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Am Abend des 8. November 1923 stürmt Adolf Hitler mit gezogenem Revolver in den Bürgerbräukeller und verkündet den Beginn der nationalen Revolution. Am Mittag des folgenden Tages endet diese im Kugelhagel an der Feldherrnhalle. Doch Hitlers dilettantsiche Aktion war nur die Spitze des Eisbergs. Darunter verborgen liegt die Geschichte eines Hochverrats, an dem große Teile der bayerischen Führung beteiligt waren und dessen Ausläufer bis nach Berlin reichten. Mit detektivischem Spürsinn deckt Wolfgang Niess das Netzwerk der Verschwörer auf und zeigt, wie Hitler dere Pläne durch sein Vorpreschen ruinierte. Wider Willen hat er so den Demokraten die Chance verschafft, die Weimarer Republik zu retten, als sie schon verloren schien.
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Wolfgang Niess
DER HITLERPUTSCH 1923
Geschichte eines Hochverrats
C.H.Beck
Am Abend des 8. November 1923 stürmt Adolf Hitler mit gezogenem Revolver in den Münchner Bürgerbräukeller und verkündet den Beginn der nationalen Revolution. Am Mittag des folgenden Tages endet diese im Kugelhagel an der Feldherrnhalle. Die NS-Propaganda hat den Hitlerputsch ganz für die NSDAP reklamiert und ihn zum Opfergang verklärt, der das Dritte Reich erst möglich machte. Doch in Wahrheit war Hitlers dilettantische Aktion nur die Spitze des Eisbergs. Darunter verborgen liegt die Geschichte eines Hochverrats, an dem große Teile der bayerischen Führung beteiligt waren und dessen Ausläufer bis nach Berlin reichten. Die politische und militärische Führung Bayerns plante den Sturz der Republik, den «Marsch auf Berlin». Für die NSDAP war dabei nur eine Nebenrolle vorgesehen gewesen. Mit detektivischem Spürsinn deckt Wolfgang Niess das Netzwerk der Verschwörer auf und zeigt, wie Hitler, schlecht informiert und auf den eigenen Vorteil bedacht, vorpreschte und die Pläne vereitelte. Ohne rechte Planung setzte er alles auf eine Karte und verlor. Wider Willen hat er so den Demokraten die Chance verschafft, die Weimarer Republik zu retten, als sie schon verloren schien.
Wolfgang Niess ist promovierter Historiker und war lange Jahre Redakteur und Moderator beim Süddeutschen Rundfunk (SDR) und Südwestrundfunk (SWR). Er ist Autor zahlreicher Radio- und Fernsehsendungen, Aufsätze und Buchpublikationen zu Aspekten der Zeitgeschichte. Zuletzt erschienen von ihm «Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie» und «Der 9. November. Die Deutschen und ihr Schicksalstag» (C.H.Beck 2021).
1: Einleitung
2: Auf der Suche nach Orientierung – Hitlers Anfänge in München
3: Making of «Hitler» – Vom Schulungsredner der Reichswehr zum Nationalsozialisten
4: «Brodelnder Hexenkessel» – Der Kapp-Putsch, München und Hitler
5: Erste Machtergreifung – Hitler und die NSDAP
6: «Ordnungszelle» Bayern – Der Traum vom «Marsch auf Berlin»
7: Taumelnd am Abgrund – Das Horrorjahr 1923
8: «Treuhänderin des deutschen Volkes» – Bayerns offener Verfassungsbruch
9: «Herbstübung 1923» – Aufmarsch für die Diktatur
10: «Soeben ist die nationale Revolution ausgebrochen» – Bürgerbräukeller, 8. November 1923
11: Hängepartie mit tödlichem Ausgang – Vom Bürgerbräukeller zur Feldherrnhalle
12: Neuer Anlauf oder Schadensbegrenzung? – Die Wochen danach
13: Vom «edelsten selbstlosen Willen geleitet» – Der Prozess gegen Hitler und Genossen
14: Helfende Hände – Zweite Chance für den Hochverräter
15: Verhindern, verzögern, vertuschen – Bayerns politische Aufarbeitung des Putsches
16: Heldenmythos, Blutfahne, Opfergang – Der gescheiterte Putsch in der NS-Propaganda
17: Vergessen oder erinnern? – Der Hitlerputsch heute
Dank
Anmerkungen
1 Einleitung
2 Auf der Suche nach Orientierung – Hitlers Anfänge in München
3 Making of «Hitler» – Vom Schulungsredner der Reichswehr zum Nationalsozialisten
4 «Brodelnder Hexenkessel» – Der Kapp-Putsch, München und Hitler
5 Erste Machtergreifung – Hitler und die NSDAP
6 «Ordnungszelle» Bayern – Der Traum vom «Marsch auf Berlin»
7 Taumelnd am Abgrund – Das Horrorjahr 1923
8 «Treuhänderin des deutschen Volkes» – Bayerns offener Verfassungsbruch
9 «Herbstübung 1923» – Aufmarsch für die Diktatur
10 «Soeben ist die nationale Revolution ausgebrochen» – Bürgerbräukeller, 8. November 1923
11 Hängepartie mit tödlichem Ausgang – Vom Bürgerbräukeller zur Feldherrnhalle
12 Neuer Anlauf oder Schadensbegrenzung? – Die Wochen danach
13 Vom «edelsten selbstlosen Willen geleitet» – Der Prozess gegen Hitler und Genossen
14 Helfende Hände – Zweite Chance für den Hochverräter
15 Verhindern, verzögern, vertuschen – Bayerns politische Aufarbeitung des Putsches
16 Heldenmythos, Blutfahne, Opfergang – Der gescheiterte Putsch in der NS-Propaganda
Literaturverzeichnis
Nicht gedruckte Quellen
Gedruckte Quellen und Sekundärliteratur
Bildnachweis
Personenregister
1
8. November 1935, 20 Uhr. Halb München ist auf den Beinen. Man will das großartige Ereignis nicht verpassen, das seit langem angekündigt wird. Auch das Wetter spielt mit. Kein Frost, kein Schnee, kein früher Wintereinbruch. Auf dem Nord-, dem Ost- und dem Waldfriedhof setzen sich Trauerzüge in Bewegung. Auf Lafetten der Reichswehr liegen insgesamt 16 Sarkophage. Jeder einzelne ist bedeckt mit einer schimmernden, samtenen Hakenkreuzfahne, in die der Name des Toten goldfarben eingestickt ist. Gegen 23 Uhr vereinigen sich die drei Züge am Siegestor und biegen dann in die Via Triumphalis ein, die von dort gerade auf die Feldherrnhalle zuführt. Menschenmassen bilden ein gewaltiges Spalier. Es herrscht absolute Stille, nur unterbrochen von dumpfem Trommelschlag, der allmählich stärker und stärker wird. Alle Lampen und Lichter, alle Straßenlaternen sind gelöscht. Nur von der Feldherrnhalle her glüht glutrotes magisches Licht, dessen Bann sich keiner entziehen kann. Kurz vor Mitternacht treffen die Sarkophage dort ein und werden in der Feldherrnhalle aufgebahrt. Dann geht Hitler allein die Treppen hoch, bleibt vor jedem der 16 Särge stehen und grüßt ihn mit ausgestrecktem Arm. Das Regime feiert seine toten «Helden», die «Märtyrer» des 9. November 1923.
So begann die weihevollste Inszenierung der NS-Propaganda, die zugleich ihre perfideste war. Das Spektakel war von langer Hand vorbereitet worden. Im Verlauf des Jahres hatte man auf dem Münchner Königsplatz zwei «Ehrentempel» errichtet, offene Säulenhallen mit jeweils acht Plätzen für Sarkophage. Hier sollten die Toten von nun an «ewige Wache» für Deutschland halten. Anfang November hatte man die Leichname der 16 Männer exhumiert und für ihre letzte Reise hergerichtet.
Während der Nacht bleiben die 16 Sarkophage in der Feldherrnhalle. Wer mag, hat bis morgens um 10 Uhr Gelegenheit, an ihnen vorbei zu defilieren. In schier endlosen Schlangen verneigen sich Menschen vor den «Gefallenen der Bewegung».
Am späten Vormittag des 9. November folgt der zweite Akt der Inszenierung, der Marsch vom Bürgerbräukeller zur Feldherrnhalle. Die Route ist dieselbe wie 1923, aber nun sind im Abstand von 20 Metern links und rechts der Straße dunkelrotverkleidete Pylonen aufgestellt, die auf ihrer Spitze eine Rauchpfanne mit einem «Opferfeuer» tragen. Im langsamen Gleichschritt marschieren Hitler und seine «Blutordensträger» die Strecke entlang. Beständig ist das Horst-Wessel-Lied zu hören. Jedes Mal, wenn die Spitzengruppe eine Pylone erreicht, bleibt der ganze Zug kurz stehen, und eine Lautsprecherstimme ruft den Namen eines Toten. Wieder stehen Massen von Menschen am Weg des Zuges. Der Rundfunk überträgt direkt und gibt sich größte Mühe, die weihevolle Stimmung in die Wohnzimmer zu bringen.
