Echo der Toten. - Beate Sauer - E-Book
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Beate Sauer

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Beschreibung

Mord im Hungerwinter Januar 1947: Über dem Land liegt eine Decke aus Schnee und Eis, zwischen Ruinen kämpfen die Menschen ums Überleben, als in der Eifel ein Mord geschieht. Richard Davies von der britischen Military Police soll das Verbrechen aufklären. Doch der einzige Zeuge ist ein sechsjähriger Junge, der sich weigert zu sprechen. Friederike Matthée von der Weiblichen Polizei in Köln wird Richard zur Seite gestellt. Sie kommt, wie der Junge, aus Ostpreußen und findet einen Zugang zu seiner verletzten Seele. Doch die Erinnerungen an die schrecklichen Erlebnisse während der Flucht sind noch so frisch, dass Friederike an ihrer Kraft zweifelt. Und Richard Davies muss mit Menschen zusammenarbeiten, die schwere Schuld auf sich geladen haben.

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Das Buch

Januar 1947: Über dem Land liegt eine Decke aus Schnee und Eis, zwischen Ruinen kämpfen die Menschen ums Überleben, als in der Eifel ein Mord geschieht. Richard Davies von der britischen Military Police soll das Verbrechen aufklären. Doch der einzige Zeuge ist ein zehnjähriger Junge, der sich weigert zu sprechen. Friederike Matthée von der Weiblichen Polizei in Köln wird Richard zur Seite gestellt. Sie kommt, wie der Junge, aus Ostpreußen und findet einen Zugang zu seiner verletzten Seele. Doch die Erinnerungen an die schrecklichen Erlebnisse während der Flucht sind noch so frisch, dass Friederike an ihrer Kraft zweifelt. Und Richard Davies muss mit Menschen zusammenarbeiten, die schwere Schuld auf sich geladen haben.

Ein packender Krimi über die Suche nach Gerechtigkeit in einer Welt, die in Trümmern liegt.

Die Autorin

Beate Sauer studierte katholische Theologie und Philosphie und absolvierte danach eine journalistische Ausbildung. Dabei stellte sie fest, dass ihr Herz noch viel mehr für fiktive Geschichten schlägt. Mit ihren historischen Romanen begeisterte sie eine riesige Fangemeinde. »Echo der Toten« ist ihr erster historischer Kriminalroman.

Beate Sauer

ECHO DER TOTEN

Ein Fall für Friederike Matthée

Kriminalroman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1617-8

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © arcangel (Frau); © FinePic®, München via Photodisc/Retro Americana

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

PROLOG

Eifel, Dienstag, 14. Januar 1947

Er stellte den Borgward-Lastkraftwagen am Straßenrand ab, vor einer Reihe dicht verschneiter Tannen. Auf der anderen Seite der Straße erstreckte sich ein freies Feld. Jenseits davon wuchsen die Berge der Eifel bis zum Horizont. Gewaltige Anhäufungen von Lava und Schlacke.

Als er aus dem Wagen stieg, hörte er in der Ferne helle Stimmen. Wahrscheinlich Kinder, die rodelten. Für einen Moment erinnerte er sich an das erregende, beängstigende Gefühl, auf einem Schlitten einen vereisten Hang hinunterzurasen. An den Wind auf seinem Gesicht, an das Gefühl von Freiheit. Von Unschuld.

Der Waldweg verlief zwischen Tannen, der Schnee war unberührt. Bei den ersten Schritten sank er bis zum Knie ein. Die Wolken hingen tief und bedeckten fast den ganzen Himmel. Nur im Westen loderte der Horizont in roten und gelben Farben. Wie ein Spiegelbild der vor Urzeiten erkalteten Glut. Aus Erfahrung wusste er, dass dies baldigen Schneefall verhieß.

Unter einem Windstoß erzitterten die Tannen. Die Geister der Toten waren wieder bei ihm. Schritten mit ihm den Weg entlang. Doch sie weckten keine Furcht mehr. Nur Reue und Scham.

Et ne nos inducas in tentationem, sed libera nos a malo. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Die Worte, die er als Ministrant so oft gehört hatte, kamen ihm in den Sinn.

Er hatte eine Entscheidung getroffen. Er würde sich von dem Übel befreien. Die Geister zogen sich zwischen die Tannen zurück, wurden eins mit den Bäumen und dem Schnee. Nur noch der Wald war um ihn.

Ganz leicht und sanft begannen die ersten Flocken zu fallen.

Peter Assmuß schniefte und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sonst war die Bäuerin freundlich zu ihm, doch soeben hatte sie ihn zornig angeherrscht und beinahe geschlagen. Er verstand nicht, warum. Er hatte doch nichts Schlimmes getan, war nur in den Hof gegangen.

Schneehaufen türmten sich vor den Häusern. Von den Feldern erklangen Stimmen, dort fuhren die Dorfjungen Schlitten. Sein Versteck im Wald lag in der entgegengesetzten Richtung. Auf dem Weg dorthin würde er ihnen nicht begegnen. So schnell es seine viel zu großen, mit Lumpen ausgestopften Stiefel erlaubten, hastete er die Straße entlang.

Hinter dem Dorf führte ein Trampelpfad den Berg hinauf zum Wald. Der Schnee reichte Peter fast bis zum Nabel. Er kämpfte sich voran, rutschte aus, stapfte weiter. Erschöpfung ließ seine Glieder schwer werden. Nun weinte er doch. Verlauster Polacke nannten ihn die Jungen. Sie machten sich einen Spaß daraus, ihn abzufangen und zu verprügeln. Am Vortag hatten sie seinen Kopf in eine Schneewehe gedrückt, bis er fast erstickt wäre. Und sie würden es wieder tun. Ihn quälen, bis er nicht mehr einhalten konnte, und sich eine gelbe Pfütze unter ihm bildete.

Polacke, Hosenpisser …

Der Himmel loderte in glühenden Farben, und die schneebedeckten Berge wirkten wie schlafende urzeitliche Tiere. Wind kam auf, fuhr in die Äste, als er den Waldrand erreichte. Hingen dort Tote? Peter erstarrte. Nein, es waren nur Schatten.

Er fühlte sich einsam und verloren. Am liebsten wäre er umgekehrt. Aber er war so müde, und bis zu der Scheune war es nicht mehr weit.

Wolken schoben sich vor den brennenden Streifen am Himmel. Flocken wehten Peter ins Gesicht, mischten sich mit den Tränen auf seinen Wangen. Die Scheune stand auf einer Wiese, umgeben von Apfelbäumen. Im Zwielicht warfen die Stämme und struppigen Äste lange Schatten, und die Tannen im Hintergrund waren ganz schwarz.

Die Scheunentür klemmte, wie Peter wusste. Aber an der Rückseite war ein verwittertes Brett lose. Zitternd hob er es zur Seite, schlüpfte nach drinnen. Der Wind fuhr durch die Ritzen und wirbelte den feinen Schnee auf dem Boden um seine Füße.

Peter kletterte die Leiter hinauf. In einer Ecke des Heubodens lag ein Haufen trockenes Gras. Er kuschelte sich hinein. Der Geruch des Heus erinnerte ihn an zu Hause, tröstete ihn. Er wurde ruhiger.

Das Quietschen der Tür ließ ihn aufschrecken. Waren ihm die Jungen etwa gefolgt? Doch die schweren Fußtritte waren die eines Erwachsenen. Peter spähte durch einen Spalt zwischen den Brettern. Er sah einen breitkrempigen, von Flocken gesprenkelten Hut und Schultern in einem Wintermantel. Ein Streichholz flammte auf, als sich der Mann eine Zigarette ansteckte. Er nahm tiefe Züge, während er unruhig auf und ab ging. Es war jetzt noch dämmriger. Vor der Luke in der Giebelwand hingen dunkle Wolken, und das Rot am Himmel war verschwunden. Peter war so müde, dass er trotz seiner Angst eindöste.

Er wachte auf, als die Scheunentür erneut geöffnet wurde. Eine Gestalt, die er nur schemenhaft erkennen konnte, trat, von Flocken umweht, herein. Zwei andere folgten ihr. Er konnte die jähe Furcht und das Entsetzen des Mannes, der zuerst gekommen war, fast körperlich spüren. Sein Aufschrei, verzweifelt und flehend, ließ Peter erschauern. Einer der Schatten sagte etwas. Ein seltsames Wort, das Peter von irgendwoher kannte. Doch er vergaß es sofort wieder, als die Schatten begannen, mit Knüppeln auf den Mann einzuprügeln, und dieser unter Schmerzensschreien zusammenbrach.

Peter rollte sich im Heu zusammen und presste die Hände gegen die Ohren. Aber die Schreie hörten nicht auf. Sie hallten auch noch in seinem Kopf wider, als die Männer die Scheune schon längst verlassen hatten.

