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Das Jahr 1923 gilt als das Krisenjahr der Weimarer Republik. Hyperinflation, wirtschaftliche Not und Hunger, die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen und der darauffolgende passive Widerstand, Umsturzversuche der Kommunisten in Hamburg, Sachsen und Thüringen sowie der Hitlerputsch im November, Gewalt auf der Straße und fehlende politische Stabilität ließen ein Gefühl von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft entstehen. Peter Tauber beschreibt die Kämpfe der noch jungen Republik, die erst zur Ruhe kam, als Hitlers erster Griff nach der Macht am 9. November 1923 scheiterte. Doch die Folgen des Krisenjahres wurden nie ganz überwunden.
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Seitenzahl: 159
Peter Tauber
Reclam
Kriege der Moderne
Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Für meine Eltern Heidemarie und Manfred
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0962-01)
2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Umschlaggestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Umschlagabbildung: Stoßtrupp Hitler, 9. November 1923. – Knorr + Hirth / Süddeutsche Zeitung Photo
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2023
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962195-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011457-5
www.reclam.de
Die Infanterieschüler
Kriegsende 1918 und doch kein Frieden
Innere Unruhen und die Angst vor dem Bürgerkrieg 1918–1923
Die Reichswehr und paramilitärische Verbände
Bayern als »Ordnungszelle« und der Aufstieg der NSDAP
Das Krisenjahr 1923
München 1923
Hitlers Griff nach der Macht
Die Putschisten und ihre Truppen
Die Putschvorbereitungen
Der Hitlerputsch beginnt
Die Putschisten agieren planlos
Die Reichswehr handelt
Flucht nach vorne: Der Marsch auf die Feldherrnhalle
Nach dem Scheitern
Hitlers Prozess und die Folgen
Die Republik kommt zur Ruhe
Der Putsch in der nationalsozialistischen Erinnerungskultur
Ein Epilog zum Eid
Anhang
Zeittafel
Literaturhinweise
Abbildungsnachweis
Personenregister
Oberleutnant a. D. Gerhard Roßbach (Bildmitte mit Schirmmütze, 1893–1967) überzeugte die Offizieranwärter, sich im November 1923 auf die Seite der Putschisten zu stellen. Hier mit seinen Männern vor dem Eingang des Bürgerbräukellers, 9. November 1923. Gerade für die junge Generation im rechtsextremen Lager war er eine Identifikationsfigur.
Im September 1923 sind die jungen Soldaten aus den verschiedenen Regimentern und Bataillonen der Reichswehr nach München gekommen. An der Infanterieschule in der Blutenburgstraße wollen sie im Kriegshandwerk geschult werden. Die Einrichtung gehört zu den Waffenschulen, an denen die Reichswehr während der Weimarer Republik die Offizieranwärter der Infanterie-, Kraftfahr- und Pioniertruppe ausbildet. Die angehenden Offiziere, die Fähnriche der Infanterie und die bereits im Weltkrieg beförderten jungen Leutnante werden im Hörsaal, im Gelände sowie in der Turn- und Reithalle auf ihre künftigen Aufgaben vorbereitet. Die Ausbildung im Gefechtsdienst erfolgt auf dem Oberwiesenfeld. Daneben bleibt Zeit, sich kennenzulernen und die Stadt zu entdecken. Die Kameraden im Hörsaal sind die Zukunft der Reichswehr. Und das wissen sie.
Es sind unruhige Zeiten. Die jungen Männer sind national gesinnt, sie diskutieren die politischen Fragen der Zeit. In der Armee sehen sie [8]ein Symbol der Einheit der Nation. Viele teilen die Sicht, dass Deutschland die »Schmach« des Versailler Friedensvertrages tilgen müsse, im Zweifel auch durch einen neuen Krieg. Nicht wenige glauben die Lüge, dass man den ungeschlagenen deutschen Truppen im November 1918 einen »Dolchstoß« in den Rücken versetzt habe. In jedem Falle schaue die Politik tatenlos dem Niedergang des Vaterlandes zu, ein materialistischer Geist herrsche allenthalben, beklagen sie. Manche schimpfen auch über die »Judenrepublik« von Weimar.