An der Feldherrnhalle schließt sich der dritte Akt an, die Überführung der Särge in die Ehrentempel auf dem Königsplatz. Die Auferstehung nach dem Opfertod ist jetzt das große Thema. Die Trauerprozession wird zum Siegeszug. Unter den Klängen des Deutschlandliedes werden jeweils acht Sarkophage in die beiden «Ehrentempel» gebracht. Dann werden die Fahnen an den beiden großen Masten auf dem Königsplatz von Halbmast auf Vollstock gezogen.
Propaganda muss einfache Geschichten erzählen, wenn sie wirken soll, und sie muss es auf hochemotionale Weise tun. Für viele der Zeitgenossen war es ganz großes Kino, was ihnen nicht nur 1935, sondern Jahr für Jahr in München und im Radio am 8. und 9. November geboten wurde. Schon 1933 war die Geschichte vom Opfergang der «Märtyrer», der erst das Dritte Reich möglich gemacht habe, zum Kern einer Geschichte gemacht worden, die bis 1944 erzählt wurde.
Von den positiven Konnotationen dieser Geschichte hat man sich nach dem Ende des NS-Regimes verabschiedet, aber ihre Kernelemente sind zunächst erhalten geblieben. Der Hitlerputsch galt weiterhin als Hitlers Putsch – und nur als Hitlers Putsch. Die getöteten Putschisten wurden nach wie vor allesamt als Nationalsozialisten bezeichnet. Vor allem aber hatte der Kern der nationalsozialistischen Erzählung weiter Bestand, die enge Verknüpfung des Putsches am 8./9. November 1923 mit dem Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933.
Erst Hanns Hubert Hofmann[1] und Ernst Deuerlein[2] lieferten zu Beginn der Sechzigerjahre ein präziseres Bild des Geschehens und machten auf Verbindungen zwischen der bayerischen Machtelite und Hitler aufmerksam, die es 1923 gegeben hatte. Harold J. Gordon jr. beleuchtete 1978 vor allem die Abläufe und Vorgänge an den Putschtagen sehr detailliert.[3] Der umfassendere Kontext und die genauere Kenntnis der bayerischen Verhältnisse, wie man sie bei Hofmann und Deuerlein findet, fehlen hier allerdings. Spätestens mit Gordons minutiösem Bericht über die Putschtage war aber offenbar aus Sicht der Historikerzunft alles Wesentliche erforscht und gesagt. Der Hitlerputsch geriet in den Windschatten des Interesses. In den vergangenen 45 Jahren ist keine größere Monografie mehr erschienen.
In der wissenschaftlichen Literatur ist es in diesen Jahrzehnten selbstverständlich geworden, auch auf die gegenrevolutionären Bestrebungen der bayerischen Machtelite hinzuweisen. Keine Gesamtdarstellung zur Weimarer Republik, keine Hitlerbiografie, in der nicht auch die Namen Gustav von Kahr und Otto von Lossow erwähnt werden. Wie die Zusammenarbeit konkret aussah, welches Gewicht dabei dem bayerischen Generalstaatskommissar, dem Kommandanten der bayerischen Reichswehrdivision und ihrem Machtapparat zukam und wie weit die Vertreter Bayerns in ihrem Kampf gegen das Reich zu gehen bereit waren, bleibt allerdings vielfach unscharf.
In der nichtwissenschaftlichen Literatur wird dagegen nach wie vor häufig die Rolle des bayerischen Generalstaatskommissars Kahr unterschätzt und die Rolle der bayerischen Landespolizei darauf reduziert, dass sie Hitlers Putsch am 9. November 1923 niedergeschlagen habe. Hier erscheint in aller Regel Hitler als derjenige, von dem alle Initiative ausgeht, und das prägt unser «populäres» Bild der Weimarer Republik nach wie vor. Der Hitlerputsch 1923 und der Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933 bilden gewissermaßen eine Klammer, fassen die Geschichte der Weimarer Republik scheinbar prägnant zusammen und verdichten sie so auf die Auseinandersetzung mit den an die Macht drängenden Nationalsozialisten. Hitler ist der entscheidende Mann – schon 1923 und erst recht 1933. Der Hitlerputsch wird als Vorstufe zum Machtantritt Hitlers wahrgenommen. Die relativ guten Jahre zwischen 1924 und 1929, in denen sich die wirtschaftliche Lage stabilisierte und die Politik in ruhigeres Fahrwasser kam, werden in diesem Bild an den Rand gedrängt und kaum zur Kenntnis genommen. Das Scheitern der Demokratie scheint fast vorprogrammiert.
Löst man die enge Verbindung zwischen 1923 und 1933, dann wird der Blick auf das Geschehen offener, das wir üblicherweise «Hitlerputsch», gelegentlich auch «Hitler-Ludendorff-Putsch» nennen. Das Handeln anderer Akteure erhält eigenständiges Gewicht. Wenn man sich den Ereignissen losgelöst von den alten einschränkenden Bildern nähert, wenn man die Rahmenbedingungen des Geschehens auszuleuchten beginnt, dann wird schnell klar, dass der Hitlerputsch keineswegs nur Hitlers Putsch war. Man könnte ihn vielleicht die Spitze eines Eisbergs nennen, dessen unter der Oberfläche verborgenen Teile bis nach Berlin reichten.
Bereits seit 1920 machte sich in Bayern die Vorstellung breit, der Freistaat sei die «Ordnungszelle», aus der heraus das «jüdisch und marxistisch verseuchte» Berlin wieder auf nationalen Kurs gebracht werden müsse.
In der bayerischen Einwohnerwehr, später in den «vaterländischen» Verbänden, standen bis zu 300.000 Mann unter Waffen, die weiß-blau, schwarz-weiß-rot oder völkisch-nationalistisch orientiert waren – keinesfalls aber republikanisch.
Hitler wurde in München groß durch die Unterstützung angesehener Gönner und unter der schützenden Hand mächtiger Repräsentanten der bayerischen Staatsgewalt.
Im Krisenjahr 1923, das mit der Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien begann, träumte keineswegs nur Hitler vom «Marsch auf Berlin», sondern die gesamte «vaterländische» Rechte Bayerns.
Die bayerische Regierung und der bayerische Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr gingen ab Mitte September 1923 auf einen scharfen Konfrontationskurs zur Reichsregierung in Berlin, dessen Ziel es war, die Reichsregierung unter Stresemann zu stürzen und eine national orientierte Diktatur zu etablieren.
Die Rekonstruktion der Ereignisse wird im Fall des Hitlerputsches aber nicht nur durch überkommene Deutungsmuster behindert, sondern viel mehr noch durch handfeste politische und geschichtspolitische Interessen. Insbesondere Generalstaatskommissar Kahr hatte darauf geachtet, mit dem hochverräterischen Unternehmen nicht unmittelbar in Verbindung zu kommen. Für den Fall des Scheiterns sollte ihm die Option einer «plausiblen Abstreitbarkeit» bleiben. Bereits am 9. November 1923 setzte er alle Hebel in Bewegung, um seine eigene Rolle und die seiner engsten Mitstreiter zu verschleiern und zu vertuschen. Auch der bayerische Ministerpräsident Eugen von Knilling hatte damals keinerlei Interesse daran, Licht in das Dunkel zu bringen, weil dann womöglich bekannt geworden wäre, in welchem Ausmaß er selbst informiert und einbezogen war. Die bayerische Justiz hat 1924 nicht nur ein skandalöses und das Recht beugendes Urteil über die Angeklagten im Hitlerprozess gefällt, sondern ihren Teil zur Vertuschung aus Gründen der «Staatsräson» beigetragen.
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Quellenlage. Die grundlegenden, 19 Bände umfassenden Prozessakten des Volksgerichts München I sind nicht mehr vorhanden. Auch nicht die vier Aktenbände des bayerischen Justizministeriums, die sich auf Putsch und Prozess beziehen. Sie sind zusammen mit anderen für die sogenannte «Kampfzeit» des Nationalsozialismus relevanten Justizunterlagen nach 1933 den Registraturen entnommen und gesondert verwahrt worden. Im April 1945 wurden sie schließlich gezielt verbrannt.[4]
Glücklicherweise war es allerdings 1924 einem jungen sozialdemokratischen Abgeordneten gelungen, im Bayerischen Landtag die Einrichtung eines «Ausschusses zur Untersuchung der Vorgänge vom 1. Mai 1923 und der gegen Reichs- und Landesverfassung gerichteten Bestrebungen vom 26. September bis 9. November 1923» durchzusetzen. Wilhelm Hoegner, der nach 1945 Bayerischer Ministerpräsident wurde, konnte seinerzeit als Mitglied im Untersuchungsausschuss noch all die Akten einsehen und in die Arbeit des Ausschusses einbeziehen, die später vernichtet wurden. Eine Niederschrift über die Sitzungen des Untersuchungsausschusses ist im Bayerischen Hauptstaatsarchiv erhalten. Eine gekürzte Fassung von Hoegners umfassendem Bericht für den Ausschuss wurde 1928 in zwei Teilen vom Landesausschuss der SPD in Bayern veröffentlicht.[5] Beide Dokumente sind heute Quellen von herausragender Bedeutung, weil sie ausführlich aus zahlreichen Vernehmungen zitieren, deren Niederschriften 1945 verbrannt wurden.
