stand. Er betrachtete sie lange und eingehend, als sähe er sie zum ersten Mal, und verspürte leichte Gewissensbisse. Ihre langen, dichten dunklen Locken waren im Nacken zusammengebunden und fielen in wilden Wogen über ihren Rücken. Falls sie ihr Haar heute morgen gekämmt hatte, war nichts davon zu bemerken. Die Tasche an ihrem farbverschmierten Kittel war an den Säumen eingerissen und hing lose hinunter. Sie trug ein Paar seiner alten Hosen, die sie sich angeeignet hatte. Eines seiner alten weißen Hemden, das zu einem trüben Gelb verblasst war, schlabberte um ihre Schenkel. Sie war schmächtig wie ein Junge, was das Rührende ihrer Erscheinung noch mehr unterstrich.

Wo waren die Jahre geblieben? Als Vater hatte er kläglich versagt. Tränen brannten in seinen Augen. Er blinzelte sie verstohlen weg und zwang sich dann, die Beine über die Bettkante zu schwingen. Das Zimmer schien sich zu drehen, als er sich bewegte.

»Davon können wir recht behaglich leben, oui.« Er versuchte, zuversichtlich zu klingen, während er aufstand und darauf wartete, dass der Raum aufhörte, hin und her zu schwanken. Dann ging er zu Kelsey, löste ihre kleinen Hände vom Fensterrahmen und nahm sie in seine. Ihr Kopf reichte ihm kaum bis zu den Schultern, und er musste sich vorbeugen, um in ihre großen grünen Augen zu schauen. Er strich mit dem Daumen über ihren Handrücken.

»Sei nicht böse, ma chère. Ich will doch dein Bestes.« Als sie den Mund öffnete, um zu protestieren, legte er einen Finger an ihre Lippen. »Schau dir deine Hände an, ganz rot und rissig von der Hausarbeit. Die Hände deiner Mutter haben genauso ausgesehen, und der Anblick hat mich krank gemacht. Ich würde meine Seele dem Teufel verkaufen, nur um deine Hände nicht so sehen zu müssen.«

Ihre dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen, und sie entriss ihm ihre Hände. »Wenn du einen Auftrag von Salford angenommen hast, Papa, dann hast du deine Seele tatsächlich dem Teufel verkauft.«

»Das ist mir gleich. Ich möchte dir eine neue Garderobe kaufen und dich so ausstatten, wie es dir zusteht. Ich will meine Tochter nicht in Lumpen herumlaufen sehen.« Er zeigte auf sie. »Sieh dich doch an. Du bist jetzt zwanzig, ein hübsches junges Mädchen ... eine zarte Frühlingsknospe, die darauf wartet, von einem ehrenhaften Mann gepflückt zu werden. Ich will, dass du aussiehst und dich kleidest wie die schöne Frau, die du bist.«

»Ich bin nicht schön, Papa. Griffin sagt, ich hätte eine Figur wie eine Regenrinne und Kalbsaugen.«

»Was versteht Griffin schon davon? Er ist wie ein Bruder für dich. Dich zur Frau zu bekommen, wäre für jeden Mann eine Ehre.«

Sie hob trotzig das Kinn. »Wenn ich mich schön anziehen muss, um die Aufmerksamkeit eines Mannes zu wecken, werde ich lieber eine alte Jungfer. Und ich würde freudig den Rest meines Lebens in Lumpen gehen, statt mit anzusehen, wie du dich erniedrigst und für Salford arbeitest.«

»Ich weiß, aber von unserem Stolz können wir nicht leben, ma chère, und dich auch nicht so versorgen, wie ich es mir wünsche.« Maurice sah tief in die großen grünen Augen seiner Tochter und streckte eine Hand aus, um sie auf ihre Schulter zu legen, aber sie wich ihm aus.

»Deine Absichten sind immer gut, aber wir wissen doch beide, dass du das Geld nur zum Trinken verschwenden wirst und für–«

Er hob eine Hand, und Kelsey verstummte. »Ich weiß, was du mir sagen willst – nichts, was du mir nicht schon oft gepredigt hättest. Ich kenne meine Fehler, ma chère, aber ich bin nun mal Franzose.« Er betonte das Wort Franzose, als wäre es eine Rechtfertigung für all seine Untugenden.

Er beobachtete ihr Profil. Wie er erwartet hatte, verzogen sich ihre Lippen verächtlich. Er ignorierte es, drehte sich zu seinem Waschtisch um und goss etwas Wasser aus dem Krug in. die Waschschüssel. Dann spülte er sein Gesicht ab und tastete nach einem Handtuch. Kelsey beeilte sich, es ihm zu reichen, und er lächelte in sich hinein.

Als er sein Gesicht abgetrocknet hatte, legte er einen Arm um ihre Schulter und betrachtete stirnrunzelnd sein Spiegelbild. Er klopfte auf das schlaffe Fleisch unter seinem kantigen Kinn und schnitt eine Grimasse. »Ach ja, zehn Jahre können furchtbare Dinge mit einem Gesicht anrichten, oui ... und sehr viel aus unserer Erinnerung streichen.«

»Salford ist verantwortlich für Clarice' Tod. Kannst du das so leicht vergessen?«

Er antwortete Kelseys Spiegelbild. »Ich werde es nie vergessen, aber es zehrt an einem Mann, Groll im Herzen zu tragen.« Seine nächsten Worte klangen wie eine Klage. »Irgendwie habe ich immer gespürt, dass Clarice' Leben tragisch enden würde. Sie war ganz anders als deine Mutter.«

»Warum hast du sie dann geheiratet, Papa? Warum hast du sie mehr geliebt als Mama? Das verstehe ich nicht.«

Kelseys unverblümte Frage überraschte ihn nicht. Er hatte sie zu einem offenen Menschen erzogen. Zu einem Freigeist. Er wusste nie, was als Nächstes aus ihrem Mund kommen würde, aber dieses delikate Thema hatten sie noch nie berührt. Er wählte seine Worte sorgfältig, um sie nicht zu verletzen. »Deine Mutter war schön, anmutig ... eine echte Dame. Auf meine Weise habe ich sie geliebt.« Er lächelte traurig, schluckte die Trockenheit in seiner Kehle hinunter und fuhr versonnen fort: »Es war eine angenehme und bequeme Liebe. Deine Mutter zu lieben, war, wie in ein Paar alte Hausschuhe zu schlüpfen. Ich konnte immer davon ausgehen, sie dort vorzufinden, wo ich sie gelassen hatte ... bis sie starb.«

Er schwieg einen Moment. Dann schüttelte er seine Anwandlung von Trauer und Wehmut ab, und seine Augen funkelten, als er an seine zweite Frau dachte. »Dann traf ich Clarice. Sie war wild und ungezähmt. Für mich war sie Himmel und Hölle zugleich. Sie liebte mit einer solchen Inbrunst der Seele. Und ich wusste, dass ich von diesem Feuer verzehrt wurde, aber ...« Seine Stimme wurde weich vor Bewegung. »Gott steh mir bei, ich werde es nie bereuen. Ich hoffe, du wirst diese Art Feuer auch kennen lernen, wenn du dich eines Tages verliebst und heiratest.«

Kelsey schwieg eine Weile und sah ihn im Spiegel aus ihren ausdrucksvollen großen Augen unverwandt an. Falls er sie verletzt hatte, war es den klaren grünen Tiefen ihrer Augen nicht anzumerken. Er war dankbar, dass sie ihn verstanden hatte. Vielleicht verstand sie zu viel. Er runzelte die Stirn, als ihn dieser Gedanke streifte.

»Du magst vielleicht imstande sein, ihm zu verzeihen, ich kann es nicht.« Ihre Worte enthielten keine Anklage, sondern wurden in ihrer üblichen direkten Art ausgesprochen.