1. KAPITEL

Köln, Donnerstag, 16. Januar 1947

Die eine Seite des Toilettenfensters war mit Brettern vernagelt, das Milchglas auf der anderen hatte die Farbe von Schnee. Polizeiassistentenanwärterin Friederike Matthée drehte den Wasserhahn auf, ließ das eiskalte Wasser über ihre Hände laufen und benetzte ihr Gesicht. Nachdem sie Wangen und Stirn mit einem Taschentuch getrocknet hatte, holte sie einen Kamm aus der Innentasche der Uniformjacke und fuhr sich damit durch die kinnlangen Haare. Ihre Vorgesetzte, Kriminalkommissarin Gesine Langen, verabscheute unordentliches Haar. Anschließend überprüfte Friederike den korrekten Sitz der Uniformmütze und der dunkelblauen Uniformjacke und rückte den Krawattenknoten gerade. Ihre Hände zitterten immer noch.

Aus dem gesprungenen Spiegel über dem Waschbecken blickte ihr ein schmales Gesicht entgegen, das, wo es nicht von dem kalten Wasser gerötet war, sehr bleich wirkte. Auch die Lippen waren blutleer. Friederike besaß große blaue Augen und hohe, fein geschwungene Wangenknochen, und sie hatte einmal als sehr hübsch gegolten. Aber ihr schwarzes Haar war stumpf, und ihre Augen hatten jeden Glanz verloren. Wie die so vieler Menschen in den vergangenen Jahren.

Bisher hatte Gesine Langen sich gegen ihre Festanstellung und Beförderung ausgesprochen. Gut möglich, dass die Kriminalkommissarin sie gleich entlassen würde. Friederike hatte keine Ahnung, wie sie dann ihre Mutter und sich selbst durchbringen sollte. Und das Schlimmste war, dass das Zimmer in der Kölner Südstadt, in dem sie und die Mutter lebten, für städtische Angestellte und Beamte reserviert war. Mit der Arbeit würde sie also auch das Zimmer verlieren. Wohnraum war in der zerstörten Stadt jedoch immer noch so knapp. Fast jeden Tag begegnete Friederike bei ihrer Arbeit Obdachlosen, die in ehemaligen Bunkern Schutz vor der Kälte suchten. Ach, wenn sie doch nur bei der Razzia am frühen Morgen nicht versagt hätte!

Sie hat die Hände zu Fäusten geballt, starrt aus dem Fenster des Polizeimannschaftswagens. Gelegentlich passiert das Fahrzeug eine einsam brennende Straßenlaterne auf dem Ring. Der Schnee auf den Gesimsen der Ruinen wirkt schmutzig. So als wäre der Ruß, der die skelettierten Fassaden bedeckt, in ihn eingedrungen und hätte ihn mit seinen Partikeln durchsetzt.

Das Röhren des Motors übertönt die gemurmelten Gespräche der Kollegen.

»Alles in Ordnung mit dir?« Friederikes Kollegin Lore Fassbänder berührt sie am Arm. Sie und Friederike sind die beiden einzigen weiblichen Beamten in der sechzehn Polizisten umfassenden Einheit.

»Ja, ich habe nur Hunger«, lügt Friederike.

»Wer hätte das nicht.« Lore kramt in den Taschen ihres Uniformmantels und fördert dann drei Stücke Würfelzucker zu Tage. »Hier, nimm.«

»Aber ich kann doch nicht …«

»Jetzt zier dich nicht. Ich hab auf dem Schwarzmarkt einen wirklich guten Tausch gemacht. Der englische Soldat war ganz versessen auf das Militärabzeichen und den Waffengürtel meines Bruders.«

Lore ist pragmatisch und resolut. Wie Friederike hat auch sie sich in erster Linie bei der Weiblichen Polizei beworben, weil sie dringend eine Arbeit braucht, und nicht aus innerer Neigung. Doch anders als Friederike kommt sie gut mit allem zurecht.

Friederike flüstert »danke« und schiebt die Würfelzuckerstückchen in ihren Mund, wo sie viel zu schnell zerschmelzen. Der Mannschaftswagen passiert die Ruine der St.-Aposteln-Kirche und hält am Rande des Neumarkts.

Der Einsatzleiter, ein stämmiger Hauptwachtmeister in den Fünfzigern, dessen Namen sich Friederike nicht gemerkt hat, steht auf. »Also, dann wollen wir mal, Männer. Und denken Sie dran, dass Sie in dem Bordell nicht zu Ihrem Vergnügen sind.«

Gelächter brandet auf. Lore verdreht die Augen. »Typisch, dass wir für die Herren Kollegen mal wieder unsichtbar sind.«

Friederike nickt stumm. Sie und Lore verlassen den Mannschaftswagen als Letzte und reihen sich am Schluss der Gruppe ein. Zwei Kollegen entfernen sich, um den Hintereingang des illegalen Bordells zu sichern.

Trotz des Uniformmantels fühlt sich Friederike ganz steif vor Kälte. Während sie sich mit den anderen im Gleichschritt bewegt, versucht sie, ihre aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen. Die Schritte in den genagelten Stiefeln verursachen ein dumpfes Geräusch auf dem vereisten Boden. Flocken rieseln vom Himmel. Von einer Straßenkreuzung aus sieht sie die Umrisse der Domtürme über den ausgebrannten Ruinen.

Nur zu schnell haben sie das Ziel in der Kleinen Brinkgasse erreicht, ein Eckhaus, dessen Dach weggebombt wurde. Hinter einigen Fensterläden schimmert Licht hervor.

»Aufmachen, Polizei!« Ein Kollege donnert gegen die Tür, während ein anderer mit gezogener Waffe neben ihm steht. Noch einmal wiederholt der Beamte den Befehl. Als die Tür aufschwingt, kann Friederike in dem diffusen Licht im Flur einen Mann erkennen. Er wird zur Seite gedrängt, und die Polizisten stürmen in das Innere des Gebäudes. Friederike folgt den Kollegen. Eine unwirkliche Szenerie, als würde sie alles nur von fern beobachten.

Wie der Einsatzleiter es bei der Besprechung auf eine Tafel gezeichnet hat, führt von dem Flur eine Treppe in die oberen Stockwerke. Ein abgetretener Teppich bedeckt die Stufen. Nach der Kälte draußen ist es in dem Haus sehr warm, und es riecht nach billigem Alkohol und Talkumpuder. Unter ihrem Mantel bricht Friederike der Schweiß aus.

In der ersten Etage fliegen Zimmertüren auf. Halbnackte Männer laufen auf den Flur, andere werden aus den Räumen gezerrt. Proteste und Befehle erklingen, vermischen sich in Friederikes Ohren zu einem Dröhnen. Erst als Lore sie an der Schulter berührt, bringt sie das wieder zu sich. Friederike zwingt sich, die Stufen zum zweiten Stockwerk hinaufzulaufen, wo sie helfen soll, die Prostituierten unter Kontrolle zu bringen.

Hier spielen sich die gleichen Szenen ab wie im Flur darunter. Direkt vor Friederike befindet sich eine offen stehende Tür. Zwei Kollegen pressen den Freier, der wohl gehofft hatte, entwischen zu können, gegen die Wand und legen ihm Handfesseln an. Er ist ein kräftiger Mann, auf dessen Brust und Armen ein dichter, dunkler Haarflaum wächst, wie ein Pelz. Friederike wendet den Blick ab und betritt den Raum.

»Ziehen Sie sich an, und nehmen Sie Ihre Papiere mit!« Die Worte ersterben schier in ihrer Kehle. Die Prostituierte auf dem Bett ist fast noch ein Kind, höchstens fünfzehn Jahre alt. Sie hat eine Wolldecke um ihren Oberkörper geschlungen. Darunter ragen lange, dünne Beine hervor, die Friederike unwillkürlich an ein Fohlen erinnern. Zerzaustes blondes Haar fällt auf ihre Schultern. Einzig ihre Augen wirken sehr alt.

»Zieh dich an!«

»Ich hab nichts Böses getan.«

»Dieses Bordell ist illegal. Außerdem bist du viel zu jung, um hier zu sein.«

»Ich bin einundzwanzig.«

»Gib mir deine Papiere.«

»Die wurden mir gestohlen.« Das Mädchen zuckt gleichgültig mit den Schultern.

Das kann die Wahrheit sein. So viele Menschen sind seit den letzten Kriegsmonaten ohne Papiere unterwegs. Friederike mag sich nicht vorstellen, was das Mädchen in den zwei Jahren seither erlebt hat.

»Zieh dich an!«, wiederholt sie.

Das Mädchen beugt sich vor und greift unter das Bett, zieht dort ein Bündel Kleider hervor.

»Wie heißt du?«

»Christine, Christine Schmitz …« Die Antwort kommt etwas zu schnell.

Friederike bezweifelt, dass dies ihr richtiger Name ist. Die Glühbirne an der Decke flackert kurz, doch das elektrische Licht erlischt nicht.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Wir werden dafür sorgen, dass du an einen Ort kommst, wo du geborgen bist und nicht mehr … das tun musst …« Friederikes Stimme versagt erneut. Sie wird alles dafür tun, um das Mädchen vor dem Bordell zu bewahren.