Von ebenso herausragender Bedeutung sind die stenografischen Mitschriften der Hauptverhandlung im Hitlerprozess, die in vier Bänden in den Jahren 1997 bis 1999 veröffentlicht wurden. Die Angeklagten bekannten sich 1924 vor Gericht ganz offen zu ihren Taten. Die Strategie der Verteidigung bestand in erster Linie darin, die Verwicklung höchster Repräsentanten des Freistaats Bayern in die hochverräterischen Planungen und Aktivitäten offenzulegen. Natürlich ist die Interessenlage der Verteidiger bei der Verwendung dieser Quellen zu berücksichtigen. Doch auch bei streng quellenkritischer Bewertung finden sich in diesen stenografischen Prozessprotokollen zahlreiche Hinweise auf das tatsächliche Geschehen, das 1924 nicht ans Licht kommen sollte.
Vor allem wegen der zielgerichteten Vertuschungsaktivitäten war es über weite Strecken ein ausgesprochen kriminalistisches Unterfangen, dieses Buch zu schreiben – aber gerade deshalb auch ein besonders reizvolles.
Ein Historiker ist kein Richter. Für die Bewertung im Prozess der historischen «Wahrheitsfindung» haben Indizien und Plausibilität einen höheren Stellenwert als vor Gericht, wo auch bei geringfügigen Zweifeln die Unschuldsvermutung gilt. Ich bin überzeugt aufzeigen zu können, dass die politisch mächtigen Drahtzieher des für Herbst 1923 geplanten Putsches im Münchner Generalstaatskommissariat und im Münchner Wehrkreiskommando zu suchen sind. Gemeinsam mit norddeutschen und Berliner Akteuren waren sie fest entschlossen, die große wirtschaftliche und politische Krise zu nutzen, in die Deutschland 1923 geraten war. Ihr Ziel war es, die parlamentarische Demokratie zu beseitigen und durch eine nationale Diktatur zu ersetzen. Das war nichts anderes als Hochverrat. Der Mussolini nachempfundene «Marsch auf Berlin» war nicht nur der Traum der völkischen Bewegung in Bayern, er wurde vielmehr von großen Teilen der politischen Rechten geträumt, ob sie nun weiß-blau oder schwarz-weiß-rot orientiert war.
Hitler war nur eine Randfigur in diesem Geschehen. Über die komplexen Zusammenhänge im Geflecht zwischen den Verschwörern in München und Berlin war er nie detailliert im Bilde. Schlecht informiert und von persönlichem Ehrgeiz getrieben hat er am 8. November vorzeitig einen Putsch ausgelöst und damit die Hochverräter aus der Münchner Machtelite in eine ausgesprochen prekäre Situation gebracht. Ihnen blieb schließlich keine andere Wahl als sich gegen Hitlers Putsch zu wenden und damit zugleich ihren eigenen unmöglich zu machen, auf den sie seit vielen Wochen hingearbeitet hatten. Auch die Planungen der Berliner Verschwörer hat Hitler mit seinem Vorpreschen vollständig durchkreuzt. So hat ausgerechnet er den überzeugten Demokraten an der Staatsspitze die Chance verschafft, durch geschickte Politik die Republik zu retten, die schon verloren schien.[6]
Der Hitlerputsch war kein punktuelles Ereignis, das allein aus dem großen Krisenjahr 1923 heraus erklärt werden könnte. Will man ihn angemessen verstehen und einordnen, ist es mit einem kurzen Streifzug durch seine unmittelbare Vorgeschichte nicht getan. Es ist vielmehr notwendig, sich ausführlicher mit der bayerischen und der deutschen Geschichte seit 1918 zu beschäftigen. Nur so ist die demokratiefeindliche Stimmung in Bayern nach Revolution und Räterepublik zu fassen, die sich zu einem regelrechten Komplott gegen die Weimarer Republik entwickeln konnte. Nur so ist auch das Phänomen «Hitler» zu verstehen. Der Nationalsozialist, wie wir ihn kennen, wurde in München durch seine Unterstützer «gemacht». Er ist das Produkt der extrem aufgeladenen antisemitischen und völkisch-nationalistischen Stimmung, die sich in Bayern nach Krieg und Revolution breit machte. Was Hitler angeht, ist es sogar angebracht, bis ins Jahr 1913 zurückzuschauen, das Jahr in dem er erstmals bayerischen Boden betrat.
2
Am 25. Mai 1913 stieg der damals 24-jährige Adolf Hitler auf dem Münchner Hauptbahnhof aus dem Zug. Nichts deutete darauf hin, dass der Sohn eines österreichischen Zollbeamten aus Braunau am Inn in München zu einem Mann werden könnte, der zwanzig Jahre später mit diktatorischer Gewalt über das Deutsche Reich herrschen würde. Die Realschule hatte er ohne Abschluss verlassen, seine Versuche, sich zum Kunstmaler ausbilden zu lassen, waren kläglich gescheitert. Die Allgemeine Malerschule der Wiener Kunstakademie hatte es rundweg abgelehnt, ihn als Studenten aufzunehmen. In künstlerischer Hinsicht kam er über das Kopieren der Motive von Wiener Ansichtskarten nie hinaus. Gelebt hat er vom kleinen Erbe, das ihm seine Eltern hinterließen, und von einer Waisenrente, die ihm zuerkannt wurde.
Als das Geld knapp wurde, war er gezwungen, sich in immer kleinere Zimmer einzumieten, die immer weiter vom Stadtzentrum Wiens entfernt lagen. Schon bald bedeutete Wien dem erfolglosen jungen Mann nicht mehr allzu viel. Und dann drohte auch noch der obligatorische Wehrdienst, den er offenbar in Österreich auf keinen Fall ableisten wollte. Das war wohl einer der Hauptgründe für seinen recht plötzlichen Umzug nach München.[1]
Die Angelegenheit hatte ein kleines Nachspiel. In München erhielt er bereits am 18. Januar 1914 Besuch von einem Beamten der Münchner Kriminalpolizei, der ihm eine Vorladung des Linzer Magistrats überbrachte. Hitler lebte zu diesem Zeitpunkt mit einem österreichischen Landsmann zusammen in einem kleinen Zimmer im Dachgeschoss des Hauses Schleißheimerstraße 34 am westlichen Rand von Schwabing.[2] Der Polizist nahm ihn auf der Stelle mit und brachte ihn ins österreichische Konsulat, «wo Hitler mitleidheischend auf sein schweres Leben als verwaister Künstler verwies – der Kampf um das tägliche Brot habe ihn seine staatsbürgerlichen Pflichten vergessen lassen.» Das scheint den Konsul beeindruckt zu haben, denn er sorgte dafür, dass Hitler erst zwei Wochen später zur Musterung antreten musste, und auch nicht in Linz, sondern im nähergelegenen Salzburg. Dort wurde er am 5. Februar für nicht waffentauglich befunden.[3]
Das hinderte Hitler allerdings nicht daran, seiner Begeisterung freien Lauf zu lassen, als die europäischen Mächte im Sommer 1914 auf einen großen Krieg zusteuerten. Als sich am 2. August Tausende von Menschen auf dem Münchner Odeonsplatz versammelten, um die deutsche Kriegserklärung an Russland zu bejubeln, war er mitten unter ihnen. Nicht nur für ihn, sondern für viele Menschen seiner Generation war der Ausbruch des Ersten Weltkriegs «ein emotionales Schlüsselerlebnis.»[4]
Am 2. August 1914 feiern Tausende von Menschen auf dem Münchner Odeonsplatz die deutsche Kriegserklärung an Russland – mitten unter ihnen Adolf Hitler.
