Der Hunger der Lebenden - Beate Sauer - E-Book

Der Hunger der Lebenden E-Book

Beate Sauer

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Beschreibung

Der Sommer 1947: heiß und tödlich Köln, Juni 1947. Eine Hitzewelle plagt die von Krieg und Hunger gezeichnete Stadt. Friederike Matthée von der Weiblichen Polizei untersucht den Mord an einer früheren Kollegin. Die Beamtin überwachte während des Nationalsozialismus die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Polizeilichen Jugendschutzlagern. Die Zustände dort gehen Friederike nahe, Erinnerungen an ihre Flucht aus Ostpreußen werden in ihr wach. Der Fall bringt sie und Richard Davies von der Royal Military Police wieder zusammen. Der Offizier Richard schwankt zwischen beruflichem Ethos und seinem Hass auf die Deutschen. Friederike überschreitet einmal mehr ihre Befugnisse, um den Fall aufzuklären. Der zweite Fall für Friederike Matthée

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Der Hunger der Lebenden

Die Autorin

Beate Sauer studierte katholische Theologie und Philosophie und absolvierte danach eine journalistische Ausbildung. Dabei stellte sie fest, dass ihr Herz noch viel mehr für fiktive Geschichten schlägt. Mit ihren historischen Romanen begeistert sie eine riesige Fangemeinde. Der Hunger der Lebenden ist nach Echo der Toten ihr zweiter historischer Kriminalroman um die Ermittlerin Friederike Matthée.

Das Buch

Friederike Matthée arbeitet in Köln für die Weibliche Polizei und soll Franziska Wagner, eine junge Frau, verhören, die des Mordes an einer ehemaligen Kollegin verdächtigt wird. Franziska weigert sich zu sprechen. Bei einer Razzia in einer Ruine begegnet Friederike der kleinen Elli. Franziska hat sich aufopferungsvoll um die Waise gekümmert. Elli erzählt Friederike von den grauenvollen Zuständen in dem »Polizeilichen Jugendschutzlager«, in das Franziska eingewiesen worden war – und zwar auf Betreiben der ermordeten Kollegin. Friederike kann nicht an Franziskas Schuld glauben und überschreitet einmal mehr ihre Befugnisse, um dem Fall nachzugehen.Gleichzeitig ermittelt die Royal Military Police in der Nähe von Köln in einem anderen Mordfall: Gegen Ende des Krieges verschwand die dreiköpfige Besatzung eines abgestürzten Kampfflugzeuges der Royal Air Force spurlos. Nun hat man ihre Leichen gefunden, verscharrt in einem Waldstück. Dies führt zu einem Wiedersehen zwischen Friederike und Richard Davies, der sie als Unterstützung anfordert. Im Laufe der Ermittlungen kommt Friederike der Verdacht, dass die beiden Fälle zusammenhängen. Doch ihre Arbeit mit Davies und ihre gegenseitige Liebe werden von schrecklichen Geständnissen aus der Vergangenheit fast unmöglich gemacht.

Beate Sauer

Der Hunger der Lebenden

Ein Fall für Friederike Matthée

Kriminalroman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2019© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Herbert Maschke / ullstein bildAutorenfoto: © Ewa WawrzyniakE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-1811-0

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1. Kapitel

Bergisches Land, bei Odenthal, Montag, 16. Juni 1947

Köln, Mittwoch, 18. Juni 1947

Bergisches Land, bei Odenthal

2. Kapitel

Köln, Donnerstag, 19. Juni 1947

London

Köln

3. Kapitel

Köln

London

Köln, Freitag, 20. Juni 1947

4. Kapitel

Bergisches Land, Montag, 23. Juni 1947

Köln

Bergisches Land, bei Odenthal

Köln

Bergisches Land, bei Voiswinkel

Köln

Bergisches Land, bei Voiswinkel

5. Kapitel

Köln, Dienstag, 24. Juni 1947

Köln, Mittwoch, 25. Juni 1947

Köln

Bergisches Land, Bensberg

Köln

Düsseldorf

Köln

Inkerman Barracks, Knaphill, Surrey

Köln

6. Kapitel

Bergisches Land, bei Odenthal, Donnerstag, 26. Juni 1947

Bensberg

Köln

7. Kapitel

Köln, Freitag, 27. Juni 1947

Köln, Samstag, 28. Juni 1947

Bensberg

Köln

8. Kapitel

Köln, Sonntag, 29. Juni 1947

Düsseldorf

Köln

9. Kapitel

Köln, Montag, 30. Juni 1947

Hubbelrath, Gort Barracks

Köln

10. Kapitel

Bergisches Land, bei Altenberg, Dienstag, 1. Juli 1947

Bensberg

Köln

Bergisch Gladbach

Köln

11. Kapitel

Köln, Mittwoch, 2. Juli 1947

Bergisch Gladbach

Köln

12. Kapitel

Köln, Donnerstag, 3. Juli 1947

Bergisches Land, bei Bensberg

Bergisches Land, bei Voiswinkel

13. Kapitel

Köln

14. Kapitel

Köln, Freitag, 4. Juli 1947

Bergisches Land, bei Voiswinkel

Bensberg

Köln

Bergisches Land, bei Voiswinkel

Köln

15. Kapitel

Köln, Samstag, 5. Juli 1947

Bergisches Land

Düsseldorf

Köln

16. Kapitel

Bergisches Land, Sonntag, 6. Juli 1947

Köln, Montag, 7. Juli 1947

Köln, Dienstag, 8. Juli 1947

17. Kapitel

Bergisches Land, bei Altenberg, Donnerstag, 10. Juli 1947

Köln

Bensberg

Bergisches Land, bei Altenberg

18. Kapitel

Sürth / Rodenkirchen

Köln, Freitag, 11. Juli 1947

Bergisches Land, bei Altenberg

Epilog

Köln, Dienstag, 15. Juli 1947

Personenverzeichnis

Nachwort

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

2. Kapitel

Köln, Donnerstag, 19. Juni 1947

Das Gras am Wegrand war feucht von Tau. Hauptkommissar Heimerzheim hatte Friederike zu der Schrebergartensiedlung in Köln-Zollstock gefahren, wo sie seit Ende März mit ihrer Mutter lebte.

Auf manchen der schmalen Parzellen standen Holzbaracken, auf anderen Nissenhütten aus Wellblech, die Friederike mit ihren abgerundeten, weit heruntergezogenen Dächern immer ein bisschen an die Jurten eines Wandervolkes erinnerten. Überall bedeckten Beete fast jedes Stück nutzbaren Bodens. Kartoffeln und anderes Gemüse, vor allem Kohl und Rüben, wuchsen in langen Reihen. Auch Tabak spross in vielen Gärten. Irgendwo gackerten Hühner in einem improvisierten Gehege.

Die Schrebergartensiedlung in Köln-Zollstock hatte nichts gemein mit der großbürgerlichen Villa in Königsberg oder dem barocken Gutshaus bei Gumbinnen – den Häusern, in denen Friederike aufgewachsen war. Doch seit über zwei Jahren, seit sie und ihre Mutter in den letzten Kriegsmonaten aus Ostpreußen geflohen waren, seit der Zeit im Lager Friedland und dann in dem Zimmer in der Kölner Südstadt, war dies ihr erstes richtiges Zuhause.

Im Innern der Nissenhütte war es dämmrig, denn die Vorhänge aus Sackleinen sperrten die beginnende Helligkeit aus.

»Friederike, bist du das?« Ihre Mutter richtete sich im Bett auf.

»Ja, schlaf ruhig weiter.«

»Brot und Marmelade stehen auf dem Tisch.«

Ihre Mutter ließ sich wieder auf die Matratze zurücksinken. Friederike schob sich an dem Tisch vorbei – inzwischen war ihr das Innere der Hütte so vertraut, dass sie sich auch im Dunkeln zurechtgefunden hätte – und ließ sich auf der Kante ihres eigenen Bettes nieder.