Er schob eine unordentliche Locke zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war, und sah wieder in ihre langbewimperten grünen Augen. »Wenn ich ihm vergeben kann, ma chère, kannst du es auch.«

Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber das Geräusch einer heranrollenden Kutsche lenkte ihren Blick zum Fenster. »Oh, Mrs. Wilson kommt!«

»Begleite die Krähe« – er sah Kelseys Stirnrunzeln und verbesserte sich – »die Dame ins Atelier und setze sie in Position. Ich bin gleich da.«

Sie eilte zur Tür, blieb aber mit der Hand auf der Klinke stehen. »Nimm den Auftrag nicht an, Papa. Du magst ihm verziehen haben, aber ich bin sicher, dass einem Mann wie ihm nicht das Geringste daran liegt. Ich bezweifle, dass er überhaupt ein Gewissen hat. Vermutlich hat er irgendeinen abartigen Grund, dich zu engagieren – vielleicht um dir ins Gesicht zu lachen.« Als sie seine niedergeschlagene Miene sah, fügte sie hinzu: »Es tut mir Leid, Papa. Ich hatte kein Recht, das zu sagen, aber ich kann die Vorstellung, dass du für ihn arbeitest, nicht ertragen.« Sie öffnete die Tür und wollte sie gerade wieder schließen, als die Stimme ihres Vaters sie zurückhielt.

»Er hat nicht nach mir verlangt, sondern nach dir.«

»Wie bitte?« Kelsey blieb der Mund offen stehen und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.

»Offenbar wollte er uns beiden die Peinlichkeit einer Begegnung ersparen. Er hat darum gebeten, dass du sein Fresko überarbeitest. Sein Wagen wird dich morgen früh abholen kommen.«

»Ich muss schon sagen, dreitausend Pfund sind ein geringer Preis für deine Verzeihung –« Sie wollte noch mehr sagen, aber in diesem Moment klopfte es an die Tür. Sie warf ihrem Vater einen so verächtlichen Blick zu, dass er einen Schritt zurückwich und an den Waschtisch stieß. Er zuckte zusammen, als sie ihm die Tür vor der Nase zuknallte.

Ein breites Lächeln trat auf sein Gesicht. Er kannte seine Tochter. Niemals würde sie eine solche Summe ausschlagen, wenn sie so dringend Geld brauchten. Sie würde zum Herzog gehen.

Am nächsten Morgen stieß der Butler auf Stillmore die schwere Mahagonitür, die in ihren eisernen Scharnieren quietschte, zu. Die Tür fiel ins Schloss und ließ einen kalten Luftzug an Kelseys Gesicht vorbeiwehen. Der modrige Geruch alter Steinmauern stieg ihr in die Nase, und nicht ein Strahl der hellen Vormittagssonne drang in die dunklen Tiefen der großen Eingangshalle. Als sie sich umsah, hatte sie das Gefühl, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, verschluckt von der mittelalterlichen Atmosphäre, die das Schloss beherrschte.

Das einzige Licht kam von der Kerze, die der Butler hielt. Es brach sich in den Breitschwertern, Lanzen und Streitäxten, die an den düsteren Mauern hingen. Zwölf Ritterrüstungen, deren schimmernde Silberteile mit den undurchdringlichen Schatten des Raums verschmolzen, hielten zu beiden Seiten der Halle Wacht. Sie sahen aus, als könnten sie jeden Moment zum Leben erwachen, eine der Waffen von den Wänden reißen und das Schloss gegen Eindringlinge der Gegenwart verteidigen. Kelsey fühlte sich wie ein Eindringling.

Der Butler räusperte sich.

Solchermaßen erinnert, dass sie nicht allein war, drehte sie sich zu ihm um. Er war groß und hager und sein Kopf war fast völlig kahl. Sein Mund war so verkniffen, als hätte er in eine Zitrone gebissen, und sein Gesichtsausdruck wurde noch missbilligender, als er Kelseys Hosen und ihren Malerkittel beäugte.

Ihr Vater hatte sie gebeten, eines der beiden Kleider anzuziehen, die sie besaß, und die verwaschen und zerschlissen und reif für den Lumpensammler und ihrer Meinung nach nicht präsentabler als ihre Arbeitskleidung waren, aber ihre rebellische Natur hatte sich durchgesetzt. Sie trug das, was sie wollte. Warum sollte sie ein Kleid anziehen oder ihr Aussehen verändern, um einem so verabscheuungswürdigen Menschen wie Salford zu gefallen? Das hatte sie auch ihrem Vater gesagt, und der schneidende Ton, in dem sie es sagte, hatte ihn veranlasst, eilends das Haus zu verlassen. Und auch von Salfords hochnäsigem Butler würde sie sich nicht einschüchtern lassen. Das zeigte sie ihm, indem sie ihn mit einem messerscharfen Lächeln und einem offenen Blick fixierte. Als ließe sich damit ihr Erscheinungsbild erklären, sagte sie: »Ich bin Miss Vallarreal. Lord Salford erwartet mich.«

Der Butler, der keine Miene verzogen hatte, erwiderte nichts. Abwesend starrte er auf ihren Mund, mit einem so leeren Gesichtsausdruck, als hätte er kein Wort von dem gehört, was sie gesagt hatte.

Jetzt rief sie, wobei sie jedes Wort einzeln betonte: »Ich-bin-Miss-Vallarreal! Die Malerin! Der-Herzog-erwartet-mich!«

»Kein Grund, so laut zu werden, Miss. Ich kann Sie klar und deutlich hören. Ich bin sicher, selbst die Toten in der Familiengruft haben Sie gehört.«

Kelsey lächelte über seine Bemerkung, um gleich darauf zu erröten, als ihr auffiel, wie schwer die Stille auf dem Inneren des Gebäudes lastete, so schwer, dass sie ihre eigenen Atemzüge hören konnte. Bestimmt hatte Salford ihr Gebrüll gehört.

»Tut mir Leid«, wisperte sie. »Ich dachte, Sie wären schwerhörig.«

»Ich habe lediglich Ihre Zähne bewundert«, erwiderte er in einem schwachen Flüsterton, der ihrem gleichkam. »Sie sind bemerkenswert weiß und gerade.«

»Mein Vater hat gute Zähne und meine Mutter hatte sie auch. Es scheint in der Familie zu liegen.« Sein säuerlicher Gesichtsausdruck kommt offenbar daher, dass er schlechte Zähne hat, dachte sie, nicht, weil er von Natur aus griesgrämig ist.

Die strengen Falten um seinen Mund entspannten sich ein wenig. »Sie sind glücklich zu schätzen, Miss.« Er nahm ihr den Koffer ab, der ihre Pinsel und Farben enthielt, und stellte ihn ab. »Seine Gnaden erwartet Sie.«

Kelsey folgte dem Butler. Ihre Schritte hallten an den Steinmauern der Halle wie Kanonenschüsse wider. Die klamme Düsterkeit und die drückende Stille ließen die Luft erstickend wirken. Kelsey atmete tief ein und rieb sich die Arme, um das unheimliche Gefühl zu verscheuchen.

Sie folgte dem Butler einen langen dunklen Gang hinunter. Die zahllosen Hirschgeweihe, die zu beiden Seiten an den Wänden hingen, ragten wie Klauen aus den Steinen. Kelsey hob stirnrunzelnd den Blick und beobachtete sie scharf, als könnte eines von ihnen nach ihr greifen und sie packen.

Ein Geräusch wie von Fingernägeln, die über Schiefer kratzen, ließ sie herumfahren. Das Ende des Gangs war in vollständige Dunkelheit getaucht. Das gruselige Geräusch kam aus einem der düsteren Schatten. Sie schluckte schwer und beschleunigte ihre Schritte, bis sie neben dem Butler ging.