Irgendwie fand der beschäftigungslose österreichische Kunstmaler einen Weg, um ins bayerische Heer einzutreten. Bereits 1924 war nicht mehr zu rekonstruieren, wie Hitler das – gegen alle Regeln und Gepflogenheiten – gelungen war.[5] Fakt aber ist: «Der Krieg gab seinem verpfuschten, von Enttäuschungen und Entbehrungen geprägten Leben endlich einen Sinn.»[6]
Gleich im Oktober 1914 machte er in Flandern erste Schlachterfahrungen und wurde mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet, später auch mit dem EK I. Danach setzte man ihn bis zum Kriegsende vor allem als Meldegänger zwischen dem Regimentsstab und den Stäben der Bataillone ein, in aller Regel einige Kilometer hinter der Front. Hitler überstand den Krieg fast unversehrt. 1916 wurde er durch einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet. Als das Ende schon absehbar war, geriet er im Oktober 1918 in Flandern in einen Senfgasangriff. Senfgas führte meist zu einer zeitweisen Erblindung, die aber in der Regel rasch abklang. Hitler wurde am 21. Oktober als leicht Verwundeter in das Reservelazarett Pasewalk eingewiesen. Wenn er am 8. November 1923 von sich als einem «blinden Krüppel im Lazarett» sprach, so war das maßlos übertrieben. Auch seine Behauptung, er habe in Pasewalk den Entschluss gefasst, «nicht zu ruhen und zu rasten, bis die Novemberverbrecher zu Boden geworfen sind», ist ein reines Produkt seiner Fantasie, aber eine Geschichte, die seine Anhänger begeisterte. Tatsächlich gibt es kein Indiz dafür, dass die Revolution, die das Deutsche Reich Anfang November 1918 umwälzte, bei Hitler spontan irgendeinen Gedanken an Widerstand oder Konterrevolution ausgelöst haben könnte.
Ende September hatte die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) mit Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als repräsentativem Chef und Generalquartiermeister Erich Ludendorff als strategischem Kopf erkannt, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Jeden Monat kamen zusätzlich 250.000 frische und gut ausgebildete amerikanische Soldaten auf die Schlachtfelder im Westen, im Südosten Europas brachen nach und nach die Verbündeten des Deutschen Reichs zusammen. Am 29. September erklärte die OHL dem überraschten Reichskanzler, nun müsse sofort US-Präsident Woodrow Wilson gebeten werden, einen Waffenstillstand herbeizuführen.
Wilson hatte in einer Rede vor dem US-Kongress im Januar 1918 erklärt, sein Ziel sei es, einen Frieden der Verständigung zu erreichen. Er hatte allerdings auch erklärt, ein solcher Verständigungsfrieden könne nicht mit den bisherigen Machthabern in Deutschland abgeschlossen werden, sondern nur mit einer Regierung, die den Willen des deutschen Volkes verkörpere. Deshalb befahl die OHL Ende September zugleich, die demokratischen Parteien des Reichstags müssten jetzt an der Regierung beteiligt werden, das Deutsche Reich müsse eine neue Verfassung bekommen und zur parlamentarischen Monarchie gemacht werden. Die Verfassungsreform wurde im Eilverfahren durchgepaukt, aber sie war nicht mehr als ein Scheinmanöver, mit dem Wilson positiv gestimmt werden sollte.
Das durchschaute die US-Administration. Es kam zu einem umfangreichen diplomatischen Notenwechsel – und am 24. Oktober zu einem radikalen Kurswechsel der OHL und der Seekriegsleitung. Der änderte nichts an der aussichtslosen militärischen Lage, wohl aber an der Stimmung unter Soldaten und Matrosen und auch unter den Arbeitern und ihren Familien, die in der Heimat seit Jahren hungerten und bittere Not litten.
Oft bricht sich revolutionäre Energie dann Bahn, wenn in Notsituationen große Hoffnungen auf Verbesserung bitter enttäuscht werden. So auch im Oktober und November 1918. Die Matrosen der Hochseeflotte hatten den Waffenstillstand vor Augen, sollten nun aber zu einer letzten großen Schlacht gegen die Flotte der Royal Navy auslaufen. Es kam zur Meuterei auf Schiffen, in Kiel gemeinsam mit den dortigen Arbeitern und Soldaten zum Aufstand, und dann erfasste innerhalb weniger Tage eine gewaltige Revolutionsbewegung das ganze Land.
Diese Bewegung stieß nirgendwo auf nennenswerten Widerstand. Am 9. November erreichte sie Berlin. Dort hatte der Militärbefehlshaber starke Truppenverbände zusammengezogen, um jeden Versuch einer Revolution niederzuschlagen, aber ein umfassender Generalstreik und Hunderttausende von Demonstranten machten all diese Pläne zur Makulatur. Am Mittag wurde die Abdankung des Kaisers verkündet und die Republik ausgerufen. Am folgenden Tag sprach der Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, von der «größten aller Revolutionen», die das Kaiserreich und alles, was dazugehörte, weggefegt habe.[7] Die Macht lag nun bei den Arbeiter- und Soldatenräten, die als Organe der Revolutionsbewegung überall gebildet worden waren. Sie wählten am 10. November in Berlin eine neue Reichsregierung, an deren Spitze ein «Rat der Volksbeauftragten» stand, mit jeweils drei Vertretern der SPD und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) – die Sozialdemokratie hatte sich wegen der Haltung zum Krieg im Jahr 1917 gespalten.
Am 11. November wurde in Compiègne nördlich von Paris der Waffenstillstand unterzeichnet – auf deutscher Seite nicht etwa vom Chef der OHL, Generalfeldmarschall von Hindenburg, sondern von einem Minister, Staatssekretär Matthias Erzberger. Erzberger konnte nicht ahnen, welche Folgen das haben würde. Ludendorff hatte die Falle schon am 29. September vorbereitet, als er die demokratischen Parteien in die Pflicht nahm, und Hindenburg wusste sehr genau, was er tat, als er im deutschen Hauptquartier an Erzbergers patriotisches Verantwortungsgefühl appellierte. Geschmeichelt tat der, wozu Hindenburg ihn aufforderte. Es war ein nicht wiedergutzumachender politischer Fehler, der Erzberger 1921 das Leben kosten sollte.
Am 12. November erließ der Rat der Volksbeauftragten einen «Aufruf an das deutsche Volk» und kündigte darin mit Gesetzeskraft an, dass von nun an in Deutschland alle Parlamente in direkter, allgemeiner, freier, gleicher und geheimer Wahl bestimmt werden sollten. Frauen bekamen das Wahlrecht. Das preußische Dreiklassenwahlrecht wurde abgeschafft. Für Betriebe und Behörden wurde der Acht-Stunden-Tag verkündet.[8] Die deutsche Republik sollte auch eine soziale Republik werden. Dieser Aufruf gilt als Magna Charta der deutschen Revolution.
Von alledem hat Hitler wohl in Pasewalk mit etwas Verzögerung erfahren. Es ist keine Äußerung aus der damaligen Zeit von ihm bekannt, mit der er das Geschehen negativ bewertet hätte. Am 19. November wurde er als «kriegsverwendungsfähig» zum Ersatzbataillon des 2. Bayerischen Infanterieregiments nach München entlassen.
Hitler kam in eine Stadt, die ihre eigene Revolution bereits zwei Tage vor der Ausrufung der Republik in Berlin erlebt hatte. Am 7. November 1918 hielt Kurt Eisner, seit 1917 die charismatische Führungsgestalt der Münchner Unabhängigen Sozialdemokratie, auf der Theresienwiese eine große Friedenskundgebung ab.[9] Dabei wurde auch lautstark das Ende der Monarchie gefordert. Anschließend zogen die Teilnehmer in einem gewaltigen Demonstrationszug durch die Straßen der Stadt. Viele Soldaten schlossen sich an. Die Stimmung heizte sich immer mehr auf. Mit lauten antimonarchistischen Parolen ging es zur Residenz. Der größte Teil des Zuges war bereits vorbei, als eine Gruppe von Demonstranten zu den Portalen der Residenz stürmte, Eisner vorneweg. Die Wachen leisteten keinen Widerstand – so war es ihnen befohlen worden. Niemand griff ein. Kein Offizier, kein Ministerium, keine Behörde, kein Beamter wurde aktiv. Die Bayerische Monarchie fiel widerstandslos in sich zusammen wie alle anderen Monarchien im Reich. In der Nacht wurde das Landtagsgebäude besetzt, und Eisner proklamierte den Freistaat Bayern. «Als die Münchner Bürger sich am Morgen des 8. den Schlaf aus den Augen rieben, waren sie Republikaner geworden.»[10]
In einem Aufruf an die Bevölkerung Münchens kündigte Eisner die schnellstmögliche Wahl einer konstituierenden Nationalversammlung durch alle mündigen Männer und Frauen an, garantierte die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sowie die Sicherheit der Person und des Eigentums. Grundsätzliche soziale und politische Reformen würden unverzüglich auf den Weg gebracht werden. All dies wollten SPD und USPD gemeinsam umsetzen. «Der Bruderkrieg der Sozialisten ist für Bayern beendet.» [11]
Die Novemberrevolution war auch in Bayern eine demokratische und soziale Revolution, wollte nicht die Herrschaft einer Partei oder die Diktatur des Proletariats errichten. Am 8. November wählte der in der Nacht entstandene «Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat» Kurt Eisner zum Ministerpräsidenten des Freistaats. Das wichtige Innenministerium übernahm Erhard Auer, der Vorsitzende der SPD, und auch der Minister für militärische Angelegenheiten – bewusst kein Kriegsminister – war ein Sozialdemokrat. Der Regierung gehörten aber auch bürgerliche Fachmänner an.