Sie goss Wasser in ein Glas und kratzte einen Marmeladenrest auf eine Scheibe Brot. Sie aß langsam, kaute sorgfältig Bissen für Bissen und versuchte, das Wissen zu ignorieren, dass das Brot ihren Hunger kaum lindern würde.

Zwei, drei Stunden Schlaf, dann würde sie ins Polizeipräsidium aufbrechen und aus ihren Notizen Protokolle verfassen. Wie Richard Davies die junge Frau wohl beurteilt hätte? Ob er auch von ihrer Schuld überzeugt wäre? Friederike war sich nicht ganz sicher. Davies war zwar durchaus streng, und er konnte kurz angebunden und ungeduldig im Umgang mit Menschen sein. Aber er ließ sich Zeit mit seinen Einschätzungen. Andererseits war Frau Röder brutal umgebracht worden, und es deutete wirklich alles auf die namenlose junge Frau als Täterin hin.

Friederike widerstand der Versuchung, sich noch eine weitere Scheibe Brot abzuschneiden. Nachdem sie sich notdürftig mit Wasser aus einer Schüssel und einem kleinen, harten Stück Seife gewaschen hatte, legte sie sich im Hemd ins Bett. Schon machte sich der Hunger wieder bemerkbar. Beim Einschlafen sah sie Ilse Röders von Fliegen umschwärmten Leichnam vor sich.

Die Schnittwunden auf ihrer Kopfhaut schmerzen immer noch. Sie hat sich geschworen, sich nie wieder die Haare scheren zu lassen, hat sich mit aller Kraft gewehrt. Doch schließlich ist sie überwältigt worden. Sie hat sich ebenfalls geschworen, niemals wieder ins Gefängnis zu gehen. Doch genau das ist nun geschehen. Wahrscheinlich wird man sie für immer einsperren. Eine winzig kleine Chance hat sie noch. Nicht etwa davonzukommen, nein, dies begreift sie sogar mit ihrem von Brom umnebelten Kopf. Man hat ihr das Mittel verabreicht, um sie ruhigzustellen. Aber vielleicht hat sie die Chance, nicht für immer weggesperrt zu werden.

Doch dafür müssen ihre Fingerabdrücke unauffindbar sein. Und niemand darf sie erkennen. Bitte, lieber Gott … Bitte … So viele Häuser sind vernichtet und so viele Menschen getötet worden. Bitte, hilf mir … Bitte gib, dass ich einen Nutzen aus all der Zerstörung, dem Leid und dem Tod habe. Ich will auch ein besserer Mensch werden.

Sie wünscht sich, die Arme um sich schlingen und sich so selbst festhalten zu können. Doch ihre Handgelenke sind gefesselt. Unwillkürlich hat sie sich bewegt, und die Wärterin herrscht sie an stillzusitzen.

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Prolog

Die junge Frau kauerte in einer Ecke der Zelle. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie war umgeben von Dunkelheit und hatte jedes Zeitgefühl verloren, wusste nicht mehr, wie lange sie schon eingesperrt war. Nur, dass man sie schon zweimal geholt und endlos mit einem Stock geschlagen hatte, weil sie zuvor versucht hatte zu fliehen. Wahrscheinlich würden sie sie wieder schlagen. Noch einmal würde sie die Hiebe bestimmt nicht überleben. Sie hatte Angst. Angst vor Schmerzen. Angst vor dem Tod. Dabei hatte sie doch noch gar nicht richtig gelebt.

Heilige Maria, Mutter Gottes … Vater unser, der du bist im Himmel … Die Worte kreisten im Kopf der jungen Frau, und sie weinte. Schon ewig hatte sie nicht mehr gebetet.

Ich will nach Hause. Zu meiner Mutter und zu meiner Schwester.

Hatte sie die Worte geflüstert oder nur gedacht? Was hatte sie nur getan, um an diesen Ort gebracht, in dieser Hölle eingesperrt worden zu sein? Sie konnte sich nicht mehr erinnern.

Ihr Kopf wurde schwer, sank auf ihre Brust. Die junge Frau dämmerte weg. »Ich bin ja heut’ so glücklich, so glücklich, so glücklich.« Von irgendwoher glaubte sie, das Lied zu hören. Und dann war da die Schauspielerin Renate Müller, blond und schön, und lächelte sie an. Sie fasste die junge Frau an der Hand und geleitete sie aus der Zelle und tanzte mir ihr durch die Straßen. Und Zarah Leander sang: »Der Wind hat mir ein Lied erzählt, von einem Glück unsagbar groß.« Da waren das Meer und Palmen und …

Die Zellentür öffnete sich. Die junge Frau wurde gepackt und nach draußen gezerrt. Die jähe Helligkeit war so grell, dass sie die Augen schließen musste. Schmerzen jagten durch ihren Körper und ließen sie aufschreien. Nun war sie in dem Trakt, den sie mehr als alles fürchtete, und in dem Raum mit dem Bock. Während man sie darauf festschnallte, sah sie wieder Renate Müller. Ihr Gesicht veränderte sich, wurde zu dem jener Frau, der sie einmal vertraut hatte. Jetzt wusste sie wieder: Diese Frau hatte sie hierhergebracht.

Die ersten Stockhiebe ließen sie fast ohnmächtig werden. War es nicht besser zu sterben, damit endlich alles vorbei war?

Aber dann war da plötzlich der Hass auf jene Frau. Nein, sie würde nicht aufgeben. Sie würde leben und sie finden und … Ein weiterer Schlag brachte die gnädige Bewusstlosigkeit.

1. Kapitel

Bergisches Land, bei Odenthal, Montag, 16. Juni 1947

Die Dämmerung senkte sich über den Garten, sog die Farben aus Bäumen und Pflanzen. Arthur Caune bewegte sich in seinem Versteck zwischen den Büschen, lockerte die verspannten Muskeln in Armen und Beinen. Vor einer Weile hatten die Mägde die Beete gegossen. Er hatte sie reden und kichern hören, und der Geruch des Wassers, das auf die Erde traf, irgendwie herb und würzig, war tief in seine Nase gedrungen. In einem der umliegenden Dörfer schlug eine Kirchturmuhr zehn. Seit über einer halben Stunde war der Garten nun schon verlassen.

Der Hunger legte sich wie eine Faust um den Magen des Jungen und presste ihn zusammen. Arthur umklammerte den Talisman in seiner Hosentasche. Die letzten beiden Male, als er hier Gemüse gestohlen hatte, hatte ihm die silbern schimmernde Plakette Glück gebracht, und niemand hatte ihn entdeckt.

Geduckt lief er zu der Stelle hinter den Beerensträuchern, wo er den Maschendrahtzaun gelockert hatte. Er hob das Drahtgeflecht an und schob sich darunter her. Einige Augenblicke kauerte er lauschend am Boden. Doch von dem nahen Hof war, außer dem schläfrigen Muhen einer Kuh, kein Geräusch zu hören.

Das Beet mit den Möhren lag den Beerensträuchern am nächsten. Arthur zog einige Möhren aus dem Boden und stopfte sie in seinen Rucksack. Dazu drei Kohlrabi – die Löcher in der Erde strich er hastig glatt –, ein paar Gurken und eine Handvoll Buschbohnen, dann trat er den Rückweg an.

In den vergangenen Tagen waren die Himbeeren reif geworden. Er roch die Süße in der spätabendlich kühlen Luft. Arthur konnte nicht widerstehen und steckte sich eine Himbeere in den Mund. Der Geschmack war überwältigend, füllte seinen mageren Jungenkörper ganz aus. Er pflückte noch eine und noch eine, kaute, schluckte – hatte er je etwas Köstlicheres gegessen? –, bis er den Hofhund am Rand des Gartens bellen hörte. Ein Schäferhundmischling, mit dem nicht zu spaßen war.

