Wunder gibt es immer wieder - Beate Sauer - E-Book
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Wunder gibt es immer wieder E-Book

Beate Sauer

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Beschreibung

Die Geschichte einer deutschen Familie, eines Mediums, das alles verändert, und einer Generation furchtloser Frauen

1953 bezaubert die Krönungszeremonie von Elizabeth II. die Menschen vor den Fernsehbildschirmen. Das neue Medium bietet einen Blick in die große weite Welt, wie es ihn nie zuvor gegeben hat. Auch die siebzehnjährige Eva Vordemfelde ist begeistert von der jungen Königin, von der frischen Brise einer neuen Zeit und der Aussicht auf ein aufregendes, unabhängiges Leben. Ihrem Vater passen diese Ambitionen überhaupt nicht. Ein junges Mädchen gehört nach Hause. Als Eva sich auch noch in den unkonventionellen Journalisten Paul verliebt, setzt ihr Vater alles daran, seine Tochter den konservativen Regeln zu unterwerfen, die er für richtig hält. Doch Eva lässt sich nicht unterkriegen. Und als sie die unglaubliche Chance erhält, bei der Kostümbildnerin der »Sissi«-Filme zu lernen, setzt sie alles daran, ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

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Seitenzahl: 643

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Das Buch

1953: Ein neuartiger kleiner Flimmerkasten namens Fernseher sorgt für frischen Wind in den deutschen Wohnzimmern. Bezaubert verfolgt die siebzehnjährige Eva darin die Krönung von Elizabeth II. Vor allem das elegante Kleid und die majestätische Schleppe, die die junge Thronfolgerin erst wie eine Königin aussehen lassen, haben es ihr angetan. So etwas möchte sie auch vollbringen: Menschen mit selbst entworfener Kleidung verwandeln, Magie durch Kostüme Wirklichkeit werden lassen.

Doch sie hat nicht mit dem Widerstand ihres konservativen Vaters gerechnet. Der will den Aufwind des Wirtschaftswunders nutzen, um schnell Karriere zu machen, da stehen ihm die albernen Pläne seiner vorlauten Tochter nur im Weg. Kurzerhand besorgt er ihr eine Stelle als Sekretärin.

Das lässt sich Eva nicht gefallen. Sie weiß, was sie will - und auch, wen sie will: Der gutaussehende Radiojournalist hat es ihr besonders angetan. Gerade als sich ihr Traum zu erfüllen scheint, wird ihr Vertrauen zu Paul auf eine harte Probe gestellt. Eva muss sich entscheiden: Liebe oder Selbstverwirklichung.

Die Autorin

Beate Sauer studierte katholische Theologie und Philosophie und absolvierte danach eine journalistische Ausbildung. Dabei wurde ihr klar, dass ihr Herz noch viel mehr für selbst ausgedachte Geschichten schlägt. Mit ihren historischen Romanen und Kriminalromanen hat sie bereits eine große Fangemeinde erobert. Als Kind schaute sie in den Siebzigerjahren gebannt Ich wünsch mir was mit Kater Mikesch und Biber Schlurf, Robin Hood, Bezaubernde Jeannie und Sissi. Die Begeisterung für Film und Fernsehen begleitete Beate Sauer ihr ganzes Leben lang und hat sie zur ihrer Fernsehschwestern-Saga bei Heyne inspiriert.

Beate Sauer

Wunder gibt es immer wieder

Roman

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 06/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friederike Römhild

Covergestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von Arcangel (Laura Arcangel); ullstein bild (ullstein bild - Leber); Shutterstock.com (suns07butterfly)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-29020-7V003

www.heyne.de

Prolog

2. Juni 1953

»Verdammt, verdammt, verdammt!« Eva schleuderte das Kopfkissen an die Wand des Hotelzimmers. Sie war nahe daran, vor Zorn und Enttäuschung mit dem Fuß aufzustampfen. Einzig ihr Alter von siebzehn Jahren hielt sie davon ab. Sie war kein Kind mehr, auch wenn ihr Vater sie wie eines behandelte und einfach über sie bestimmte.

Sie hatte sich so sehr auf die Zeit mit ihrer Cousine Margit gefreut. Eigentlich war es mit ihren Eltern abgesprochen gewesen, dass sie von dem kleinen Ort an der Bergstraße, wo sie gerade mit ihrer Familie in den Ferien war, für ein paar Tage zu ihrer Cousine nach Frankfurt reiste. Eigentlich …

Aber daraus wurde nichts, weil ihr Vater bei einem zufälligen Anruf in der Zeitung erfahren hatte, dass sein neuer Chefredakteur alle Redaktionsmitglieder samt ihren Familien für das kommende Wochenende zu einer Gartenparty an den Starnberger See einlud. Und wegen dieser paar Stunden wollte ihr Vater unbedingt vorzeitig nach München zurückkehren, und sie – Eva – musste auf die Tage in Frankfurt verzichten. Als ob es den Chefredakteur im Geringsten interessierte, ob sie mit zu dem Fest kam oder nicht.