Es war der besonderen sozialen und wirtschaftlichen Situation in Bayern geschuldet, dass Eisner die Arbeiter- und Soldatenräte um Bauernräte erweiterte. Bayern wurde 1918 in weiten Teilen noch immer von mittlerem Bauerntum und mittelständischem Handwerk geprägt. Industriestandorte gab es durchaus – etwa in den Räumen München, Nürnberg-Fürth, Augsburg –, aber in Ober- und Niederbayern sperrte man sich gegen jeden Industriekapitalismus. Dem versuchte die SPD schon seit langem gerecht zu werden, indem sie einen betont konservativen Kurs eingeschlagen hatte. Auch Eisners USPD hielt daran im Kern fest.
Noch am 8. November verließ König Ludwig III. die Stadt. Fünf Tage später verzichtete er vom bayerischen Krongut Salzburg aus auf den Thron und entband Beamte, Offiziere und Soldaten von dem Treueid, den sie ihm gegenüber geleistet hatten. Die bayerische Revolution geriet im November schnell in ruhiges Fahrwasser und wurde nicht nur von der Arbeiterschaft, sondern auch von großen Teilen des Bürgertums positiv wahrgenommen. Sein Verhältnis zur Entwicklung der Dinge, notierte Thomas Mann am 10. November in sein Tagebuch, sei «freundlich, hoffnungsvoll, empfänglich, bereitwillig».[12] Auch Rainer Maria Rilke erlebte Kriegsende und Revolution in München. Er bekannte, dass er eine «rasche und freudige Zuversicht» fassen konnte, weil er darauf hoffte, dass die Menschheit in der Lage wäre, «eine ganz neue Seite der Zukunft aufzuschlagen».[13]
Ganz anders war die Stimmung im völkisch-nationalistischen Lager, das in Bayern besonders stark war. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert war München eine Hochburg des Antisemitismus gewesen und spielte auch eine prominente Rolle in der alldeutschen Bewegung.[14] Am 17. August 1918 wurde hier die «Thule-Gesellschaft» gegründet. Offiziell war sie ein Studienkreis, der sich mit alter deutscher Geschichte und Kultur befasste, doch in Wirklichkeit handelte es sich um eine «sektiererische Geheimgesellschaft, die für deutsche Machtentfaltung nach außen und rassische Reinheit im Innern eintrat.» Wer Mitglied werden wollte, musste nachweisen, dass es in seiner Familie «mindestens in den letzten drei Generationen ausschließlich deutsche Vorfahren gegeben hatte». Das Hauptquartier der Gesellschaft war eine Suite im vornehmsten Münchner Hotel, dem «Vier Jahreszeiten». «Die Gesellschaft konnte sich eine so luxuriöse Bleibe leisten, weil sich unter ihren etwa 200 Mitgliedern etliche sehr wohlhabende und hochgestellte Persönlichkeiten befanden.»[15] In diesem Milieu stand man der Revolution von Anfang an feindlich gegenüber. Schon am 10. November gründete die Thule-Gesellschaft eine paramilitärische Geheimorganisation zum Sturz der Revolutionsregierung. «Zu diesem ‹Kampfbund Thule› gehörten auch die späteren Nazi-Größen Rudolf Heß, Hans Frank und Alfred Rosenberg.»[16]
In nationalistischen Kreisen war man nicht bereit zu akzeptieren, dass die deutschen Armeen militärisch besiegt worden waren. Man suchte nach Schuldigen an der Niederlage und fand sie in streikenden Arbeitern und demokratischen Politikern. Schon im November 1918 wurde die Novemberrevolution als «Dolchstoß» in den Rücken des kämpfenden Heeres bezeichnet.[17] Für diese Kreise fügte es sich ins Bild, dass Eisner am 23. November 1918 geheime Berichte der bayerischen Gesandtschaft in Berlin aus dem Sommer 1914 veröffentlichte. Ihm ging es um einen ehrlichen Neuanfang in der internationalen Politik, zu dem in seinen Augen auch gehörte, deutsche Verantwortlichkeiten im Hinblick auf den Kriegsbeginn offenzulegen. Für die nationale Rechte war seine Veröffentlichung schlichter Landesverrat. Als Eisner Anfang Februar 1919 bei einer internationalen Konferenz sozialistischer Parteien in Bern von deutscher Kriegsschuld sprach, bekam er vom Kongress viel Beifall, hatte aber wohl auch sein Todesurteil gesprochen. Er war jetzt der «bestgehasste Mann in Deutschland».[18] Ein Attentat auf Eisner liege in der Luft, notierte Mitte Februar Herbert Field in sein Tagebuch, der sich als Repräsentant der amerikanischen Kommission für die Friedensverhandlungen in München aufhielt.[19]
Die Bayerische Volkspartei (BVP) und viele Zeitungen forderten jetzt ultimativ Eisners Rücktritt als Ministerpräsident. Der war schon deshalb unvermeidbar, weil die Wahlen zur bayerischen Landesversammlung am 12. Januar 1919 Eisners USPD eine dramatische Niederlage beschert hatten. Sie hatte weniger als drei Prozent der Stimmen erhalten. Stärkste Partei war mit 35 Prozent die Bayerische Volkspartei geworden, die Schwesterpartei der katholischen Zentrumspartei, die allerdings einen sehr eigenen politischen Kurs verfolgte. Dicht dahinter lag die SPD mit 33 Prozent, sie hatte im Vergleich zur Wahl von 1912 mehr als 13 Prozent dazugewonnen. Am 21. Februar sollte der neu gewählte Landtag zu seiner ersten Sitzung zusammentreten, und Eisner wollte bei dieser Sitzung seinen Rücktritt erklären. Doch dazu kam es nicht, der 21. Februar wurde zu einem «Schicksalstag für Bayern».[20]
Auf dem Weg zum Landtag wurde Eisner vom 21-jährigen Anton Graf von Arco auf Valley von hinten erschossen, einem völkisch-nationalistischen Studenten und beurlaubten Leutnant des Königlich Bayerischen Infanterie-Leib-Regiments. Arco tötete den Ministerpräsidenten durch zwei Schüsse in Rücken und Kopf, die er aus nächster Nähe abgab. Eisners Leibwächter schossen auf den Attentäter und verletzten ihn schwer. In einer handschriftlichen Notiz erklärte Arco vor dem Attentat: «Eisner ist Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher, er fühlt nicht deutsch, untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen, ist ein Landesverräter.» Später nannte er insbesondere den «Geheimnisverrat Eisners an die Alliierten» als Motiv für sein Attentat.[21]
Die Nachricht von der Ermordung Eisners löste keineswegs nur Trauer und Entsetzen aus. In Teilen des Bürgertums wurde sie begrüßt. An der Universität herrschte ein solcher Jubel, dass Professor Wilhelm Röntgen seine Vorlesung aussetzen musste. Thomas Mann notierte in sein Tagebuch: «Die Schulkameraden unserer Jungen haben bei der Nachricht applaudiert und getanzt.» Zwei Tage nach dem Mord besuchte der Schriftsteller den Tatort. «An der Straßenstelle, wo Eisner fiel, liegt ein Kranz mit seinem Bild, und ein Häufchen blutigen Straßenschmutzes ist zusammengekehrt.»[22]
In der bayerischen Politik löste die Ermordung Eisners Chaos und völlige Verwirrung aus. Eine Stunde nach dem Mord stürzte ein Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats in den Saal des Bayerischen Landtags und feuerte zwei Schüsse auf Erhard Auer ab, den Innenminister und Vorsitzenden der SPD, weil er Auer für politisch verantwortlich hielt. In dem anschließenden Tumult wurden ein Abgeordneter der Bayerischen Volkspartei und ein als Besucher anwesender Major getötet. Auer überlebte das Attentat schwer verletzt, aber die politischen Folgen waren enorm. «In wilder Panik stieben die Abgeordneten davon», beschrieb Ernst Toller die Szene, «sie lassen das Parlament, das Volk, ihre Mandate, ihre Hüte und Mäntel im Stich, Bayern hat keine Regierung.»[23]
Eisners Beisetzung am 26. Februar zeigte eindrucksvoll die Popularität des charismatischen Sozialistenführers im linken Lager und war wohl auch ein deutliches Statement gegen politisch motivierten Mord. Mehr als 100.000 Menschen folgten dem Sarg durch München oder standen am Straßenrand. Heinrich Mann erklärte, «die hundert Tage» von Eisners Regierung hätten «mehr Ideen, mehr Freuden der Vernunft, mehr Belebung der Geister gebracht als die fünfzig Jahre vorher».[24]
Auch Adolf Hitler erwies Eisner offenbar mit einer roten Armbinde die letzte Ehre – manche Experten sind überzeugt, ihn auf einer Fotografie im Trauerzug entdeckt zu haben.[25] Das ist weniger erstaunlich, als es zunächst scheint. Hitler hatte sich unter seinen Kameraden den Ruf eines engagierten und redegewandten Soldaten erworben und war Mitte Februar zum Vertrauensmann seiner Kompanie gewählt worden, die treu zur Eisner-Regierung stand. Hitler hätte sich in den Wochen zuvor durchaus einem der Freikorps oder einer der sektiererischen Vereinigungen im völkisch-nationalistischen Dunstkreis anschließen können, hat dies aber nicht getan. Er soll zu diesem Zeitpunkt der Revolution positiv gegenüber gestanden haben.[26] Die sozialdemokratische Münchener Post berichtete am 25. März 1923, Hitler habe im Frühjahr 1919 einer Propagandaabteilung angehört, die der Arbeiter- und Soldatenrat in Hitlers Bataillon eingerichtet hatte. Ziel sei es gewesen, «die demokratisch-republikanische Staatsform als das erstrebenswerte politische Ziel zu unterstreichen.» Hitler habe Vorträge vor Soldaten gehalten, «galt seiner politischen Überzeugung nach in den Kreisen der Propagandaabteilung als Mehrheitssozialist und gab sich auch als solcher aus, wie so viele, war aber nie politisch oder gewerkschaftlich organisiert.»[27] Ob Hitler sich aus Überzeugung oder aus reinem Opportunismus zur Revolution bekannte, ist hier nicht zu klären. Es war für ihn zweifellos von großer Bedeutung, möglichst lange in der Reichswehr verbleiben zu können, wollte er nicht mittellos und ohne jede Perspektive auf der Straße stehen.