Christine, oder wie auch immer sie in Wirklichkeit heißt, nickt. Sie hat die Wolldecke abgestreift und steht jetzt nackt vor Friederike. Sie ist so mager, dass die Rippen unter der Haut hervortreten, und an ihren Oberschenkeln befinden sich Blutergüsse. Friederike nimmt in der stickigen Luft den Geruch von Schweiß und Sperma wahr. Ihr wird übel. Stumm sieht sie zu, wie das Mädchen eine viel zu große Hose und eine wattierte Jacke anzieht und in ein Paar Soldatenstiefel schlüpft.

Als das Mädchen fertig angekleidet ist, fasst Friederike es am Arm. »Komm, lass uns gehen«, sagt sie freundlich.

Das Mädchen nickt wieder. Gehorsam geht es einige Schritte mit ihr in Richtung Tür – und seine Gegenwehr erfolgt völlig unerwartet. Zu schnell, als dass Friederike Zeit gehabt hätte zu reagieren, reißt sich das Mädchen los und rammt ihr die Fäuste in den Magen. Friederike krümmt sich, bekommt keine Luft mehr. Sie taumelt gegen einen Stuhl und fällt zu Boden. Das elektrische Licht erlischt. Als es einige Sekunden später wieder angeht, hat das Mädchen den Fensterladen aufgerissen und steht auf dem Sims.

»Nein, nein, tu das nicht!« Friederikes Schrei gellt durch den Raum. Mühsam erhebt sie sich auf die Knie. Doch da ist das Mädchen schon gesprungen.

Ein Kollege kommt in das Zimmer gestürmt. »Was ist denn los?«

»Das Mädchen … Es hat sich aus dem Fenster gestürzt!« Ein Schluchzen schüttelt Friederike.

Mit einem unwilligen Laut läuft der Kollege zum Fenster, beugt sich hinaus und bläst dann in seine Trillerpfeife. Als er sich zu Friederike umdreht, hat sein hageres Gesicht einen merkwürdigen Ausdruck.

»Kommen Sie mal her, Fräulein.«

»Nein …« Friederike will den schmalen Körper nicht im Schnee liegen sehen. Widerstrebend lässt sie es zu, dass der Mann seinen Arm um ihre Schultern legt und sie zum Fenster zieht.

An der Hauswand hängt eine Feuerleiter. Friederike hört Metall klirren, als das Mädchen auf den Boden springt. Zwei Beamte ringen unten mit einem Freier. Das Mädchen huscht an ihnen vorbei, blitzschnell bewegt sich sein Schatten über den Schnee, ehe es hinter einem Trümmerhaufen verschwindet.

»Die Kleine ist jedenfalls quicklebendig, und es würde mich sehr wundern, wenn die Kollegen sie noch erwischen.« Der Kollege klopft Friederike auf den Rücken. »Sie haben noch viel zu lernen, Fräulein, wenn ich das mal so sagen darf. Und nun hören Sie schon auf zu weinen.« Er zieht ein Taschentuch aus seiner Manteltasche und reicht es ihr.

Schritte auf dem Flur brachten Friederike in die Gegenwart zurück. Das Notizbuch … Hatte sie ihr Notizbuch dabei? Hastig fuhr sie in die Taschen ihrer Uniform. Da war es. Ein frisch gespitzter Bleistift steckte in der Lederlasche. Friederike schlug das Büchlein auf. Vor ein paar Tagen hatte sie zusammen mit Lore und einer anderen Kollegin Jugendliche im Hauptbahnhof überprüft. Und ein paarmal, wenn nichts zu tun gewesen war, hatte sie Reisende skizziert. Zeichnungen in einem Polizeinotizbuch würde Gesine Langen sicher zutiefst missbilligen. Friederike riss die Seiten heraus, zerknüllte sie und warf sie in den Abfalleimer unter dem Waschbecken.

Ein Güterzug kroch den Bahndamm entlang. In der eisigen Luft bildete der Dampf aus dem Schornstein der Lokomotive eine riesige Wolke, die alles verhüllte. Lieutenant Richard Davies von der Royal Military Police blieb stehen. Übermüdet, wie er war, erschien ihm der Dampf wie das Tuch eines Zauberers, und er hätte sich nicht gewundert, wenn sich anstelle der Ruine eine intakte Hausfassade vor ihm aufgetan hätte. Doch als sich der Dampf verzog, sah er vor sich wieder eine Wand mit leeren Fensterhöhlen und einem Loch so groß und breit wie ein Lkw, wo sich einmal ein Hoftor befunden hatte. Nicht, dass er die Zerstörung Kölns bedauert hätte …

In einiger Entfernung führte eine Laderampe abwärts. Das Metalltor am Ende der Rampe war intakt und machte einen massiven Eindruck. Es wurde von einem Corporal bewacht.

»Sir, der Captain erwartet Sie bereits.« Der junge Soldat salutierte und öffnete dann einen der Torflügel.

Lieutenant Davies erwiderte den militärischen Gruß. Der Sergeant, der ihn vor einer guten halben Stunde aus dem Tiefschlaf gerissen und eben vor der Ruine abgesetzt hatte, hatte etwas von einer »Schwarzmarkt-Sache« verlauten lassen. In dem Keller lagen alle möglichen Teile aus Altmetall herum – löchrige Ofenrohre, zerbeulte Autotüren, zerschrammte Felgen, zerbrochene und vom Rost zerfressene Öfen. Da Metall immer noch Mangelware war, hatte das Alteisen einen beträchtlichen Wert.

Vor dem Lieutenant bewegte sich die Kellerwand. Die Wand bewegte sich? Er blinzelte, glaubte, einer Sinnestäuschung zu erliegen. Doch die unverputzten Backsteine glitten tatsächlich beiseite, und aus der Öffnung trat die große, dünne Gestalt von Captain Mannings. Er war ein Mann Mitte vierzig, dessen Oberlippe ein schmaler Schnurrbart zierte, wie man ihn von dem Verführer in einem Boulevard-Theaterstück kannte. In der Hand hielt er etwas, das aussah wie ein dünner Stoffstreifen. Mannings war ein Vorgesetzter, der manchmal einen etwas seltsamen Humor hatte, doch Davies schätzte ihn sehr.

»Guter Trick, nicht wahr? Perfekte Tarnung einer Tür. Sehen Sie sich das an, Lieutenant.« Der Captain deutete hinter sich und ließ Davies vorausgehen.

Ein weitläufiges Gewölbe erstreckte sich vor ihnen, dessen Decke von Metallstreben gestützt wurde. Regale zogen sich an den Wänden entlang. Darauf stapelten sich Kartons, die, wie Davies beim Näherkommen feststellte, Damen- und Herrenschuhe in allen möglichen Anfertigungen und Größen enthielten. Auf anderen Regalbrettern lagen Stoffballen, die im Licht der elektrischen Lampen seidig schimmerten. Er entdeckte Schreib- und Nähmaschinen, Lampenschirme, Töpfe und Geschirr, Rahmen mit und ohne Gemälde, Konservendosen und stapelweise Fensterglas. Ein äußerst begehrtes Gut in einer Stadt, in der immer noch ein Großteil der Fenster mangels Glas mit Brettern vernagelt war.

In der Kellermitte lagerten Säcke und Kisten – Zucker und Mehl in solchen Mengen, dass es sicher mehrere Tonnen sein mussten. In Papier eingeschlagene Butterbarren und Zigarettenstangen bildeten kleine Berge und Autoreifen schwarze Türme aus Gummi. Die Marken der Zigaretten waren britisch – was erklärte, warum die Militärpolizei den Keller inspizierte. Höchstwahrscheinlich waren sie aus britischen Beständen gestohlen worden.

»Sieht aus wie Aladins verdammte Wunderhöhle, finden Sie nicht auch, Lieutenant?«

»Allerdings, Sir …«

»In den angrenzenden Kellern liegt Kohle in einer Menge, mit der man halb Köln beheizen könnte.« Der Captain ließ sich auf einem Stapel Teppiche nieder. Er wedelte mit der Hand, und ein seidener Damenstrumpf schwebte durch die Luft. Der Captain betrachtete ihn wehmütig. »Es gibt ein paar hundert von diesen Strümpfen und Lippenstifte in allen Farben. Damit könnte ich mir wahrscheinlich alle Huren der Stadt und ziemlich viele von unseren weiblichen Militärangehörigen kaufen. Tja, zu schade, dass die Mengen genau vermerkt werden müssen. Den Soldaten, die die Strümpfe zählen, wird das Herz bluten. Tut mir übrigens leid, dass ich Sie aus dem Bett holen lassen musste, Lieutenant. Ich hörte, Sie hatten eine ziemlich lange Nacht.«

»Das kann man so sagen, Sir.« Richard Davies hatte eine Operation gegen eine Diebesbande geleitet, die darauf spezialisiert war, im Schutz der Dunkelheit auf fahrende Züge zu springen und die Waren hinunterzuwerfen. Erst gegen sieben Uhr in der Früh war er in das Haus zurückgekehrt, wo er und einige andere Offiziere lebten, und wie ein Stein ins Bett gefallen.