Ihr Vater hatte sich jedoch in den Kopf gesetzt, mit der ganzen Familie dort zu erscheinen, und wie immer hatte sich alles seinen Wünschen unterzuordnen. Eva schluckte schwer. Es war so bitter, dass ihre Mutter dies klaglos gutgeheißen und sich überhaupt nicht für sie eingesetzt hatte. Nur einen um Verständnis bittenden Blick hatte sie ihr zugeworfen. Wie immer. Wenn sie unter vier Augen waren, würde sie ihr bestimmt wieder einmal sagen, wie sehr Evas Vater sich wünschte, Karriere bei der Zeitung zu machen und dass diese Party eine wunderbare Gelegenheit sei, sich mit dem neuen Chefredakteur des Münchner Abend gutzustellen. Eva wollte das nicht mehr hören. Sie könne Margit doch ein anderes Mal besuchen, hatte ihre Mutter sie zu trösten versucht.

Eva ließ sich auf das Bett sinken und starrte unglücklich vor sich hin. Es ging nicht nur um die unbeschwerte Zeit mit Margit, die Einkaufsbummel und Kinobesuche und die Stunden in schönen Cafés, die vertrauten Gespräche und das Kichern über irgendwelchen Unsinn. All das, was sie den Vater und ihre ungeliebte Arbeit als Sekretärin einmal vergessen ließ. Da war auch noch jenes Fest, zu dem Margit sie mitbringen durfte. Dem hatte sie so sehr entgegengefiebert. Es war der Kostümball, mit dem eine Freundin der Cousine ihren Geburtstag feierte.

Margit hatte ihr von dem Anwesen vorgeschwärmt. Eine Villa mit Erkern und Türmchen, in einem verwunschenen, parkartigen Garten im Taunus gelegen. Lampions würden in den alten Bäumen hängen, und ganz bestimmt würde es Champagner geben.

Allein das Ambiente war schon so verheißungsvoll. Aber am meisten hatte sich Eva darauf gefreut, ihr Kostüm vorführen zu dürfen. Wochenlang hatte sie überlegt, Entwürfe gezeichnet und sie wieder verworfen, in jeder freien Minute bei ihrer Arbeit hatte sie davon geträumt. In der Mittagspause war sie oft durch die Geschäfte in der Münchner Innenstadt geschlendert und hatte nach den passenden Stoffen gesucht.

Eva konnte nicht widerstehen. Mit einem dicken Kloß im Hals stand sie auf, trat an den Kleiderschrank und nahm das Kostüm heraus. Sehnsüchtig strich sie darüber. Die dunkelrote Seide des Oberteils mit den Puffärmeln und der breiten Schärpe fühlte sich angenehm kühl unter ihren zartgliedrigen Händen an und der weiße, rot getupfte Musselin des bodenlangen Rocks federleicht. Für die Stoffe hatte sie einen halben Monatslohn aufwenden müssen, und das Kostüm zu schneidern hatte sie, obwohl sie wirklich gut nähen konnte, an ihre Grenzen gebracht. Doch es war wunderschön geworden.

Als Eva das Kostüm wieder in den Schrank hängte und die Tür schloss, schossen ihr Tränen der Enttäuschung in die Augen. Sie hatte schon öfter Kleider für sich entworfen, aber nie hatte sie das so glücklich gemacht, wie dieses Kostüm zu zeichnen und zu nähen. Sie verstand selbst nicht, warum es so war.

Die Stimmen ihrer Zwillingsschwestern draußen auf dem Flur schreckten Eva auf, und sie blinzelte die Tränen energisch weg. Die beiden sollten nicht sehen, dass sie geweint hatte. Gleich darauf stürmten sie in ihr Zimmer. Sie wussten nichts von der Auseinandersetzung Evas mit dem Vater. Als es geschah, spielten sie fröhlich im Garten des Hotels.

»Eva, Eva, komm mit …« Franzi fasste sie an der Hand und Lilly baute sich aufgeregt vor ihr auf. »Papa und Mama sind schon im Saal. Gleich wird die Krönung der Kwehn im Fernsehen gezeigt. Wir wollen das doch alle zusammen sehen.« Die Achtjährige hatte sich die korrekte Aussprache von Queen nicht gemerkt. Eva musste unwillkürlich lächeln.