Während die Ermordung Eisners Bayern in große Unsicherheiten stürzte, kam es auf Reichsebene im Februar zunächst zu einer gewissen Beruhigung der politischen Verhältnisse. Nach erfolglosen Putschversuchen der Militärs im Dezember und dilettantischen Umsturzversuchen der radikalen Linken Anfang Januar hatten am 19. Januar 1919 die Wahlen zur Nationalversammlung eine Dreiviertel-Mehrheit für eine sozialdemokratisch-bürgerliche Koalition aus SPD, Zentrumspartei und Deutscher Demokratischer Partei (DDP) ergeben. Am 6. Februar kam die Nationalversammlung in Weimar zu ihrer ersten Sitzung zusammen, am 11. Februar wählte sie den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten, und der setzte die neue Regierung ein, an deren Spitze sein Parteifreund Philipp Scheidemann stand.
Diese Regierung war mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert. Die wirtschaftliche und soziale Lage im Land war katastrophal. Vor allem in den Industriegebieten an der Ruhr und in Mitteldeutschland kam es immer wieder zu großen Streiks der unzufriedenen Arbeiterschaft, deren materielle Lage sich nicht erkennbar verbesserte. Auch die Sozialisierung des Bergbaus und der Schwerindustrie, ein wichtiges Ziel der sozialistischen Arbeiterbewegung, kam nicht voran. Streiks und Unruhen ließ die Regierung im Frühjahr 1919 von Freikorps und letzten Einheiten der alten Armee niederschlagen, die sie schon im Januar gegen die Aufständischen in Berlin eingesetzt hatte. Damals waren von diesen Einheiten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die führenden Köpfe der gerade gegründeten KPD, ermordet worden. Auch jetzt, im Frühjahr, griffen diese Einheiten schnell zu exzessiver Gewalt. Während die Novemberrevolution ausgesprochen friedlich verlaufen war, fielen im Frühjahr mehrere Tausend streikende oder aufständische linksorientierte Arbeiter dem brutalen Vorgehen der Freikorps zum Opfer, in denen rechtsextreme Gesinnung dominierte und das Hakenkreuz am Stahlhelm Karriere machte.
Karriere machte im Frühjahr 1919 auch die Dolchstoßlüge. Scheidemann hatte in seiner Regierungserklärung am 13. Februar die Niederlage im Weltkrieg als unvermeidlich bezeichnet. Die Antwort der rechtsorientierten Presse war eine regelrechte Kampagne, in der die Revolution für den militärischen Zusammenbruch verantwortlich gemacht wurde. General Ludendorff nutzte die Gelegenheit, um jede Verantwortung für das Waffenstillstandsgesuch von sich zu weisen. Das war verlogen und perfide – aber erfolgreich. Ludendorff kehrte am 21. Februar 1919 nach Deutschland zurück, er hatte sich im November nach Schweden abgesetzt.[28] Er gehörte schon im Frühjahr 1919 zu den aktivsten Feinden der jungen deutschen Demokratie und hinterließ eine breite Spur, die bis zum Hitlerputsch von 1923 führen sollte.
München kam nach der Ermordung Eisners nicht zur Ruhe. Nach einem kurzen, aber militanten Regime eines «Zentralrats», der nur aus Vertretern der radikalen Linken bestand, trat am 28. Februar in München ein Kongress der bayerischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte zusammen, der bis zum 8. März tagte. Die Räte lehnten einerseits die Errichtung einer Räterepublik ab, konnten sich aber andererseits auch nicht darauf verständigen, den gesprengten Landtag so schnell wie möglich wieder zusammentreten zu lassen. Auf der Suche nach einem Ausweg aus der komplexen und verfahrenen Situation verständigte man sich schließlich auf eine sozialistische Minderheitsregierung unter der Leitung des bisherigen Kultusministers und stellvertretenden Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (SPD). Am 17. März trat der Bayerische Landtag zusammen und wählte Hoffmann zum neuen Ministerpräsidenten.
Die Regierung bemühte sich zwar nach Kräften, die politisch völlig divergierenden Richtungen zusammenzuhalten und die desaströse wirtschaftliche Situation in Bayern zu lindern, war aber damit unter den gegebenen Umständen schlicht überfordert. Als in Ungarn am 21. März eine Räterepublik ausgerufen wurde, sah die extreme Linke darin ein Signal auch für Bayern. Sie forderte Bündnisse mit Moskau und Budapest. Als Hoffmann ankündigte, am 8. April den Landtag erneut zusammentreten zu lassen, rief sie am 7. April die «Bayerische Räterepublik» aus.
Die herausragenden Köpfe dieser Räterepublik waren zunächst sozialistische und anarchistische Schriftsteller, namentlich Ernst Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam. Die Münchner Kommunisten hatten im Vorfeld polemisiert, es handele sich um eine «Schein»-Räterepublik, die lediglich dazu diene, den Rätegedanken zu diskreditieren. Kaum war die Räterepublik ins Leben gerufen, vollzog die KPD dann allerdings eine Wende und versuchte, Anschluss an sie zu gewinnen. Die Regierung Hoffmann war bereits vor der Proklamation von München nach Bamberg ausgewichen. Ebert und die Reichsregierung bedrängten Hoffmann, so rasch wie möglich gegen die Räteregierung vorzugehen. Ein Versuch Hoffmanns mit eigenen militärischen Kräften scheiterte am 13. April, worauf nun die KPD die Chance sah, sich maßgeblich an der Räterepublik zu beteiligen.
Zum Schutz der Räterepublik werden in München bewaffnete Arbeiterwehren aufgeboten.
Zwei Tage danach, am 15. April, wurde Hitler «Ersatz-Bataillons-Rat des Demobilisierungs-Bataillons des 2. Infanterieregiments». In seiner Gesamtheit verhielt sich dieser Soldatenrat «sehr loyal» gegenüber der Räteregierung.[29]
Nach der maßgeblichen Beteiligung der Kommunisten an der Räterepublik wandte sich Ministerpräsident Hoffmann aus dem Bamberger Regierungs-Exil um Unterstützung an Reichswehrminister Gustav Noske, der in der zweiten Aprilhälfte etwa 35.000 Mann gegen die Bayerische Räterepublik in Marsch setzte. Schon beim Vormarsch auf München hinterließen die Freikorps eine Blutspur, wie man sie schon aus dem rheinisch-westfälischen und dem mitteldeutschen Industriegebiet kannte.
Innerhalb weniger Tage wird die Räterepublik von Freikorpstruppen niedergeschlagen, in denen fast durchweg rechtsextremes Gedankengut vorherrscht.
Am 30. April erschossen Angehörige der «Roten Armee» der Räterepublik zehn Gefangene, die sie als Konterrevolutionäre betrachteten, darunter sieben Angehörige der Thule-Gesellschaft. Diese Mordaktion ist durch nichts zu rechtfertigen – es war die einzige, die in diesen Tagen von Anhängern der Räterepublik verübt wurde. Bis heute ist der «Geiselmord im Luitpold-Gymnasium» fester Bestandteil jeder Erzählung über die Münchner Räterepublik. Der Geiselmord wurde auch von den Anhängern der Räteregierung scharf verurteilt, dennoch bot er den Regierungstruppen beim Einmarsch eine brauchbare Legitimation, keinerlei Rücksichten zu nehmen und barbarisch zu wüten. Am 3. Mai war München in der Hand der Regierungstruppen, die fast eine Woche lang auf alles schossen, was irgendwie verdächtig war. 52 ehemalige russische Kriegsgefangene wurden ebenso getötet wie zwölf Einwohner von Perlach, die meisten Sozialdemokraten, und 21 Mitglieder eines katholischen Gesellenvereins, die zu Unrecht als Spartakisten denunziert worden waren. Mehr als 600 Menschen kamen in diesen Tagen ums Leben, die meisten völlig unbeteiligte Zivilisten. Erst nach dem 8. Mai hörten die willkürlichen Erschießungen auf. 38 Angehörige der Regierungstruppen wurden bei der Niederschlagung der Räterepublik getötet.