Viele Infanterieschüler entstammen alten Soldatenfamilien, so auch Wolfdietrich von Xylander. Er hat in München Abitur gemacht und dient jetzt im 19. Bayerischen Infanterieregiment. Er kennt die Stadt, nimmt seine neuen Kameraden immer wieder mit und zeigt ihnen die bayerische Brauhauskultur. Beim Bier kann man über die eigene Zukunft und die des Vaterlandes leichter räsonieren. Die Themen gehen ihnen nicht aus, die Stimmung in der Stadt ist aufgeheizt: Das Jahr 1923 bringt die [9]Ruhrbesetzung durch französische und belgische Soldaten, separatistische Bestrebungen im Rheinland sowie Kommunisten in Sachsen und Thüringen in der Regierung – da scheinen München und die Infanterieschule ein Hort der vaterländischen Gesinnung zu sein. Und es gibt in Bayern eine neue politische Kraft, die Nationalsozialisten, in die viele Menschen ihre Hoffnung setzen. Ihr Parteivorsitzender und »Führer« Adolf Hitler findet immer mehr Anhänger.
Weit verbreitete Verschwörungstheorie: Die Legende, dass ein Dolchstoß in den Rücken des deutschen Heeres zur militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg geführt habe. Illustration zu einem DNVP-Wahlplakat von 1924.
Franz Schraml gehört demselben Regiment wie Xylander an, kommt aber vom II. Bataillon aus Augsburg nach München. Mit Gewehr und Koffer ist er angereist, bezieht die Stube 284 und wird dem Hörsaal E zugeteilt. Fünf bis sechs Mann sind auf einer Stube untergebracht. Der Dienstplan regelt den Tagesablauf, vom Wecken um 6 Uhr morgens bis zum Lichtlöschen um 22.15 Uhr. Sonntags ist dienstfrei. Neben der militärischen Ausbildung wird auch das Fach Bürgerkunde unterrichtet. Dort müssen die Infanterieschüler Aufsätze schreiben wie »Die Aufgabe einer Armee im Staate. Welche ergeben sich hieraus für den Offizier?« Doch die Vermittlung der Weimarer Verfassung und der demokratischen Ordnung scheitert, weil die jungen Männer dem Dozenten, Rechtsprofessor Hans Nawiasky, oft ins Wort fallen, wenn sie seine politischen Sichtweisen nicht teilen. Mit Absicht veranstalten sie bisweilen einen ohrenbetäubenden Lärm. Das wiederholt sich regelmäßig, bis man ihnen jede Form von Beifallsbekundung sowie auch jegliche Missfallensäußerung untersagt. Sie halten sich nicht daran. Schließlich erscheint der Schulkommandeur, Generalmajor Hans Tieschowitz von Tieschowa, und nimmt an einer Unterrichtsstunde teil. Das sorgt für die nötige Disziplin.
Am 26. September 1923 entscheidet die Reichsregierung unter Reichskanzler Gustav Stresemann von der liberalen Deutschen Volkspartei (DVP), den passiven Widerstand im Ruhrgebiet einzustellen. Waren all die Entbehrungen der letzten Monate umsonst? Man spürt dem Unmut und die Enttäuschung vieler Menschen. Hinzu kommen die immer größer werdenden Sorgen angesichts der explodierenden Lebensmittelpreise. An diesem Tag hat Schramls Hörsaal Bereitschaft. Angesichts der angespannten Lage kursieren Gerüchte von einem drohenden Putsch. Die Soldaten müssen »angekleidet und umgeschnallt« auf dem Bett liegen. Doch die Nacht bleibt ruhig.
Gustav Stresemann (1878–1929) wurde im August 1923 Reichskanzler. Er beendete den passiven Widerstand im Ruhrgebiet und sorgte mit der Einführung der Rentenmark für eine dringend notwendige Währungsreform. Den Revolutionsversuchen von links und rechts trat er entschieden entgegen. Das Bild zeigt ihn im September 1923 mit Pressevertretern.
Bei aller Anspannung genießen die neuen Infanterieschüler die Zeit [10]in München. Drei Tage später geht es gemeinsam in die Berge auf den Wendelstein. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung. Gerade die Männer aus Preußen sind von der spürbaren nationalen Begeisterung durchaus beeindruckt. Sie singen vaterländische Lieder, darunter auch das Lied der Brigade Ehrhardt, in dem es heißt: »Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band, die Brigade Ehrhardt werden wir genannt.« Die Brigade Ehrhardt, ein rechtsextremes Freikorps, hat der Münchner Räterepublik ein Ende bereitet und beim Grenzschutz Ost in Oberschlesien gekämpft.