»Die Operation war erfolgreich, wie man mir sagte. Fünf Männer sollen festgenommen worden sein.«

»So ist es, Sir.«

»Schön, schön …«

Davies gab sich – ebenso wie der Captain – keinerlei Illusionen über langfristige Auswirkungen ihrer Aktion hin. Für die Bande, die er in dieser Nacht festgenommen hatte, würde in den nächsten Tagen eine neue entstehen. Überall in dem besetzten, zerstörten Land wurde gestohlen und illegal gehandelt. Es verhielt sich wie mit der sprichwörtlichen Krake – hieb man einen Tentakel ab, wuchs ein neuer nach.

Der Captain lehnte sich etwas zurück, als wolle er es sich auf den Teppichen bequem machen, und Davies musste unwillkürlich an das Märchen denken, in dem sich ein Mann auf einem fliegenden Teppich in die Lüfte erhob.

»Sagt Ihnen der Name Jupp Küppers etwas?« Captain Mannings sprach das »ü« in Küppers als »u« aus.

»Ein Alteisen- und Schrotthändler mit Kontakten zum Schwarzmarkt, Sir.«

»Ja, ja … Mr Küppers, ein kleines Licht auf dem Schwarzmarkt – das ist es, was wir und die Deutschen dachten. Bis die Deutschen heute Nacht auf dieses Lager stießen.« Captain Mannings ließ seinen Blick beinahe verträumt durch den Keller schweifen.

»Dieses Lager gehört Küppers?« Davies war verblüfft. Der Mann, der dieses Lager besaß, war gewiss kein kleines Licht auf dem Kölner Schwarzmarkt, er zählte zu den beherrschenden Figuren.

»Es gehörte. Vergangenheitsform. Küppers wurde vor zwei Tagen in der Eifel ermordet. Erschlagen, genau genommen. Sie werden die Ermittlungen leiten, Lieutenant.«

»Sehr wohl, Sir …« Davies versuchte sofort, sich auf die neue Aufgabe einzustellen. Die Special Investigation Branch der Royal Military Police war chronisch unterbesetzt, und es kam ständig vor, dass Offiziere und einfache Soldaten von einem Sachgebiet zum anderen wechselten. Seit er vor drei Monaten von Hamburg nach Köln versetzt worden war, hatte er in einem Mordfall, zwei Vergewaltigungsdelikten und mehreren Fällen von Einbruch und Diebstahl sowie Körperverletzung ermittelt.

»Darf ich fragen, Sir, warum wir erst so spät über den Mord informiert wurden?«

»Küppers wurde in einem Dorf in der Nähe von Schleiden umgebracht und die Leiche erst am späten Abend entdeckt.« Captain Mannings erhob sich von dem Teppichstapel und streckte sich. »In dem Dorf gibt es kein Telefon. Deshalb war es schon mitten in der Nacht, ehe die Aachener Kriminalpolizei von dem Verbrechen erfuhr. Bei den derzeitigen Wetterverhältnissen zogen sie es vor, erst am Morgen zu dem Dorf aufzubrechen – was ich ihnen nicht verdenken kann. Die Dörfler kannten Küppers, er war wohl regelmäßig als Alteisen- und Schrotthändler in der Eifel unterwegs. Trotzdem dauerte es aus irgendwelchen Gründen, bis seine Identität geklärt war. Wie auch immer … Die Aachener informierten die Kölner gestern Nachmittag über Küppers’ gewaltsames Ableben. Die Kölner Polizei leistete Amtshilfe und vernahm Küppers’ Angestellte, woraufhin einer von ihnen Panik bekam und das Lager verriet. Und als die Kölner Polizei die britischen Zigaretten sah, kamen wir dann ins Spiel. Penicillin aus unseren Beständen hat sich übrigens auch gefunden.«

»Die Aachener Kriminalpolizei hat bereits eine Haus-zu-Haus-Befragung in dem Dorf durchgeführt?«

»Ja, das hat sie. Die Deutschen waren sehr gut organisiert und sehr effektiv wie immer. Sie konnten uns auch einen ›sehr wahrscheinlichen Zeugen‹ des Mordes nennen.«

»Was bedeutet ›sehr wahrscheinlich‹, Sir?« Richard Davies sah dem Captain an, dass er Spaß an seiner geheimnisvollen Äußerung hatte.

»Der Zeuge weigert sich bislang zu reden. Aber ich habe mich schon um Unterstützung für Sie gekümmert.« Der Captain klopfte Davies auf die Schulter. »Kommen Sie. Ich erzähle Ihnen im Wagen alles Weitere.«

2. KAPITEL

Köln

Friederike schluckte hart, als sie an die Tür von Gesine Langens Büro klopfte. Nach einigen Momenten ertönte ein sprödes »Herein«. Ihre Vorgesetzte saß hinter dem Schreibtisch. Gerade noch rechtzeitig erinnerte sich Friederike daran, dass sie die Vorgesetzte militärisch zu grüßen hatte, und hob die rechte Hand an die Mütze. »Frau Kriminalkommissarin …«

Gesine Langen nahm Friederikes Erscheinen mit einem knappen, ungnädigen Nicken zur Kenntnis und widmete sich dann wieder einem Schriftstück. Sie forderte Friederike nicht auf, Platz zu nehmen – eine bewusste Demütigung.

In einer Ecke des Büros stand ein kleiner Stuhl, auf dem eine Puppe und ein Teddybär saßen. Daneben lehnte ein Steckenpferd an der Wand. Ein Regal enthielt, ordentlich aufgereiht und gestapelt, Bilderbücher und Bauklötze, und an den Wänden hingen kolorierte Märchenbilder. Hänsel und Gretel, die an dem Pfefferkuchenhaus naschten, Dornröschen auf seinem Bett, von einem Dickicht aus Dornen umgeben, und Rapunzel, die ihren Zopf aus dem Turmfenster hängen ließ. Friederike hatte sich manchmal gefragt, ob diese Bilder möglicherweise eine Lebensmaxime der Kriminalkommissarin verkörperten – dass hinter jedem Genuss und jedem nicht ganz korrekten Verhalten unweigerlich das Verderben lauerte.

Gesine Langen war um die fünfzig Jahre alt und kaum größer als die ein Meter sechzig, die Voraussetzung für den Dienst bei der Weiblichen Polizei waren. Friederike vermutete, dass ihre Vorgesetzte auch schon vor der Zeit der Lebensmittelrationierungen sehr dünn gewesen war. Ebenso grau wie die Augen, die hinter runden, von Metall eingefassten Gläsern lagen, waren ihre Haare, die sie in einem geflochtenen Zopf um den Kopf gesteckt hatte. Diese Frisur hatte etwas Kindliches und erinnerte doch auch an das Diadem einer Königin. Tatsächlich kam die Kriminalkommissarin Friederike manchmal vor wie ein altkluges, gehässiges Kind und gleichzeitig wie eine Herrscherin, die ihr Reich voller Misstrauen gegenüber den Untergebenen regierte.

Gesine Langen war Kindern und Jugendlichen gegenüber streng, aber nicht unfreundlich, und sie leitete ihre Dienststelle kompetent. Aber Friederike mochte sie nicht, und sie war überzeugt, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte.

Endlich legte die Vorgesetzte den Füllfederhalter weg, verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch und wandte sich Friederike zu. Ihr Mund war schmallippig.

»Polizeiassistentenanwärterin Matthée, Sie haben es, seit Sie vor sechs Wochen von dem Lehrgang an der Polizeischule zurückgekehrt sind, mehrmals unterlassen, Vorgesetzte angemessen zu grüßen. Sie wurden bei einem Streifengang mit einer Handtasche gesehen, obwohl Sie wissen, dass dies streng verboten ist. Vor kurzem haben Sie die Vernehmung einer Frau, die von ihrem Ehemann misshandelt wurde, abgebrochen und sind aus dem Büro gerannt, und bei der Razzia heute Morgen haben Sie eine minderjährige Prostituierte entkommen lassen. Kommissar Hohner sagte mir, dass Sie das Mädchen auf höchstens fünfzehn schätzten. Stimmt das?«

»Ja, Frau Kriminalkommissarin, das trifft zu.«

»Ein Kind also fast noch, das dringend in Obhut hätte genommen und vor sich selbst geschützt werden müssen. Durch Ihr Versagen wird es sich weiter prostituieren und bald sicher unrettbar in der Gosse enden. Haben Sie irgendeine Entschuldigung vorzubringen?«

Friederike sah wieder die Blutergüsse auf den dünnen Oberschenkeln des Mädchens vor sich und glaubte, die Ausdünstungen in dem Raum zu riechen. »Nein, Frau Kriminalkommissarin, ich kann mein Verhalten leider nicht entschuldigen.«

»Und ich wüsste nicht, warum Sie weiter im Polizeidienst verbleiben sollten.«

»Das kann ich verstehen, Frau Kriminalkommissarin.« Jetzt war es also so weit, sie war entlassen. Friederike senkte den Kopf und starrte auf das grau geäderte Linoleum. Schneereste zwischen den Rillen ihrer Stiefelsohlen waren geschmolzen und bildeten um ihre Füße kleine, schmutzige Pfützen. Sie fühlte sich elend, aber sie würde vor der Vorgesetzten nicht in Tränen ausbrechen.