Der Sturz der Räterepublik artet in Terror gegen ihre Anhänger und die Arbeiterschaft aus. Der Eisendreher Johann Lehner wird mit einem gesuchten Mitglied der «Roten Armee» verwechselt und kurzerhand erschossen. Unmittelbar vor seiner Erschießung fotografiert ihn der Freikorpsoffizier Hermann Pfeiffer.
Die Aufarbeitung des Geschehens durch die bayerische Justiz war bezeichnend. Gerichte verhängten in Verfahren, die mit der Räterepublik zusammenhingen, mehr als 1800 Freiheitsstrafen; im Durchschnitt mussten die Verurteilten ihre Strafe zu drei Vierteln verbüßen. Dagegen wurde von denen, die bei der Niederschlagung der Räterepublik Morde und andere Gräueltaten begangen hatten, kein einziger für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen.[30]
Der weiße Terror übertraf in diesen Tagen deutlich den roten, aber im Bewusstsein des Münchner Bürgertums und der konservativen Landbevölkerung blieb ausschließlich die «rote Schreckensherrschaft» der Räterepublik präsent, gegen die man sich für die Zukunft mit sogenannten Einwohnerwehren wappnen müsse. Jedenfalls fehlt in keiner Darstellung der Entwicklung Bayerns in den folgenden Jahren der Hinweis, die Entstehung der Einwohnerwehren und anderer bewaffneter Verbände habe ihren Ausgangspunkt in der Räterepublik gehabt und sei nur als Reaktion auf die schrecklichen Wochen im April 1919 zu verstehen.
Bei Hitler scheint das Erleben der Räterepublik zunächst keinen Sinneswandel ausgelöst zu haben. Unmittelbar nach der Niederschlagung der Räteherrschaft war jedenfalls keine grundsätzliche Wende oder Radikalisierung in seiner politischen Orientierung festzustellen. Am 3. Mai bekannte er sich in einer Versammlung der Angehörigen des 2. Infanterieregiments in der Mannschaftskantine auf dem Oberwiesenfeld zur Demokratie und «unter Vorbehalt zur Mehrheitssozialdemokratie.»[31] So jedenfalls war das am 29. Oktober 1930 im Berliner Tageblatt zu lesen. Berichte von Augenzeugen dürfen gewiss nicht überbewertet werden, zumal, wenn sie sich auf Jahre zurückliegende Ereignisse beziehen. Und doch deuten sie darauf hin, dass sich bei Hitler erst in den Monaten nach der Niederschlagung der Räterepublik diejenigen politischen Überzeugungen herausbildeten, die wir mit seinem Namen verbinden. Der amerikanische Historiker David Clay Large, der an der University of California in Berkeley lehrte, ist überzeugt: «Die eigentliche politische Sozialisation Hitlers setzte erst nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik ein.»[32]
3
Am 7. Mai 1919 wurden in Paris der deutschen Delegation die Friedensbedingungen der Alliierten übergeben. Sie lösten in ganz Deutschland einen Aufschrei der Empörung aus. Vergessen war, dass das Deutsche Reich im Frühjahr 1918 Russland einen gnadenlosen Siegfrieden aufgezwungen hatte. Jetzt hielt man die Gebietsabtretungen, die Reparationen und alle Beschränkungen, die Deutschland auferlegt wurden, für himmelschreiende Ungerechtigkeiten und betrachtete es als den Gipfel der Zumutungen, dass Deutschland einen Friedensvertrag unterzeichnen sollte, der allein ihm die Schuld am Krieg zuschrieb.
Am 12. Mai tagte die Nationalversammlung erstmals in Berlin. Philipp Scheidemann, der Regierungschef, sprach von einem «Gewaltfrieden», der das deutsche Volk erdrosseln solle. Die territorialen, wirtschaftlichen und politischen Forderungen würden Deutschland die Luft zum Leben nehmen. «Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?» Diese Bedingungen stünden in krassem Gegensatz zu den Zusicherungen, die US-Präsident Woodrow Wilson gemacht habe. Dass die französischen Forderungen ursprünglich sehr viel weiter gingen und von dessen Verbündeten abgemildert worden waren, kam Scheidemann gar nicht in den Sinn. «Dieser Vertrag ist nach Auffassung der Reichsregierung unannehmbar.»[1]
Unterzeichnen oder nicht unterzeichnen? Das wurde für einige Wochen zur Schicksalsfrage der Deutschen, die überall und meist hoch emotional diskutiert wurde. Die einzige Partei, die sich trotz aller Kritik bereits früh für die Unterzeichnung des Vertrages aussprach, war die USPD. In den Augen der Unabhängigen blieb Deutschland keine andere Wahl. Die am äußersten rechten Rand stehende Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Deutsche Volkspartei (DVP) lehnten eine Unterzeichnung des Vertrages strikt ab. Auch die Deutsche Demokratische Partei (DDP), die mit dem Zentrum und der SPD die Regierung stellte, war einheitlich gegen eine Unterzeichnung. Die beiden anderen Parteien der Regierungskoalition gerieten in schwere Zerreißproben. Alle denkbaren und undenkbaren Szenarien wurden durchgespielt. Die Regierung fragte bei der Obersten Heeresleitung nach, ob der Kampf gegebenenfalls wieder aufgenommen werden könne. Das sei völlig unmöglich, war deren Urteil. Hindenburg scheute allerdings davor zurück, dies persönlich mitzuteilen, sondern beauftragte General Groener damit. Kaum ein anderer Armeechef der Weltgeschichte hat sich aus Feigheit und politischem Kalkül so erfolgreich darum gedrückt, die Verantwortung für einen verlorenen Krieg zu übernehmen wie Hindenburg.
Die Regierung Scheidemann trat zurück, aber am Ende blieb nur die Unterzeichnung. Wirklich substanzielle Verbesserungen konnte die deutsche Delegation nicht erreichen. Am 28. Juni setzten Außenminister Hermann Müller (SPD) und Reichsverkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) im Spiegelsaal von Versailles ihre Unterschriften unter den Friedensvertrag. Für die nationale Rechte wurde «Versailles» neben dem «Dolchstoß» und der «Kriegsschuldlüge» eine ihrer schärfsten Waffen im Kampf gegen die Republik.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Hitler von der allgemeinen nationalen Empörung ähnlich mitgerissen wurde wie Anfang August 1914 von der Kriegsbegeisterung. Das könnte der Ausgangspunkt für den Sinneswandel gewesen sein, der bei ihm in der zweiten Jahreshälfte stattfand. Es könnten aber auch sehr profane Interessen gewesen sein, die den Dreißigjährigen dazu bewogen, sich dahin zu orientieren, wo sich ihm am ehesten eine Perspektive bot. Wenn die soziale Not groß ist und die Arbeitslosigkeit hoch, sind andere Dinge wichtig: ein Dach über dem Kopf, genügend zu essen und ein leidliches Auskommen. Ein wurzelloser und ungebundener Mann wie Hitler bekam das am leichtesten, indem er möglichst lange Soldat blieb. Hitler nutzte die Chancen, die ihm die Reichswehr im späten Frühjahr und im Sommer 1919 bot und konnte länger bei der Truppe bleiben als die meisten anderen.
Am 9. Mai wurde Hitler Mitglied der «Untersuchungskommission über die Revolutionsvorgänge beim 2. Infanterieregiment». Aufgabe dieser Einheit war es, alle Soldaten aufzuspüren, die der Roten Armee angehört oder sich an kommunistischen Umtrieben beteiligt hatten.[2] Er scheint zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten gearbeitet zu haben. Im Verlauf des Mai 1919 richtete die bayerische Reichswehr in München eine Aufklärungs- und Propagandaabteilung ein, deren wichtigste Aufgabe es war, die Gesinnung der Truppe zu überwachen, die nationale Orientierung der Soldaten zu stärken und Anzeichen für subversive Aktivitäten frühzeitig zu erkennen. Zu ihren Aufgaben gehörte es auch, mit Hilfe von V-Leuten die zahlreichen politischen Organisationen und Splitterparteien zu beobachten, die seit Kriegsende aus dem Boden geschossen waren. Hauptmann Karl Mayr übernahm am 30. Mai das Kommando über diese Abteilung, und es war offenbar nicht einfach für ihn, geeignete Leute für diese Aufgabe zu finden. Gegenüber einem Bekannten klagte Mayr am 7. Juli: «Sie glauben ja gar nicht, wie wenig fähige Leute es gibt, die volkstümlich reden können. Die Leute können es sich nicht abgewöhnen, mit gelehrten Fachausdrücken um sich zu werfen.»[3] Einer der wenigen, die Mayrs Vorstellungen entsprachen, war Hitler. Bereits auf seiner ersten, Ende Mai 1919 zusammengestellten Liste in Frage kommender Männer tauchte der Name «Hittler (! – WN), Adolf» auf.[4] Unmittelbar danach begann Hitler für Mayr zu arbeiten.