»Haben Sie das gehört?«

»Nein, Miss.«

»Ich habe etwas gehört.«

»Auf Stillmore ist viel Ächzen und Knarren zu hören. Sie werden sich daran gewöhnen.«

Gewöhnen? Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte sie die unbewegte Miene des Butlers, außerstande, das Gefühl abzuschütteln, dass irgendjemand oder etwas hinter ihr war und sich an ihrer Furcht weidete. Kratz-quietsch. Schon wieder! Sie spähte zum Butler. Seltsamerweise verzog er keine Miene, zuckte nicht einmal mit der Wimper, also gab Kelsey vor, es ebenfalls nicht bemerkt zu haben, obwohl sie spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief. Sie rückte etwas näher an den Butler heran.

Die Tatsache, dass sie so dicht neben ihm war, dass ihr Arm beim Gehen seinen Ärmel streifte, schien ihn nicht zu stören – oder aber es war unter seiner Würde, es sich anmerken zu lassen.

»Stimmt es, was ich gehört habe, dass der Fünfte Herzog seine Frau und ihren Liebhaber in ihrem eigenen Bett geköpft hat?«, fragte sie im Flüsterton und sah verstohlen hinter sich, als befürchtete sie, er könnte irgendwo in den Schatten lauern.

»Das war vor hundert Jahren, Miss. Über derartige Vorkommnisse ist mir nichts bekannt.«

»Na schön, und was ist mit dem Zweiten Herzog? Ich habe gehört, dass einige seiner Gäste nie mehr aus dem Schloss herausfanden und hier elend umkamen.«

»Ich fürchte, Sie geben zu viel auf den Dorfklatsch, Miss.«

»Denken Sie bitte nicht, ich würde solchen Unsinn glauben«, sagte Kelsey, wobei sie sich bemühte, rechtschaffen entrüstet zu klingen. »Ich habe einfach so viele Schauermärchen über Stillmore gehört, dass ich mich fragte, ob einige von ihnen auf Tatsachen basieren. Das ist der einzige Grund, warum ich gefragt habe.« Sie kam sich wie ein Dummkopf vor und schwor, sich nie wieder Griffins Geistergeschichten anzuhören. Das Geräusch, das sie hörte, musste ein Produkt ihrer Fantasie sein.

Der Butler sah sie an, blieb dann vor einer Tür stehen und öffnete sie. »Miss Vallarreal, Euer Gnaden«, verkündete er.

Kelsey wischte sich ihre feuchten Handflächen an ihrem Kittel ab und versuchte, das wilde Klopfen ihres Herzens zu beruhigen, bevor sie den Raum betrat ...

Die Tür fiel krachend hinter ihr ins Schloss.

Sie machte einen Satz, merkte aber sofort, dass der Butler die Tür keineswegs zugeknallt hatte; es hatte in diesem Ödland der Stille, die überall zu herrschen schien, nur so geklungen.

Sie sah sich in dem langen, beeindruckenden Raum um. Schmale Lichtstreifen fielen durch zwei kleine Fenster knapp unter der Decke, wo zwischen schweren Eichenbohlen feine Staubwölkchen tanzten. Jahrhunderte von Rauch und Ruß hatten die Balken schwarz gefärbt und ließen sie genauso versteinert erscheinen wie den Rest des Gebäudes. Die Fenster spendeten sehr wenig Licht für einen so großen Raum, aber es reichte aus, um zu erkennen, dass endlose Bücherreihen die Wände säumten. Die Leihbücherei in South Shields war nicht einmal ein Viertel so groß. Ein Teil des Dorfs hätte bequem in diesem einen Raum Platz gefunden.

»Stehen Sie nicht so herum, Miss Vallarreal. Sie können sich setzen.«

Sie zuckte beim Klang der tiefen, herrischen Stimme zusammen, die zu ihr herüberwehte und über jeden Nerv an ihrem Körper zu streichen schien. Sie drehte sich um und musterte den Raum von oben bis unten. Obwohl es Mitte Juni war, brannte ein Feuer im Kamin, dessen Flammen über einem Rost züngelten, der groß genug war, um ein Wildschwein darauf zu grillen. Der Raum, der genauso düster und beklemmend wie der Rest des Gebäudes wirkte, brauchte diese Wärmequelle.

Als sie über die Gänsehaut auf ihren Armen rieb, sah sie zwei Sessel vor dem Kamin stehen. Von einem der beiden Sessel streckte sich ein langes Beinpaar dem Feuer entgegen. Kleine Lichter tanzten auf den glänzenden schwarzen Stulpenstiefeln. Lange Arme ruhten auf den Lehnen des Sessels, und zwei große Hände hielten ein Buch. Das Gesicht wurde von der Lehne verdeckt. Kelsey konnte eine fast greifbare Gegenwart spüren, die so beherrschend war, dass der Raum auf einmal schrecklich klein erschien.

»Sie können näher treten«, sagte er mit gelangweilter Höflichkeit. »Ich beiße nicht, Miss Vallarreal.«

»Ich habe guten Grund, etwas anderes zu glauben.«

»Wenn Sie Angst vor mir haben, wundert es mich, dass Sie hier sind.«

»Ich habe keine Angst vor Ihnen. Mein Vater hat diesen Auftrag angenommen, ohne meinen Rat einzuholen«, sagte sie in ruhigem Tonfall, der in krassem Gegensatz zu dem Flattern in ihrem Magen stand.

Als er nichts erwiderte, ging sie zaghaft auf den Ohrensessel zu, der seinem gegenüberstand, aber seine Stimme hielt sie auf.

»Das ist weit genug. Sie können sich in den Sessel hinter mich setzen.«

Kelsey sah zu dem hartlehnigen Stuhl, der in einem diskreten Winkel hinter seinem stand, als wäre er absichtlich dort hingestellt worden. Sie fühlte sich wie ein unartiges Kind, das zur Strafe in der Ecke sitzen muss. Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust und schnitt der Sessellehne eine Grimasse.

Das Rascheln von Papier brach die Stille im Raum. Es klang wie ferner Donner. Kelseys Blick fiel auf die langen, schlanken Finger, die gerade eine Seite im Buch umblätterten. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her und sah zu, wie er weiterlas, als wäre sie überhaupt nicht vorhanden. Es war ein Fehler gewesen, zu kommen. Das wusste sie jetzt. Dreitausend Pfund waren keine ausreichende Entschädigung für eine derartige Demütigung. Sie stand auf, um zu gehen, aber wieder hielt seine Stimme sie zurück.

»Setzen Sie sich, Miss Vallarreal.«

Sie versteifte sich. »Erwarten Sie von mir, dass ich den Rest des Tages hier sitze und warte, bis Sie sich herablassen, mit mir zu sprechen? Ich habe Besseres zu tun, Euer Gnaden.«

»Setzen Sie sich.« Obwohl der Befehl mit leiser Stimme gegeben wurde, war die Drohung hinter den Worten nicht zu überhören.

Sie starrte die großen, starken Hände an, die immer noch das Buch umklammert hielten, und wusste, dass er ihr körperlich weit überlegen war. Sie setzte sich, ohne den Blick von ihm zu wenden, bereit, sofort die Flucht zu ergreifen, falls er auf sie losgehen sollte. Er rührte sich nicht und die Muskeln in seinen Schenkeln entspannten sich. Kelsey ließ den Atem heraus, den sie angehalten hatte.

»Da Sie einige Zeit hier bleiben werden, schlage ich vor, dass Sie Ihre unbedachte Zunge zügeln, Miss Vallarreal.«

»Tut mir Leid, dass meine offene Sprache Sie in Ihren Gefühlen verletzt«, sagte sie. Ihre nervöse Anspannung wich Zorn. »Es bleibt zu hoffen, dass unsere Begegnungen selten und von kurzer Dauer sein werden – wenn überhaupt.«

»Ich denke, das wäre für uns beide am angenehmsten.«

Seine langen Finger verharrten über dem Rand einer Seite.