In der dienstfreien Zeit gehen die jungen Soldaten ins Theater oder Kino. In dem kleinen, gepflegten Lokal »Onkel Pfeffer«, nicht weit vom Maximilianeum, gibt es zudem ein ordentliches »Fähnrichsessen«, das deutlich schmackhafter und üppiger ist als die karge Mittagsverpflegung. Die Bierhäuser der Stadt kennen sie bald gut. Als am 27. Oktober im Wurzerhof Adolf Hitler spricht, ist Franz Schraml dabei. Morgens hat er [11]Sold in Höhe von 47,7 Milliarden Mark erhalten. Die Hyperinflation treibt die Preise in die Höhe. Mit dem Geld kann er zumindest heute Getränke und Essen bezahlen. Schraml lauscht gebannt diesem Mann, der von nationaler Ehre spricht. Auch der Pionierschüler Erich Helmdach nimmt an der Versammlung teil. Als er den Saal des Gasthauses betritt, stellt er fest, dass die Anwesenden fast ausschließlich von der Infanterieschule kommen, unter ihnen sind auch Vorgesetzte und Ausbilder. Nicht nur für Helmdach und Schraml ist es das erste Mal, dass sie Hitler sprechen hören. Seine Rede ist ausdrucksstark, einnehmend.
Hitler geißelt das Versagen der Reichsregierung und ermahnt die Soldaten, nicht stumpfsinnig dem Wortlaut ihres Eides zu folgen. Helmdach erinnert sich später, dass Hitler von »sinngemäßem Gehorsam« gesprochen habe. Es könne sein, dass Deutschland sie bald rufe. Ein Offizier, Taktiklehrer an der Infanterieschule, steht nach der Rede auf, geht auf Hitler zu, reicht ihm die Hand und sagt: »Herr Hitler, die [14]Infanterieschule weiß, was sie zu tun hat, wenn Sie uns rufen.« Doch viele nehmen das nicht so ernst. Geredet wird viel in diesen Tagen. Und nach dem ein oder anderen Krug Bier fühlt sich manch einer zu Heldentaten berufen, deren Ausführung am nächsten Morgen ein schwerer Kopf verhindert.
Banknoten aus der Inflationszeit. Die Hyperinflation des Jahres 1923 führte zu massiven Preissteigerungen und sozialen Verwerfungen.
Über die politischen Verhältnisse in München oder gar die Ziele der Nationalsozialisten wissen die jungen Leute wenig bis nichts. Aber wenn dieser Hitler für die Wiedererrichtung des Vaterlandes kämpft, gegen das Diktat von Versailles, sind sie dafür. Und da ja auch einer der mächtigsten Männer des Ersten Weltkriegs, General Erich Ludendorff, den die Soldaten bewundern, offenkundig Sympathien für Hitler hegt, kann dieser so verkehrt nicht sein, denkt manch einer von ihnen. Gerhard Roßbach, ein bekannter ehemaliger Freikorpsführer und Republikgegner, spricht mit ihnen genau darüber. Er kennt einige der norddeutschen Offizieranwärter. Von München aus soll es gelingen, die Republik zu stürzen, davon ist er überzeugt. Deshalb ist er bereit, sich in den Dienst Hitlers zu stellen, und er soll die Infanterieschüler dazu bewegen, mitzumachen, wenn es soweit ist.
General der Infanterie Erich Ludendorff war im Ersten Weltkrieg gemeinsam mit Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg seit August 1916 der Kopf der dritten Obersten Heeresleitung. Sein Handeln bei der Eroberung der belgischen Stadt Lüttich am 6. August 1914 und bei der Abwehr des russischen Angriffs auf Ostpreußen in der Schlacht bei Tannenberg keine drei Wochen später begründete seinen Ruf als Stratege und militärischer Führer. Während Hindenburg sich auf repräsentative Aufgaben konzentrierte, wurde Ludendorff mehr und mehr zur entscheidenden Persönlichkeit. Im Herbst 1918 schwand seine Macht rapide, und am 26. Oktober 1918 wurde er schließlich auf Verlangen des Reichskanzlers Max von Baden entlassen. Er floh unter falschem Namen nach Schweden und kehrte erst im Februar 1919 nach Deutschland zurück.