Panisch schlüpfte Arthur unter dem Zaun hindurch und rannte zu einer Reihe von Obstbäumen. Er hatte gerade die untersten Äste erklommen, als der Hund schon am Stamm hochsprang. Seine Zähne ritzten Arthurs Knöchel, doch er konnte sich losreißen. Nur höher und höher hinauf! Tränen rannen ihm übers Gesicht, als er sich schließlich in einer Astgabel niederließ.

Der Hund bellte immer noch, umkreiste den Baum. Schließlich ließ er sich hechelnd ins Gras fallen. O Gott, er musste hier fort! Seine Mutter würde bald von der Bäuerin, der sie oft bis in die Nacht bei der Wäsche half, nach Hause kommen und feststellen, dass er nicht in seinem Bett lag.

Ein Mann kam den Feldweg entlang. Eine schattenhafte Gestalt in der Dämmerung. Also hatte jemand auf dem Hof das Bellen gehört. Arthur umklammerte wieder den Talisman. Lieber Gott, lass ein Wunder geschehen …

Der Hund drehte sich um und witterte. Sein Knurren verwandelte sich in ein freudiges Winseln, als er den Mann erkannte. Gleich würde er wieder bellend am Stamm hochspringen und Arthur verraten.

»Guter Hund …« Der Mann beugte sich zu dem Tier und warf ihm etwas zu fressen hin. Der Hund stürzte sich darauf, vergaß den Jungen, der zitternd in der Baumkrone hockte.

Der Mann beobachtete den Schäferhundmischling. Dann blickte er in Richtung des Hofes, als hätte er dort etwas wahrgenommen. Nun konnte Arthur sein Gesicht, das bisher im Schatten gewesen war, erkennen.

Der Junge erstarrte. Er hatte Tote gesehen und von Bomben zerfetzte Körper. Doch nie so etwas Entsetzliches. Das Antlitz war eine Fratze, starr und leblos. Die Augen dunkle Höhlen. Die Lippen zurückgezogen, sodass sie die Zähne entblößten. Es war das Antlitz einer bösen, grausamen Kreatur.

Arthur klammerte sich an den Ästen fest. Er wagte kaum zu atmen. Bitte, bitte, lieber Gott … Bitte … Irgendwann hörte er den Hund jaulen, was ihn aus seiner Erstarrung riss. Er öffnete die Augen, die er fest geschlossen hatte.

Es war mittlerweile fast dunkel. Doch die Nacht war sternenklar und die Sicht gut. Der Mann war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Der Hund wand sich vor Schmerzen im Gras. Was auch immer mit dem Tier geschehen war, es stellte keine Gefahr mehr dar.

Zitternd kletterte Arthur vom Baum hinunter. Die Beine gaben unter ihm nach, als seine Füße die Wiese berührten, und er fiel hin. Seine Hände griffen in etwas Feuchtes, Stinkendes. Der Hund hatte seinen Mageninhalt erbrochen. Weg, nur weg …

Arthur rannte davon. Das klägliche Jaulen des Hundes verfolgte ihn. Stand der Mann dort im Schatten der Bäume? Wartete er auf ihn? Arthurs Hand suchte den Talisman. Doch in der Hosentasche war er nicht mehr.

Köln, Mittwoch, 18. Juni 1947

In der Damentoilette des Polizeipräsidiums zerrte sich Polizeiassistentin Friederike Matthée die zivile Kleidung vom Leib. Sie war völlig außer Atem und verschwitzt, und alles schien an ihr zu kleben. Obwohl sie das letzte Stück des Weges gerannt war, hatte sie sich eine Viertelstunde verspätet.

Seit einigen Wochen nahm sie an einem Zeichenkurs teil. Wenn das Leben irgendwann wieder normal sein würde – ohne Trümmer, Rationierungen und ständigen Hunger –, wollte sie versuchen, neben ihrer Arbeit bei der Weiblichen Polizei Kunst zu studieren. Der Kurs fand in einer Ruine statt. Mit den spärlichen Materialien – Bleistiftstummel, Papierreste aus Aktenbeständen und alten Zeitungen – war das Ganze ein ständiges Improvisieren.

Aber Friederike liebte diese Stunden, und heute war sie so in ihre Skizze versunken gewesen, dass sie ganz die Zeit vergessen hatte und nicht rechtzeitig zum Spätdienst aufgebrochen war. Ihre Vorgesetzte, Kriminalkommissarin Gesine Langen, bestand darauf, dass Vorschriften penibel eingehalten wurden. Sie verabscheute Unpünktlichkeit, und sie hasste es, wenn die uniformierten Beamtinnen der Weiblichen Polizei nicht ordnungsgemäß gekleidet zur Arbeit erschienen. Laut den allgemeinen Dienstvorschriften durfte bei der derzeitigen Hitze zwar auf Jacken verzichtet werden, aber der blaue Rock, die hochgeschlossene Bluse, die Krawatte und die Mütze waren obligatorisch.

Endlich saß der Krawattenknoten. Friederike befeuchtete ihre Hände am Waschbecken und wischte sich einen Staubfleck vom Kinn. Ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen blickte ihr aus dem Spiegel entgegen. Auf den ersten Blick war es hübsch und braun gebrannt von den Außeneinsätzen, aber es war noch immer viel zu mager. Und ihre blauen Augen wirkten riesig und hungrig.

»Fräulein Matthée, endlich sind Sie da!« Auf dem Flur vor der Toilette sprach Ida Gerwing, Gesine Langens Stellvertreterin, sie an.

O nein, die Kriminalkommissarin erwartete sie also schon! Gesine Langen hatte nicht verhindern können, dass Friederike in den Polizeidienst übernommen worden war. Aber die Vorgesetzte konnte sie nicht leiden, und Friederike war überzeugt, dass die Langen sie nur zu gern entlassen würde. Friederike hatte sich im vergangenen Jahr nur deshalb auf eine Zeitungsanzeige hin bei der Weiblichen Polizei in Köln beworben, um aus dem Lager Friedland fortzukommen. Anfangs war sie sehr schüchtern und unsicher gewesen, und sie hatte ihren Dienst verabscheut. Dies hatte sich jedoch völlig geändert, als sie im Winter Lieutenant Richard Davies von der Royal Military Police bei einer Mordermittlung assistierte. Dabei hatte sie ganz neue Seiten an sich entdeckt und erstaunt festgestellt, dass sie eine gute Polizistin war und ihre Arbeit wirklich mochte.

»Es tut mir leid, Frau Kriminalkommissarin, ich …«

Doch zu Friederikes Überraschung sagte Ida Gerwing: »Kommen Sie mit in mein Büro.«

Ida Gerwing war eine immer noch füllige Frau, trotz der nur etwa achthundert Kalorien pro Tag, die den Bewohnern der britischen Besatzungszone zustanden. Sie besaß eine mütterliche Ausstrahlung, und wie so oft hatte sich ihr dichtes graues Haar aus dem Knoten gelöst, und eine Strähne fiel ihr ins Gesicht. Die Kriminalkommissarin war Witwe, ihr Mann war in Afrika gefallen. Vor Kurzem hatte sie sich, ihrer alten Eltern wegen, von Düsseldorf nach Köln versetzen lassen. Friederike fand Ida Gerwing sympathisch, und sie nahm an, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte.

Die Kriminalkommissarin ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder und bedeutete auch Friederike, Platz zu nehmen.

»Sie arbeiten seit einem knappen Jahr bei uns, nicht wahr?«, begann Ida Gerwing das Gespräch.

»Ja, ich habe im vergangenen Herbst meinen Dienst angetreten«, bestätigte Friederike und fragte sich, worauf die Vorgesetzte hinauswollte. Die Briten hatten im Vorjahr die uniformierte Weibliche Polizei gegründet. Die Weibliche Kriminalpolizei gab es seit den zwanziger Jahren.

