Die Revolution von 1918/19 - Wolfgang Niess - E-Book

Die Revolution von 1918/19 E-Book

Wolfgang Niess

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Beschreibung

Der Aufstand beginnt bei der deutschen Hochseeflotte, als Matrosen sich weigern, trotz der bereits feststehenden Kriegsniederlage zu einem letzten Gefecht gegen die britische Royal Navy auszulaufen. Er verbreitet sich in wenigen Tagen über das ganze Deutsche Reich und erreicht am 9. November 1918 Berlin. Hunderttausende Arbeiter demonstrieren, die Garnisonen schließen sich an, der Reichskanzler gibt die Abdankung des Kaisers bekannt, die Monarchie bricht zusammen, die Republik wird ausgerufen. Ziel der Revolutionsbewegung ist nicht die Diktatur des Proletariats. Sie will den preußischen Militarismus und die Reste des Kaiserreichs in Verwaltung, Justiz, Schulen und Universitäten beseitigen und eine von Grund auf demokratische Gesellschaft schaffen. Die Angst vor einer bolschewistischen Weltrevolution verhindert schließlich, dass der vorhandene Spielraum zu einer wirklichen Entmachtung der etablierten Kräfte genutzt wird, aber die erste Demokratie in Deutschland ist erfolgreich installiert. Wolfgang Niess schildert so lebendig wie sachkundig die friedliche und erfolgreiche Revolution, der wir die erste deutsche Republik verdanken. Zudem macht er deutlich, warum sie bis heute weitgehend verkannt, instrumentalisiert oder vergessen wurde. Die Zeit ist reif, sie als größte Massenbewegung in der deutschen Geschichte zu würdigen.

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WOLFGANG NIESS

DIE REVOLUTIONVON 1918/19

Der wahre Beginnunserer Demokratie

BILDNACHWEIS:

András Bereznay, Karte von Berlin S. 444; Titelblätter des Vorwärts S. 133, 297 und 392 mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung; Wikimedia Commons / Bundesarchiv / CC-BY-SA 3.0, Bild 183-18594-0045 S. 24, Bild 102-00015, S. 38, Bild 183-R04103 S. 93, Bild 183-G1102-006-0001 S. 120, Bild 183-R10386, S. 144, Bild 146-1989-072-16 / Kerbs, Diethart S. 150, Bild 146-1970-051-41 S. 165, Bild 183-H25212 S. 210, Bild 146-1972-038-36 / Sennecke, Robert S. 231, Bild 146-1972-030-63 S. 234, Bild 102-12373 S. 236, Bild 146-1976-067-30A S. 264, Bild 146-1977-074-08 / Sennecke, Robert S. 280, Bild 183-H29923, S. 303, Bild 183-1989-0718-501, S. 306, Bild 146-1976-067-25A, S. 330, Bild 183-18594-0052 / Gircke, W. S. 335, Bild 146-1977-087-14 S. 382, Bild 119-1983-0007 S. 423, Bild 146-1972-033-17 / Haeckel, Otto, S. 424; Wikimedia Commons, S. 27, 42, 59 re., 62, 63, 73, 75, 79, 138, 159, 161, 181, 195, 376, 388, 402; Wikimedia Commons/Erich Greifer S. 36; Wikimedia Commons / Machahn (Sozialdemokratie im Wandel) S. 54; Wikimedia Commons / George Grantham Bain Collection S. 59 li.; Wikimedia Commons/Gustav Bachmann S. 106; Wikimedia Commons/Illustrirte Zeitung S. 312; bpk / Geheimes Staatsarchiv, SPK / Bildstelle GStA PK, S. 33; bpk / Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer / Willy Römer S. 208, 227, 314; bpk S. 291, 309; Klaus Gietinger S. 228, 263; AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung S. 72, 114, 122, 171; akg-images S. 103; Deutsches Historisches Museum, Berlin/I. Desnica S. 340, Deutsches Historisches Museum, Berlin S. 407

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

1. eBook-Ausgabe 2019

2. Auflage 2018

© 2017 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München · Zürich · WienUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung eines Fotos von © ullstein bild – ullstein bildLayout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95890-227-5

Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com

INHALT

ES IST ZEIT …

1»DIE GRÖSSTE ALLER REVOLUTIONEN« –

9. November 1918

2VATERLANDSLOSE GESELLEN –

Die Sozialdemokratie im Kaiserreich

3ZERREISSPROBE –

Der Weltkrieg und die Sozialdemokratie

4DER GROSSE BLUFF –

Reformen in letzter Minute

5ROTE FAHNEN –

Matrosenmeuterei vor Wilhelmshaven und Aufstand in Kiel

6DIE ZEIT IST REIF –

Revolution im ganzen Land

7ERSTES RINGEN UM DIE MACHT –

Der 10. November in Berlin

8»BEISPIELLOSE UNMENSCHLICHKEIT«? –

Der Waffenstillstand

9SOZIALE REPUBLIK –

Das Programm der Volksbeauftragten und der Gewerkschaften

10GENUTZTE MÖGLICHKEITEN, VERPASSTE CHANCEN –

Die ersten Wochen der Revolution

11WIE PHOENIX AUS DER ASCHE –

Die Oberste Heeresleitung als Machtfaktor

12VERWIRRENDE TAGE –

Berlin, 6./7. Dezember 1918

13DER PUTSCH WIRD VERTAGT –

Truppeneinzug in Berlin

14DER SOUVERÄN TAGT –

Der erste Reichsrätekongress

15AM RUBICON –

Die Volksbeauftragten und die Beschlüsse des Rätekongresses

16»SCHWERE SCHLAPPE« FÜR DIE OHL –

Die Berliner stoppen den Weihnachtsputsch

17DIE ENTSCHEIDUNG –

Die USPD scheidet aus der Regierung aus

18WENIG KLARHEIT –

Die Gründung der KPD

19»DIE STUNDE DER ABRECHNUNG NAHT« –

Die Berliner Januarkämpfe

20»DIE MÜSSEN WEG!« –

Die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht

21»VERGESST NICHT, DAS DEUTSCHE VOLK HAT EINE REVOLUTION GEMACHT!« –

Nationalversammlung und Regierungsbildung

22DAS ENDE DER GEDULD –

Die zweite Phase der Revolution

23BETRIEBSRÄTE –

Ideen für Demokratie in der Wirtschaft

24DIE BLUTIGSTEN WOCHEN –

Konfliktlösung à la Noske

25BAYERISCHE PAUKENSCHLÄGE –

Die Ermordung Eisners und die Räterepublik

26VERPASSTE CHANCE –

Kriegsschuld und Friedensvertrag

27MIT ALLEN MITTELN –

Die Gegenrevolution macht mobil

28»DIE DEMOKRATISCHSTE DEMOKRATIE DER WELT« –

Die Weimarer Verfassung

29DER KATER NACH DEM RAUSCH –

Von der »größten aller Revolutionen« zum »Zusammenbruch«

30PATT –

Ein tief gespaltenes Land

STATT EINES NACHWORTS: HITLERS ALBTRAUM

KARTE BERLIN-MITTE ZUR REVOLUTIONSZEIT 1918/19

ZEITTAFEL

LITERATUR

DANK

PERSONENREGISTER

ES IST ZEIT …

Revolutionen haben es manchmal schwer, in der historischen Tradition ihrer Völker »anzukommen«. Das galt für die große Französische Revolution, das galt für die Deutsche Revolution von 1848/49, und das gilt auch für die Revolution von 1918/19. Aber einhundert Jahre danach ist es Zeit, sie endlich zum festen Bestandteil unserer demokratischen Tradition zu machen.

Gerade die Deutsche Revolution 1918/19 ist auf unerwartete Weise wieder aktuell geworden. Was wir dieser Revolution verdanken, wird heute teilweise infrage gestellt, wenn auch glücklicherweise noch nicht in Deutschland. Die liberale und soziale Demokratie ist gefährdet. Das wird uns in diesen Jahren vielfach und schmerzlich vor Augen geführt – auch in Europa. In Ungarn und Polen haben national-konservative Parteien die Macht übernommen und arbeiten daran, sie nicht wieder zu verlieren. Vor Wahlen in einer ganzen Reihe von Staaten der Europäischen Union beginnt regelmäßig das große Zittern. Sogenannte Populisten haben Hochkonjunktur. Autoritäre Regime sind mit einem Mal nicht mehr nur ein Problem Südamerikas, Afrikas oder Asiens. Auch in Europa sind liberale und soziale Demokratien keine Selbstverständlichkeit mehr.

Gerade jetzt sollten wir uns deshalb erinnern, dass die politische Demokratie eine großartige Errungenschaft ist, für die in den Revolutionsmonaten 1918/19 Arbeiter und Soldaten, Männer und Frauen gekämpft haben. Wir verdanken sie ihrer Bereitschaft, notfalls ihr Leben für diese Demokratie einzusetzen. Sie ist auf dem politischen Feld das Wertvollste, was wir haben. Wir in Deutschland sollten besonders wachsam sein und allen Versuchen, sie uns ein zweites Mal zu nehmen, von Anfang an entschieden entgegentreten. Die Erinnerung an die Revolutionskämpfe 1918/19 kann unseren eigenen Einsatz für die liberale und soziale Demokratie stärken und deutlich machen, worauf es dabei wesentlich ankommt.

Ein Blick nach Frankreich oder in die USA zeigt, dass andere Nationen mit Stolz ihre Revolutionen feiern und damit ihr Selbstbewusstsein als demokratische Gesellschaften stärken. Wir haben in der alten Bundesrepublik lange gebraucht, bis wir den aufständischen Bauern und den Revolutionären von 1848/49 einen angemessenen Platz in unserer Geschichtskultur gegeben haben. Dass darin bis heute die größte Massenbewegung der deutschen Geschichte fehlt, die uns 1918/19 die Demokratie gebracht hat, ist kaum zu entschuldigen – wohl aber zu erklären.

Die Erinnerung an die Revolution von 1918/19 ist jahrzehntelang ins Räderwerk der politischen Auseinandersetzungen geraten und für die unterschiedlichsten Zwecke instrumentalisiert worden. Gegenstand intensiver Forschung ist diese Revolution erst Mitte der Fünfzigerjahre geworden, und bereits dreißig Jahre später ist sie weitgehend in Vergessenheit geraten.