Dort wurde er bald zu einer zentralen Figur der Rechtsextremen. Ludendorff war einer der Urheber der Dolchstoßlegende, derzufolge der Krieg nur durch den Dolchstoß aus der Heimat in den Rücken der kämpfenden Truppen verloren worden sei. Am Kapp-Putsch 1920 war er im Hintergrund beteiligt, wurde aber nicht belangt. Auch im Prozess nach dem Hitlerputsch wurde er 1924 aufgrund seiner angeblichen Verdienste um das Reich freigesprochen. Bei der Wahl des Reichspräsidenten 1925 errang er lediglich 1,1 Prozent der Stimmen und wandte sich immer stärker rechtsextremen Verschwörungstheorien zu. Das Verhältnis zu Hitler war nach dem Putsch zerrüttet.
Gegen 20 Uhr am 8. November werden die Offizieranwärter im Hörsaal E zusammengerufen. Sie ahnen, dass etwas passieren wird. Plötzlich schrillen die Alarmglocken der Infanterieschule. Heute Abend sollen sie zu einer Veranstaltung in den Bürgerbräukeller ausrücken. Viel mehr erfahren sie nicht. Doch unmittelbar nach dem Alarm wird verkündet: Es sei eine nationale Regierung in München gebildet worden, an deren Spitze Hitler, der bayerische Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr und Generalleutnant Otto von Lossow stünden. Ludendorff habe die Führung der Armee übernommen. Ludendorff! Jubel bricht aus. Sie wollen ihren Teil dazu beitragen, einen ersten Schritt zur Befreiung Deutschlands zu tun. Doch nicht alle sind begeistert. Helmdach sieht die militärischen Unzulänglichkeiten der Aktion, den uneinheitlichen Ausbildungsstand, den fehlenden Auftrag.
Die Männer treten auf dem Kasernenhof an. Der gerade erst am 1. September zum Fähnrich beförderte Xylander wird als Wache eingeteilt. Kurz vor 21 Uhr meldet er Roßbach, der in der Schule erscheint. Schraml hingegen ist noch in der Stadt unterwegs. Als er erfährt, dass die Infanterieschule in Bereitschaft versetzt worden ist, eilt er zurück, holt Helm und Gewehr, empfängt wie alle anderen auch Munition und [16]eine Hakenkreuzarmbinde. Er legt sie sogleich an. Da die Schlüssel für Munitions- und Waffenkammer nicht auffindbar sind, bricht man diese kurzerhand auf.
Andere Kameraden sind nicht so aufmerksam wie Schraml. Nicht alle sind vom Ausgang rechtzeitig zurück. Und wo sind eigentlich die Offiziere und Vorgesetzten? Von den Ausbildern ist wenig zu sehen. Die [17]älteren Offiziere wohnen in der Stadt und sind nicht anwesend, die jüngeren stehen ungläubig am Rand. Verwundert, vielleicht auch verärgert. Der Schulkommandeur, General Tieschowitz von Tieschowa, verweigert sich. Ein Leutnant und zwei Fähnriche haben ihn in seiner Wohnung aufgesucht und ihm erklärt, dass die Infanterieschule nun General Ludendorff unterstehe. Der Schulkommandeur merkt an, dass er keine [18]Weisungen aus Berlin habe, deshalb habe er ein Dienstgespräch per Fernsprecher angemeldet. Dem Leutnant dauert das zu lange. Die Telefonleitung wird zerschnitten. Der General steht jetzt unter Arrest.
Die Infanterieschüler werden in Kompanien eingeteilt. Roßbach hält eine Ansprache: Nun gehe es nach Berlin, um die »Regierung der Novemberverbrecher« zur Rechenschaft zu ziehen. Als die Kompanien sich Richtung Bürgerbräukeller in der Rosenheimer Straße in Marsch setzen, schließen sich ihnen einige Stammoffiziere an. Sie marschieren singend unter der Hakenkreuzfahne durch die Stadt, die Marsstraße entlang über den Stachus. Die Menschen jubeln ihnen zu, und »Heil«-Rufe begleiten sie. Dann kommen sie am Bürgerbräukeller an.