»Kriminalkommissarin Langen nimmt an einer Fortbildung teil.«

»Oh, tatsächlich …« Über Derartiges pflegte Gesine Langen nur die älteren Kolleginnen zu informieren. Also leitete Ida Gerwing als ihre Stellvertreterin vorübergehend die Dienststelle. Worüber Friederike nicht unglücklich war.

»Ich habe eben einen Anruf aus dem Bergischen erhalten. Es gab einen Mord. In der Nähe von Odenthal wurde eine Gutsbesitzerin oder Bäuerin umgebracht. Ihr Name ist Ilse Röder. Ein junges Mädchen soll die Tat begangen haben …«

Deshalb war die Weibliche Polizei verständigt worden, denn alle Beamtinnen – die in Uniform und die in Zivil – waren auf Vernehmungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen spezialisiert.

»Haben Sie schon einmal eine Mordverdächtige vernommen, Fräulein Matthée?«

»Ich … Nein.«

»Trauen Sie sich die Vernehmung denn zu?«

Vor einigen Monaten hätte Friederike dies noch verneint. Der bloße Gedanke an eine solche Situation hätte sie verstört. Aber nun war ihr Interesse geweckt, und sie wollte sich beweisen.

»Ja, ich traue es mir zu«, erwiderte sie.

»Wirklich?« Ida Gerwing musterte sie forschend. »Im Moment sind alle anderen Beamtinnen im Einsatz. Aber in einer Stunde könnte ich wahrscheinlich eine Kollegin ins Bergische schicken.«

»Ich würde die Aufgabe gern übernehmen«, antwortete Friederike fest.

Ida Gerwing zögerte kurz. »Einen Führerschein haben Sie vermutlich nicht, oder?«

»Leider nein, Frau Kriminalkommissarin.« Wie die meisten Beamtinnen der Weiblichen Polizei besaß auch Friederike keine Fahrerlaubnis.

Ida Gerwing griff zum Telefon. »Ich werde einen Beamten von der Streife anfordern, der Sie hinfährt. Für den Rückweg findet sich hoffentlich ein Kollege von der dortigen Polizei. Wenn nicht, müssen Sie den Zug nehmen. Falls denn Züge zwischen Bergisch Gladbach und Köln verkehren …«

»Das macht mir nichts aus«, beteuerte Friederike. Sie war nun doch aufgeregt, und sie hoffte, dass sie dem, was sie in dem Gehöft erwartete, auch wirklich gewachsen sein würde.

Bergisches Land, bei Odenthal

Der Polizeiwagen entfernte sich auf dem Feldweg. Friederike blickte auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor Mitternacht und immer noch seltsam hell. Auf der gut einstündigen Fahrt von Köln ins Bergische war sie einige Male eingenickt, denn sie war seit fünf Uhr morgens auf den Beinen und hatte für Lebensmittel angestanden. Friederike fühlte sich immer noch schläfrig und benommen und hatte Mühe, sich zu orientieren.

Es roch anders als in Köln. Nicht so brandig, nach dem Ruß, den die Ruinen auch noch über zwei Jahre nach Kriegsende auszuschwitzen schienen. Und auch nicht nach dem allgegenwärtigen Staub. Vielmehr erfüllte der Duft von Gras und Erde die Luft. Zu beiden Seiten des Weges erstreckte sich eine sanft gewellte Hügellandschaft, die zum Horizont hin mit der Dämmerung verschwamm. Über dem nahen Waldrand zeichnete sich trotz der späten Stunde noch ein lichter Streifen ab. Wegen der Sommerzeit in den westlichen Besatzungszonen war die Uhr um zwei Stunden vorgestellt.

Ein fast voller, goldgelber Mond ging nun über den Bäumen auf und erinnerte Friederike an das Märchen vom dicken gelben Pfannkuchen. Auch das verwinkelte Gutshaus mit seiner Fachwerkfassade und dem Glockentürmchen auf dem Dach wirkte wie aus einem Märchen. Grüne Läden hingen an den Fenstern, und Schiefer schützte die Wetterseite. Wie die Nebengebäude schien das Gutshaus den Krieg unbeschadet überstanden zu haben. Doch die Idylle trog. Hier war schließlich eine Frau getötet worden.

Friederike hatte das Hauptgebäude fast erreicht, als sich die Eingangstür öffnete. Umflossen von Licht, trat ein großer, hagerer Mann heraus. Er trug eine Uniformmütze. Auf seinen Schulterklappen befanden sich drei Sterne. Ein Oberwachtmeister also.

»Mir war doch, als hätte ich ein Auto gehört. Sind Sie etwa allein gekommen?« Im Gegenlicht konnte Friederike sein Gesicht nicht erkennen. Seine Stimme klang unfreundlich und gereizt.

»Polizeiassistentin Matthée, Herr Oberwachtmeister. Der Kollege, der mich gefahren hat, ist wieder nach Köln zurückgekehrt.« Friederike wurde bewusst, wie defensiv sie sich anhörte.

»Das darf doch nicht wahr sein! Die zuständige Dienststelle in Bergisch Gladbach ist unterbesetzt, und alle Beamten sind im Einsatz. Ich bitte in Köln um Hilfe. Man sichert mir zu, einen erfahrenen Beamten zu schicken. Und wer kommt stattdessen? Ein junges, unerfahrenes Ding von der Weiblichen Polizei, das es mit diesem Biest garantiert nicht aufnehmen kann.« Der Oberwachtmeister gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen. Er schien es nicht für nötig zu halten, der jüngeren Kollegin seinen Namen zu nennen.

»Es tut mir sehr leid, dass noch kein leitender Kriminalbeamter eingetroffen ist. Würden Sie mich bitte trotzdem zu der Verdächtigen führen?«

»Nein, auf gar keinen Fall.«

»Aber ich habe den Befehl, sie zu vernehmen …«

»Es ist mir völlig egal, ob Sie einen Befehl haben oder nicht. Hier habe ich im Moment das Sagen, und ich lasse Sie nicht zu diesem Miststück. Wenn der leitende Ermittler, sofern er irgendwann einmal hier erscheint …« – der Mann verzog bitter den Mund – »… Sie mit dem jungen Ding reden lassen will, ist das seine Sache.«

»Natürlich.« Friederike schluckte ihren Protest hinunter. Der Oberwachtmeister stand im Dienstrang weit über ihr, und sie hatte ihm zu gehorchen. Auch wenn ihr das nicht gefiel, so war es nun einmal bei der Polizei.

Trotzdem regte sich ihr Widerspruchsgeist. »Warum sind Sie denn so fest davon überzeugt, dass das junge Mädchen die Tat begangen hat?« Sie hoffte, dass ihre Frage beiläufig und nicht aufsässig klang.

»Weil ein Knecht es mit der Waffe in der Hand neben der Toten entdeckt hat. Und jetzt kommen Sie schon ins Haus, Fräulein. Das Frauenzimmer sitzt gefesselt im Wohnzimmer. Aber ich will es trotzdem nicht lange unbeaufsichtigt lassen.« Der Oberwachtmeister gab den Eingang frei.

Kaum dass Friederike die Schwelle überschritten hatte, nahm sie einen süßlichen Geruch wahr. Fliegen schwirrten von einem Leichnam hoch, der am Boden lag. Das Licht einer Karbidlampe fiel direkt darauf. Ein blau-weißer Sommerrock breitete sich über lange, schlanke Beine. Die Füße steckten in Sandalen. Beim Anblick des Gesichts drehte sich Friederike der Magen um, denn es war, bis auf die Kinnpartie, vollständig zerstört, bildete eine blutige Masse aus zerfetztem Fleisch und Knochensplittern. Auch das blonde Haar und die weiße Bluse waren blutgetränkt. Friederike kämpfte gegen einen Brechreiz an.

»Kein schöner Anblick, wie?« Der Oberwachtmeister musterte sie mit grimmiger Belustigung.

»Nein …«, flüsterte Friederike.