»In einem einzigen Bereich haben Sie sich nicht ungeschickt angestellt. Sie können gut mit Kindern umgehen, und die Protokolle Ihrer Vernehmungen sind sehr detailliert und aussagekräftig.«

Was wollte Gesine Langen ihr damit sagen? Wollte sie ihr vorschlagen, sich in einem Kindergarten zu bewerben? Kindergärten gab es nur wenige in der zerstörten Stadt. Friederike erwiderte nichts.

»Deshalb werde ich Sie nicht entlassen. Noch nicht …«

Perplex schaute Friederike auf. Sie wagte den Worten der Kriminalkommissarin nicht zu trauen, denn deren Miene war alles andere als ermutigend.

»Mir liegt ein Gesuch der britischen Militärpolizei vor. Die Briten fordern eine Beamtin an, die gut mit Kindern zurechtkommt und über gute Englischkenntnisse verfügt. Beides ist bei Ihnen der Fall. In der Eifel wurde ein Mord an einem Kölner Alträucher verübt. Sie wissen, was das Wort bedeutet?«

»Ja, das ist ein Alteisen- und Schrotthändler.«

»Genau. Die Engländer haben den Verdacht, dass der Alträucher mit Waren aus ihren Beständen gehandelt hat.«

»Deshalb sind sie also in den Fall involviert«, entschlüpfte es Friederike.

Gesine Langen quittierte die Unterbrechung mit einer missbilligenden Geste und ging nicht weiter darauf ein. »Vermutlich hat ein kleiner Junge die Tat beobachtet«, fuhr sie fort. »Sechs Jahre alt soll er sein. Er wurde in der Nähe des Tatorts entdeckt und weigert sich seither zu sprechen. Die englische Militärpolizei war mit ihren Angaben äußerst zurückhaltend. Aber sie geruhte mitzuteilen, dass der Junge aus Ostpreußen stammt, wie Sie.«

Gesine Langen sprach das Wort »Ostpreußen« aus, als sei dies das Siedlungsgebiet eines primitiven Volksstammes.

»Vielleicht gelingt es Ihnen ja, durch die gemeinsame Herkunft einen Kontakt zu dem Jungen herzustellen. Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass, wenn es diesen Bezug zu Ostpreußen nicht gäbe und die Briten nicht eine Polizistin mit guten Englischkenntnissen angefordert hätten, meine Wahl bestimmt nicht auf Sie gefallen wäre. Und ich muss wohl nicht eigens betonen, dass dies Ihre letzte Chance ist, im Polizeidienst zu bleiben.«

»Ich … ich werde mein Bestes geben, Frau Kriminalkommissarin.«

»Das will ich sehr hoffen.« Gesine Langen lächelte dünn. »Sie werden sich mit dem englischen Offizier in dem Dorf treffen. Einer unserer Leute fährt Sie dort hin. Ich hätte es ja in Zeiten der Benzinrationierung für sehr viel sinnvoller gehalten, wenn der Offizier Sie hier abgeholt hätte und Sie zusammen in die Eifel gefahren wären.«

»Das sehe ich genauso.« Jetzt, da sie ihre Stelle vorerst behalten hatte, war Friederike bereit, Gesine Langen in allem zuzustimmen.

»Aber was will man von einer Besatzungsmacht, die achthundert Kalorien am Tag als ausreichend für die Bevölkerung erachtet, schon anderes erwarten.« Die Kommissarin winkte ab. »Der Kollege holt Sie in einer halben Stunde ab. Stellen Sie sich darauf ein, in der Eifel zu übernachten. Das war alles. Sie können gehen.«

Friederike zögerte.

»Ist noch etwas?«

»Meine Mutter wird sich Sorgen machen, wenn ich heute Abend nicht nach Hause komme. Sie regt sich immer so schnell auf.«

»Ich werde eine Beamtin zu ihr schicken.«

»Danke, Frau Kriminalkommissarin.« Friederike hob die Hand an die Mütze.

Draußen auf dem Flur ließ sie sich gegen die Wand sinken. Ihre Beine waren ganz weich. Ja, sie würde diese Chance nutzen. Sie würde Gesine Langen keinen Grund geben, sie zu entlassen.

»Herr Leutnant …« Der uniformierte Polizist am Eingang der Zentralen Kriminaldienststelle salutierte und wies Davies zum Büro von Kriminalhauptkommissar Dahmen.

Während Davies die Stufen des Treppenhauses aus der Gründerzeit hinaufstieg, rekapitulierte er, was er über Dahmen in Erfahrung gebracht hatte. Nachdem er mit Captain Mannings zur britischen Stadtkommandantur am Kaiser-Wilhelm-Ring gefahren war, hatte er sich dort die Akte des Hauptkommissars heraussuchen lassen. Wenn er mit der deutschen Polizei zusammenarbeiten musste, zog er es vor, genau darüber informiert zu sein, mit wem er es zu tun hatte.

Dahmen lebte in Köln – Mühlheim, war Jahrgang 1900 und Kriegsfreiwilliger, ab 1917 eingesetzt an der Ostfront. Nach der Kapitulation Deutschlands hatte er eine Schreinerlehre absolviert. 1922 war er in die Schutzpolizei eingetreten und hatte es innerhalb weniger Jahre geschafft, zur Kriminalpolizei aufzusteigen.

Im Sommer 1933 war er der NSDAP beigetreten, wie die meisten Beamten, und im Jahr darauf zur Mordkommission gewechselt. Zumindest laut seiner Akte war er nicht in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt, und er hatte viele Fahndungserfolge vorzuweisen.

Im April 1945, nach dem Einmarsch der alliierten Truppen ins Rheinland, war Dahmen wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft aus dem Polizeidienst entlassen worden. Seine Wiedereinstellung erfolgte bereits im Winter 1945. Ein Beamter des Landesfinanzamts Köln namens Herrmann Scholzen hatte sich für Dahmen eingesetzt. Scholzen, ein früheres Zentrums-Mitglied und Mitbegründer der Christlich Demokratischen Union, stand im Sommer 1944 nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler auf der Fahndungsliste der Gestapo. Dahmen, den Scholzen aus dem Ruderverein kannte, warnte ihn und half ihm, im Süden von Köln unterzutauchen. Nach dem schweren Bombenangriff am 30. Oktober 1944 gab Dahmen ihn als tot aus, was Scholzen die Flucht nach Süddeutschland ermöglichte, wo er sich bis zum Kriegsende auf einem Bauernhof versteckte.

Dahmen war kein Held, dachte Davies. Aber er hatte mehr riskiert als viele Deutsche. Bei seiner Zusammenarbeit mit einem deutschen Polizeibeamten hätte er es schlechter treffen können.

Kriminalhauptkommissar Gernot Dahmen erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Er streckte die Hand aus, ließ sie dann jedoch wieder sinken, als sei er sich unsicher, ob Davies sie ergreifen würde. Er hatte klare Gesichtszüge. Seine Haare waren fast weiß, die Augen graublau. Davies vermutete, dass er in jüngeren Jahren dem von den Nationalsozialisten so geschätzten »nordischen« Menschentyp entsprochen hatte. Doch nun war Dahmen viel zu mager, um martialisch zu wirken. Auch seine schlecht rasierten Wangen – fast alle deutschen Männer waren in diesen Jahren des Mangels schlecht rasiert – passten nicht zu den glatten, kantigen Gesichtern auf den Propagandaplakaten. Unter dem abgetragenen Jackett trug Dahmen einen dicken Wollpullover, vermutlich wegen der Kälte in dem kleinen, mit alten Möbeln eingerichteten Büro.

Davies stellte sich vor und reichte ihm die Hand. Do play your part as a representative of a conquering power and keep the Germans in their place. Don’t show hatred. The Germans will be flattered … Sätze aus einem Handbuch für Mitglieder der Control Commission for Germany – der zivilen Administration der Militärregierung – gingen ihm durch den Sinn. Er musste mit Dahmen zusammenarbeiten, und er hatte die Erfahrung gemacht, dass die Deutschen besser kooperierten, wenn man sie nicht als Parias behandelte, sondern ihnen gegenüber Wertschätzung zeigte. Gleichgültig, was er selbst von ihnen hielt.