»Ja, wäre es, und wenn wir schon frank und frei sprechen, sollten wir vielleicht gleich einiges klarstellen. Wenn die Summe, die Sie bieten, nicht so hoch wäre, wäre ich nicht hier – aber ich habe den Eindruck, das wissen Sie bereits. Es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten. Fresken zu restaurieren, ist nicht leicht. Falls die Schäden tiefgreifend sind, werde ich möglicherweise vorschlagen, das Fresko zu entfernen und ein neues malen zu lassen. Sollte ich feststellen, dass es mir widerstrebt, das vorhandene Werk nachzumalen, lege ich die Arbeit nieder und überlasse es Ihnen, einen anderen Maler zu finden. Ich kann nicht malen, was ich nicht nachvollziehen oder von vollem Herzen bejahen kann.«

»Sie glauben also, das vorhandene Werk könnte so unerfreulich und abartig sein, dass es abstoßend auf Sie wirken wird.«

Sie zog die Augenbrauen hoch, als ihr der zynische Unterton in seiner Stimme auffiel. »Menschen umgeben sich mit Kunstwerken, die ihr Inneres widerspiegeln. Ich bezweifle, dass Sie mich in dieser Hinsicht überraschen werden.«

»Ihre Meinung von mir muss in der Tat sehr gering sein.«

»Wie könnte es anders sein? Ihr Verhalten in der Vergangenheit und die Kränkung, die Sie meinem Vater zugefügt haben, indem Sie ihn praktisch nötigten, mich hierher zu schicken, ist Beweis genug für mich, um Ihren Charakter einschätzen zu können. Sie müssen gewusst haben, dass er die Summe, die Sie geboten haben, nicht ablehnen konnte.«

Als er keine Antwort gab, wurde die Atmosphäre im Raum so angespannt, dass man es förmlich mit den Fingern greifen konnte. Kelsey beschloss, das Thema zu wechseln. »Übrigens, woher wussten Sie, dass ich male?«

Er zögerte einen Moment, bevor er sagte: »Es ist kein Geheimnis, dass Ihr Vater ... sagen wir einmal ... nicht sehr verlässlich ist. Ich weiß, dass Sie seine Assistentin sind und einen Großteil seiner Arbeiten ausführen, ohne den Ruhm dafür in Anspruch zu nehmen, und dass Sie ihm den Haushalt führen. Ich weiß, dass Sie und Ihr Vater in sehr bescheidenen Verhältnissen leben und dass er behauptet, ein großer französischer Künstler zu sein, in Wahrheit aber in Frankreich nie besonders bekannt war. Tatsächlich wanderte er nach der Schlacht von Waterloo nach England aus, weil er die wenigen Klienten, die er hatte, verloren hatte und sich nicht mehr erhalten konnte. Unglücklicherweise hat der Adel auch hier sein Talent nie allzu sehr zu schätzen gewusst, so dass seine einzigen Klienten Neureiche sind, die ihr Vermögen im Handel gemacht haben. Mir ist außerdem bekannt, dass ihr Vater eine monatliche Unterstützung von einem entfernten Verwandten in Frankreich erhält, die er regelmäßig vergeudet.«

Woher wusste er von Onkel Bellamys Zuschuss? Alles Übrige war allgemein bekannt, bis auf die Tatsache, dass sie die Bilder für ihren Vater malte, und das mochte er erraten haben. »Sie wissen ja ungeheuer viel über mich«, sagte sie unfreundlich.

»Ich habe ein gewisses Interesse an Ihnen.«

»Und warum, wenn ich fragen darf? Könnte es vielleicht sein, dass Sie es bereuen, meinen Vater zum betrogenen Ehemann und zum Gespött der Dorfbewohner gemacht haben und für Clarice' Tod verantwortlich sind?« Kelsey wartete mit geballten Fäusten auf seine Antwort.

Er sagte nichts.

Sein Schweigen war wie ein Schlag ins Gesicht. Sie konnte es nicht länger ertragen. Unfähig, die Bitterkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken, sagte sie: »Ich kann Ihnen versichern, dass Clarice' Tod kein Verlust für mich war, denn sie war nicht unbedingt ein liebevoller Mensch« – sie brach ab und starrte die Rückenlehne seines Sessels finster an – »das heißt, wenigstens nicht mir gegenüber. Aber mein Vater hat sie geliebt. Die skandalösen Umstände ihres Todes haben ihn zugrunde gerichtet – Sie haben ihn zugrunde gerichtet. Und das werde ich Ihnen nie verzeihen. Verzichten Sie also bitte darauf, Interesse an mir zu haben. Ich brauche Ihr Mitleid nicht – falls Sie einer solchen Regung überhaupt fähig sind.«

Sie blinzelte die Tränen weg, die ihr aus den Augen zu kullern drohten, und setzte sich auf ihre Hände, um das starke Zittern in ihnen zu unterdrücken. Ihre Arme hingen steif an ihren Seiten herab, während sie sich bemühte, ihre Fassung wiederzugewinnen.

Er antwortete nicht sofort; offensichtlich musste er darum ringen, nicht die Beherrschung zu verlieren. Kelsey spähte zu ihm Er hatte sich nicht bewegt, und seine Arme und Beine waren so starr, dass sie aus Marmor hätten sein können. Ein durchschnittlicher Beobachter hätte die kaum sichtbare Anspannung der kleinen Muskeln in seinen Händen, die sich um das Buch krampften, vielleicht gar nicht bemerkt. Aber ihr fiel es auf. Und sie wusste, welche Willenskraft es ihn kosten musste, nach außen hin ruhig zu scheinen. Ein Abbild vollständiger Selbstbeherrschung. Ein wahrer Turm aus Eis und Stein. Als seine frostige Stimme das Schweigen brach, fuhr sie erschrocken zusammen.

»Sobald Sie das Fresko besichtigt und entschieden haben, ob Sie es überarbeiten werden, verlasse ich mich in dieser Angelegenheit ganz Ihrer Diskretion. Solange Sie sich hier aufhalten, müssen Sie sich an die geltenden Regeln dieses Hauses halten. Ich schätze mein zurückgezogenes Leben und will darin nicht gestört werden. In der Nähe des Ballsaals ist ein Zimmer für Sie vorbereitet worden. Dort werden Sie Ihre Mahlzeiten einnehmen und schlafen. Sie brauchen jenen Teil des Hauses nicht zu verlassen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich nicht von dort entfernen. Sollten Sie den Wunsch haben, im Garten spazieren zu gehen, können Sie das zwischen acht und zehn Uhr morgens tun. Besucher sind während Ihres Aufenthalts hier nicht gestattet, aber Sie können so viele Briefe schreiben, wie Sie wollen. Sie dürfen die Bibliothek benutzen, sie aber nur zwischen zwölf und zwei Uhr nachmittags betreten. Falls Sie Klavier spielen, können Sie das Instrument im Musiksalon benutzen, aber nur zwischen drei und vier Uhr nachmittags. Haben Sie sich diese Regeln gemerkt?«

»Allerdings.« Sie verdrehte die Augen und stand auf. »Ich nehme die Mahlzeiten in meinem Zimmer ein. Der Garten von acht bis zehn, die Bibliothek von zwölf bis zwei. Wenn ich musizieren möchte, darf ich von drei bis vier auf dem Klavier spielen. Kein Herumlungern. Kein Atmen.« Sie hatte es gesagt, um ihn zu ärgern, aber als sie sein ansteckendes, tiefes Lachen hörte, musste sie unwillkürlich grinsen.