»Gehen Sie in die Küche, und warten Sie dort.« Er deutete auf eine Tür weiter hinten im Flur. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.

Stumm befolgte Friederike seinen Befehl, während der Vorgesetzte hinter einer anderen Tür verschwand.

Auch die Küche wurde von einer Karbidlampe erhellt. Wegen der geschlossenen Fenster war es warm und stickig. Friederike brach der Schweiß aus. Sie schmeckte Galle in ihrem Mund, und sie war sehr durstig. Sie vermutete, dass das Haus noch nicht auf Spuren untersucht worden war, andernfalls hätte der Kollege dies wahrscheinlich erwähnt. Vorsichtig, um keine Fingerabdrücke zu verwischen, betätigte sie mithilfe ihres Taschentuchs den Wasserhahn. Ein bräunlicher Strahl ergoss sich in die Spüle. Sie schöpfte das Wasser mit der Hand. Es schmeckte brackig, aber Friederikes Durst ließ ein wenig nach.

Irgendetwas war seltsam gewesen, als sie auf dem Hof angekommen war. War anders, als es hätte sein sollen. Aber sie konnte nicht benennen, was es war. Und vielleicht bildete sie es sich ja auch nur ein, und es war sinnlos, länger darüber nachzugrübeln.

Friederike nahm die Uniformmütze ab und sah sich um. Die Küche zeugte von Wohlstand. An der Stirnseite gab es einen Gasherd und einen Eisschrank. Ein Dutzend Stühle gruppierte sich um einen langen Tisch. Die cremefarbenen Möbel waren modern und von guter Qualität, ebenso wie das Geschirr auf der Anrichte. Neben dem Buffet hingen einige gerahmte Fotografien. Neugierig trat Friederike näher. Die Bilder zeigten eine blonde Frau vor unterschiedlichen Urlaubskulissen. Sie war schlank und sehr schön, ihr Gesicht ein perfektes Oval, die Nase schmal, der Mund ausdrucksvoll. Am auffälligsten waren jedoch ihre Augen, groß, strahlend und von langen Wimpern beschattet.

Ein Gesicht, das Friederike an die Schauspielerin Renate Müller erinnerte, die so plötzlich jung verstorben war – und an Magda Goebbels. Ob die Frau auf den Fotografien diejenige war, deren Leichnam im Flur lag? Vermutlich ja. Auf einer war sie neben einem Mann abgelichtet, der eine Lederhose trug. Er hatte klare Gesichtszüge, war gut aussehend. Der Ehemann oder ein anderer Verwandter oder ein Freund?

Friederike wünschte, der Oberwachtmeister hätte sie das junge Mädchen befragen lassen. Ob der Kommissar es ihr wohl erlauben würde? Viele männliche Kollegen schätzten die Arbeit der Weiblichen Polizei. Aber manche erachteten sie auch als überflüssig.

Richard Davies hätte es ihr ganz bestimmt gestattet, das junge Mädchen zu vernehmen.

Richard Davies … Richard … Bei ihrer letzten Begegnung im März, ehe er nach England zurückgekehrt war, hatte er versprochen, ihr zu schreiben. Seither waren fast drei Monate vergangen, und sie hatte noch keine Zeile von ihm erhalten. Allmählich gab sie die Hoffnung auf, dass sie jemals wieder von ihm hören würde.

Ein Schrei schreckte Friederike auf. Lang gezogen, wütend und klagend, wie der eines in eine Falle geratenen Tiers.

»Halt’s Maul, du Miststück!«, brüllte der Oberwachtmeister. »Sitz verdammt noch mal still! Sonst wirst du mich kennenlernen.«

Sollte sie zum Zimmer laufen, wo er sich mit der Verdächtigen aufhielt? Friederike zögerte. Sie fürchtete, dass der Oberwachtmeister das junge Mädchen misshandeln würde. Aber er hatte ihr den Befehl erteilt, in der Küche zu warten.

Ein dumpfes Krachen, als ob ein Möbelstück umgestürzt wäre. Der Oberwachtmeister fluchte. Friederike ließ die Mütze fallen und eilte in den Flur.

Sie versuchte, den Leichnam, die Fliegen und den Gestank von Blut zu ignorieren. Ein erneuter Fluch des Oberwachtmeisters half ihr, den Raum zu finden.

Der Kollege stand über einen schweren Stuhl gebeugt, der neben einem Tisch umgestürzt auf dem Boden lag. Eine junge Frau war mit einem Kälberstrick, der mehrmals um ihre Brust und die Oberarme geschlungen war, daran festgebunden. Auch ihre Handgelenke waren gefesselt. Blut strömte aus einer Wunde an ihrer Stirn. Als der Stuhl umfiel, musste sie sich den Kopf an der Tischkante aufgeschlagen haben. Sie hatte die Augen geschlossen, regte sich nicht.

In den letzten Kriegsmonaten hatte Friederike als Hilfsschwester in einem Lazarett gearbeitet. Rasch kniete sie sich neben die Bewusstlose und legte die Finger auf deren Halsschlagader. Zu ihrer Erleichterung konnte sie deutlich einen Puls fühlen.

»Dieses Biest! Hat sich wie von Sinnen auf dem Stuhl hin und her geworfen. Geschieht ihr recht, dass sie sich verletzt hat.«

»Würden Sie mir bitte helfen, den Stuhl aufzustellen?« Friederike sprach ruhig und bestimmt, wie damals im Lazarett zu den Patienten.

Der Oberwachtmeister brummte unwillig, kam dann jedoch ihrer Bitte nach. Friederike zog das Taschentuch aus ihrer Rocktasche und presste es auf die Wunde. Nur zu schnell färbte es sich rot.

»Wir müssen die Blutung stillen«, wandte sie sich an den Kollegen. »Bitte holen Sie aus der Küche ein Handtuch.«

»Wär kein Schaden, wenn die verrecken würd.« Er trottete zur Tür. Seine Schritte entfernten sich auf dem Flur.

Der Kopf der jungen Frau war auf die Brust gesunken. Friederike schätzte ihr Alter auf achtzehn bis zwanzig Jahre. Sie hatte ein breitflächiges Gesicht und ein ausgeprägtes Kinn und schien groß und kräftig zu sein. Die Farbe ihres verfilzten Haares war undefinierbar – Friederike hoffte, dass sie keine Läuse hatte. Zweimal hatte sie sich seit Kriegsende Läuse eingefangen, und sie legte keinen Wert darauf, erneut Bekanntschaft mit dem Ungeziefer zu machen. Rock und Bluse der jungen Frau waren schmutzig und mehrfach geflickt, und sie stank, als hätte sie sich seit mehreren Tagen nicht gewaschen.

Wo der Oberwachtmeister nur blieb? Das Taschentuch war nun völlig mit Blut getränkt. Vor einem Fenster entdeckte Friederike eine Nähmaschine. Darauf lagen ein angefangenes Kleidungsstück und einige Stofflappen. Kurz entschlossen ergriff sie den Stoff. Nachdem sie, so gut es ging, das Blut vom Gesicht der jungen Frau gewischt hatte, zerriss Friederike andere Lappen und improvisierte damit einen Verband.

Gerade als Friederike aus der Ferne ein Motorengeräusch zu hören glaubte, flatterten die Lider der jungen Frau, und sie öffnete die Augen. Ihr Blick war ängstlich, nicht wütend. Sie versuchte, die gefesselten Arme zu heben, als wollte sie die Stirnwunde berühren.

»Was ist mit mir geschehen?«, flüsterte sie.