»Es tut mir leid, dass die Militärpolizei erst so spät vom Tod Küppers’ informiert wurde.« Dahmen setzte sich erst, nachdem Davies Platz genommen hatte. Er sprach mit dem leicht singenden Akzent des Rheinländers.

»Nun, das ist nicht Ihre Schuld«, erwiderte Davies höflich. »Wir, wie ja auch die deutsche Polizei, haben Küppers bisher nur als kleines Licht auf dem Schwarzmarkt betrachtet. Bei den Ausmaßen seines Lagers kann ich mir allerdings kaum vorstellen, dass es erst nach dem Krieg angelegt wurde. Ist denn aus der Zeit vor Mai 45 etwas über Küppers’ Schwarzmarktaktivitäten bekannt?«

»Ich habe deswegen schon mit den Kollegen von der Wirtschaftskriminalität gesprochen.« Dahmen schüttelte den Kopf. »Die beiden, die bereits vor Kriegsende mit Wirtschaftsvergehen befasst waren, wissen nichts über Küppers.«

»Nur zwei Beamte aus der Zeit vor dem Kriegsende sind in dem Dezernat beschäftigt?«

»Einige befinden sich noch in Kriegsgefangenschaft, andere kamen während des Krieges ums Leben, und drei oder vier wurden von der Militärregierung entlassen.« Dahmens Stimme klang neutral.

»Was ist mit Akten?«

»Ich lasse danach suchen. Viele wurden allerdings bei den Bombenangriffen auf die Stadt vernichtet.« Dahmen sagte nicht »bei den alliierten Angriffen«, aber unausgesprochen stand es im Raum. Er räusperte sich. »Die Nationalsozialisten waren, was den Schwarzmarkt betrifft, sehr streng. Ich bin sicher, wenn Küppers irgendwie auffällig geworden wäre, wäre er auch angeklagt worden. Eine andere Möglichkeit ist, dass ihn jemand von der Polizei, der Gestapo, der Stadtverwaltung oder der Gauleitung gedeckt hat.«

»Das habe ich auch schon in Erwägung gezogen.« Davies runzelte die Stirn. Bei diesem Ermittlungsansatz kam er im Moment nicht weiter. »Sie haben Durchschläge der Befragungen, die Ihre Aachener Kollegen durchgeführt haben?«

»Ja, die habe ich. Meine Mitarbeiter und ich gehen sie zurzeit durch. Eine heiße Spur gibt es bislang noch nicht, auch wenn die Tat auf einen Raubmord schließen lässt. Laut seinem Dienstmädchen und anderen Zeugen trug Küppers immer eine teure vergoldete Uhr von der Firma Lange aus Glashütte mit eckigem Ziffernblatt. Die fehlte bei dem Leichnam, und Geld wurde ebenfalls nicht gefunden. Ohne Geld unterwegs gewesen zu sein wäre für Küppers äußerst ungewöhnlich gewesen.«

»Haben die Aachener über die Dorfbewohner hinaus noch weitere Menschen befragt?«

»Jupp Küppers besaß einen kleinen Bauernhof in der Eifel, in der Nähe von Kall. Ein Kollege hat mit dem Knecht, der ihn verwaltet, einem gewissen Horst Sievernich gesprochen. Das Protokoll der Vernehmung ist allerdings nicht sehr aussagekräftig. Soll ich einen meiner Leute nach Kall schicken, um den Mann noch einmal zu befragen?« Dahmen hatte seine Befangenheit inzwischen abgelegt.

»Da ich ohnehin in die Eifel fahre, übernehme ich das selbst. Captain Mannings sagte mir, dass Küppers’ Wagen, ein Borgward, in der Nähe einer Tannenschonung gefunden wurde …«

»Das stimmt.« Dahmen nickte. »Küppers muss durch die Schonung zu der Scheune gegangen sein, wo er umgebracht wurde. Es ist der kürzeste Weg.«

»Hat ihn irgendjemand auf dem Weg dorthin gesehen?«

»Nach unserem derzeitigen Kenntnisstand leider nicht. Aber ein kleiner Junge hat ja wahrscheinlich die Tat beobachtet. Ich nehme an, Sie werden selbst mit ihm sprechen?«

»Ja, und eine Beamtin der Weiblichen Polizei begleitet mich.«

»Ich hoffe, es gelingt ihr, den Jungen zum Reden zu bringen. Kriminalkommissarin Gesine Langen, die Leiterin der Weiblichen Polizei, hat gutes Personal.«

Davies ging nicht weiter darauf ein. »Wie steht es mit Küppers’ Angehörigen – wurden die bereits befragt?«

»Seine direkten Angehörigen sind tot. Der Sohn starb im Winter 44 an der Ostfront. Die Frau und die Tochter kamen bei dem Bombenangriff im März 45 ums Leben.«

»Gibt es sonstige Verwandte?«

»Eine Schwester, Hilde Reimers. Sie lebt im Kölner Stadtteil Bocklemünd, hält sich aber im Moment, laut den Nachbarn, bei Verwandten im Bergischen auf. Wir versuchen, sie ausfindig zu machen. Mit Küppers’ Dienstmädchen habe ich selbst gesprochen. Sie hat natürlich gewusst, dass Küppers auf dem Schwarzmarkt aktiv war, beteuert aber, von dem Lager in Nippes keine Ahnung gehabt zu haben. Was ich ihr auch glaube.«

»Ich möchte mich selbst in Küppers’ Haus umsehen. Würden Sie mir die Schlüssel geben?«

Dahmen reichte Davies den Schlüsselbund und zögerte dann kurz. »Das Dienstmädchen schläft in einem Schuppen im Hof. Sie fragt, ob sie wieder dorthin zurückkehren darf. Sie hat keine andere Bleibe in der Stadt, und ich sehe eigentlich kein Problem darin. Die Wohnungssituation ist ja nun mal sehr schwierig …«

»Ich entscheide das, nachdem ich mich in dem Haus umgesehen habe«, erwiderte Davies knapp und stand auf. »Ich schlage vor, dass Sie und Ihre Leute sich vorerst auf die Vernehmungen von anderen Schwarzmarkthändlern konzentrieren. Die Protokolle leiten Sie bitte sofort an mein Büro in der Stadtkommandantur weiter.«

Sein Tonfall war scharf. Ungeachtet aller höflichen Floskeln zuvor war dies ein unmissverständlicher Befehl.

3. KAPITEL

Eifel

Der Wachtmeister stieß noch einmal seinen Klappspaten vor das Vorderrad des VW-Käfers und schaufelte eine Ladung Schnee beiseite. Bei der Begrüßung hatte er seinen Namen vor sich hin gebrummelt – Knauber, Kauder oder Kaufer. Friederike hatte nicht nachgefragt.

Das Grabwerkzeug abwehrbereit in der Hand, als sei dies eine Waffe und der Schnee der Feind, ließ er den Blick über die Senke gleiten. »Ich hoffe, das reicht, Fräulein. Bleiben Sie mal stehen. Ich probiere aus, ob die Räder greifen.« Er setzte sich hinter das Steuer und startete den Wagen mit offener Tür. Der Motor im Heck heulte auf, die Räder mit den Schneeketten drehten sich, griffen auf dem Untergrund, und der Käfer rollte einige Meter weiter.

Friederike hatte dem Wachtmeister beim Schneeschippen geholfen. Nun nahm sie die beiden Spaten und eilte hinter dem Auto her. Während der Motor weiterlief, verstaute sie die Werkzeuge auf der Rückbank und schlüpfte dann auf den Beifahrersitz. Wieder, wie schon in der guten Stunde Fahrt bis zu der unfreiwilligen Unterbrechung, wickelte sie sich in eine alte Militärdecke.

»Eine Stunde werden wir noch bis zu dem Dorf brauchen. Nee, was für ein Winter.« Da der Wachtmeister die Worte wie zu sich selbst gesagt hatte, verzichtete Friederike auf eine Antwort. Der Kollege war ein drahtiger, kleiner Mann, dessen Alter zwischen vierzig und sechzig liegen mochte. Eine unförmige, stark gerötete Nase ragte aus seinem Gesicht – Friederike vermutete, dass sie ihm einmal erfroren war. Er hatte kaum ein Wort gesagt, aber sie hatte sein Schweigen nicht als unfreundlich empfunden.

Seit einigen Minuten hatte sie keine Ruinen und keine von Bomben in den Wald geschlagenen Schneisen gesehen. Im Umkreis weniger Kilometer war die Landschaft unversehrt, als hätte es nie einen Krieg gegeben. Bewaldete Berge, die ihren Jahrmillionen alten vulkanischen Ursprung nicht verleugnen konnten, erstreckten sich bis zum Horizont. In der Sonne changierte der Schnee von zartem Rosa über blasses Orange bis Gelb, um sich in der Ferne in einem silbrigen Grau zu verlieren.