Ich bin ihr Ende der Sechzigerjahre – noch als Schüler – zum ersten Mal begegnet. Es war Faszination auf den ersten Blick. Sie hat viel Geheimnisvolles ausgestrahlt, von dem im Geschichtsunterricht nur beiläufig und mit sehr negativer Bewertung die Rede war: Meuterei, Aufstände, Arbeiter- und Soldatenräte, Räterepublik. Der stern hat damals in einer ganzen Serie den »großen Verrat« angeprangert, der 1918/19 stattgefunden habe. Da war offenbar ein Kapitel unserer Geschichte zu entdecken, das lange ins Abseits gestellt worden war.

Anfang der Siebzigerjahre habe ich diese Revolution dann im Studium näher kennengelernt, und sie hat mich seither nicht mehr losgelassen. Meine Magisterarbeit hat sich mit ihr beschäftigt, auch meine Dissertation. Ich habe die Revolution von 1918/19 als eine der großen Weichenstellungen der deutschen Geschichte wahrgenommen: Sie hat die Monarchie hinweggefegt und Deutschland zur Republik gemacht. Sie hat aber nicht alle Chancen nutzen können, auch die Gesellschaft zu demokratisieren. Todfeinde der Republik blieben mächtig und haben die Demokratie nach vierzehn Jahren an Hitler ausgeliefert. Vielleicht wäre Deutschland und der Welt manches erspart geblieben, wenn die Revolution ein Stück weiter vorangekommen wäre! Der Gedanke ist naheliegend, auch wenn er spekulativ ist und mit Geschichtswissenschaft nichts zu tun hat. Ich habe in den Siebzigerjahren vor allem auf die nicht genutzten Chancen geblickt, wie fast die gesamte historische Forschung. Inzwischen schaue ich viel intensiver auch auf die Ergebnisse und Errungenschaften dieser Revolution. Jede Zeit hat ihren eigenen Blick auf die historischen Ereignisse.

Die Geschichtsschreibung über die Revolution von 1918/19 hatte immer eine besonders stark ausgeprägte politische Dimension. Für die politische Rechte in der Weimarer Republik war die Revolution der »Dolchstoß« in den Rücken des Heeres und damit die Ursache für die Niederlage im Weltkrieg. Diese Position nahmen damals auch die meisten deutschen Historiker ein, die zu den entschiedenen Gegnern der Republik gehörten. Für Hitler war sie Hochverrat – und sein persönlicher Albtraum schlechthin. Der Nationalsozialismus hat sich von Anfang an als Gegenbewegung zur Revolution von 1918/19 verstanden. Die Kommunisten haben sie vor allem als großen Verrat der Sozialdemokraten gesehen, während die führenden Sozialdemokraten sie als erfolgreichen Abwehrkampf gegen den Bolschewismus feierten. Die bürgerlichen Parteien der Mitte haben sich mit der Republik arrangiert, wollten aber von der Revolution schon bald nichts mehr hören. Allein die breite Mehrheitsströmung der Sozialdemokraten hat in der Weimarer Zeit die Erinnerung an die Revolution von 1918/19 in einem positiven Sinn hochgehalten.

Mit der Machtübergabe an Hitler im Januar 1933 endete auch das. Mehr als zwölf Jahre war dann nur noch von Dolchstoß, Hochverrat und Novemberverbrechern die Rede. Das Ende der ersten deutschen Demokratie und Hitlers Machtantritt prägten von nun an ganz entscheidend den Blick auf die Revolutionsperiode. Sozialdemokraten im Exil begannen ernsthaft darüber nachzudenken, ob man nicht in den Revolutionsmonaten 1918/19 Entscheidendes versäumt habe. Auch die Geschichtsschreibung in den USA und Großbritannien stellte diese Frage, besonders drängend nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Man wollte vermeiden, dass ein zweites Mal dieselben Fehler gemacht werden.

Solche Fragestellungen waren in der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik jahrelang tabu. Sie hat fast ein Jahrzehnt gebraucht, um sich vom Trauma des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs etwas zu erholen. Ihr vorherrschendes Interesse richtete sich zunächst vor allem darauf, den Nationalsozialismus als tragischen Betriebsunfall darzustellen, der mit dem Rest der deutschen Nationalgeschichte nichts zu tun habe. Nach Versäumnissen in den Jahren 1918/19 zu fragen wäre diesem Interesse völlig zuwidergelaufen. Bis zum Historikertag 1964 galt deshalb: Es gab in den Revolutionsmonaten nur zwei Optionen, den Bolschewismus oder die Weimarer Republik, wie sie im Lauf des Jahres 1919 entstanden ist. Da den Bolschewismus nach dem Geschichtsverständnis des Westens niemand ernsthaft wollen konnte, war die Entwicklung hin zu Hitlers Machtantritt eine tragische Zwangsläufigkeit.

Ganz anders war die politische Interessenlage in der sowjetischen Besatzungszone. Hier trat die KPD, später die SED, mit dem festen Vorsatz an, all das nachzuholen, was die Revolution 1918/19 in ihren Augen versäumt hatte. Die DDR verstand sich als der deutsche Staat, der die »Lehren der Novemberrevolution« berücksichtigt hat. Paradoxerweise ergab das eine ganz ähnliche Deutung der Revolution von 1918/19 wie im Westen. Auf beiden Seiten sah man in den politischen Zielsetzungen der Spartakusgruppe bzw. der frühen KPD die einzige Alternative zur Weimarer Republik. Die Bewertungen waren allerdings völlig gegensätzlich.

Diese Revolutionsbilder passten vorzüglich in die Zeit des Kalten Krieges zwischen Ost und West, aber kritische Geister in der Sozialdemokratie hatten schon früh den Verdacht, dass sie dem tatsächlichen Geschehen der Revolutionszeit nicht gerecht wurden. In der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre entstanden in der Bundesrepublik zahlreiche Studien vorwiegend jüngerer Historiker, die ein ganz anderes Bild der Revolution von 1918/19 ergaben. Eberhard Kolb, Peter von Oertzen, Reinhard Rürup und ihre Kollegen entdeckten die Arbeiter- und Soldatenräte neu, die in der Revolutionszeit eine umfassende »Demokratisierung« des Militärwesens, der Verwaltung, der Wirtschaft, ja der ganzen Gesellschaft forderten, aber von Bolschewismus nichts wissen wollten. Die Kommunisten hätten während der Revolution zwar lautstark auf sich aufmerksam gemacht, seien aber keine machtpolitisch bedeutsame Größe gewesen. Im Kern kamen all diese Studien – bei manchen Unterschieden im Detail – zu dem Urteil, dass die Revolution 1918/19 die gegebenen Möglichkeiten nicht vollständig genutzt hat, um der jungen Demokratie eine sichere und nachhaltige Grundlage zu verschaffen.

Im Verlauf der Sechziger- und Siebzigerjahre hat sich dieses neue Bild der Revolution von 1918/19 – mit manchen Revisionen im Einzelnen – in der historischen Forschung weitgehend durchgesetzt. Es wurde durch immer neue Detailstudien untermauert und passte zugleich in seinen politischen Dimensionen vorzüglich zur Ära der sozialliberalen Reformpolitik, für die vor allem Willy Brandt stand. Folgte man dem neuen Bild der Revolution von 1918/19, dann hätte Brandts legendärer Satz »Wir wollen mehr Demokratie wagen« durchaus eine Lehre aus den Revolutionsmonaten sein können.

Es konnte unter diesen Umständen kaum ausbleiben, dass die politische Tendenzwende am Ende der Siebzigerjahre auch vor der Geschichtsschreibung und ihrem Urteil über die Revolution von 1918/19 nicht haltmachte. Helmut Kohls Forderung nach einer »geistig-moralischen Wende« spülte die alten Revolutionsbilder aus den Fünfzigerjahren wieder nach oben, völlig unabhängig von den Ergebnissen historischer Forschung. Die renommierten Fachhistoriker waren fassungslos und nach einiger Zeit auch sprachlos. Die üblichen Methoden der wissenschaftlichen Auseinandersetzung blieben ohne Wirkung, Debatten liefen ins Leere, weil wissenschaftliche Belege und Argumente offenbar gar keine Rolle spielten. Es ging ja auch nicht um Wissenschaft.

Um die Mitte der Achtzigerjahre bildeten sich unter den westdeutschen Historikern zwei politische Lager, die sich unversöhnlich gegenüberstanden und deren Auseinandersetzungen schließlich im sogenannten Historikerstreit gipfelten. Im Mittelpunkt stand dabei der Nationalsozialismus, es ging um seinen Stellenwert in der deutschen Geschichte und seine Bedeutung in der Weltgeschichte. Die Revolution von 1918/19 geriet dabei ganz an den Rand und schließlich nahezu völlig in Vergessenheit.

In der DDR setzte dagegen in den Achtzigerjahren zaghaft ernsthafte Forschung ein, die nicht unter dem Parteidiktat der SED stand. Im Zeichen der Wende, der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und des allgemeinen Ideologieverdachts gegen Historiker der früheren DDR ist diese Forschung versandet.

Ein Jahrhundert nach der größten Revolution in der deutschen Geschichte ist es höchste Zeit für einen Neuanfang – und die Chancen stehen nicht schlecht. Viele der politischen Konflikte, die den Blick auf die Revolution von 1918/19 jahrzehntelang geprägt und durchaus auch vernebelt haben, sind inzwischen historisch »erledigt«. Die Sowjetunion existiert nicht mehr, nicht mehr die Konkurrenz zweier deutscher Staaten und auch nicht mehr der große Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten in der internationalen Arbeiterbewegung. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach dem großen Reformschub der frühen Siebzigerjahre und der Abwehr des RAF-Terrorismus als besonders stabile liberale und soziale Demokratie etabliert und bewährt. Die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ist als ein zentraler, nicht zu leugnender und nicht zu verharmlosender Teil der deutschen Geschichte in der Geschichtskultur der Republik fest verankert. Sie muss nicht mehr der einzige Bezugspunkt deutscher Geschichte sein. Was jahrzehntelang aus jeweils aktuellen politischen Gründen in diese Revolution hineingedeutet wurde, ist bedeutungslos geworden.