»Du bist mit dem Stuhl umgefallen und hast dir die Stirn aufgeschlagen. Wahrscheinlich muss die Wunde genäht werden. Bleib ruhig sitzen und beweg den Kopf nicht, sonst verrutscht der Verband.«

»Haben Sie mich verbunden?«

»Ja. Wie heißt du denn?«

Die junge Frau ignorierte Friederikes Frage. Oder vielleicht hatte sie ihr auch nicht zugehört. »Mein Gott … Ich hab’s nicht getan! Ich hab sie nicht umgebracht …«

»Ein Knecht hat dich aber mit einer Pistole in der Hand ertappt.«

»Sie lag neben der Toten. Ich hab sie aufgehoben. Eine Pistole ist auf dem Schwarzmarkt viel wert.« Ihr Blick war flehend auf Friederike gerichtet. »Ich bin keine Mörderin!«

Einige Jahre früher, bevor Friederikes Welt in den letzten Kriegsmonaten zerbrochen war, hätte sie es für unmöglich gehalten, dass eine junge Frau so kaltblütig handeln und eine Waffe stehlen könnte, die neben einer Toten lag. Aber inzwischen hatte sie zu viel erlebt, um dies sofort für eine Lüge zu halten.

»Weshalb warst du hier? Hast du Frau Röder gekannt?«

»Warum fragen Sie das? Sind Sie etwa von der Polizei?«

Ehe Friederike antworten konnte, erklangen Schritte und Stimmen auf dem Flur. Das Gesicht der jungen Frau verschloss sich, wurde ganz starr. Gleich darauf traten der Oberwachtmeister und ein älterer Mann ins Zimmer. Sein weißes Haar hob sich deutlich von der gebräunten Haut ab. Er hatte die Ärmel seines Hemdes bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und die Krawatte um den Hemdkragen gelockert. Sein zerfurchtes Gesicht trug einen müden Ausdruck.

»Hauptkommissar Heimerzheim, das ist das Fräulein von der Weiblichen Polizei.« Der Oberwachtmeister deutete auf Friederike.

»Polizeiassistentin Matthée.« Sie hob die Hand an die Stirn, wurde erst jetzt gewahr, dass die Uniformmütze ja noch in der Küche lag.

Der Hauptkommissar nickte ihr knapp zu, beachtete sie jedoch nicht weiter. »Ein Beamter, der die Fingerabdrücke und Spuren sichern wird, müsste gleich hier eintreffen«, wandte er sich an den Oberwachtmeister. »Führen Sie ihn durchs Haus.«

»Zu Befehl, Herr Hauptkommissar!« Der Oberwachtmeister schlug die Hacken militärisch zusammen und verschwand.

Hauptkommissar Heimerzheim setzte sich rittlings auf einen Stuhl und betrachtete die junge Frau.

»Laut dem Oberwachtmeister hast du bisher, wenn du etwas gefragt wurdest, nur geschrien und getobt«, sagte er dann. »Wegen dir habe ich heute Abend vorzeitig eine Familienfeier in Köln verlassen. Ich bin nicht aus dem Ruhestand in den Polizeidienst zurückgekehrt, um mir von jungen Dingern auf der Nase herumtanzen zu lassen. Als Erstes möchte ich jetzt deinen Namen wissen. Und versuch nicht, irgendwelche Spielchen mit mir zu treiben. Sonst wirst du mich kennenlernen.«

Die junge Frau schwieg mit gesenktem Kopf.

»Wird’s bald?«

Sie sah zu ihm hoch und öffnete den Mund. Doch statt zu antworten, spuckte sie ihn an. »Scheißkerl!«

Der Hauptkommissar holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite.

»Nein, nicht!«, schrie Friederike entsetzt auf.

»Scheiß Polyp …« Wieder spuckte die junge Frau in Richtung des Hauptkommissars, verfehlte ihn diesmal jedoch. Abermals versetzte er ihr eine schallende Ohrfeige.

»Nein, nicht, bitte nicht.« Friederike war versucht, ihm in den Arm zu fallen.

Die junge Frau brüllte und riss an ihren Fesseln, trat nach Heimerzheim. Der Oberwachtmeister und ein weiterer Polizist – wahrscheinlich der Kollege, der die Spuren sichern sollte – kamen in das Wohnzimmer gestürmt.

»Schaffen Sie sie weg.« Der Hauptkommissar wischte die Spucke von seinem Hemd. »Eine Nacht in Einzelhaft wird sie hoffentlich gesprächiger machen.«

Die beiden Polizisten lösten den Kälberstrick. Kaum war er von ihr abgefallen, warf sich die junge Frau gegen die beiden Männer. Sie packten sie unter den Achseln, doch noch immer trat sie schreiend um sich. Die Polizisten mussten sie förmlich aus dem Zimmer schleifen. Aus dem Flur und dann vor dem Haus gellten ihre Schreie, und erst als ein Motor gestartet wurde und der Polizeiwagen sich entfernte, verklangen sie.

Friederike zitterte am ganzen Leib. Sie war bis an die Wand zurückgewichen.

»Mein Gott, Fräulein.« Hauptkommissar Heimerzheim fuhr sich über das kurz geschorene Haar und schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich wirklich ein dickeres Fell zulegen.«

»Es tut mir leid …«

»Da Sie schon hier sind, können Sie die ersten Vernehmungen protokollieren.« Seine Stimme klang nicht unfreundlich. »Hat das junge Ding etwas zu Ihnen gesagt?«

»Sie hat beteuert, sie sei nicht die Mörderin. Sie habe die Waffe nur stehlen wollen. Deshalb habe sie die Pistole in der Hand gehalten.«

Der Hauptkommissar seufzte. »Natürlich lügt sie das Blaue vom Himmel herunter.«

Wieder kam Friederike in den Sinn, dass etwas bei ihrer Ankunft auf dem Hof seltsam gewesen war, und wieder konnte sie es nicht greifen. Hauptkommissar Heimerzheim hatte das Wohnzimmer mittlerweile verlassen und sich auf den Weg zum Stall gemacht. Dort befand sich, laut dem Oberwachtmeister, der Knecht, der die Tatverdächtige mit der Pistole in der Hand überrascht hatte. Normalerweise wäre dies Friederikes Pflicht gewesen. Aber eventuell wollte Heimerzheim sie noch schonen. Oder schlimmer noch, möglicherweise war er der Ansicht, dass sie auch dieser einfachen Aufgabe nicht gewachsen war. Friederike schämte sich ihrer Schwäche. Nein, bei diesem Einsatz hatte sie sich bisher wirklich nicht sehr rühmlich verhalten.

Von draußen war ein Muhen zu hören. Eine Kuh, die aus dem Schlaf geschreckt war. Manchmal, in ihrer Kindheit, hatten sie und ihr Bruder Hans sich nachts aus dem Gutshaus in Ostpreußen geschlichen und waren auf dem Hof herumgestreift. Alle Gerüche und Geräusche waren viel intensiver als bei Tag gewesen. Aber vielleicht hatte auch der Kitzel, etwas Verbotenes zu tun, ihre Sinne geschärft. Seit drei Jahren wurde ihr Bruder in Russland vermisst. Und wie immer fehlte er Friederike schmerzlich.

Wie die Küche machte auch das Wohnzimmer einen wohlhabenden Eindruck. Neben dem obligatorischen Vitrinenschrank, in dem das Festtagsgeschirr präsentiert wurde, stand ein Plattenspieler. Auf einem Regal lagen alte Ausgaben der Berliner Illustrierten Zeitung und der Woche.

Eine Fotografie über dem Klavier erregte Friederikes Aufmerksamkeit – die Porträtaufnahme eines gut aussehenden Soldaten Anfang vierzig und unverkennbar jener Mann, den sie auf dem Bild in der Küche gesehen hatte. Die Abzeichen auf seinen Schulterstücken wiesen ihn als Unteroffizier aus. Er blickte ernst und entschlossen in die Kamera. Eine Mimik, die Friederike von vielen solcher Aufnahmen kannte. Der Platz über dem Klavier war prominent. Wahrscheinlich war dies der Ehemann der Ermordeten.