Friederike dachte an den weiten Himmel ihrer Heimat. In manchen Wintern hatten die zugefrorenen Seen und Kanäle eine Art zweites Land gebildet, auf dem man mit Pferdeschlitten weite Strecken hatte zurücklegen können. Hin und wieder sah sie bei diesen Fahrten Pflanzen im Eis – wie verzaubert waren sie ihr erschienen, und als Kind hatte sie immer ein Ziehen in der Magengrube verspürt, ob das Eis wohl halten würde. Dennoch hätte sie diese Fahrten um nichts in der Welt missen mögen. Manchmal war sie mit den Eltern, dem Bruder und den Großeltern an einem Haff spazieren gegangen. Die Wellen hatten das Eis am Ufer gebrochen und übereinandergeschichtet, und das schabende Geräusch, das dabei erklang, hatte sie immer noch im Ohr.

Aber dann kam jener Winter, in dem Schnee und Eis keine Freude und keinen angenehmen Kitzel mehr bereiteten, sondern zum tödlichen Feind wurden. Als Friederike sich daran erinnerte, verging ihre heitere Stimmung jäh.

Eine Weile später passierten sie ein ausgebranntes Haus. Vermutlich hatten es amerikanische Soldaten bei ihrem Vorrücken von Westen her in Brand gesetzt.

Unruhig sah Friederike auf ihre zerschrammte Armbanduhr. Eine halbe Stunde war vergangen, seit sie den Wagen frei geschaufelt hatten. Die Militärfahrzeuge der Engländer hielten den schlechten Straßenverhältnissen bestimmt viel besser stand als der Käfer. Sie hoffte, dass der britische Offizier nicht allzu lange auf sie warten musste.

Eifel, bei Kaltenberg

Auf dem Weg zum Waldrand blieb Richard Davies stehen und drehte sich um. Der Schnee verbarg gnädig die Kriegszerstörungen. Aus dieser Perspektive war das Dorf Kaltenberg eine Postkartenidylle, so, wie man sich in England das ländliche Deutschland im Winter vorstellte. Fachwerkhäuser und Eiszapfen an den Dächern, die in der Sonne glitzerten. Eine trügerische Idylle … Im Januar 1933, vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, hatte es hier wahrscheinlich genauso ausgesehen.

Frau Reinnardt, die Bäuerin, in deren Haus der Junge lebte, war entgegenkommend und hilfsbereit gewesen, und Richard Davies hatte sie nicht unsympathisch gefunden. Aber wie bei allen Deutschen, die älter als zwanzig Jahre waren, hatte er sich in ihrer Gegenwart die Frage gestellt, wie sie sich wohl in den Jahren zwischen 1933 und 1945 verhalten hatte. War sie Parteimitglied gewesen? Hatte sie Juden und andere von den Nazis Verfolgte gehasst und denunziert? Die anfänglichen Erfolge der Wehrmacht bejubelt? Hitler verehrt? Oder hatte sie dem Regime distanziert bis ablehnend gegenübergestanden? Wie mittlerweile ja angeblich so viele Deutsche.

Mit einem flauen Gefühl im Magen stapfte Davies weiter den steilen Hang hinauf. An das Feld grenzte ein Laubwald. Ein Trampelpfad führte Davies zwischen den Bäumen hindurch zu einer Wiese. Inmitten von Apfelbäumen stand die Scheune, in der der Alteisen- und Schrotthändler ermordet worden war. Auf der anderen Seite befand sich die Tannenschonung, an deren Rand Küppers den Borgward abgestellt hatte. Sein Heim war ähnlich mit Waren vollgestopft gewesen wie das Lager, doch hatte ihm, Davies, der Besuch dort auch nicht weitergeholfen.

Davies konsultierte seine Landkarte. Der Weg durch die Tannenschonung endete an einer Straße, die man vom Dorf aus nicht sehen konnte. Wahrscheinlich waren auch Küppers’ Mörder von dort gekommen.

Auf dem gestampften Lehmboden der Scheune befanden sich Markierungen, wo der Tote gelegen hatte. Davies hob den Kopf und blickte nach oben. Zwischen den Brettern des Heubodens, wo der Junge gefunden worden war, klafften breite Ritzen. Ja, Peter Assmuß konnte den Mord beobachtet haben.

Richard Davies vermochte sich auf der Ebene des Verstandes vorzustellen, wie schrecklich dies für das Kind gewesen sein musste. Aber er war zu müde und zu abgestumpft, um wirklich mit ihm zu fühlen. Zu viele Kinder hatten in den vergangenen Jahren Furchtbares erlebt.

Nachdem er die Scheune wieder verlassen hatte, glaubte er plötzlich, beobachtet zu werden. In der Stille erklang ein Rascheln zwischen den Bäumen. Er blieb stehen und umfasste das Pistolenhalfter an seinem Gürtel. Äste splitterten. Ein Hirsch erschien am Waldrand und zog sich, als er den Menschen witterte, sofort wieder zwischen die Bäume zurück.

Richard Davies trat den Rückweg an. Als er das Dorf Kaltenberg erreicht hatte, glaubte er, in der Ferne das Geräusch eines Motorrads zu hören. Ganz kurz nur, so dass er sich nicht sicher war, ob er sich nicht getäuscht hatte.

Ein zerschossenes Ortsschild markierte die Stadt Schleiden. Wieder blickte Friederike nervös auf ihre Armbanduhr. Seit sie und der Wachtmeister in der Schneewehe stecken geblieben waren, war fast eine Stunde vergangen. Sie empfand den Anblick als trostlos. Viele Häuser waren von Bomben beschädigt und bislang nur notdürftig wieder instand gesetzt worden. Über der Stadt ragte die Ruine einer Burg oder eines Schlosses auf.

Hinter dem Ort wand sich die Straße durch Wald einen Hügel hinauf. Daran schloss sich eine weitläufige, gewellte Fläche an. Das Flirren der Schneedecke ging am westlichen Himmel in einen Dunststreifen über. Vereinzelte morsche Stangen markierten den Verlauf der Straße.

Das Dorf Kaltenberg, ihr Ziel, wurde von einer Kirche mit spitzem Turm beherrscht. Dahinter erstreckte sich, jenseits von Feldern und Wiesen, wieder ein Wald. Der Wachtmeister fluchte, als der Käfer in eine Verwehung geriet und zu schlingern begann, doch er konnte ihn auf der Straße halten.

Den Ortseingang flankierten zwei große Schneehaufen, und Friederike bemerkte erst im Näherkommen, dass sich darunter eine Kapelle und ein Baum verbargen. Ein Stück weiter sah sie vor einem unbeschädigten Fachwerkhaus einen Jeep stehen. Daran lehnte ein Mann, der die charakteristische rote Uniformmütze der Military Police und weiße Gamaschen über seinen Halbschuhen trug und rauchte.

»Da ist der Tommy ja schon.« Eine gewisse Geringschätzung schwang in der Stimme des Wachtmeisters mit. Er brachte den Käfer dicht vor dem Jeep zum Halten.

Der Militärpolizist war jünger, als Friederike zuerst vermutet hatte. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Graue Augen unter rotblonden Brauen musterten sie und ihren Fahrer distanziert. Er hatte ein längliches, gut geschnittenes Gesicht mit einer Kerbe im Kinn. Seine Haut war sehr hell, und Friederike fand sein Aussehen sehr englisch. Die Abzeichen auf seiner Mütze und den Schulterklappen des khakifarbenen Mantels wiesen ihn als Leutnant aus. Sie war sich unsicher, ob er von ihr erwartete, dass sie ihn militärisch grüßte, und führte linkisch die Hand an ihre Mütze.

»Police … Police Constable Matthée from the Cologne Women Police, Sir.« Sie hatte keine Ahnung, ob der Rang einer Polizeiassistentenanwärterin dem eines Constable entsprach.

»Lieutenant Davies.« Er reichte ihr nicht die Hand, nickte ihr aber höflich zu, ehe er sich an ihren Fahrer wandte. »Fräulein Matthée wird mit mir nach Köln zurückkehren, Wachtmeister. Bei der Kirche gibt es einen Gasthof. Essen Sie dort etwas, bevor Sie den Rückweg antreten.« Sein Deutsch kam überraschend. Er sprach fehlerlos, wenn auch mit einem starken Akzent.

»Herr Leutnant.« Der Wachtmeister salutierte.

Friederike folgte Lieutenant Davies durch einen Vorgarten in das Fachwerkhaus, in einen niedrigen Flur. Dort öffnete er mit einer Selbstverständlichkeit, als ob das Haus ihm gehörte, die Tür zu einem Wohnzimmer und ließ Friederike den Vortritt.

Ein Kohleofen strahlte Wärme aus, die jedoch gegen die Kälte im Raum – wahrscheinlich war er wochenlang nicht geheizt worden – nicht ankam. Die Einrichtung war kleinbürgerlich. Um einen Tisch, auf dem eine Decke mit geklöppelten Einsätzen lag, standen einige Stühle. Eine sehr farbenfrohe Kopie von Leonardo da Vincis Abendmahl hing über einem riesigen, mit altrosa Samt bezogenem Sofa. Die beiden Sessel waren ebenso klobig wie die Couch. Hinter den Glastüren des Büfetts präsentierten sich vergoldete Sammeltassen den Besuchern.