Das macht es uns möglich, die Republik von Weimar nicht mehr nur von ihrem Ende her zu sehen. Diese Republik ist zwar nach vierzehn Jahren beseitigt worden, aber sie war nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Heute können wir ohne falsche Ängste und Sorgen die Weimarer Republik als bedeutsame Vorgängerin und Wegbereiterin der Bundesrepublik sehen und die Revolution 1918/19 als entscheidende Wegmarke der Demokratisierung in Deutschland.

Ich will in diesem Buch die Geschichte der Revolution von 1918/19 neu erzählen und auch mit manchen Legenden aufräumen, die über diese Revolution noch immer in Umlauf sind. Beispielsweise mit der, dass diese Revolution völlig überflüssig gewesen sei, weil doch schon die »Oktoberreformen« eine parlamentarische Monarchie gebracht hätten. Die Revolution war im Gegenteil dringend notwendig, denn die herrschenden Schichten des Kaiserreichs, insbesondere die militärischen Eliten, waren zu keinem Zeitpunkt bereit, ihre Macht zu teilen. Die Oktoberreformen waren das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben wurden. Sie waren nicht mehr als ein Trick der Heeresleitung, um bessere Waffenstillstandsbedingungen zu bekommen und sich zugleich aus der Verantwortung für die Niederlage zu stehlen. Als die Militärführung Ende Oktober erkannte, dass ihr Spiel nicht aufging, begann sie sofort, die Demokratisierung zurückzunehmen. Die Fakten sind klar: ohne Revolution keine parlamentarische Demokratie.

Nach wie vor spukt auch die Legende durch manche Geschichtsbücher, es sei in den Revolutionsmonaten vor allem um die Abwehr des Bolschewismus gegangen. Durch den »Spartakusaufstand« im Januar 1919 sei das Land kurz vor einer bolschewistischen Diktatur gestanden. Davon kann in Wahrheit keine Rede sein.

Ins Reich der Legenden gehört ebenso, dass nur durch die enge und dauerhafte Zusammenarbeit der sozialdemokratischen Regierung mit der alten kaiserlichen Armeeführung die Demokratie gesichert werden konnte. Das Gegenteil ist wahr: Dieses enge Bündnis ist unnötig gewesen und hat sich sehr schnell zu einer existenziellen Gefahr für die junge Republik entwickelt. Bereits 1920 putschten rechtsgerichtete Truppenverbände gegen die Demokratie.

Eine vierte Legende schließlich hält sich besonders hartnäckig: Die Sozialdemokraten hätten damals die Revolution »verraten«. In der DDR hat diese Legende zu den Grundlagen des Staatsverständnisses gehört, aber im Überschwang der 68er-Bewegung stand sie auch im Westen hoch im Kurs. Selbst konservative Bürgerliche wie Sebastian Haffner haben sie damals vertreten, und sein nach wie vor sehr erfolgreiches Buch verbreitet sie bis heute, wenn auch nicht mehr unter dem ursprünglichen Titel »Die verratene Revolution«. Haffner hat in einem späteren Vorwort zwar bekannt, manches inzwischen anders zu bewerten, den Text jedoch unverändert gelassen. Die Verratsthese scheint bis heute populär zu sein, aber sie hält der wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Es war nie die Vorstellung der SPD, dass der Weg zum Sozialismus notwendigerweise mit einem Rätesystem und einer Phase der Diktatur des Proletariats verbunden sein müsse. Man kann den Sozialdemokraten nicht den Verrat an Zielen vorwerfen, die sie selbst nicht geteilt haben. Für sie war eine in allgemeiner, gleicher, freier und geheimer Wahl zustande gekommene Volksvertretung die elementare Grundlage jeder Demokratie, auch einer sozialistischen. Daran hat weder die SPD noch der gemäßigte Teil der USPD während der Revolutionsmonate einen Zweifel aufkommen lassen. Von Verrat kann also keine Rede sein! Richtig ist allerdings, dass die Revolution von 1918/19 ihr Potenzial nicht hat ausschöpfen können. Es wäre mehr drin gewesen, um es salopp zu sagen, aber es lag beileibe nicht nur an einigen führenden Sozialdemokraten, dass nicht noch mehr erreicht wurde.

Dieses Buch will einen Beitrag leisten, sich von solchen Legenden nachhaltig zu verabschieden. Vor allem aber liegt mir daran, an die Männer und Frauen zu erinnern, die mutig und selbstbewusst dem Krieg ein Ende machen, den Obrigkeitsstaat beseitigen und eine demokratische Gesellschaft aufbauen wollten. Die große Mehrheit der Revolutionsbewegung will eine parlamentarische Demokratie, aber sie will auch einen Schlussstrich unter den preußisch-deutschen Militarismus ziehen. Sie will demokratische Verhältnisse und demokratischen Geist in der Verwaltung, den Schulen, der Justiz und vor allem auch in der Wirtschaft.

Die Revolutionsbewegung von 1918/19 hat mehr gewollt, als sie damals erreicht hat. Immer wieder ist deshalb von einer »steckengebliebenen« oder von einer »gescheiterten« Revolution die Rede. Aber kann man den Erfolg allein daran messen, ob die Revolutionsbewegung alle ihre Ziele erreicht hat? Ich meine: nein.

Wenn man auf die Entwicklung des Landes schaut, dann ist die Revolution von 1918/19 zunächst vor allem eine gelungene Revolution. Sie hat Deutschland vorangebracht, und viele ihrer Errungenschaften sind für uns heute selbstverständlich: die demokratische Republik und das Frauenwahlrecht, die Verankerung von freiheitlichen und sozialen Grundrechten in der Verfassung, der Achtstundentag und die Tarifpartnerschaft zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, Betriebsräte und Mitbestimmung. Unsere heutige Bundesrepublik ist in vielfältiger Weise von dem geprägt, was die Revolutionsbewegung 1918/19 erkämpft hat. Wir sind uns dessen nur viel zu wenig bewusst.

Es ist höchste Zeit, das zu ändern.

1»DIE GRÜSSTE ALLER REVOLUTIONEN« – 9. NOVEMBER 1918

Der 9. November 1918 ist ein Samstag, ein normaler Arbeitstag in den Berliner Betrieben. Es ist ein typischer Novembertag: 9 Grad, trüb, in der Frühe regnet es. Wie an jedem anderen Tag machen sich die Arbeiter auf den Weg in die Fabriken. Auf den ersten Blick ist am Morgen noch alles wie gewohnt – aber es liegt etwas in der Luft. Seit drei, vier Tagen hat sich eine flirrende Anspannung über die Stadt gelegt. Nachrichten von der Küste sind durchgesickert. Matrosen der vor Wilhelmshaven liegenden Hochseeflotte haben sich geweigert, zu einem letzten Gefecht in einem inzwischen erkennbar verlorenen Krieg auszulaufen. In Kiel und anderen Städten an der Küste ist es zu Aufständen gekommen. Bremen, Hamburg und Kiel seien in den Händen von Arbeiter- und Soldatenräten, hat der Vorwärts, das Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), am Vortag berichtet, allerdings erst auf Seite drei. In München soll sogar der König abgesetzt worden sein. Bayern sei jetzt Freistaat und Republik, heißt es. Aber sicher können die einfachen Arbeiter nicht sein, die am 9. November auf dem Weg in die Fabriken sind. Die Reichshauptstadt ist inzwischen von allen Verbindungen zur Außenwelt abgeschnitten. Der Zugverkehr von und nach Berlin ist auf Anordnung des militärischen Oberbefehlshabers eingestellt worden. Versammlungen sind verboten. Über die Stadt ist der Belagerungszustand verhängt, es herrscht Pressezensur.

Immer mehr Truppen sind in der Stadt zu sehen. Beunruhigend ist auch, dass der »Oberkommandierende in den Marken« – so lautet der offizielle Titel des Militärbefehlshabers – allen auf Urlaub in Berlin befindlichen Offizieren befohlen hat, sich »feldmarschmäßig ausgerüstet« am 8. November, mittags 12 Uhr auf der Kommandantur am Schinkelplatz zu melden. Am Abend dieses 8. November, berichtet ein Augenzeuge, seien am Halleschen Tor schwer bewaffnete Infanteriekolonnen, Maschinengewehr-Kompanien und leichte Feldartillerie »in endlosen Zügen« an ihm vorbeigezogen. Es braut sich etwas zusammen in der Hauptstadt.

Es sind ausgemergelte Männer und dürre Frauen mit fahlen Gesichtern, die am Morgen des 9. November auf dem Weg in ihre Fabriken sind. Man sieht ihnen den Hunger an. Schon seit zwei, drei Jahren gibt es nicht mehr genügend zu essen, und was noch aufzutreiben ist, hätte man in Friedenszeiten bestenfalls an Schweine verfüttert. Krankheiten haben die Arbeiter schon lange nicht mehr viel entgegenzusetzen. Die Grippe grassiert und fordert auch in Berlin viele Menschenleben. Das alles ist vollends unerträglich geworden, seit die Heeresleitung erklärt hat, man müsse Waffenstillstand schließen. Der Krieg ist verloren, warum jetzt noch weiter kämpfen, leiden und hungern? Jetzt muss mit alledem Schluss sein. Vor allem mit dem Krieg. Sofort!

Seit einigen Wochen hat sich diese explosive Stimmung immer mehr aufgebaut; in den letzten Tagen spürt man, dass ein kleiner Funke genügt, um einen Flächenbrand auszulösen. Nachdem es am 8. November zu Verhaftungen gekommen ist, beschließt noch am Abend ein selbsternannter »Vollzugsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates Berlin«, für den 9. November zum Generalstreik und zu Massendemonstrationen aufzurufen. Der Arbeiter- und Soldatenrat ist die illegale Organisation der Berliner Arbeiter, in der sich auch Vertreter sozialistischer Parteien und Gruppen zusammengefunden haben. Ein Gremium, in dem man sich beraten und abstimmen kann, aber keine Revolutionszentrale. Noch in der Nacht entstehen zwei Flugblätter, die am frühen Morgen verteilt werden, aber nur in kleiner Auflage und in wenigen Betrieben.