Die Lage ist unklar. Was nun? Einige werden abkommandiert und als [19]Wachposten in unmittelbarer Nähe eingesetzt. Schon nach einer halben Stunde endet dieser Einsatz und sie kehren zurück. Es beginnt eine Zeit des Wartens. Die Infanterieschüler machen es sich in den Gängen und Räumen des Bürgerbräukellers so gut es geht bequem, warten ab. Helmdach sitzt hungrig mit einigen Kameraden dort, sie diskutieren. Schließlich erhalten sie den Befehl, das Gebäude des Generalstaatskommissariats zu besetzen.
Dort angekommen, treffen sie aber auf die bayerische Landespolizei. Die Landespolizisten erklären, sie stünden ebenfalls auf der Seite der neuen Regierung. Die Infanterieschüler hören, wie ihre Führer laut streiten, und stehen mit geladenen Gewehren den Landespolizisten gegenüber. Die Anspannung ist spürbar. Jederzeit kann ein Handgemenge entstehen, ein Schuss fallen, der zu einem Blutbad führt. Dann kommt die Nachricht, der Befehl sei ein Missverständnis gewesen, Ludendorff habe angeordnet, abzurücken.
Die Gerüchte nehmen zu. Kahr und Lossow hätten sich von Hitler abgewendet, heißt es. Erfasst die Verunsicherung auch die jungen Soldaten? Ein Rückmarsch in die Kaserne ohne einen entsprechenden Befehl ist für die meisten undenkbar. Hinzu kommt, dass die Nationalsozialisten ein Abrücken nur unter Zurücklassen der Waffen erlauben. Ein solch ehrloses Verhalten scheidet für die jungen Soldaten aus. Die Kompanieführer gehen schließlich zu Roßbach. Sie erklären, dass sie den Befehlen der nationalen Regierung weiter folgen, aber auf die Kameraden der Reichswehr und der Landespolizei würden sie in keinem Falle das Feuer eröffnen. Roßbach verspricht ihnen, dass es dazu nicht kommen werde.
Im Bürgerbräukeller heißt es abwarten. Die Männer sind übermüdet, in der von Bierdunst und Rauch geschwängerten Luft fällt das Wachbleiben schwer. Franz Schraml hat vier Stühle zusammengeschoben und sich hingelegt, findet aber keinen Schlaf. Die Stimmung wird zunehmend schlechter. Er registriert, dass einige heimlich verschwunden sind. Mit dem Geld, das ihm ausgehändigt wird, geht er in einen nahegelegenen Laden, kauft sich eine Tafel Schokolade für 80 Milliarden und 2 Pfund Brot für 60 Milliarden Mark. Als er zurückkommt, tut sich plötzlich etwas. Hitler ist wieder da. Nun heißt es, sich noch einmal aufzuraffen. Hitler spricht vom Verrat Kahrs. Auch auf Lossow sei kein Verlass, er habe sein Wort gebrochen. Man werde nun einen Demonstrationszug durch München machen.
Berittene Polizisten räumen nach Beendigung des Putsches den Odeonsplatz. Die bayerische Landespolizei war paramilitärisch ausgerüstet und organisiert. Damit wurden die Bestimmungen des Versailler Vertrages umgangen, gleichzeitig konnte die Polizei so bei inneren Unruhen eingesetzt werden.
[20]Es ist allerdings schon fast Mittag, als am 9. November der Befehl kommt, vor dem Bürgerbräukeller anzutreten. Mit einem Marsch durch die Stadt, an der Spitze Ludendorff und Hitler, will man das Volk mobilisieren. Niemals würden Reichswehr und Landespolizei auf sie schießen, sie tragen ja die schwarz-weiß-rote Fahne voran. Die Infanterieschüler reihen sich in die Marschkolonne ein. Xylander und die anderen haben ihre Waffen entladen, aber ob das auch für die SA (Sturmabteilung) und die Männer vom Bund Oberland gilt? An der Ludwigsbrücke trifft die Marschkolonne auf eine bewaffnete Sperre der Landespolizei, doch die Polizisten treten schließlich beiseite. Jubel brandet auf. Niemand wird sie aufhalten.