Jahre später, Mayr hatte inzwischen längst die Fronten gewechselt und war nicht mehr gut auf Hitler zu sprechen, erklärte er über seinen ehemaligen Zögling: «Nach dem Ersten Weltkrieg war er … nur einer der vielen tausend Ex-Soldaten, die auf der Straße waren und nach Arbeit suchten … In dieser Zeit war Hitler bereit von irgendjemandem einen Posten anzunehmen, der ihm freundlich gesinnt war. … Er hätte für einen jüdischen oder französischen Auftraggeber genauso gern gearbeitet, wie für einen Arier. Als ich ihn das erste Mal traf, glich er einem müden streunenden Hund, der nach einem Herrn suchte.»[5]
Im Zuge ihrer Ausbildung mussten Hitler und seine Kameraden an der Münchner Universität fünftägige «Rednerkurse» für die «Propaganda bei den Truppen» absolvieren.[6] Diese Kurse sollten den Teilnehmern ein Verständnis der grundlegenden politischen Zusammenhänge der Zeit vermitteln und ihnen Vertrauen und Loyalität zu ihrem Land einflößen – so die Darstellung der Reichswehrführung. «Damit begann die ‹gezielte› politische Ausbildung Hitlers».[7] Unter den Kursleitern waren der weit rechts stehende Gymnasiallehrer und Publizist Josef Hofmiller, der national-konservative Historiker Karl Alexander von Müller und dessen Schwager Gottfried Feder, ein volkswirtschaftlicher Autodidakt, der über das Thema «Zinsknechtschaft» referierte.[8] Feder war von Beruf Ingenieur, Mitbegründer der Deutschen Arbeiter-Partei und sowohl Mitglied der Thule-Gesellschaft als auch des Deutschen Schutz- und Trutzbundes. Feders Thesen zur «Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes» fanden später Eingang ins Parteiprogramm der NSDAP.
Die Vorträge enthielten eine Reihe von Formulierungen und Vorstellungen, die Hitler bald darauf bei seinen Auftritten verwendete. Er entpuppte sich in diesen Kursen als eloquenter Redner und Diskutant. Darauf wurde Mayr schnell aufmerksam und setzte Hitler auch als politischen Ausbilder ein. Schon bald hielt er innerhalb der Reichswehr Fortbildungskurse ab.
Am 19. August 1919 wurde Hitler nach Lager Lechfeld abkommandiert, um als «Aufklärer» Vorträge zu halten vor den «bolschewistisch und spartakistisch verseuchten, aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden deutschen Soldaten» – so der Bericht eines Hauptmanns Lauterbach. Vor ihrer Ausmusterung sollte Hitler aus diesen Soldaten wieder «gute Patrioten» machen. Er profilierte sich «als ein sehr guter und leidenschaftlicher Redner, wie in vielen Berichten von Teilnehmern festgehalten.»[9]
Nach der Niederschlagung der Räterepublik lag die Macht in Bayern weitgehend in den Händen der Militärs. Regierung und Landtag befanden sich bis zum 16. August in ihrem Bamberger Exil, in das sie im April geflüchtet waren. Erst dann kehrten sie nach München zurück. Die Militärs nutzten diese Zeit, um Reichswehr, Polizei und Beamtenapparat von all jenen zu «säubern», die im Verdacht standen, revolutionärem Gedankengut anzuhängen. Die Säuberungswelle erfasste am Ende das gesamte politische Leben Münchens und zeigte dauerhaft Wirkung.[10]
Am 3. Mai 1919 wurde Oberlandesgerichtsrat Ernst Pöhner zum neuen Polizeipräsidenten Münchens ernannt, ein parteipolitisch nicht gebundener «alter Beamter». Von vielen wurde das als Wiederherstellung geordneter Verhältnisse begrüßt. Pöhner machte aus seinem Hass gegen die Sozialisten und seine Feindschaft gegen die Republik kein Geheimnis. Gezielt sammelte er Männer mit gleicher Gesinnung um sich. Auf diese Weise wurde die Münchner Polizei auf scharfen Rechtskurs gebracht.[11]
Militärischer Stadtkommandant von München wurde nach der Niederschlagung der Räterepublik Oberst von Seißer. In dieser Funktion avancierte er «zum Liebling des Bürgertums und der politischen Rechten».[12] Nach der Rückkehr von Parlament und Regierung wurde deutlich, dass Militär und Polizei in Bayern inzwischen gegenüber der parlamentarischen Regierung ein beträchtliches Eigenleben gewonnen hatten. Die Machtverhältnisse hatten sich deutlich verschoben. Man konnte durchaus von einem Militärregime neben der parlamentarischen Regierung Hoffmann sprechen.[13]
Parallel zu den Wirren der Räterepublik und deren Niederschlagung hatte die Nationalversammlung in Weimar und in Berlin die Verfassung der Republik erarbeitet. Mit dem Entwurf hatte bereits die revolutionäre Übergangsregierung, der Rat der Volksbeauftragten, den Staatsrechtslehrer Hugo Preuß beauftragt. Preuß war einer der Mitbegründer der DDP und unter den deutschen Staatsrechtlern eine große Ausnahmeerscheinung: Er war Republikaner. Die Verfassung, die das Parlament nach langen Debatten und zahlreichen Veränderungen schließlich am 31. Juli 1919 verabschiedete, war die wohl freiheitlichste und sozialste Verfassung ihrer Zeit. Sie sollte sich in extremen Krisen bewähren, solange ein Demokrat an der Spitze des Staates stand. Unter Reichspräsident Hindenburg zeigte sich allerdings, dass sie die Republik nicht retten konnte, wenn ein Feind der Demokratie das höchste Staatsamt innehatte.
In den national-konservativen Kreisen Bayerns war bereits der Entwurf der Weimarer Reichsverfassung als akute Bedrohung wahrgenommen worden. Bayern sollte auf sein eigenes Heer und sein eigenes Diplomatenkorps verzichten. Auch eine selbstständige Post- und Telegrafenverwaltung war nicht mehr vorgesehen. Die Hoheitsrechte im Verkehrs- und Steuerbereich sollten auf das Reich übergehen. Nach Auffassung des Historikers Karl Alexander von Müller war Bayern von den Zentralisierungstendenzen der Weimarer Verfassung am schwersten betroffen. «Es hatte nicht nur bis 1918 nach Preußen die meisten bundesstaatlichen Sonderrechte bewahrt, es besaß eine tiefverwurzelte eigenstaatliche Tradition, ein sehr lebendiges eigenes Kultur- und Lebensgefühl; die Mehrheit seiner Bevölkerung war damals noch bäuerlich und mittelständisch-bürgerlich.»[14] Man begrüßte in Bayern zwar die Beseitigung der Vormachtstellung Preußens, plädierte im Übrigen aber sehr dafür, ohne große Veränderungen an die Verfassung des Bismarck-Reiches anzuknüpfen, und verteidigte vor allem die bayerischen Sonderrechte mit Zähnen und Klauen. «Einen Neubau des Verfassungsgebäudes lehnte man grundsätzlich ab.»[15]
Durchsetzen konnte sich Bayern mit diesen Vorstellungen nicht, aber am Ende stimmten lediglich fünf der bayerischen Abgeordneten – Georg Heim (BVP) und vier Mitglieder des Bayerischen Bauernbundes – gegen die neue Verfassung. Dennoch sollte diese Verfassung in den folgenden Jahren zum großen Konfliktherd zwischen Bayern und dem Reich werden.
Bereits 1919 war deutlich zu erkennen, dass Bayern einen Sonderweg einschlagen würde. Das lag nicht nur am Nebeneinander von Militärherrschaft und republikanischer Regierung, sondern auch am Aufbau der Einwohnerwehren, der nirgendwo sonst im Reich mit solcher Intensität und Systematik betrieben wurde. Ziel dieser Wehren war es zunächst, jedes Wiederaufflammen kommunistischer Umtriebe im Keim zu ersticken. Ihren Aufbau billigte die Regierung Hoffmann mit Erlass vom 17. Mai 1919 und versuchte dabei zugleich, die Tätigkeit dieser Wehren auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit im eigenen Wohnbezirk zu beschränken. Doch die Mitglieder der Einwohnerwehren fühlten sich im Grunde nur den eigenen Führern verpflichtet. Ihre politische Orientierung bewegte sich zwischen bayerisch-monarchistisch, deutsch-national und völkisch-nationalistisch. Republikanisch waren sie nicht. Überall in Bayern entstanden solche Wehren, die mit Waffen und Munition aus überzähligen Beständen der Reichswehr ausgestattet wurden.