Im einen, unterzeichnet vom Vollzugsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates, heißt es: »Arbeiter, Soldaten, Genossen! Die Entscheidungsstunde ist da! … Wir fordern nicht Abdankung einer Person, sondern Republik! Die sozialistische Republik mit allen ihren Konsequenzen. Auf zum Kampf für Friede, Freiheit und Brot. Heraus aus den Betrieben. Heraus aus den Kasernen! Reicht Euch die Hände. Es lebe die sozialistische Republik.« Das andere stammt von der »Spartakusgruppe«, entschiedenen sozialistischen Kriegsgegnern um Karl Liebknecht, die sich nach dem legendären Führer eines Sklavenaufstands im Römischen Reich benannt hat. Ihr Flugblatt fordert die Beseitigung der Dynastien, die Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten, die Übernahme der Regierung durch die Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte, die sofortige Verbindung mit der russischen Arbeiterrepublik und endet mit einem »Hoch auf die sozialistische Republik!«. Es sind zwei Flugblätter. Die Spartakusgruppe ist zwar im Vollzugsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates vertreten, aber sie versucht äußerst konsequent, ein eigenes Profil zu zeigen und für ihre speziellen Ziele Propaganda zu betreiben. Nicht nur am 9. November.

In der Morgenausgabe des Vorwärts, den in diesen Tagen fast jeder Berliner Arbeiter zu lesen versucht, erscheint ein Aufruf des Parteivorstands und der Reichstagsfraktion der SPD vom Vorabend. Darin werden die Arbeiter vor »Unbesonnenheiten« gewarnt. Die SPD-Spitze habe am 7. November ultimativ eine Reihe von Forderungen erhoben, die zum Teil bereits erfüllt worden seien. Noch nicht erledigt sei die »Kaiserfrage«, man erwarte aber den Rücktritt des Monarchen unmittelbar nach dem Abschluss des Waffenstillstands und habe das Ultimatum bis zu diesem Zeitpunkt verlängert. Schon um die Mittagszeit werde der Kurier mit den Waffenstillstandsbedingungen in Berlin eintreffen. Die Arbeiter werden aufgefordert, einige wenige Stunden Geduld aufzubringen und mit allen Aktionen abzuwarten. »Eure Kraft und Eure Entschlossenheit verträgt diesen Aufschub.«

Philipp Scheidemann, seit 1917 neben Friedrich Ebert einer der beiden SPD-Vorsitzenden, ist unsicher, ob das an diesem Morgen tatsächlich noch aufrechtzuerhalten ist. Scheidemann ist 53, stammt aus einer Kasseler Handwerkerfamilie und hat Buchdrucker gelernt. Mit 18 Jahren ist er in die damals illegale SPD eingetreten und zielstrebig in ihr aufgestiegen. Seit 1903 gehört er dem Reichstag an, 1911 wird er Mitglied des Parteivorstands und seit 1913 ist er einer der beiden Vorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion. Scheidemann ist ein sehr guter Redner und hat eine ausgezeichnete Nase für Stimmungen; er spürt, was angesagt und notwendig ist. Seit Anfang Oktober 1918 ist Philipp Scheidemann als »Staatssekretär« (in unserem heutigen Sprachgebrauch »Minister«) Mitglied der Reichsregierung; er weiß, dass inzwischen von Kiel bis München die Stimmung eindeutig ist: »Fort mit dem Kaiser!«

Am frühen Morgen des 9. November, noch vor sieben Uhr, ruft Scheidemann zum wiederholten Mal drängend in der Reichskanzlei an und erklärt, die Abdankung Wilhelms II. sei überfällig. Wenn der Kaiser nicht sofort zurücktrete, dann wisse er nicht, wie er und die anderen Männer der SPD-Spitze die Leute noch davon abhalten können, auf die Straße zu gehen. Scheidemann kündigt an, dass er sein Amt als Staatssekretär niederlegen werde, wenn der Kaiser in einer Stunde nicht zurückgetreten sei. Auch Reichskanzler Prinz Max von Baden sitzt wie auf Kohlen, aber er hat keine Neuigkeiten aus dem Großen Hauptquartier im belgischen Spa, wohin sich der Kaiser am 29. Oktober begeben hat.

Prinz Max hat erst am 3. Oktober das Amt des Reichskanzlers und das des Preußischen Ministerpräsidenten übernommen. Er gilt als liberal und soll vor allem im Ausland, besonders bei den Kriegsgegnern den Eindruck erwecken, es habe sich etwas geändert im preußisch-militaristischen Deutschland. Aus diesem Grund hat er auch die Aufgabe, Sozialdemokraten und bürgerliche Demokraten mit in die Regierung einzubeziehen. Seine erste gewichtige Amtshandlung war es, bei den Gegnern um Waffenstillstand zu ersuchen. Der großherzogliche Prinz aus dem Südwesten hat die Aufgabe nur übernommen, weil er mit dem Kaiser verwandtschaftlich verbunden ist und der Kaiser ihm seine Unterstützung zugesagt hat. Dass sich Wilhelm II., als ihm der Druck in Berlin zu viel wurde, einfach zu seinen Generalen nach Spa abgesetzt hat, stürzt Max von Baden in eine tiefe Krise. Er hat schon seit Tagen keinen Zugang mehr zum Kaiser und fühlt sich zugleich vollständig von ihm abhängig.

Am Morgen des 9. November ist der Oberbefehlshaber in den Marken noch sehr zuversichtlich, dass in der Reichshauptstadt eine Revolution verhindert oder sofort niedergeschlagen werden kann. Generaloberst Alexander von Linsingen weiß zwar, dass inzwischen in vielen Städten des Deutschen Reiches Arbeiter- und Soldatenräte die Macht übernommen haben, aber er ist der festen Überzeugung, dass noch nichts verloren ist, solange Berlin gehalten werden kann. Er hat die Bildung von Räten in Berlin ausdrücklich verboten und vorsorglich in den vergangenen Tagen als besonders kaisertreu geltende Truppenteile zur Verstärkung in die Stadt geholt. Mehrere Tausend Soldaten, darunter die Garde und die »Naumburger Jäger«, sichern im Zentrum das Regierungsviertel und wichtige strategische Punkte. Sie sind mit Maschinengewehren ausgerüstet, mit Artillerie und Panzerkraftwagen. Auch Flugzeuge mit Bomben stehen bereit. Der Oberbefehlshaber in den Marken ist auf alles vorbereitet. Am Abend des 7. November hat er dem Kanzler versichert, er könne Berlin »unter allen Umständen« halten. »Er würde allerdings unter Umständen scharf zufassen, auch Artillerie verwenden müssen.« Der Kanzler ist einverstanden. »Beschränkungen wurden ihm von mir in keiner Weise auferlegt«, erklärt Max von Baden lapidar in seinen Erinnerungen.

Gewisse Vorkehrungen für bewaffnete Auseinandersetzungen hat man auch auf Seiten der sozialistischen Arbeiterbewegung getroffen. Sowohl die Spartakusgruppe als auch die »Revolutionären Obleute«, eine illegale Organisation von Berliner Betriebsvertrauensleuten, haben Verstecke mit Pistolen und Gewehren angelegt. An einzelne Handfeuerwaffen zu kommen ist in Zeiten nicht schwer, in denen sich viele Soldaten selbstständig aus dem Heer »entlassen« und auf den Heimweg machen.

Für die Aktiven in den sozialistischen Organisationen beginnt der 9. November sehr früh. Unter ihnen ist Cläre Derfert-Casper, die gemeinsam mit einem Kollegen für die Waffen- und Munitionsfabriken in der Kaiserin-Augusta-Allee eingeteilt ist. »Zur ersten Schicht standen wir beide vor der Waffenfabrik und verteilten Flugblätter, in denen die Arbeiter aufgefordert wurden, die Betriebe zu verlassen. Nachdem wir diese Aufgabe gegen 7 Uhr beendet hatten, halfen wir schnell den anderen Genossen die Revolver auspacken und die Patronen in die Magazine füllen.« Wie in vielen anderen Betrieben versammelt sich auch in den Schwartzkopff-Werken bereits frühmorgens die Belegschaft, erinnert sich Paul Walter. »Einige Kollegen hatten bereits Transparente angefertigt mit der Losung: Nie wieder Krieg! Nieder mit der Monarchie! Wir wollen Frieden und Brot! Es bildete sich ein Demonstrationszug, der etwa 4000 Menschen umfasste und dem sich später noch die Arbeiter der AEG Brunnenstraße und der AEG Ackerstraße anschlossen.«

Gegen acht Uhr beginnt in den ersten Betrieben der Generalstreik. Arbeiter machen sich in Demonstrationszügen auf den Weg in die Innenstadt. Ernste Entschlossenheit prägt diese Demonstrationszüge. Fröhliche Gesichter sieht man am Morgen des 9. November nicht. Keiner der Demonstranten weiß, ob er den Abend dieses Tages erleben wird. Sie machen sich dennoch auf den Weg, weil jetzt endlich Schluss sein muss, koste es, was es wolle.

In Berlin verbrüdern sich am Morgen des 9. November 1918 Arbeiter und Soldaten.

Um 9 Uhr tritt in der Reichskanzlei das Regierungskabinett zusammen, nimmt den Rücktritt Scheidemanns zur Kenntnis und vertagt sich auf 12 Uhr. Vom Kaiser gibt es nichts Neues.

Zur selben Zeit treffen sich im SPD-Fraktionszimmer des Reichstages führende Sozialdemokraten – die Mitglieder des Partei- und des Fraktionsvorstands, zahlreiche Abgeordnete, die Führung der Berliner Organisation und auch die Berliner SPD-Betriebsvertrauensleute. Die einlaufenden Nachrichten und Berichte widersprechen sich zum Teil erheblich, aber sie lassen doch keinen Zweifel mehr zu: Die Arbeiter marschieren. Die SPD muss handeln, wenn sie den Kontakt zur Berliner Arbeiterschaft nicht verlieren will.