Friederike erhob sich hastig, als die Tür geöffnet wurde und der Hauptkommissar das Wohnzimmer betrat. In seiner Begleitung befand sich ein ungewöhnlich großer Mann in den Vierzigern, der die grobe Kleidung eines Landarbeiters trug und nach Stall roch. Seine blasse Haut war mit Sommersprossen übersät. Rotbraunes Haar hing ihm in die Stirn.

»Setzen Sie sich, Fräulein. Fürs Protokoll – dies ist Gottfried Büchler, er ist Knecht hier auf dem Hof.« Heimerzheim und Büchler ließen sich am Tisch nieder. Friederike folgte ihrem Beispiel und klappte ihr Notizbuch auf.

»Büchler, der Oberwachtmeister hat mir mitgeteilt, dass Herr Röder vermisst wird«, begann Heimerzheim die Vernehmung.

»Ja, seit ’44 in Russland. Er war ein guter Herr. Ich hoffe, er kommt wieder.« Büchler blickte zu der Porträtaufnahme.

»Gab es nach Kriegsende Überfälle von Fremdarbeitern auf den Hof?«

Friederike ahnte, worauf der Hauptkommissar mit seiner Frage abzielte. Nach der Kapitulation waren Bauernhöfe nicht selten von ehemaligen Fremdarbeitern überfallen worden. Oft hatte der blanke Hunger die Menschen dazu getrieben, denn es hatte einige Zeit gedauert, bis die Alliierten ihre Versorgung sicherstellten. Manchmal war auch Rache im Spiel gewesen. Doch inzwischen kam so etwas kaum noch vor. Aber auszuschließen war es nicht, dass die junge Mordverdächtige mit ehemaligen Fremdarbeitern in Verbindung stand.

»Ich kam erst letztes Jahr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft frei. Ich hab das nicht selbst erlebt, aber der Walter, der andere Knecht. Ein paar Männer von dem Gesindel aus dem Osten haben im Sommer ’45 tatsächlich ’nen Überfall versucht und haben mit Gewehren rumgeballert. Glücklicherweise kam gerade ein Jeep mit britischen Soldaten vorbei. Die haben einen der Kerle erschossen und die anderen festgenommen. Seitdem hatte man hier Ruhe vor denen.«

»Büchler, würden Sie bitte noch einmal schildern, was sich im Laufe des Abends auf dem Hof zugetragen hat?« Heimerzheim nickte dem Knecht zu.

»Um sechs gab’s Abendessen in der Küche, mit Frau Röder. Wir sind zwei Knechte und vier Mägde auf dem Hof. Vor dem Krieg waren hier doppelt so viele Bedienstete.« Der Knecht redete langsam, im rheinischen Singsang. »Danach sind wir wieder zur Heuernte gegangen. Wir wollten ausnutzen, dass es so lange hell ist. Die Wiese liegt ungefähr zwei Kilometer vom Gut entfernt und auf der anderen Seite vom Wald.«

»Frau Röder hat nicht beim Heumachen geholfen?« Der Hauptkommissar sprach aus, was auch Friederike gerade durch den Kopf gegangen war.

»Doch, die Herrin kam mit. Sie stammte aus einer vornehmen Familie und war eine Dame, aber sie war sich nicht zu fein, mit anzupacken, wenn’s nötig war. Doch seit ein paar Monaten hatte sie’s mit dem Herzen. Deshalb ist sie eine halbe Stunde später wieder zurückgegangen. Sie fühlte sich nicht gut.« Der Knecht senkte den Kopf und fuhr sich über die Augen.

Heimerzheim gab ihm Zeit, sich zu fassen. »Im Laufe des Abends sind Sie dann zum Hof zurückgekehrt?«, nahm er nach einer kurzen Pause die Befragung wieder auf.

Büchler räusperte sich. »Ja, schon gegen acht, weil ich keine Ruhe hatte. Eine Kuh hat einen eitrigen Euter. Ich wollte nach ihr sehen.«

»Und weshalb haben Sie dann das Haus betreten?«

»Mir ist aufgefallen, dass die Hintertür einen Spaltbreit offen stand. Das kam mir merkwürdig vor. Wir haben hier Ratten und achten deshalb immer darauf, dass alle Türen zu sind. Und als ich die Tür aufzieh, seh ich die Herrin am Boden liegen, und überall ist Blut.« Gottfried Büchler stockte und fuhr sich erneut mit der Hand über die Augen. Er schien die Gutsbesitzerin sehr gemocht zu haben. Wie Friederike es bei der Weiblichen Kriminalpolizei gelernt hatte, hielt sie diesen Eindruck in ihrem Notizbuch fest.

»Büchler?«, forderte Heimerzheim ihn zum Weitersprechen auf.

»Entschuldigung. Ich fass das einfach noch nicht, obwohl ich im Krieg viel gesehen hab. Dieses Ungeheuer hatte eine Waffe in der Hand. Ich bin auf sie zu. Ich hatte sie fast erreicht, als sie mich bemerkt hat. Sie hat die Pistole auf mich gerichtet und abgedrückt. Die Kugel ging an mir vorbei, und ich konnte ihr die Waffe aus der Hand schlagen. Ich hab den Kopf des Weibsstücks gepackt und gegen die Wand gehauen, bis sie bewusstlos war. Dann hab ich sie gefesselt und die Glocke auf dem Dach geläutet. Wie’s auf dem Hof bei Notfällen üblich ist. Der Walter und die Mägde kamen bald darauf angerannt, und der Walter ist dann mit dem Rad nach Odenthal gefahren und hat dort vom Pfarrhaus aus die Polizei angerufen.«

»Sie sind also überzeugt, dass die junge Frau, die Sie bei der Leiche überrascht haben, Frau Röders Mörderin ist?« Heimerzheims Stimme klang sachlich.

»Ja, natürlich! Wer sollte es denn sonst gewesen sein?« Die Miene des Knechtes spiegelte tiefes Unverständnis. »Und Sie hätten sehen sollen, wie die auf die Tote gestarrt hat! Wie hypnotisiert und voller Hass. Mich hätt sie auch kaltgemacht, wenn ich sie nicht überwältigt hätte. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Außerdem hab ich das Weibsstück schon einmal in der Nähe des Hofes gesehen.«

»Tatsächlich? Wann genau?«

»Vor ungefähr zwei Wochen. Es war gegen Abend, und ich kam vom Melken. Da hab ich sie hinter den Ställen entdeckt. Der war schon von Weitem anzumerken, dass sie nichts Gutes im Schilde führte. Ich hab ihr zugerufen, dass sie verschwinden soll. Da hat sie sich getrollt.«

Plötzlich wurde Friederike klar, was sie von Anfang an auf dem Hof seltsam gefunden hatte. »Gibt es denn hier keinen Hund? Als ich vorhin ankam, hat keiner gebellt. Wir hatten in Ostpreußen ein Gut, dort gab es immer Hunde.« Sie brach verlegen ab. Es stand ihr nicht zu, sich in eine Vernehmung einzumischen.

Doch zu ihrer Erleichterung schien Heimerzheim nicht verärgert zu sein. »Ja, hätte denn ein Hund Frau Röder nicht gewarnt und einen Eindringling gestellt?«

»Jetzt, wo Sie’s ansprechen, Herr Hauptkommissar …« Der Knecht rieb sich über das stoppelige Kinn. »Der Hofhund ist am Montag eingegangen. War ein Weibchen, ein Schäferhundmischling. Frau Röder hat sehr an ihr gehangen.«

»Wie kam es denn dazu?«

»Wurde vergiftet.«

»Und das haben Sie bisher nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht?«

»Wie ich schon sagte, wir haben hier ’ne Rattenplage.« Der Knecht zuckte mit den Schultern. »Wir dachten alle, der Hund hätte ’ne vergiftete Ratte gefressen.«

»Ich nehme an, Sie wissen, wo das Tier verscharrt ist?«

»Klar, ich hab die Grube ja selbst geschaufelt.«

»Zeigen Sie dem Kollegen den Ort und helfen Sie ihm beim Ausgraben des Kadavers.«

Büchler nickte gehorsam.