Sie reckte den Kopf und starrte auf die langen, anmutigen Linien seiner Finger. Herrliche Exemplare. Zu ihrer Überraschung verspürte sie den Wunsch, sie zu zeichnen. Verärgert über sich selbst sagte sie: »Gibt es sonst noch Regeln, die ich beachten muss?«

»Ja. Ich werde von Zeit zu Zeit kommen, um Ihre Fortschritte zu begutachten, aber wenn ich das mache, verlassen Sie den Raum.« Frostige Reserviertheit hatte die Heiterkeit in seiner Stimme ersetzt. »Ich werde Sie durch Watkins rechtzeitig über meine Besuche in Kenntnis setzen lassen.«

Die Trauer und die Einsamkeit, die kaum merklich hinter der aristokratischen Fassade seiner Stimme lagen, brachten in Kelsey eine mitleidige Saite zum Klingen, von der sie nicht geglaubt hätte, dass sie existierte. Das Lächeln auf ihren Lippen verblasste und sie fragte leise: »Sagen Sie, stellen Sie diese Regeln auf, um meine Empfindsamkeit zu schonen oder Ihre Eitelkeit?«

»Darauf werde ich Ihnen nicht antworten.« Seine Stimme wurde ablehnend. »Solange Sie sich unter meinem Dach befinden, werden Sie meine Regeln einhalten und keine Fragen stellen. Ist das klar?«

»Absolut.« Kelsey wollte eigentlich nichts mehr sagen, konnte sich aber nicht verkneifen hinzuzufügen: »Lassen Sie sich bitte versichern, dass es, wenn das alles meinetwegen geschieht, nicht nötig ist. Mein Vater hat dafür gesorgt, dass ich in jeder Kunstform eine gründlich Ausbildung erhalten habe. Ich habe Dinge gesehen, die Dantes Inferno wie das Paradies erscheinen lassen würden. Die meisten empfindsamen jungen Damen wären auf der Stelle in Ohnmacht gefallen, wenn sie gesehen hätten, was ich gesehen habe. Ich kann aufrichtig behaupten, dass ich noch nie in meinem Leben ohnmächtig geworden bin – nicht einmal, als mein Vater entschied, dass ich die menschliche Anatomie von Grund auf kennen lernen müsse, und mich nach London schleppte, um einer Autopsie beizuwohnen.«

Kelsey runzelte bei der Erinnerung die Stirn und fuhr fort: »Ich habe meinen gesamten Mageninhalt auf sein Hemd entleert, aber ... ich bin nicht in Ohnmacht gefallen. Es ist allgemein bekannt, dass Sie verunstaltet wurden, als Clarice ums Leben kam. Ich bin überzeugt, dass das der Grund für all diese Vorschriften ist, aber Sie brauchen Ihr Äußeres nicht vor mir zu verbergen. Ihr Anblick wird meine Meinung über Sie nicht im Mindesten beeinflussen oder mir auch nur ein entsetztes Keuchen entlocken.«

Er klappte das Buch zu und zog seine langen Beine zurück. Kelsey glaubte, dass er aufstehen und sich zu ihr umdrehen würde, aber er sagte: »Sie können gehen. Watkins wird Sie auf Ihr Zimmer begleiten.«

Kelsey starrte stirnrunzelnd auf die Rückenlehne des Sessels, drehte sich um und ging zur Tür. Ob er wütend auf sie war oder sich über sie lustig machte, hätte sie nicht sagen können, aber ein Anflug von Gefühl schwang in seiner Stimme mit, eine Regung, die ihr bis jetzt nicht an ihm aufgefallen war. Sie war sich nicht sicher, ob ihr das oder das neu entdeckte Mitgefühl, das sie für ihn empfand, angenehm war. Vielleicht wäre sie jetzt zumindest imstande, höflich mit ihm zu reden, wenn sie gezwungenermaßen in einem Raum waren. Vielleicht.

Kapitel 2

Als Kelsey die Tür schloss, wartete Watkins schon auf sie. Er wirkte ein wenig verlegen, als hätte er an der Tür gelauscht.

»Zu Ihrem Zimmer geht es hier entlang, Miss.« Er drehte sich um und ging den Korridor hinunter, steif wie eine Drahtbürste. »Ich vermute, Sie sind über die Regeln im Bilde?«

Sie folgte ihm und antwortete in ihrer üblichen unbefangenen Art: »Da Ihr Gehör ausgezeichnet ist, müssten Sie wissen, dass man mich darauf hingewiesen hat.«

Ein wenig von der Sprödigkeit in Watkins Stimme schwand, als er sagte: »Wenn wir schon so offen miteinander reden, Miss ...«

»... hoffe ich, dass Sie das ›Miss‹ fallen lassen und mich Kelsey nennen.«

»Äh ... gern, Miss Kelsey.« Er sprach ihren Namen aus, als täte es ihm weh, dann fuhr er fort: »Erlauben Sie mir die Freiheit, Ihnen mitzuteilen, dass ich Seine Gnaden seit Jahren nicht mehr lachen gehört habe. Ich möchte Ihnen dafür danken.«

»Danken Sie mir nicht. Ich wollte ihn wütend machen, wie Sie sehr wohl wissen. Und ich bin sicher, Sie wissen, wie sehr ich ihn für all den Kummer, den er meinem Vater bereitet hat, verabscheue.«

»Vergeben ist besser als strafen; das eine zeugt von einem sanften, das andere von einem unbeherrschten Wesen.«

»Nicht zu fassen! Diesen Satz hat meine Mutter auch immer gepredigt – und dazu unzählige Zitate aus der Bibel. Epiktet und Salomon haben mich durch meine ganze Kindheit verfolgt, bis ich beschloss, dass ich genug hatte, und« – sie lächelte – »meine Mutter mich dabei ertappte, wie ich meine Bibel und eine Zitatensammlung von Epiktet vergrub.«

»Was tat sie daraufhin?« Leichte Belustigung schwang in seiner Stimme mit.

»Nicht viel, als mein Vater meiner Tat Beifall spendete. Das Ganze war bei uns zu Hause häufig Anlass für Streitigkeiten. Wissen Sie, mein Vater und meine Mutter waren sich immer uneins, was meine Erziehung anging. Er lehnte ihr puritanisches Denken ab und sie konnte nichts mit seiner Logik des Künstlers anfangen. Aber sie ließ sich nicht aufhalten. Nach dem Vorfall des Bücherbegrabens fing sie an, aus Popes Aufsätzen über die Moral und dem Buch der Psalmen zu zitieren.«

»Ihre Mutter muss eine sehr feine Dame gewesen sein.«

»O ja.« Ihre Stimme wurde ernst. »Der Vater meiner Mutter war der dritte Sohn Lord Brittlewoods und er entschied sich für die geistliche Laufbahn. Der Vater meiner Großmutter war ein Gutsherr. Ich habe meine Großeltern nie kennen gelernt. Sie hielten nichts von meinem Vater und enterbten meine Mutter, als sie mit ihm durchbrannte und ihn heiratete.«

»Oh ...« Er verstummte und verfiel in ein nachdenkliches Schweigen.

Watkins bog abrupt in einen anderen Korridor ein. Hier waren die Wände mit Holzvertäfelungen und Tapeten verkleidet, ein Hinweis darauf, dass sie zu einem der neueren Flügel von Stillmore gehörten. Kelsey rümpfte die Nase über die leuchtend gelbe Tapete mit tiefrotem Paisley-Muster. Es war grauenhaft, aber sie war froh, dass sie den Schatten und dem Ächzen und Stöhnen im älteren Teil des Schlosses entkommen waren.

Der Butler bog wieder ab, und sie betraten eine Gemäldegalerie. Betroffen von der Schönheit des Raums, verlangsamte Kelsey ihre Schritte. Helles Sonnenlicht fiel durch zehn hohe Fenster, die eine Seite des Zimmers säumten. Unter jedem der Fenster stand eine Sitzbank. Ein goldbrauner Teppich erstreckte sich über die gesamte Länge des weitläufigen Raums, dessen Farben zu den goldgelben Vorhängen vor den Fenstern und den Kissen auf den Bänken passten. An der gegenüberliegenden Wand hingen in kunstvoll geschnitzten, vergoldeten Rahmen Porträts der Vorfahren des Herzogs.