Der SPD-Reichstagsabgeordnete Otto Wels eröffnet die Sitzung mit den Betriebsvertrauensleuten im völlig überfüllten Saal. Wels gehört nicht zu denen, die bislang die SPD nach außen prominent vertreten haben. Obwohl er Mitglied des Parteivorstandes ist, hat er die Bühne Parteifreunden überlassen – in diesen Zeiten ist das kein Nachteil. Wels ist gelernter Tapezierer, seit Längerem Gewerkschafts- und Parteifunktionär, ein zupackender Mann Mitte 40, der keine Angst vor Entscheidungen hat und etwas erreichen will: »Die Würfel sind gefallen! Geredet wird nicht mehr! Heraus aus den Betrieben, auf die Straßen.« Wels verkündet den versammelten Betriebsvertrauensleuten auch die Parole, mit der sich die SPD äußerst erfolgreich zurück ins Spiel bringen wird: »Von heute ab gibt es keinen Streit mehr in der Arbeiterschaft, heute kämpfen wir den Entscheidungskampf unter dem alten gemeinsamen Banner.« Die im Krieg erfolgte Abspaltung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) von der SPD soll von nun an ganz in den Hintergrund treten. »Heute mischt sich vielleicht unser Blut mit dem unserer Arbeiterbrüder im gemeinsamen Kampf. Komme, was kommen mag, jetzt heißt es vorwärts, durch Kampf zum Sieg.« Die Sitzung dauert nur wenige Minuten, dann machen sich die Vertrauensleute auf den Weg zu ihren Kollegen, die zum Teil schon auf dem Marsch in die Berliner Innenstadt sind.

Mitglieder des SPD-Parteivorstands und der Fraktionsleitung verständigen sich darauf, sofort mit der USPD in Verbindung zu treten. Man will sich möglichst schnell mit den Unabhängigen über eine gemeinsame Regierung verständigen, trifft aber zunächst nur Vorstandsmitglieder an, die allein, ohne ihren Vorsitzenden Hugo Haase, über keinerlei Vereinbarungen sprechen wollen. Haase hält sich nicht in Berlin auf, sondern in Hamburg, um sich dort ein Bild von der Revolution zu machen. Man erwartet ihn am Abend zurück. Ohne ihn kann es keine bindenden Zusagen über eine Regierungsbeteiligung geben.

Inzwischen ist es zehn Uhr geworden, und es sind bereits Hunderttausende unterwegs. Auch Frauen schließen sich an – zum Teil mit Kindern. Sie ziehen zu den Kasernen: »Brüder, nicht schießen«. Die spärlich vorhandenen Waffen werden in den hinteren Reihen der Demonstrationszüge getragen. Die Demonstranten wollen keine Konfrontation – rein militärisch betrachtet, sind sie hoffnungslos unterlegen –, und doch scheint sie unvermeidlich. Die gewaltigen Demonstrationszüge weichen der Auseinandersetzung nicht aus. Truppen und Polizei haben den Befehl, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Zeitweise liegt eine fast nicht zu ertragende Spannung über der Hauptstadt.

Sie löst sich dann allerdings recht schnell auf, denn die Soldaten sind nicht bereit, auf Demonstranten zu schießen. Immer mehr Truppenteile verbrüdern sich mit den marschierenden Arbeitern, verteilen Waffen, verweigern ihren Offizieren den Gehorsam, wählen Soldatenräte und schließen sich der Revolutionsbewegung an. Selbst die Naumburger Jäger gehen zu den Aufständischen über.

Eine wichtige Rolle spielt dabei Otto Wels: Er spricht am Morgen zu den Naumburger Jägern, die im Hof der Alexanderkaserne angetreten sind. Eine Abordnung der Einheit hat morgens darum gebeten, dass ein Mann aus dem SPD-Vorstand zur Truppe spricht und ihr die politische Lage erläutert. Wels sagt zu, lässt sich vom Vorwärts-Gebäude in die Kaserne fahren, weiß aber nicht, was ihn erwartet. Er macht seine Sache glänzend, tastet sich beim Reden langsam vor und findet genau den richtigen Ton. Die Offiziere lassen ihn gewähren, und er überzeugt die Soldaten schließlich, dass sie nicht schießen dürfen und einen Bürgerkrieg verhindern müssen.

An der Kaserne der Gardefüsiliere in der Chausseestraße fallen allerdings noch vor Mittag erste tödliche Schüsse. Als sich ein Demonstrationszug der Kaserne nähert, wird er von den Soldaten jubelnd begrüßt. Sie rufen den Demonstranten zu, sie seien von ihren Wachmannschaften eingesperrt worden und würden daran gehindert, die Kaserne zu verlassen. Man solle sie befreien, sie wollten sich anschließen. Natürlich lassen sich das die demonstrierenden Arbeiter nicht zweimal sagen. Sie brechen die Türen der Kaserne auf und stürmen hinein. Ein Offizier erschießt gezielt aus der Menge heraus drei der eindringenden Demonstranten. Der 26-jährige Erich Habersaath, Metallarbeiter und führender Kopf der sozialistischen Jugendbewegung, der Monteur Franz Schwengler und der Gastwirt Richard Glatte sind die ersten Toten des 9. November. Am Ende des Tages werden es 15 sein.

Otto Wels (SPD) hilft, Blutvergießen zu vermeiden.

Dass es nicht mehr Tote gibt, ist besonders Otto Wels zu verdanken. Sein Erfolg bei den Naumburger Jägern macht ihn mutig und zuversichtlich. Er zieht von einer Kaserne zur nächsten und hat großen Anteil daran, dass der 9. November 1918 in Berlin nicht in einem Blutbad endet. Otto Wels entpuppt sich an diesem Tag als Meister der politischen Taktik, der auch in schwierigen Situationen den Überblick behält. So lässt er beispielsweise einen Trupp der Naumburger Jäger abstellen, der das Vorwärts-Gebäude sichert. Etwa 100 Mann, bewaffnet mit Maschinengewehren, beziehen Position, um zu verhindern, dass radikale Demonstranten das Gebäude besetzen und das Erscheinen der Parteizeitung verhindern oder gar den Vorwärts für eigene Zwecke missbrauchen.

Das Vorwärts-Gebäude wird an diesem 9. November zur Leitstelle der Parteizentrale. Hier gründet die SPD-Spitze am Vormittag in aller Eile einen Arbeiter- und Soldatenrat, nachdem sie erkennt, dass ihr Aufruf zum Abwarten, den der Vorwärts am Morgen veröffentlicht hat, erfolglos ist. Die neuen Organisationsformen der Revolutionsbewegung werden gezielt kopiert und mit eigenem Führungspersonal besetzt. Diesem sogenannten Arbeiter- und Soldatenrat gehören Friedrich Ebert, Otto Braun, Otto Wels und andere leitende Funktionäre der Partei an. Auch noch am Vormittag erklären der zweite sozialdemokratische Staatssekretär und die Unterstaatssekretäre ihren Rücktritt. Die SPD scheidet aus der Regierung aus.

Selbst im Großen Hauptquartier in Spa kommen die Dinge am Morgen des 9. November endlich in Bewegung. Am Vortag hat der Kaiser der Obersten Heeresleitung (OHL) zwar den Auftrag erteilt, Vorbereitungen für die Rückgewinnung der Heimat zu treffen. »Ich stelle mich an die Spitze der aus der Front gezogenen königstreuen Truppen und erobere mir mein Deutschland wieder.« Aber der Chef der OHL Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und sein neuer Generalquartiermeister Wilhelm Groener sind der Überzeugung, dass dieses Vorhaben des Kaisers undurchführbar ist. Hindenburg will das dem Kaiser allerdings nicht selbst sagen, weil er keinesfalls mit einer möglichen Abdankung in Verbindung gebracht werden will. In Absprache mit Hindenburg bestellt deshalb Groener für den Morgen des 9. November Truppenkommandeure ins Große Hauptquartier. Auf die klare Frage »Wird es möglich sein, dass der Kaiser an der Spitze der Truppen die Heimat im Kampfe wiedererobert?« antwortet ein Einziger der Offiziere mit Ja, 23 antworten mit Nein, und 15 formulieren mehr oder weniger deutlich ihre Zweifel. Dieses Ergebnis teilt Groener dem Kaiser beim Vortrag um 10 Uhr mit.

Für Wilhelm II. ist schockierend, was er da zu hören bekommt, aber er ist offenbar nicht in der Lage, daraus vernünftige Konsequenzen zu ziehen. Als einer der anwesenden Offiziere ins Gespräch bringt, Wilhelm könne doch vielleicht als Kaiser zurücktreten, aber weiterhin König von Preußen bleiben, scheint ihm das die Rettung zu sein. Dass er damit die verfassungsrechtliche Grundlage des Deutschen Reiches sprengen würde, weil laut Verfassung der König von Preußen stets auch Deutscher Kaiser ist, ist Wilhelm II. nicht bewusst oder gleichgültig. Der Württembergische Generalleutnant Groener gibt in dieser Situation die Zurückhaltung auf, die er sich eigentlich in allen Abdankungsfragen auferlegt hat. »Ich erklärte in schärferer Form, als ich es sonst wohl getan hätte, was ich zu sagen für meine Pflicht hielt«, schreibt er in seinen Erinnerungen. »Das Heer wird unter seinen Führern und Kommandierenden Generalen in Ruhe und Ordnung in die Heimat zurückmarschieren, aber nicht unter dem Befehl Eurer Majestät, denn es steht nicht mehr hinter Eurer Majestät.« Groener ist sich durchaus bewusst, was er da sagt. »Wenn mich einer der Anwesenden in diesem Augenblick über den Haufen geschossen hätte, so hätte mich das nicht gewundert, denn diese Worte waren eine Ungeheuerlichkeit in einem Kreise, in dem nur der alte Hindenburg, und auch dieser nur mit größter Überwindung, die Nüchternheit aufbrachte, die Dinge so zu sehen, wie sie waren.«

In der Berliner Reichskanzlei wartet um diese Zeit der Reichskanzler immer ungeduldiger und nervöser auf die Rücktrittserklärung des Kaisers. Ihm wird von immer neuen gewaltigen Demonstrationszügen berichtet, die im Anmarsch auf die Innenstadt seien. Überall verbrüdern sich Soldaten und Demonstranten. Wenn diese Bewegung überhaupt noch aufgehalten oder kontrolliert werden kann, dann nur durch den sofortigen Rücktritt Wilhelms II. Im Halbstundentakt ruft Prinz Max jetzt im Großen Hauptquartier an, um eine Entscheidung des Kaisers zu bekommen.