Anscheinend wollte Heimerzheim das Tier untersuchen lassen. Vermutlich hatte die junge Frau es vergiftet, um bei nächster Gelegenheit unbemerkt in das Gutshaus einbrechen zu können. Friederike ärgerte sich über sich selbst. Wie naiv sie doch immer noch war! Als die junge Frau so verzweifelt ihre Unschuld beteuert hatte, war ihr dies nahegegangen. Fast hätte sie ihr geglaubt.

Stimmen im Flur weckten Friederike. Sie war in dem stickigen Wohnzimmer kurz eingedöst. Heimerzheim hatte noch den anderen Knecht und die Mägde vernommen. Eine von ihnen hatte die junge Frau ebenfalls vor einigen Tagen in der Nähe des Hofes gesehen.

»Vier Schüsse waren es mindestens, die Frau Röder mitten ins Gesicht gefeuert wurden«, hörte sie einen Mann sagen. Anscheinend war endlich ein Arzt eingetroffen, um den Leichnam in Augenschein zu nehmen. »So etwas habe ich noch nie erlebt. Auf mich wirkt das nicht wie ein normaler Mord. Scheint so, als hätte da jemand Frau Röder wirklich gehasst.«

Hauptkommissar Heimerzheim murmelte etwas, das wie eine Verwünschung klang.

Friederike empfand Bedauern. Was für ein brutaler, sinnloser Tod! Frau Röder musste eine bemerkenswerte Persönlichkeit gewesen sein. Sie hatte es geschafft, den Hof gut durch das letzte Kriegsjahr und dann durch die chaotische Zeit nach der Kapitulation zu bringen. Alle Bediensteten hatten mit Zuneigung, ja Bewunderung von der Gutsherrin gesprochen.

»Wir sind hier fertig. Lassen Sie uns gehen.« Hauptkommissar Heimerzheim war ins Wohnzimmer getreten.

»Jawohl, Herr Hauptkommissar.« Friederike schob Notizbuch und Stift in die Tasche ihres Uniformrocks und setzte die Mütze auf. Draußen im Flur kniete ein rundlicher Mann neben der Toten und hob einen Arm hoch – wohl um das Stadium der Leichenstarre festzustellen. Die Hand mit den langen, schlanken Fingern senkte sich in einer bizarr grazilen Geste. Einige Fliegen ließen sich von dem Arzt nicht stören und krabbelten über das bis zur Unkenntlichkeit entstellte Gesicht. Es roch nun noch widerlicher. Der Verwesungsprozess hatte bereits eingesetzt. Wieder musste Friederike gegen einen Brechreiz ankämpfen.

Sie war froh, vor dem Haus die unverbrauchte Nachtluft einatmen zu können. Im Osten kündigte ein heller Streifen am Himmel den baldigen Sonnenaufgang an. Hauptkommissar Heimerzheim ging auf einen alten VW Käfer zu. Friederike wartete, bis er sich hinter dem Steuer niedergelassen hatte, und nahm dann auf dem Beifahrersitz Platz.

In der Ferne – diesen Ausblick hatte sie bei der Ankunft gar nicht wahrgenommen – lag Köln. Vor der Verdunklung und der Zerstörung musste sich die Stadt bei Nacht als ein Lichtermeer präsentiert haben. Jetzt leuchteten dort nur einzelne helle Punkte auf. Eine Geisterstadt, in der die beiden Domtürme einen unverwechselbaren Fixpunkt bildeten. Die Aussicht verschwand hinter einer bewaldeten Hügelkuppe, als der Wagen bergab fuhr, und tauchte dann hinter einer Kurve wieder auf.

Plötzlich wurde Friederike von einem heftigen, nicht zu unterdrückenden Gähnreiz gepackt.

»Bitte entschuldigen Sie, Herr Hauptkommissar«, sagte sie verlegen, als er endlich vorbei war.

»Na ja, ich fühle mich auch nicht gerade taufrisch. Allmählich werde ich zu alt für diese Arbeit.« Dass Hei­merzheim seine Müdigkeit eingestand, machte ihn menschlich. »Legen Sie sich zu Hause ein paar Stunden hin. Es reicht mir, wenn ich die Vernehmungsprotokolle im Lauf des Nachmittags bekomme.«

Der Hauptkommissar zündete sich eine Zigarette an. Das brennende Streichholz gab seinen zerfurchten Gesichtszügen für Sekunden harte Konturen. Ja, er war bestimmt schon Ende sechzig. Friederike wusste nicht recht, wie sie ihn einschätzen sollte. Zu ihr war er eigentlich nett gewesen. Der jungen Tatverdächtigen gegenüber hatte er sich jedoch sehr brutal verhalten. Wobei sicher viele Polizeibeamte so reagiert hätten, wenn sie angespuckt worden wären. Da die Briten Heimerzheim aus dem Ruhestand zurückgeholt hatten, schien er kein NSDAP-Mitglied gewesen zu sein. Allerdings ging bei der Entnazifizierung wahrhaftig nicht immer alles mit rechten Dingen zu. Es wurde getrickst, und falsche Leumundszeugnisse wurden eingereicht.

»Eine so junge Frau und schon so eiskalt …« Hei­merzheim schüttelte den Kopf.

»Sie hat so verzweifelt ihre Unschuld beteuert. Ich hätte ihr beinahe geglaubt.«

»Wenn ich mit einer lebenslänglichen Haftstrafe wegen Mordes rechnen müsste, wäre ich höchstwahrscheinlich auch verzweifelt.« Heimerzheims Stimme klang trocken. »Sie stammen aus einer guten Familie, nicht wahr?«

Die meisten Menschen merkten ihr das schnell an. Auch wenn Friederike nie ganz verstand, warum. An der Uniform und der alten Kleidung, die sie sonst trug, konnte es jedenfalls nicht liegen. »Mein Vater war Reeder in Königsberg, und wir hatten ein Gut bei Gumbinnen.«

»Die Welt, mit der Sie es als Polizistin zu tun haben, ist Ihnen also von zu Hause nicht gerade vertraut.«

»Nein«, gab Friederike zu.

»Ich bin jetzt seit über fünfzig Jahren bei der Polizei. Ich rate Ihnen, nicht den Glauben an das Gute aufzugeben. Aber Sie sollten den Menschen mit Skepsis begegnen. Viele, mit denen wir es als Polizisten zu tun bekommen, wittern es, wenn jemand wie Sie vertrauensselig und gutgläubig ist, und versuchen, das auszunutzen.«

Wahrscheinlich hatte der Hauptkommissar mit seiner Einschätzung recht, und sie begegnete den Menschen auch nach fast einem Jahr bei der Polizei immer noch viel zu vertrauensvoll.

»Ich habe zufällig gehört, was der Arzt gesagt hat. Dass er den Eindruck hat, die Tat sei aus Hass begangen worden. Sehen Sie das denn auch so?«

»Ein oder zwei Schüsse ins Gesicht hätten Zufall sein können. Aber vier? Nein. Auch wenn ich noch keine Ahnung habe, was dieses Weib dazu getrieben hat. Vielleicht war es etwas ganz Banales wie Neid auf die Schönheit und den Wohlstand von Frau Röder. Oder was auch immer in einem kranken Hirn vor sich gehen mag.« Hauptkommissar Heimerzheim versank in Schweigen. In der Ferne thronte über den Ruinen eines Ortes ein schlossähnliches Gebäude. Die hellen Mauern wirkten fahl im Dämmerlicht.

Die Straße war uneben und die Federung des VW Käfer unzureichend. Friederike presste die Füße gegen den Wagenboden und hielt sich am Türgriff fest, um nicht völlig durchgeschüttelt zu werden. Was mochte die junge Frau nur zu der schrecklichen Tat veranlasst haben?