Über ihrem Ärger und ihrer Enttäuschung hatte sie völlig vergessen, dass das Hotel einen der teuren neuen Fernsehapparate besaß. So genossen die Gäste das Privileg, die Übertragung der Krönungszeremonie zeitgleich mitverfolgen zu können. Das war nur im Nordwesten Deutschlands und in einem Teil von Hessen möglich, was mit der Reichweite von irgendwelchen Funkwellen zusammenhing. Ihr Vater hatte es erklärt, aber Eva hatte sich die Gründe nicht gemerkt. Sie hatte sich auf das epochale Ereignis und auf beeindruckende Bilder gefreut. Durch den Streit mit ihrem Vater war ihr jede Lust vergangen.

»Ich hab’s mir anders überlegt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Zeremonie interessiert mich überhaupt nicht. Ich lese lieber was.«

»Aber Eva …« Die Gesichter der kleinen Schwestern spiegelten maßlose Enttäuschung.

»Du hast uns doch versprochen, für unsere Papierpuppen ein Königinnenkleid zu malen«, protestierte Franzi.

»Ja, das hast du!«, bekräftigte Lilly, um ihren Mund zuckte es weinerlich.

Eva wollte erwidern, dass sie so ein festliches Kleid auch malen konnte, ohne die Krönung im Fernsehen verfolgt zu haben. Aber dann bremste sie sich. Sie hatte die Zeremonie wirklich sehen wollen. Sollte sie sich auch dieses Vergnügen von ihrem Vater verderben lassen? Nein, das würde sie nicht.

»Gut, ich komme mit«, gab sie nach.

»Und nach der Krönung malst du uns das Kleid?« Franzi sah sie erwartungsvoll an.

»Das kann ich noch nicht versprechen.« Eva zauste ihr zärtlich durchs Haar. »Vielleicht mache ich es auch erst morgen.« Sie musste ihrer Cousine unbedingt einen Brief schreiben, dass sie nicht kommen konnte, und ihr das Herz ausschütten.

Franzi gab sich mit dieser Antwort zufrieden, und die beiden Schwestern rannten vor Eva her, den Flur entlang und dann die Treppe hinunter. An der Tür des Saals blieb Eva stehen. Fünfzig Menschen hatten sich dort bestimmt schon versammelt. Auf dem Podium an der Stirnseite stand der Fernsehapparat. Er hatte Ähnlichkeit mit einer Kommode, in die eine Art Scheibe eingelassen war, der Bildschirm.

Von den hinteren Tischen konnte man gewiss nicht viel sehen. Ihr Vater hatte für sie alle einen direkt vor dem Fernseher ergattert. Ob im Restaurant, Kino oder Theater, er bekam eigentlich immer die besten Plätze. Auch wenn Eva nie so recht verstand, wie er das schaffte. Vielleicht, weil er einfach der felsenfesten Überzeugung war, dass ihm das zustand.

Für einige Augenblicke betrachtete Eva ihre Familie aus der Ferne, wie Fremde. Ihre Eltern waren das, was man ein »schönes Paar« nannte. Ihr Vater, Axel Vordemfelde, legte die Arme um ihre kleinen Schwestern, sagte etwas zu ihnen, und die beiden strahlten ihn an. Mit Mitte vierzig war er immer noch ein attraktiver Mann, er hatte ein ausdrucksvolles Gesicht, das man mit seinem kräftigen Kinn und den markanten Wangenknochen ein paar Jahre zuvor noch als »nordisch« bezeichnet hätte. Nur war er dunkelhaarig und nicht blond. Das Haar ihrer Mutter Annemie, ihren richtigen Namen Annemarie verwendete kaum jemand, schimmerte dagegen hell. Fast zehn Jahre jünger als Evas Vater, war sie zierlich und schlank, und ihr schönes Gesicht mit den großen blauen Augen erinnerte Eva wieder einmal an eine Elfe.

Lilly sah ihr sehr ähnlich, während Franzi und sie selbst mehr ihrem Vater glichen. Nur die blauen Augen hatte Eva von der Mutter geerbt. Trotz ihres zarten Aussehens hatte sich ihre Mutter im Krieg und in den schwierigen Jahren danach behauptet. Als Hilfskrankenschwester, Köchin und selbst als Straßenbahnschaffnerin hatte sie geschuftet, um ihre Töchter und sich durchzubringen. Und das, obwohl sie aus einer großbürgerlichen Familie stammte und nie für ihren Lebensunterhalt hatte arbeiten müssen. Wenn Eva ihre Mutter beim Hamstern ins Münchner Umland begleitet hatte, hatte sie mit den Bauern hart um jede Kartoffel und jedes Stück Brot gefeilscht. Damals war sie so mutig und stark. Eva war stolz auf ihre Mutter gewesen.