Um die Mittagszeit überstürzen sich dann die Ereignisse im wahrsten Sinn des Wortes. Es geschehen Dinge gleichzeitig, die nicht recht zusammenzupassen scheinen. Das hat einerseits mit den Kommunikationsmöglichkeiten zu tun, andererseits kreuzen sich um die Mittagszeit aber auch Aktivitäten mit sehr unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Zielsetzungen. Da gibt es einmal letzte angestrengte Versuche, eine Revolution doch noch zu verhindern, indem der Kaiser zurücktritt und die Macht geordnet einem Mann übergeben wird, der sie verantwortungsbewusst wahrnimmt und der Einfluss auf die demonstrierenden Arbeiter hat. Dieser Mann kann nach Lage der Dinge nur Friedrich Ebert sein, der Vorsitzende der SPD. Andererseits ist die Revolution aber bereits seit Stunden mit voller Wucht im Gang und stößt praktisch auf keinen Widerstand. Im Grunde hat sie sich bereits durchgesetzt, das alte Regime liegt um die Mittagszeit am Boden. Das wiederum veranlasst die SPD-Spitze gegenüber den alten Gewalten die Forderung zu erheben, dass ihr die Macht übertragen werden soll.

Der Reichskanzler hört am späten Vormittag aus dem Großen Hauptquartier, dass Wilhelm II. sich entschieden habe abzudanken; der Text der Abdankungserklärung folge in einer halben Stunde. Natürlich kommt er nicht. Um einer Absetzung des Kaisers durch die Revolutionäre zuvorzukommen, gibt der Kanzler kurz vor Mittag eine Erklärung an das Wolffsche Telegraphenbüro, die wichtigste Berliner Presseagentur: »Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen«, heißt es da. Friedrich Ebert soll Reichskanzler werden, und es sollen Wahlen für eine Verfassunggebende Nationalversammlung ausgeschrieben werden, die dann über die künftige Staatsform entscheiden soll.

Praktisch zeitgleich erscheint eine Extraausgabe des Vorwärts mit der übergroßen Schlagzeile »Generalstreik!«. Im Text heißt es: »Der Arbeiter- und Soldatenrat von Berlin hat den Generalstreik beschlossen. Alle Betriebe stehen still. Die notwendige Versorgung der Bevölkerung wird aufrechterhalten. Ein großer Teil der Garnison hat sich in geschlossenen Truppenkörpern mit Maschinengewehren dem Arbeiter- und Soldatenrat zur Verfügung gestellt. Die Bewegung wird gemeinschaftlich geleitet von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Unabhängigen sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Arbeiter, Soldaten, sorgt für Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung. Es lebe die soziale Republik! Der Arbeiter- und Soldatenrat.«

Als der Text in Druck ging, war das reines Wunschdenken der SPD-Spitze. Von einer Leitung der Bewegung durch die SPD kann keine Rede sein, ihr »Arbeiter- und Soldatenrat« hatte keinerlei Einfluss auf das Zustandekommen des Generalstreiks, und auch die USPD kann nicht im Ernst für sich in Anspruch nehmen, diese gewaltige Massenerhebung zu »leiten«. Die Arbeiter und Soldaten wollen ein sofortiges Ende des verlorenen und sinnlosen Krieges, und sie sind bereit, alles beiseitezuschaffen, was der Verwirklichung dieser Forderung im Weg steht. Die Revolutionsbewegung ist am 9. November vor allem eine radikale Friedensbewegung. Frieden – jetzt! Alles andere wird man sehen. Es gibt kein einheitliches politisches Gesamtprogramm, die Bewegung ist spontan und vielfältig, und sie hat viele lokale und regionale Zentren.

Der SPD-Spitze gelingt an diesem 9. November eine taktische Meisterleistung. Noch am Morgen gehören ihre Vertreter der Regierung an, und die Partei fordert die Berliner Arbeiter auf, noch für einige Stunden stillzuhalten. Am Mittag nimmt sie für sich in Anspruch, die »Bewegung« gemeinsam mit der USPD zu leiten. Innerhalb weniger Stunden arbeitet sie sich also aus dem Bremserhäuschen des fahrenden Zuges nach vorn und erhebt Anspruch auf einen Platz im Führerhaus der Lokomotive.

Den Realpolitikern um Friedrich Ebert ist klar, dass sie in diesem Moment keinen Alleinanspruch auf die Führung geltend machen können. Die kleine Schwester USPD, die in Berlin allerdings genauso stark ist wie die SPD, muss mit ins Boot. Man ist auf Seiten der SPD bereit, die Führungsrolle zu teilen, und versucht, vollendete Tatsachen zu schaffen. Noch aber kann von einer »gemeinschaftlichen« Leitung keine Rede sein. Mit der USPD hat es zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ernsthafte Gespräche gegeben, geschweige denn eine Einigung.

Die Meldung vom Rücktritt des Kaisers verbreitet sich um die Mittagszeit wie ein Lauffeuer in den Straßen Berlins. Gleichzeitig erscheint eine Abordnung der SPD unter der Führung von Friedrich Ebert in der Reichskanzlei und verlangt, dass sowohl das Amt des Reichskanzlers als auch das des Oberkommandierenden in den Marken mit Vertrauensmännern der SPD besetzt werden sollen. Die Delegation fordert außerdem die Mehrheit in einer neu zu bildenden Regierung für SPD und USPD, falls die Unabhängigen sich zur Beteiligung entschließen. Die Aufnahme von Vertretern bürgerlicher Parteien sei denkbar, solange eine sozialdemokratische Mehrheit gewährleistet ist. Nach kurzer Beratung mit den anwesenden Staatssekretären entscheidet sich Max von Baden, das Amt des Reichskanzlers an Ebert zu übertragen. Natürlich hat er dazu weder die politische Befugnis noch eine Rechtsgrundlage, aber im Regierungschaos des 9. November fragt danach keiner.

Friedrich Ebert ist seit 1913 Vorsitzender der SPD, zunächst gemeinsam mit Hugo Haase, später mit Philipp Scheidemann. Er ist von Beruf Sattler, 47 Jahre alt, und hat eine steile Karriere als Gewerkschafter und Parteiorganisator hinter sich. Kein charismatischer Führer, kein guter Redner, aber ein Mann mit sicherem Instinkt für das politisch Mögliche. Einer, der Prinzipientreue mit politischer Elastizität verbindet, der mit allen Wassern des politischen Geschäfts gewaschen ist. Ein Mann, dem es in seinen langen Jahren als Parteisekretär beim SPD-Vorstand und als Parteivorsitzender zur zweiten Natur geworden ist, zu vermitteln und Kompromisse zu finden – der aber durchaus auch Härte an den Tag legen kann, wie er in den Auseinandersetzungen mit »abtrünnigen« Kollegen während des Krieges gezeigt hat.

Bei den Spitzen der bürgerlichen Parteien, aber auch beim politischen Spitzenpersonal des Kaiserreichs gilt er als umgänglich und gemäßigt. Wenn man schon nicht mehr vermeiden kann, mit Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten, dann am liebsten mit Friedrich Ebert. An ihm führt am 9. November kein Weg vorbei. Am Nachmittag wird Ebert die Amtsgeschäfte des Reichskanzlers übernehmen.

Etwa zur selben Zeit gehen beim Oberbefehlshaber in den Marken Meldungen ein, die das ganze Ausmaß des militärischen Ungehorsams zeigen: »Völliges Versagen der Nordreserve und des Ersatzbataillons 64«; »große Unordnung« beim Alexander-Regiment und Jägerbataillon 4; Regiment Franz und Reserve 93 weigern sich, »Waffen gegen die Volksmassen« zu gebrauchen; Ersatzbataillon 48 versagt den Gehorsam. Vom 2. Garde-Regiment und von den 21 MG-Kompanien, die dem Oberbefehlshaber als Verstärkung zugeteilt worden sind, treffen nur ein Pferdelazarett und zwei Pionierkompanien im Hauptquartier ein.

Übergabe der Garde-Ulanen-Kaserne an die Revolutionäre

Linsingen will angesichts dieser Lage vom Preußischen Kriegsminister wissen, ob denn nun wirklich noch von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden soll, wo doch die meisten Truppenteile sich ohnehin weigern zu schießen und bereits Soldatenräte gebildet haben. Lediglich zum Schutz für Leben und Eigentum der Bürger und zum unmittelbaren Schutz der Regierungsgebäude, lässt der Kriegsminister schließlich nach Rücksprache mit dem Reichskanzler mitteilen. Aber selbst das ist inzwischen völlig bedeutungslos. Da die Entscheidung nicht schnell genug getroffen wurde, hat der Oberbefehlshaber in den Marken um 13.15 Uhr eigenmächtig verfügt: »Truppen haben nicht von den Waffen Gebrauch zu machen, auch bei Verteidigung von Gebäuden.«

Die demonstrierenden Arbeiter und Soldaten haben inzwischen Regierungsgebäude und Ämter besetzt, beispielsweise das Reichsmarineamt in der Kaiserin-Augusta-Allee und auch die Kommandantur am Schinkelplatz. Sie entwaffnen Offiziere, entfernen die Kokarden und Schulterstücke der kaiserlichen Armee von den Uniformen, bilden Soldatenräte. Ähnlich verläuft es im Kriegsministerium. Der hier gebildete Soldatenrat besteht aus Sozialdemokraten und bürgerlichen Demokraten, er trägt schwarzrotgoldene Armbinden.