Langsam ging sie an den feierlichen, gepuderten Gesichtern von Salfords Familienmitgliedern vorbei, wobei ihr Bilder von Gainsborough, Rubens, Lely und Van Dyck auffielen. Da sie kaum je Gelegenheit hatte, so hervorragende Kunstwerke zu betrachten, blieb sie vor einem Gemälde von Sir Henry Raeburn stehen, ein Künstler, der an seinen satten Farben und weiten, kraftvollen Pinselstrichen leicht zu erkennen war.

Der Mann auf dem Bild stand unter einer Eiche und hielt die Zügel seines Pferds. Sein dunkelbraunes Haar war kurz geschnitten. Er hatte ebenmäßige, aristokratische Züge mit hohen Backenknochen, die seinem Aussehen etwas leicht Adlerhaftes verliehen. Das markante Kinn unterstrich die Arroganz, die seine gesamte Haltung prägte. Die angeborene Lebhaftigkeit und Verwegenheit, die in seinen tiefschwarzen Augen funkelten, waren von Raeburn mit meisterhaftem Scharfblick erkannt und aufs Bild gebannt worden.

Neben dem Gentleman hing das Porträt einer sehr schönen Frau im Abendkleid, ebenfalls ein Raeburn. Das Leid in den Augen der Frau zog Kelsey magisch an, und sie trat vor das Bild, um die hoch gewachsene, schöne Frau näher zu betrachten. Sie war sehr jung, vermutlich in Kelseys Alter, aber die Einsamkeit und Melancholie in ihren Augen, die Raeburn eingefangen hatte, ließen sie viel älter erscheinen. Goldene Locken umrahmten ihr Gesicht. Durch die leicht herabhängenden Schultern und das züchtig gesenkte Gesicht wirkte sie zurückhaltend und unnahbar und so, als verabscheute sie jeden Moment, den sie für den Maler Modell sitzen musste. Eine zukünftige Märtyrerin.

»Wie ich sehe, haben Sie die Porträts des Herrn und der verstorbenen Herzogin entdeckt«

Kelsey zuckte zusammen, als sie Watkins' Stimme so nah bei sich hörte. Sie legte eine Hand an ihren Hals und sagte: »Sie haben mich erschreckt.«

»Das tut mir Leid, Miss Kelsey.«

Seine ausdruckslose Stimme klang nicht im geringsten zerknirscht. Sie lächelte ihn an und musterte dann wieder das Porträt des schmalhüftigen, breitschultrigen Gentleman. »Das ist also Lord Salford?«

»Ja, kurz nachdem er den Titel geerbt hatte«, sagte Watkins mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme.

»Ich hätte ihn erkennen müssen.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn, als die Erinnerungen zurückkehrten. »Ich habe ihn früher oft mit halsbrecherischer Geschwindigkeit und einer hübschen jungen Dame an seiner Seite in seinem Wagen durchs Dorf jagen sehen. Aber das ist lange her ...« Bevor es zu dem Skandal kam, bevor sie ihn hasste.

Sie wandte rasch den Blick von Salfords Porträt ab und betrachtete seine Frau. Sie berührte den unteren Rand des vergoldeten Rahmens und strich mit der Fingerspitze über die glatte Kante. »Sie sieht sehr traurig aus«, bemerkte sie, um das Thema zu wechseln.

»Es wurde an ihrem Hochzeitstag gemalt.«

»Kein sehr freudiges Ereignis, wie mir scheint.« Als sie das Elend auf dem Gesicht der jungen Frau studierte, empfand sie tiefes Mitgefühl mit ihr. Gezwungen zu sein, Salford zu heiraten, musste schlimmer gewesen sein als lebenslängliche Haft im Tower von London.

»Es war eine arrangierte Ehe.«

»Ist das eine höfliche Art zu sagen, dass es keine Liebe zwischen Lord Salford und seiner Frau gab?« Sie drehte sich zu ihm um.

Er nickte. »Leider war es so.«

Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, dass Damen nicht mit den Dienstboten tratschten, aber da Kelsey sich nicht als Dame sah – Damen waren reiche, privilegierte, verwöhnte Wesen, nicht Töchter armer Künstler –, zögerte sie nicht zu fragen: »Hat sich die Herzogin nach dem Skandal tatsächlich umgebracht, Watkins?«

»Dazu kann ich nichts sagen, Miss Kelsey.« Watkins richtete sich kerzengerade auf und sagte nichts mehr. Offenbar war er Lord Salford zu treu ergeben, um seine Meinung zu äußern.

»Ihr Selbstmord muss dem Klatsch und Tratsch um Clarice' Tod neue Nahrung gegeben haben«, tastete sie sich weiter vor.

»Vermutlich, aber es steht mir nicht zu, über solche Dinge Überlegungen anzustellen.«

»Ach so.« Anscheinend wollte Watkins ihr damit zu verstehen geben, dass das Thema für ihn abgeschlossen war. Der Tod der Herzogin interessierte Kelsey nach wie vor, aber ihr war klar, dass Watkins keine weiteren Informationen preisgeben würde. Im Dorf war allgemein bekannt, dass Salfords Frau Selbstmord begangen hatte, aber niemand wusste Näheres darüber. Kelsey entschied, dass es möglicherweise ganz gut war, nicht mehr zu erfahren; manche Dinge blieben besser im Dunkeln.

Plötzlich stand das Bild von Salford und Clarice vor ihrem Auge, zwei Menschen, die sich hinter dem Kohlenschuppen in den Armen lagen. Sie glaubten, niemand könnte sie sehen, aber Kelseys Zimmer befand sich im Dachboden, und sie konnte die beiden von ihrem Fenster aus klar und deutlich erkennen. Clarice küsste ihn und rieb dabei ihre Hüften an ihm, mit wilden, animalischen Bewegungen ...

Kelsey kniff die Augen zusammen, um das unerwünschte Bild zu verscheuchen. Sie hatte die beiden nur dieses eine Mal gesehen, aber der Anblick hatte sie jahrelang bis in ihre tiefsten, dunkelsten Träume verfolgt. Immer war sie es, die in ihren Träumen von Salford geküsst wurde. Und wenn sie aufwachte, war sie schweißgebadet und zitterte von Kopf bis Fuß, erfüllt von einer schmerzlichen Leere, die schnell Verachtung für sich selbst wich, weil sie es zuließ, im Traum von einem Mann liebkost zu werden, den sie verabscheute. Watkins' Stimme holte sie in die Gegenwart zurück.

»Sie sehen blass aus. Ist Ihnen nicht wohl, Miss Kelsey?«

»Doch, es geht mir gut. Nur eine unerfreuliche Erinnerung«, sagte sie. Als sie ihre Hände aneinander rieb, spürte sie den Schweiß auf ihren Handflächen. Der Butler musterte sie besorgt, und sie fügte hinzu: »Wirklich, es ist vorbei. Mir geht es gut.«

»Wenn Sie mir dann bitte folgen würden.«

Kelsey schenkte der Frau auf dem Bild einen letzten mitfühlenden Blick und beeilte sich dann, Watkins einzuholen. Sie wanderten durch ein wahres Labyrinth von Fluren, bis er schließlich vor zwei großen Türen stehen blieb. »Das ist der Ballsaal.«

Der Butler beugte sich vor, um die Tür zu öffnen, aber ein Geräusch von drinnen ließ ihn innehalten. Die blaugeäderte Hand auf der Klinke, murmelte er: »Brutus.«

»Brutus?« Kelsey schob sich hinter Watkins' Rücken, in der festen Überzeugung, dass Brutus ein irischer Wolfshund sein musste, der alles verschlang, was ihm über den Weg lief – insbesondere Menschen.

»Sie brauchen keine Angst zu haben. Er wird nur unangenehm, wenn man versucht, ihn anzufassen.« Watkins stieß die Tür auf.

Kelsey spähte an seiner Schulter vorbei. Der größte rotgetigerte Kater, den sie je gesehen hatte, fauchte gerade einen Spaniel an und schlug mit der Pfote nach ihm. Der Hund duckte sich und knurrte und wich dann in eine Ecke zurück. Blut strömte aus den Kratzern auf seiner Schnauze.