Mit einer Handbewegung forderte Davies Friederike auf, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er selbst wählte einen der Sessel.

»Was wissen Sie über den Fall, Fräulein Matthée?«

»Bislang nur, dass ein sechs Jahre alter Junge, der aus Ostpreußen stammt, einen Mord in einer Scheune beobachtet haben soll und dass das Opfer ein Kölner Alteisen- und Schrotthändler ist.« Sehr viel mehr würde sie von dem Lieutenant wahrscheinlich auch nicht erfahren. Weibliche Polizeibeamte wurden immer nur zu einzelnen Vernehmungen hinzugezogen und ermittelten nie selbst in einem Fall.

»Der Name des Jungen ist Peter Assmuß. Seit letztem Herbst lebt er mit seiner Mutter auf diesem Bauernhof. Die beiden stammen aus einem Ort namens Allenstein. Der Vater gilt als vermisst. Als der Junge vorgestern Abend nicht zum Essen kam, suchten die Reinnardts – das ist die Familie, der der Hof gehört – und seine Mutter nach ihm. Glücklicherweise erinnerte sich Frau Reinnardt daran, dass Peter ihr einmal etwas von der Scheune im Wald erzählt hatte. Dort fanden sie die Leiche des Schrotthändlers Jupp Küppers und oben auf dem Heuboden – halb erfroren – den Jungen. Seitdem hat er kein Wort mehr gesprochen. Auch der Kriminalkommissar der Aachener Kriminalpolizei, der gestern versucht hat, ihn zu befragen, bekam kein Wort aus ihm heraus.«

»Haben Sie den Jungen schon gesehen?«

»Nein, ich wollte ihn nicht noch mehr verstören. Ich habe bislang nur mit der Bäuerin geredet.«

»Nicht mit Peters Mutter?« Sofort bedauerte Friederike ihre vorlaute Frage. Der englische Offizier wirkte überrascht, doch er antwortete ihr. »Dazu hatte ich bislang noch keine Gelegenheit. Frau Assmuß ist heute wieder zur Arbeit gegangen.«

Bestimmt hat sie Angst, sonst ihre Stelle zu verlieren, dachte Friederike.

»Das ist übrigens das Mordopfer.« Davies schlug eine dünne Akte auf. An einer Karteikarte, auf der als Wohnort Körnerstraße/Ehrenfeld und ein Geburtsdatum standen, war ein schwarzweißes Foto befestigt. Der Mann darauf war Mitte vierzig. Sein rundliches Gesicht unter dem schütteren Haar drückte Lebenslust aus.

»Ich muss wohl nicht hervorheben, wie wichtig es ist, dass Sie den Jungen zum Sprechen bringen. Er ist der einzige Zeuge der Tat.«

»Ich bin mir meiner Verantwortung sehr bewusst. Wie …« Sie zögerte kurz. »Wie wurde der Alträucher denn getötet?« Sie wollte sich schon verbessern und stattdessen das Wort »Schrotthändler« sagen, doch Davies schien den kölnischen Ausdruck aus dem Zusammenhang zu erschließen.

»Er wurde erschlagen.« Seine Antwort war nüchtern und emotionslos.

»Was bedeutet, dass der oder die Täter nicht befürchten mussten, sich mit dem Blut des Opfers zu beflecken«, hörte sich Friederike zu ihrer eigenen Verwunderung sagen.

»Genau. Sie scheinen während Ihrer Ausbildung gut aufgepasst zu haben, Fräulein Matthée.« Friederike glaubte, eine gewisse Ironie in seinen Worten mitschwingen zu hören, und sie errötete.

»Ein Mordwerkzeug wurde nicht gefunden, was darauf hindeuten könnte, dass die Tat geplant war.«

»Wer ist denn von der Kölner Kriminalpolizei für den Fall zuständig?«, fragte sie schüchtern.

»Hauptkommissar Dahmen.«

»Oh …« Friederike kannte ihn vom Sehen. Er hatte einen ausgezeichneten Ruf, und Gesine Langen schätzte ihn sehr.

»Jetzt lassen Sie uns zu dem Jungen gehen. Er befindet sich mit Frau Reinnardt in der Küche.« Lieutenant Davies stand auf. Ein unmissverständliches Zeichen, dass das Gespräch für ihn beendet war.

4. KAPITEL

Eifel, Kaltenberg

Peter Assmuß half der Bäuerin, Bucheckern zu schälen. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er Friederike und den Lieutenant zuerst gar nicht bemerkte. Langsam und sorgfältig, als würde er ein schwieriges Handwerk ausüben, öffnete er die stacheligen Schalen mit einem Messer und drückte die Bucheckern in die Blechschüssel auf seinem Schoß. Friederike erhaschte einen Blick auf ein blasses Gesicht unter sehr kurz geschnittenen Haaren.

»Peter, da ist die Polizei«, sagte Frau Reinnardt freundlich. »Du musst dem Fräulein und dem Herrn antworten.«

Friederike wünschte sich, die Frau hätte nichts gesagt, denn jetzt wandte der Junge den Kopf, und Panik verzerrte seine Züge. Als er aufsprang, fiel die Blechschüssel scheppernd auf den Steinboden, und die Bucheckern kullerten über die Fliesen. Im nächsten Moment war er unter dem Tisch verschwunden.

»Ach, Peter, das Fräulein und der Herr meinen es doch nur gut mit dir. Du brauchst dich nicht zu fürchten.« Die Bäuerin war eine untersetzte Frau Ende fünfzig und wirkte sehr mütterlich. Ihre graue Kleidung war einfach und zweckmäßig, die Schürze vom vielen Waschen ausgebleicht. Sie wandte sich Friederike und Davies zu. »Ich weiß einfach nicht, was ich mit Peter machen soll.« Ihre Stimme klang hilflos und aufrichtig bekümmert.

Friederike bückte sich und spähte unter den Tisch. Der Junge hatte die Arme um die Knie geschlungen. Als er bemerkte, dass Friederike ihn ansah, rutschte er noch weiter zurück. Rasch richtete sie sich wieder auf.

»Würden Sie mich bitte mit Peter allein lassen?« Sie blickte Davies und die Bäuerin an.

»Nun, ich weiß nicht …« Der Lieutenant wirkte unschlüssig. »Ich wäre gern bei dem Gespräch dabei.«

»Bitte, ich glaube, es ist am besten so.« Friederike wusste selbst nicht, woher sie den Mut nahm, dies zu sagen. »Wir machen dem Jungen Angst. Ich werde Ihnen danach ausführlich Bericht erstatten.« Wenn der Junge überhaupt bereit war, mit ihr zu sprechen …

Schließlich nickte Davies. Er griff in eine Tasche seines Militärmantels und holte eine Tafel Schokolade heraus. »Vielleicht hilft dies ja, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen.«

»Aber die Bucheckern …«, wandte Frau Reinnardt ein.

»Darum kümmere ich mich.« Friederike wartete, bis die Bäuerin und der Lieutenant die Küche verlassen hatten. Neben dem Kohlenherd entdeckte sie einen Besen und eine Kehrichtschaufel. Langsam begann sie, die Bucheckern zusammenzufegen. Sie hoffte, dass diese alltägliche Tätigkeit Peter half, sich an ihre Gegenwart zu gewöhnen, und ihr selbst verschaffte das Kehren Zeit, um nachzudenken. Denn sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, um ihn zum Sprechen zu bewegen.

Nachdem Friederike die Bucheckern in die Blechschüssel geschüttet hatte – sie waren als Nahrung viel zu wertvoll, um weggeworfen zu werden –, öffnete sie die Stanniolverpackung der Schokolade. Ihr Magen verkrampfte sich vor Hunger, und sie musste sich beherrschen, um nicht ein Stück davon abzubrechen und es sich in den Mund zu schieben. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal Schokolade gegessen hatte. Zwischen den Schalen auf dem Tisch entdeckte sie ein kleines Holzpferd – vermutlich Peters Spielzeug. Sie nahm auch dieses in die Hand, kauerte sich auf die Fliesen und schob beides zu Peter.

»Peter, hier ist dein Pferd. Und Schokolade, nur für dich.«

Der Junge schnappte sich das Spielzeug und die Süßigkeit und nahm dann seinen vorigen Platz wieder ein. Während er sich die Schokolade in den Mund stopfte, wandte er den Blick nicht von Friederike ab. Sein kleines Gesicht war so mager, dass es ganz spitz wirkte, und seine Augen blickten verschreckt. Friederike konnte sich nur zu gut vorstellen, was er während der Tage und Wochen der Flucht hatte sehen müssen und welche Dämonen ihn bedrängten. Sich an einem sicheren Ort zu verkriechen, alles Böse ausblenden zu können – wünschte sie sich das nicht auch oft genug?

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