Um 13 Uhr stürmen Arbeiter und Soldaten das Gefängnis Moabit und die Strafanstalt Tegel; es werden über 200 politische Gefangene befreit, und 650 Häftlinge kommen aus dem »Militärgewahrsam« frei. Geöffnet werden auch die Kasematten in Spandau. Das Polizeipräsidium am Alexanderplatz ist wie eine Festung hergerichtet worden: Auf den Treppen, in den Gängen und an den Fenstern hat man Maschinengewehre in Stellung gebracht. Im Lichthof stehen kriegsmäßig ausgerüstete Schutzleute, eine Jägerkompanie und eine Infanterie-Abteilung. Aber auch diese Trutzburg wird eingenommen. Es werden Hunderte von politischen Gefangenen befreit. Am frühen Nachmittag ist die ganze Innenstadt mit dem Regierungsviertel, dem Gelände um den Reichstag und das Schloss von demonstrierenden Arbeitern und Soldaten besetzt. Vom Reichstag, vom Brandenburger Tor und vom Roten Rathaus wehen rote Fahnen. Es gibt nun keinen Zweifel mehr am vollständigen Sieg der Revolution. Am frühen Nachmittag des 9. November ist Berlin – und damit das Deutsche Reich – in den Händen der Revolutionsbewegung.

Philipp Scheidemann hat sich nach den Gesprächen in der Reichskanzlei zum Reichstag begeben. Im Reichstagsgebäude geht es schon seit den Morgenstunden zu wie in einem großen Heerlager, hält Scheidemann später in seinen Erinnerungen fest. Mittags stürmt nun ein Haufen von Arbeitern und Soldaten zu dem Tisch im Speisesaal, an dem er gemeinsam mit Friedrich Ebert und anderen Spitzenpolitikern der SPD sitzt. An die fünfzig Mann drängen ihn herauszukommen und zu reden.

Es gibt Gerüchte, dass Karl Liebknecht, der mit Abstand populärste Politiker der Spartakusgruppe, beim Berliner Schloss die »Sozialistische Republik« ausrufen will. Dem will Scheidemann unter allen Umständen zuvorkommen. Also spricht er von der Balustrade eines Fensters im Reichstag zu den Menschen vor dem Gebäude. Ohne Absprache mit seinem Kollegen und designierten Reichskanzler Friedrich Ebert ruft er den Versammelten spontan zu: »Das Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Es lebe die deutsche Republik!«

Philipp Scheidemann ruft die Republik aus.

Die Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz erlebt das Geschehen hautnah mit. »Mittags nach ein Uhr kam ich durch den Tiergarten zum Brandenburger Tor, wo gerade die Flugblätter mit der Abdankung verteilt waren«, hält sie in ihrem Tagebuch fest. »Aus dem Tor zog ein Demonstrationszug. Ich trat mit ein. Ein alter Invalide trat an den Zug und rief ›Ebert Reichskanzler! – weitersagen!‹ Vor dem Reichstag Ansammlung. Von einem Fenster herab rief Scheidemann die Republik aus. (…) Dann nach den Linden zurück. Das Lastauto gedrängt voll mit Matrosen und Soldaten. Rote Fahnen. Hinter dem Brandenburger Tor sah ich, wie die Wache abtrat. Dann in den Schwarm bis zur Wilhelmstraße und dann noch ein Stück mit. Soldaten sah ich, die ihre Kokarden abrissen und lachend auf die Erde warfen. So ist es nun wirklich. Man erlebt es und fasst es gar nicht recht.«

Wenig erfreut über Scheidemanns Proklamation ist Friedrich Ebert. Als Scheidemann an den Tisch im Speisesaal des Reichstags zurückkommt, ist Ebert vor Zorn dunkelrot im Gesicht. Er tobt, schlägt auf den Tisch und schreit Scheidemann an: »Du hast kein Recht, die Republik auszurufen! Was aus Deutschland wird, ob Republik oder was sonst, das entscheidet eine Konstituante!« Ebert ist kein Monarchist, sondern überzeugter Republikaner. Er hat aber offenbar im vertraulichen Gespräch mit dem immer noch amtierenden Reichskanzler Max von Baden Zusagen gemacht, an die er sich gebunden fühlt.

Das wird deutlich, als Prinz Max dann tatsächlich Ebert am Nachmittag die »Wahrnehmung der Geschäfte des Reichskanzlers« überträgt. In seiner ersten Bekanntmachung kündigt Ebert gegen Abend an, er sei im Begriff, die neue Regierung im Einverständnis mit »den Parteien« zu bilden. Dem neuen Kabinett sollen die meisten Mitglieder der bisherigen Regierung weiterhin als Staatssekretäre angehören. Es soll eine »Volksregierung« sein, die schnellstens den Frieden bringen, die errungene Freiheit festigen und die Ernährung sichern werde. Ebert bittet um Unterstützung und fordert die Mitbürger dringend auf: »Verlasst die Straßen. Sorgt für Ruhe und Ordnung!« Scheidemann hat dagegen bei seiner kurzen Ansprache zur Ausrufung der Republik erklärt, Ebert werde eine Regierung bilden, der alle »sozialistischen Parteien« angehören. Er hat das, wie er später in seinen Erinnerungen schreibt, »für selbstverständlich gehalten«.

Friedrich Ebert, SPD-Vorsitzender und »Reichskanzler für einen Tag«

In einem zweiten Aufruf, der sich an alle Behörden und Beamten wendet, bittet Ebert alle Amtsträger darum, auf ihrem Posten zu bleiben. »Ich weiß, dass es vielen schwer werden wird, mit den neuen Männern zu arbeiten, die das Reich zu leiten unternommen haben, aber ich appelliere an ihre Liebe zu unserem Volke. Ein Versagen der Organisation in dieser schweren Stunde würde Deutschland der Anarchie und dem schrecklichsten Elend ausliefern.« In einem dritten Aufruf an das Heimatheer fordert Ebert alle militärischen Dienststellen auf, »ihre Dienstgeschäfte unverändert weiterzuführen«. Er ordnet die Bildung von Soldatenräten sowie deren Beteiligung »an der Abwicklung des Dienstes« an. »Ihre Hauptaufgabe ist, bei der Einrichtung des Ordnungs- und Sicherheitsdienstes mitzuwirken und das engste Einvernehmen zwischen Mannschaften und ihren Führern herzustellen.« Zwei weitere Aufrufe »Sorgt für Nahrungsmittel!« und »An alle« zeigen, dass es dem amtierenden »Reichskanzler« Friedrich Ebert und seiner Regierung aus bürgerlichen Staatssekretären an diesem 9. November in erster Linie um Kontinuität geht, um die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Versorgung der Bevölkerung. Alles, nur kein Chaos!

Politisch am brisantesten ist zweifellos Eberts »Befehl an alle Groß-Berliner Truppen«. Darin erklärt er, die gewählten Vertreter aller Groß-Berliner Truppen hätten einen »Aktionsausschuss« gebildet, der ab sofort »die Spitze der ausführenden Militärgewalt« sei, »die er, unabhängig von irgendwelchen Meinungsverschiedenheiten der Arbeiterräte und irgendwelchen Parteizwistigkeiten so lange ausübt, bis die einzuberufende Nationalversammlung andere Bestimmungen getroffen hat«. Man mag Friedrich Ebert zugutehalten, dass er an diesem 9. November nicht immer weiß, was er in aller Hektik unterschreibt. Der Aktionsausschuss, den er hier zur Spitze der ausführenden Militärgewalt macht, ist in Wahrheit im Kriegsministerium auf Anweisung des Preußischen Kriegsministers Heinrich Schëuch zustande gekommen, der sich dem neuen »Reichskanzler« zur Verfügung gestellt hat. Das Ganze ist ein erster Versuch der alten militärischen Führung, trotz Revolution die militärische Macht wieder in die Hand zu bekommen. Noch am selben Tag beziehen jedoch die tatsächlich gewählten Soldatenräte sehr scharf Position gegen diesen Aktionsausschuss, und das ganze Vorhaben scheitert.

In der Geschichte des 9. November ist dieser Aktionsausschuss lediglich ein kleines Ereignis am Rande, aber es zeigt doch, dass bereits an diesem Tag die Auseinandersetzungen darüber beginnen, was aus dieser Revolution werden soll, mit der die Berliner Arbeiter und Soldaten das kaiserliche Regime hinweggefegt haben. Auch die doppelte Ausrufung der Republik illustriert das eindrucksvoll. Offenbar kurz nach Scheidemanns spontaner Rede aus dem Fenster des Reichstagsgebäudes erscheint Karl Liebknecht tatsächlich am Schloss, das inzwischen von Soldaten, Arbeitern und Matrosen besetzt ist. Liebknecht genießt als Kriegsgegner legendären Ruf. Der Sohn des legendären SPD-Vorsitzenden Wilhelm Liebknecht ist 47 Jahre alt, Rechtsanwalt, im Jahr 1900 in die SPD eingetreten und seit 1912 Reichstagsabgeordneter. Er hat als erster Sozialdemokrat bereits am 2. Dezember 1914 gegen die Bewilligung von Kriegskrediten gestimmt und saß mehr als zwei Jahre für seine Überzeugung im Zuchthaus. Erst am 23. Oktober 1918 ist er freigelassen worden. Jetzt ruft er von einem Kraftwagen aus den Demonstranten zu: »Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Der Friede ist in diesem Augenblick geschlossen. Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft der Hohenzollern, die in diesem Schloss jahrhundertelang gewohnt haben, ist vorüber. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland.« Dann spricht Liebknecht vom Balkon über dem Portal IV des Schlosses und fordert die Versammelten zum Schwur auf die freie sozialistische Republik und die Weltrevolution auf. Viele Hände erheben sich, und am Mast der Kaiserstandarte wird die rote Fahne gehisst.