»Brutus ist unser Haustyrann und Rattenfänger«, bemerkte Watkins beiläufig. Er ging zu dem Kater und wedelte mit seinen dünnen Armen. »Weg mit dir! Lass Trusty in Ruhe.«

Brutus fauchte Watkins an und huschte dann auf leisen Pfoten aus dem Raum. Sein Schwanz peitschte durch die Luft, und seine geschmeidigen Muskeln bewegten sich mit der arroganten Anmut eines königlichen Herrschers.

Der Hund, der seine Chance auf Entkommen sah, flitzte los und schoss dicht an Kelseys Beinen vorbei, als er aus dem Saal flüchtete.

Sie lachte und schob den Kopf vor, um zu beobachten, wie Trusty mit eingekniffenem Schwanz den Flur hinunter jagte. »Mir scheint, Brutus mag Hunde genauso wenig wie Ratten.«

»Wir haben keine Ratten. Ich bin sicher, es kommt der Tag, an dem ich aufwache und Trusty nicht mehr vorfinde.« Kelsey, die etwas überrascht über Watkins unerwarteten trockenen Humor war, lächelte. Seine Stimme wurde wieder ernst, als er weitersprach. »Brutus ist sehr ungesellig. Wenn Sie ihm begegnen, gehen Sie ihm lieber aus dem Weg.«

»Ich werde daran denken«, sagte sie und trat in den Ballsaal.

Er war gewaltig in seinen Ausmaßen und musste einmal prachtvoll ausgestattet gewesen sein, aber jetzt war der Saal leer, der Kronleuchter verhängt, die Atmosphäre trostlos. An den Wänden wirbelten und kreisten Paare in Kostümen des siebzehnten Jahrhunderts. Musiker, Diener und Tische mit Speisen füllten die leeren Stellen. Es waren nicht die anzüglichen Fresken, die sie in Salfords Ballsaal erwartet hatte. Die Harmlosigkeit des Themas überraschte sie. Nachdem sie gesehen hatte, wie er Clarice küsste, hatte sie sich detaillierte Liebesszenen von griechischen Göttern und Göttinnen vorgestellt, zwischen denen sich nackte Nymphen tummelten.

»Dort unten ist die Stelle, die Seine Gnaden von Ihnen ausbessern lassen will.« Watkins zeigte auf die Wand am unteren Ende des Raums.

Als sie über den Marmor gingen, hallten ihre Schritte in dem leeren Saal hohl wider. In der Nähe der Wand war ein Gerüst aufgestellt worden, vermutlich für Kelseys Arbeit.

Watkins blieb neben einem der metallenen Träger stehen, verschränkte die Hände auf dem Rücken und straffte die Schultern, bis sein Rücken genauso steif war wie der Stützbalken, neben dem er stand. Den Kopf in ihre Richtung geneigt, beobachtete er sie unverwandt, offenbar, weil er auf eine Reaktion wartete.

Kelsey warf ihm einen verstohlenen Blick zu, bevor sie sich unter die Metallstützen schob. Ein langer, tiefer Riss zog sich vom Boden bis zur Decke. Als sie mit dem Finger über die Innenseite des daumendicken Spalts strich, um die Tiefe zu ertasten, lösten sich ein paar lose Stücke Putz von der Wand. Sie zuckte zurück und sah zu Watkins. Seine Lippen waren so fest zusammengepresst, dass sie kaum noch zu sehen waren, und er schien völlig fasziniert von dem Muster des Marmorbodens unter seinen Füßen.

»Ich kann das Fresko nicht restaurieren. Der Riss ist zu breit und zu tief. Wie konnte das passieren?« Sie klopfte den Staub von ihren Händen und kam wieder unter dem Gerüst hervor.

Er sah sie nicht an, als er antwortete. »Das ... das kann ich nicht sagen. Er scheint noch nicht lange dort zu sein. Seine Gnaden meint, es käme von der Senkung des Gebäudes.«

»Senkung?« Kelsey zog die Augenbrauen hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich dachte, der Umbau der alten Burg hätte gegen Ende der Regentschaft von Königin Elizabeth der Ersten stattgefunden.«

Watkins, der seine Antwort sorgfältig abzuwägen schien, zögerte kurz, bevor er sagte: »Ich glaube, das trifft zu, Miss Kelsey.«

»Hm. Das würde bedeuten, dass dieser Anbau ungefähr zweihundert Jahre alt ist. Scheint es nicht etwas seltsam, dass sich ein so alter Gebäudeteil senken soll?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Haben Sie auch woanders Risse entdeckt?«

»Nur diesen einen.«

»Ich würde empfehlen, Lord Salford mitzuteilen, dass er eventuell einen Architekten zuziehen und den Riss untersuchen lassen sollte. Möglicherweise bricht dieser Anbau eines Tages in sich zusammen. Ich hoffe, er benutzt den Raum nicht sehr oft.« Ein Lachen schwang in Kelseys Stimme mit.

»Er ist seit Jahren nicht benutzt worden, Miss Kelsey. Die Mutter Seiner Gnaden machte von ihm Gebrauch, als sie noch lebte, aber sie ist jetzt seit über siebzehn Jahren tot.«

»Mich wundert, dass Lord Salford sich überhaupt die Mühe machen will, die Wand reparieren zu lassen. Scheint mir eine schrecklich große Ausgabe für einen unbenutzten Raum zu sein.«

»Oh, er ist sehr genau, wenn es darum geht, das Schloss in einwandfreiem Zustand zu erhalten.«

»Verstehe.« Als ihr auffiel, wie schuldbewusst und unbehaglich Watkins wirkte, sagte sie nichts mehr. Selbst wenn sie nachbohrte, würde er ihr nicht verraten, was wirklich mit der Wand passiert war.

Er schien erleichtert und ließ einen Atemzug heraus, der seine verkniffenen Lippen wieder zum Vorschein brachte, und ging dann auf eine Tür am Ende des Gerüsts zu. »Zu Ihrem Zimmer geht es hier entlang. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, zeige ich es Ihnen.«

Kelsey stieß einen tiefen Seufzer aus und beobachtete Watkins' steifen Rücken, als er auf die Tür zuging. Anscheinend hatte jemand die Wand absichtlich beschädigt. Aber aus welchem Grund? Im Grunde konnte es ihr egal sein, solange sie dreitausend Pfund dafür bekam, sie wiederherzustellen.

Sie würde Salfords Wand bemalen und jeden Pfennig von dem Geld behalten. Sie würde nie wieder zulassen, dass ihr Vater eine ihrer Arbeiten mit seinem Namen signierte – nicht nach der hinterhältigen Art und Weise, in der er diesen Auftrag angenommen hatte, ohne auch nur mit ihr darüber zu sprechen. Männer mochten die Welt der bildenden Künste beherrschen, aber sie hatte vor, mit dem kleinen Vermögen, das ihr dieser Auftrag einbrachte, im Atelier ein angenehmes Leben zu führen, ihrem Vater gelegentlich, wenn sie es für angebracht hielt, ein bisschen Geld geben und sich selbst einen Namen machen. Sie könnte in London annoncieren. Sich vielleicht in die besseren Kreise vorwagen und Bekanntschaften schließen. Im Geist sah sie schon die feinen Herren und Damen vor sich, die darum bettelten, von ihr gemalt zu werden. Aber welchen Preis musste sie für ihre Träume zahlen? War er zu hoch?

Eine Tür am hinteren Ende des Ballsaals öffnete sich. Kelsey blickte von ihrem Skizzenblock auf. Ein junges Mädchen drückte mit der Hüfte die Tür auf und balancierte ein Tablett in den Saal. Sie war so dünn, dass ihre Tracht lose um ihre Gestalt hing. Auf ihrem hellroten Haar saß ein Zofenhäubchen. Als sie einen langen, müden Seufzer ausstieß und das Tablett ein wenig höher hob, flatterten die Bänder des Häubchens um ihr Gesicht. Sie bemerkte Kelsey nicht, die es sich am gegenüberliegenden Ende des Raums auf dem Fenstersitz bequem gemacht hatte, und ging auf die Tür zu, die in Kelseys Schlafzimmer führte.