Die Kolonne nähert sich der Residenzstraße, als plötzlich Schüsse fallen und unmittelbar darauf heftiges Gewehr- und Maschinengewehrfeuer einsetzt. Die Infanterieschüler gehen in Deckung. Schraml lädt sein Gewehr. Sie sehen vorne Männer im Feuer zusammenbrechen. »Hitlerleute« flüchten an ihnen vorbei. Die Kompanieführer eilen zu Roßbach, der sie entlässt. Die Hakenkreuzarmbinden verschwinden still und leise. Die Männer marschieren geordnet zurück in die Infanterieschule.
Allen ist klar: Das wird Folgen haben. Als sie zurück in die Schule kommen, begrüßt einer der Offiziere sie mit dem Zuruf: »Ihr Meuterer!« [21]Mit der Offizierlaufbahn ist es wohl nun vorbei. Spüren sie Reue? Obsiegt der Trotz? Die meisten der jungen Soldaten haben kein schlechtes Gewissen. Xylander schreibt in einer Stellungnahme: »Wir wissen nur, dass wir stets so gehandelt haben, wie wir im Interesse unseres Vaterlandes handeln zu müssen glaubten.« General Tieschowitz von Tieschowa hält noch am späten Nachmittag eine Ansprache. Zwar spricht er von einem schweren Vergehen gegen die Disziplin, bestraft werden sollten aber nur die Rädelsführer, für die übrigen gelten »mildernde Umstände«.
Generaloberst Hans von Seeckt (1866–1936) war Chef der Heeresleitung. Er prägte die neue Armee. Obwohl er kein überzeugter Anhänger der Republik war, fühlte er sich durch Eid und ein persönliches Vertrauensverhältnis eng an Reichspräsident Friedrich Ebert gebunden.
Der oberste Soldat der Reichswehr sieht das anders: General Hans von Seeckt schreibt, dass allein die Tatsache, dass sich kein Offizier mit gezogener Waffe den Infanterieschülern in den Weg gestellt hatte, letztere vor einer unehrenhaften Entlassung bewahre. Doch davon wissen sie in München nichts. Die jungen Männer sitzen niedergeschlagen auf ihren Stuben. Einige haben sich im Lesezimmer versammelt, darunter Schraml. Schließlich setzt sich einer der Männer ans Klavier. Bei den nationalen Liedern, die er spielt, singen alle tief ergriffen mit. Am nächsten Tag ist Dienst nach Vorschrift. Professor Nawiasky hält ihnen in der Bürgerkunde eine Standpauke, die sich gewaschen hat. Diesmal sind alle still.
Heftige Kritik am Verhalten der Infanterieschüler übte der Münchener Staatsrechtsprofessor und externe Lehrer an der Infanterieschule Hans Nawiasky (1880–1961). Von den Nationalsozialisten vertrieben, kehrte er 1946 nach München zurück. Er zählt zu den Verfassungsvätern des Freistaats Bayern.
Einige Infanterieschüler wie Leutnant Hansjochen Leist vom Magdeburger III./12. Infanterieregiment haben von Beginn an nicht mitgemacht. Zwar teilt Leist die nationale Überzeugung seiner Kameraden, doch er fühlt sich an seinen Eid gebunden. Als die Soldaten der Reichswehr in Bayern auf die bayerische Landesregierung verpflichtet werden sollen, fragt er in der Stammeinheit nach, was er tun solle. Sein Bataillonskommandeur Oberstleutnant Kurt von Hammerstein-Equord weist ihn an: »Preußischen Vorgesetzten gehorchen.« Auf das bayerische Schauspiel, so kann man das lesen, solle er sich nicht einlassen. Manche seiner Kameraden verspotten ihn und diejenigen, die es ihm gleichtun, als »Spartakisten«.
Am 11. November wird der Lehrgang abgebrochen. Die Infanterieschüler werden in ihre Stammeinheiten in Marsch gesetzt. Seeckt hat die Infanterieschule aufgelöst. Die Haupträdelsführer seien festzunehmen, die Offiziere der Schule müssten sich einer Untersuchung des Vorfalls stellen. Ein Jahr später, als die Infanterieschule in Ohrdruf in Thüringen wieder den Dienstbetrieb aufnimmt, sind der Kommandeur und die Lehrgangsleiter abgelöst, die Lehrer und Aufsichtsoffiziere allesamt versetzt.
In Berlin begrüßte der damalige Reichskanzler Friedrich Ebert (l. mit Hut, 1871–1925) die nach Kriegsende zurückkehrenden deutschen Truppen im Dezember 1918