Gleich zwei Mal wird also am 9. November 1918 in Berlin die Republik ausgerufen – und es liegt nahe anzunehmen, die deutsche Revolution habe sich zwischen diesen beiden Republiken entscheiden müssen. Genau das aber ist nicht die Entscheidungssituation, um die es in den nächsten Monaten gehen wird. Karl Liebknecht ist in der Arbeiterschaft bekannt und beliebt, weil er vehement für seine Überzeugung eintritt und dafür sogar ins Gefängnis geht. Allerdings weiß nur ein kleiner Bruchteil der sozialdemokratischen Arbeiterschaft Näheres über die politischen Ziele Liebknechts und der Spartakusgruppe. Vieles an seiner Rhetorik erinnert an die Bolschewiki in Russland. Die genießen durchaus Ansehen im linken Lager der sozialistischen Arbeiterschaft, weil sie erfolgreich eine Revolution gemacht haben. Zugleich schrecken die antidemokratischen Methoden der Bolschewiki nicht nur konservative und gemäßigte Bürger ab, sondern auch Sozialdemokraten und den größeren Teil der Unabhängigen Sozialdemokraten. Die Machtbasis der Spartakusgruppe ist schmal, ihre Anhängerschaft verschwindend gering. Eine Räterepublik nach den Vorstellungen Liebknechts und der Spartakusgruppe steht in Deutschland nicht im Entferntesten auf der Tagesordnung, eine Machtergreifung im Stile der bolschewistischen Oktoberrevolution ist eine ganz und gar unrealistische Befürchtung. Dennoch wird diese Vorstellung in den folgenden Wochen immer wieder das Denken der Akteure beherrschen und zeitweise in regelrechte Hysterie münden.

Im Großen Hauptquartier im belgischen Spa ist der Kaiser am frühen Nachmittag noch immer entsetzt über die Unbotmäßigkeit des bisherigen Reichkanzlers Max von Baden. Der hat mit der eigenmächtig verkündeten Abdankung Wilhelms II. als Deutscher Kaiser und König von Preußen alle Pläne zerschlagen, die Wilhelm noch erwogen hat. Erst gegen 16 Uhr am Nachmittag ist auch ihm endlich klar, dass er allenfalls mit seinen Truppen, aber nicht an deren Spitze in die Heimat zurückkehren kann. Anschließend könnte er sich auf seine privaten Besitzungen zurückziehen, wie das der sächsische König bereits gemacht hat, nachdem die Revolutionsbewegung ihn vom Thron geholt hat. Noch kann sich der bisherige Kaiser aber nicht entscheiden, ob er diesen Weg gehen will.

Generalfeldmarschall von Hindenburg, der Chef der Obersten Heeresleitung, verfolgt dagegen ganz andere Pläne. Er möchte Wilhelm II. dazu bewegen, in die Niederlande ins Exil zu gehen. Vorerst spricht er nicht mit ihm darüber, lässt aber auf diplomatischen Kanälen bereits anfragen, ob eine Übersiedlung Wilhelms II. in die Niederlande möglich wäre.

Denkbar wäre durchaus auch der »Heldentod« Wilhelms II. an der Front. Diese Variante hält General Groener für die beste, um den monarchischen Gedanken in Deutschland aufrechtzuerhalten und nachhaltig zu stützen. Eine Reihe von getreuen Offizieren ist bereit, den Kaiser auf diesem letzten Weg zu begleiten. Wilhelm II. weiß sehr genau, dass exakt dies die »preußische Lösung« wäre, aber er kann sich nicht dazu durchringen.

Theodor Wolff, Chefredakteur des Berliner Tageblatts

In Berlin geht um 16 Uhr Theodor Wolff, der Chefredakteur des Berliner Tageblatts, aus seinem Büro nach Hause. Er sieht auf den Straßen »endlose Züge von Soldaten, die ihre Gewehre auf den Rücken gehängt, die Mützen schief gesetzt haben, rote Bänder im Knopfloch tragen, folglich ganz anders aussehen, und Arbeiter, zum Teil mit Gewehren, dazwischen große rote Fahnen, voran und zur Seite Ordner mit Gewehren und roten Armbinden. Mitten hindurch rollen ununterbrochen große, aus den Militärdepots genommene Lastautos, auf denen Soldaten und auch Zivilisten mit Gewehren hocken, sitzen, stehen und knien, gewöhnlich ein (Gewehr) im Anschlag – am hinteren Ende ein Maschinengewehr, daneben wieder Soldaten in Schussstellung, über allem die rote Fahne. Auch elegante kleinere feldgraue Autos, in denen jetzt vier oder sechs Soldaten mit bereit gehaltenen Gewehren sitzen. Auf dem Bürgersteig die nach Hause eilenden Ladenbesitzer, die ihre Läden geschlossen haben, auch viele Neugierige etc. Der ganze Eindruck stark unheimlich und nervenerregend, besonders auch wegen der vielen Halbwüchsigen und zweifelhaften Gewehrträger. (…) Am Leipziger Platz zwingen zwei Bewaffnete eine Elektrische, still zu stehen, weil sie von außen gesehen haben, dass ein dicker Zahlmeister, der drin am Fenster sitzt, die Kokarde noch nicht abgenommen hat – er nimmt sie dann lächelnd ab. (…) Als ich in der Leipziger Straße bei der Charlottenstraße anlange, beginnt ein kolossales Geknatter von Geschossen, so laut und scharf, dass man immer glaubt, die Kugeln schlügen an die Wände, neben denen man geht. Ich höre, dass mit Maschinengewehren um den Besitz des Marstalls gekämpft wird, wo sich königstreue Offiziere, Kadetten und Jugendwehr verbarrikadiert hätten und angeblich aus den Fenstern schössen.«

Am frühen Abend des 9. November besetzen revolutionäre Arbeiter und Soldaten, die der Spartakusgruppe nahestehen, das Berliner Zeitungsviertel. Sie setzen durch, dass die 1. Abendausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers eine Beilage mit den Forderungen der Spartakusgruppe erhält. Die 2. Abendausgabe erscheint dann unter dem Titel Die Rote Fahne. Ehemaliger Berliner Lokal-Anzeiger. In großen Lettern prangt auf der ersten Seite die Überschrift »Berlin unter der Roten Fahne«. Auch einige andere Zeitungsredaktionen werden besetzt, ebenso das Wolffsche Telegraphenbüro sowie das Haupttelegraphenamt. Die Nachrichten des Wolffschen Telegraphenbüros werden unter Vorzensur gestellt.

Im Berliner Reichstag beraten am frühen Abend verschiedene Strömungen innerhalb der Unabhängigen Sozialdemokraten über die weitere Entwicklung, darunter Karl Liebknecht von der Spartakusgruppe, die Teil der USPD ist. Manche im Tagesverlauf entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte haben Vertreter geschickt, die eine gemeinsame Regierung der beiden sozialdemokratischen Parteien fordern. Auch der SPD-Vorsitzende Scheidemann kommt dazu und drängt auf eine Koalitionsregierung von SPD und USPD. Doch die Vertreter des linken Flügels der USPD lehnen es rundweg ab, sich an einer solchen Regierung zu beteiligen. Keine gemeinsame Sache mit den »Regierungssozialisten« ist die Parole.

Als dann aber der Druck durch die anwesenden Vertreter der Arbeiter und Soldaten immer mehr wächst, formuliert Liebknecht Bedingungen für eine gemeinsame SPD-USPD-Regierung sowie für seinen persönlichen Eintritt in eine solche: Deutschland soll eine sozialistische Republik sein. In dieser Republik soll die gesamte Macht in den Händen von gewählten Vertrauensmännern der gesamten werktätigen Bevölkerung und der Soldaten liegen. Die bürgerlichen Mitglieder sollen aus der Regierung ausgeschlossen sein. Die Beteiligung der USPD an der Regierung soll zunächst nur für drei Tage gelten, bis der Waffenstillstand abgeschlossen ist. Beide Leiter des Kabinetts sollen gleichberechtigt sein.

Um 21 Uhr trifft die Antwort des SPD-Parteivorstands ein: Die Errichtung einer Rätemacht, die in Liebknechts Bedingungen enthalten ist, wird kategorisch abgelehnt. Über die Zukunft Deutschlands soll eine frei gewählte Konstituierende Nationalversammlung entscheiden. Auch andere Punkte bleiben strittig.

Der Vorstand der USPD formuliert noch am Abend in den entscheidenden Fragen einen Kompromiss: »Das Kabinett darf nur aus Sozialdemokraten bestehen, die als Volkskommissare gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Für die Fachminister gilt diese Beschränkung nicht, sie sind nur technische Gehilfen des entscheidenden Kabinetts. Jedem von ihnen werden zwei Mitglieder der sozialdemokratischen Parteien mit gleichen Rechten zur Seite gegeben, aus jeder Partei einer. (…) Die politische Gewalt liegt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte, die zu einer Vollversammlung aus dem ganzen Reiche alsbald zusammenzuberufen sind. Die Frage der konstituierenden Versammlung wird erst nach einer Konsolidierung der durch die Revolution geschaffenen Zustände aktuell und soll deshalb späteren Erörterungen vorbehalten bleiben.« Dieser Kompromissvorschlag wird der SPD-Spitze zugestellt, aber am 9. November wird keine Einigung zwischen SPD und USPD erreicht.

Im Reichstag geht es auch noch am Abend hoch her. Bewaffnete Arbeiter und Soldaten strömen ein und aus, vor den Sitzungszimmern diskutieren erregte Gruppen, aus den Beratungszimmern hört man lebhaftes Stimmengewirr. In einigen Zimmern haben sich Auskunfts- oder auch Befehlsstellen etabliert, die allerlei Berechtigungsscheine ausgeben; in einem Zimmer werden beispielsweise Ausweise zum Empfang von Lebensmitteln ausgestellt, ohne dass irgendeine befugte Stelle dazu Anweisung gegeben hätte. »Es schien unmöglich, dieses allgemeinen Wirrwarrs Herr zu werden«, schreibt Richard Müller über die Situation. Er ist einer der Mitbegründer und führenden Köpfe der Revolutionären Obleute, einer linken Gruppe innerhalb der USPD, die aus erfahrenen Arbeitervertretern besteht und großen Einfluss in den Berliner Betrieben hat. Richard Müller ist 37 Jahre alt und seit 1914 Leiter der Dreherbranche im Deutschen Metallarbeiterverband. Im Januar 1918 war er beim großen Streik der Rüstungsarbeiter, den die Revolutionären Obleute organisiert hatten, in vorderster Front dabei. Wenn überhaupt eine Gruppe den Anspruch erheben kann, den Massenstreik und die Demonstrationen des 9. November vorbereitet zu haben, dann die Revolutionären Obleute. Auch sie haben jedoch keine Kontrolle über all das, was im Verlauf dieses 9. November geschieht, sondern versuchen lediglich, so gut es geht, nicht von den Ereignissen überrollt zu werden.