Kelsey starrte auf die Hände, die sie gezeichnet hatte, und runzelte die Stirn. Eigentlich hatte sie Motive für die Wandmalerei entwerfen wollen. Das alte Vorbild war zu unscheinbar, zu triste; sie wollte etwas Neues und Aufsehenerregendes schaffen, etwas, das sich unverkennbar als ihr eigener Beitrag abhob, aber das Bild von Salfords schönen, aristokratischen Händen war ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Wie eine Idiotin hatte sie ihre Zeit damit verschwendet, sie zu zeichnen. Sie klappte das Skizzenbuch zu und stand auf.

Das Mädchen wirbelte herum und starrte Kelsey mit weit aufgerissenen Augen an, als wäre sie ein Geist. Die rosige Farbe wich aus ihren Wangen; dann ließ sie das Tablett fallen und schrie.

Kelsey lief zu ihr. Das hysterische Kreischen des Mädchens hörte nicht auf, sondern verstärkte sich, als Kelsey näher kam. Sie nahm das Mädchen bei den Schultern und schüttelte es. »Schon gut, ich tue dir nichts. Ich bin Kelsey Vallarreal – die Malerin. Ich darf mich hier aufhalten. Ich bin heute Nachmittag gekommen.«

Das Mädchen hörte auf zu schreien und starrte Kelsey an, erst mit leerem Blick, dann mit einem Aufflackern von Begreifen in ihren Augen. Sie legte eine Hand an ihr Herz. »Herrje, Miss, haben Sie mich aber erschreckt, also wirklich! Ich hab nicht erwartet, dass Sie hier drin sind.«

»Tut mir Leid, dass ich dir Angst gemacht habe.« Kelsey bückte sich, um das Tablett aufzuheben.

Das Essen war zum Teil unter das Tablett gerollt und ließ es am Fußboden kleben. Kelsey hob es auf und hörte ein schmatzendes Geräusch, als sich das Tablett vom Boden löste. Der kleine Ruck warf sie nach hinten. Sie fiel hintenüber, landete mit dem Po in einem Stück Mandelkuchen und schlitterte ein Stück über den Boden, bevor sie endlich zum Stehen kam.

»Oh, Miss, haben Sie sich wehgetan?« Das Mädchen nahm Kelsey am Arm und half ihr auf, bevor sie mit dem Handrücken den Kuchen von ihrem Hinterteil fegte. »Sie hätten das Aufräumen mir überlassen sollen. Es tut mir ja so Leid! Sind Sie verletzt?«

»Nur mein Stolz.« Kelsey lächelte sie an.

»Ach Gott, Miss, bin ich aber froh, dass Sie darüber lachen können. Andere könnten das nicht, wissen Sie. Ach du meine Güte, das war doch Ihr Abendessen. Bestimmt sind Sie am Verhungern und trotzdem so freundlich.« Tränen glänzten in den Augen des Mädchens, als es sich bückte und mit einer Serviette den Boden wischte.

Kelsey kauerte sich neben sie. »Ein kleines Missgeschick, mehr nicht. Kein Grund zum Weinen.« Sie hob eine Scheibe Kalbsbraten auf, die neben ihrem Fuß lag, und warf sie mit einer geschickten Drehung des Handgelenks auf das Tablett. Als das Fleisch mit einem satten Flop landete, schluchzte und kicherte das Mädchen zugleich. »Wie heißt du?«, fragte Kelsey, die selbst grinsen musste.

»Mary ... Mary Simpson.«

»Na schön, Mary Simpson«, sagte sie, wobei sie den breiten schottischen Akzent des Mädchens nachmachte. »Ich bin Kelsey Vallarreal.«

»Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Mary lächelte sie scheu an und benutzte dann den Zipfel ihrer Schürze, um sich die Augen abzutupfen und die Nase zu wischen. »Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist ... es ... es ist dieser Saal. Hier kriege ich eine Gänsehaut.«

Das Lächeln auf Kelseys Gesicht verblasste. Sie griff nach einem Löffel, lud ein großes Stück Brotpudding darauf und beförderte es auf das Tablett. »Was stimmt nicht mit dem Saal?«

»Oh, ich sollte Ihnen das nicht erzählen, wo Ihr Zimmer doch ganz in der Nähe ist ...« Sie zeigte auf die Tür, die in Kelseys Schlafzimmer führte, und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Wispern. »Aber Sie haben ein Recht, es zu erfahren, finde ich. Sie sollten es wissen. Ich finde es nicht fair, dass man es Ihnen nicht gesagt hat.«

Als Mary verstummte, hätte Kelsey sie am liebsten geschüttelt, aber sie sagte nur: »Was gesagt?«

»Dass sich hier die verstorbene Herzogin erhängt hat.« Sie deutete auf den Kronleuchter. »Als man sie fand, hing sie da dran ...«

Kelsey starrte auf den verhängten Kronleuchter und sah das Bild vor sich. Die unglückliche junge Frau aus der Ahnengalerie, die von der Decke baumelte, die goldenen Locken um ihr blasses Gesicht wallend ...

Einer der vielen Kristalltropfen des Leuchters fing unvermittelt zu klingen an, ganz leise nur, aber es reichte aus, dass Kelsey der Atem stockte. Ihr Herz hämmerte, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Mary, die es auch gehört hatte, wurde kreidebleich.

»Was hat das zu bedeuten?« Die Stimme echote durch den Ballsaal.

Kelsey fuhr zusammen und presste eine Hand auf ihr Herz. Dann fiel ihr Blick auf Watkins, der in der Tür stand, und sie atmete erleichtert auf. Offenbar hatte der leichte Luftzug, als Watkins die Tür öffnete, den Leuchter zum Schwingen gebracht. Mühsam schluckte sie den Kloß, der ihr in die Kehle gestiegen war.

»Was hast du angestellt, Simpson?«, fragte Watkins, während er auf sie zukam, wobei er sich mit mehr Schwung bewegte, als man von einem Mann seines Alters erwartet hätte.

»Schimpfen Sie Mary nicht«, warf Kelsey rasch ein. »Ich habe das Tablett umgestoßen.«

»Oh.« Ein wenig von dem Groll in Watkins' Stimme schwand. »Simpson, du holst unverzüglich ein anderes Tablett. Die Sauerei kannst du später aufräumen.«

»J-ja, Sir.« Mary hob das Tablett auf und machte erst vor Watkins, dann vor Kelsey einen Knicks, bevor sie praktisch aus dem Raum rannte.

Kelsey sah Watkins ins Gesicht. Der wissende Ausdruck in seinen Augen verriet, dass er die Wahrheit erraten hatte. Sie stand auf und sagte: »Seien Sie nicht zu streng mit ihr.«

»Das werde ich nicht, solange Sie nicht den Unsinn über diesen Raum glauben, den sie Ihnen in den Kopf gesetzt hat.«

»Wie gesagt, ich glaube nicht an Gespenster«, sagte sie, wobei ihr auffiel, dass sie viel zu viel Nachdruck auf ihre Worte legte. »Tun Sie es, Watkins?«

»Nein. Nur die Lebenden suchen Stillmore Castle heim.«

Kelsey sah noch einmal zu dem Kronleuchter. Einer der Tropfen schien sich zu bewegen, aber dann wiederum ... sie hatte eine lebhafte Fantasie. Unter den Auswirkungen dieser Fantasie hatte sie bereits gelitten, als sie im Schloss eingetroffen war und die seltsamen Geräusche im Gang gehört hatte. Watkins hatte sicher Recht. Das Einzige, was auf Stillmore lastete, war der gegenwärtige Herzog selbst.