Seit ihr Vater vor drei Jahren aus der russischen Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückgekehrt war, hatte die Mutter ihre Selbstständigkeit jedoch wieder verloren – fast wie ein Schmetterling, der sich in eine Raupe zurückverwandelt hatte. Sie sah zu ihrem Gatten auf und beugte sich selbstverständlich seinem Willen, so wie Eva es auch bei vielen Müttern ihrer Freundinnen beobachtet hatte. Ob das auch einmal ihr Schicksal sein würde, sich als Ehefrau ganz aufzugeben? Der Gedanke erschreckte Eva.

Ein Kellner trat an ihren Tisch, und Axel Vordemfelde gab seine Bestellung auf. Ihre Mutter bemerkte Eva und winkte ihr zu. War ihr Gesichtsausdruck ein wenig schuldbewusst, weil sie sie vorhin überhaupt nicht unterstützt hatte? Eva schluckte ihren Groll hinunter, trotz allem liebte sie ihre Mutter sehr.

Oben auf dem Podium machte sich der Hotelbesitzer an dem Fernsehapparat zu schaffen. Eine von Menschenmassen gesäumte Straße, das englische Parlament und Big Ben erschienen auf dem Bildschirm, ehe sich die Aufnahme verzerrte und nur noch Geflimmer zu sehen war.

Während der Hotelbesitzer hektisch an irgendwelchen Knöpfen drehte, näherte sich Eva ihrer Familie.

»Ach, Eva, da bist du ja!« Die Stimme des Vaters klang neutral, wie fast immer, wenn sie sich gestritten hatten. Als hätte es die Auseinandersetzung gar nicht gegeben. »Ich hab dir einen Cocktail bestellt, so etwas trinkst du doch gerne.«

»Und wir bekommen Limonade und Eis.« Lilly schmiegte sich an den Vater.

Eva beschloss, den Cocktail nicht anzurühren. An Weihnachten hatte sie ihren ersten zu Hause genießen dürfen. Das teure Getränk war in der Öffentlichkeit eigentlich Erwachsenen vorbehalten. Bestimmt sollte es ihr die erzwungene Rückkehr nach München versüßen. Aber so einfach war sie nicht zu versöhnen.

»Stellt euch vor, über zweihundert Millionen Menschen auf der ganzen Welt schauen sich die Krönung vor Fernsehgeräten an«, sagte der Vater. Seine Stimme klang ehrfürchtig.

»Woher weißt du das?« Evas Mutter sah ihn fragend an.

»Ich hab natürlich die Nachrichten in der Zeitung und im Radio verfolgt.«

»Hast du die Kwehn mal getroffen?«, fragte Franzi.

»Nein, aber ihren Vater, König Georg VI., in London, in seinem Palast.«

»Hat er seine Krone aufgehabt?«

»Das war bei einem Empfang für den deutschen Botschafter, da trägt der König keine Krone.«

Eva kämpfte gegen die wieder in ihr aufsteigende Gereiztheit an. Ihr Vater war vor dem Krieg ein paar Jahre lang Auslandskorrespondent einer großen Berliner Zeitung gewesen. Eine Zeit, von der er oft erzählte. Viele berühmte Menschen hatte er damals getroffen. Verglichen damit war die Stelle als Journalist beim Münchner Abend sicher langweilig. Aber musste er ihr deshalb die Tage mit der Cousine verwehren?

»Die Queen ist übrigens schon seit dem Tod ihres Vaters die Königin, auch wenn sie erst heute gekrönt wird«, erklärte ihr Vater. Franzi öffnete den Mund, wohl um zu fragen, weshalb das so war. Aber da kam schon der Kellner und brachte die Getränke. Die Zwillinge fielen über das Eis her, Vater und Mutter stießen mit Sekt an. Trotz des bittenden Blicks der Mutter ließ Eva den Cocktail stehen. Dann wurde endlich das Fernsehbild wieder klar. Die Gespräche im Saal verstummten, und Eva setzte sich unwillkürlich aufrechter hin, fasziniert von den acht Schimmeln mit glänzenden Geschirren, die eine goldene Kutsche – der Kommentator nannte sie Staatskarosse – zogen und vor der Westminster Abbey anhielten. Die Geschirre der Pferde waren ebenfalls golden, berichtete er weiter. Trotz des Schwarz-Weiß-Bildes sah Eva das genau vor sich.

»Das ist eine Kutsche wie aus dem Märchen«, flüsterte Lilly hingerissen.

»Ja, da hast du recht.« Eva strich ihr über den Rücken. Ihre Mutter beugte sich vor, hielt selbstvergessen ihr Sektglas in der Hand.

Männer in prächtigen Uniformen eilten herbei und halfen der Königin aus der Kutsche.

»Ach, ist die jung.«

»Und so klein und zierlich.«

»Und so hübsch.« Enthusiastische Rufe und begeisterte Seufzer wurden im Saal laut.

Ja, die Königin war wirklich sehr jung und zierlich. Sie trug ein weißes, wunderschön mit funkelnden Diamanten, Perlen und Stickereien verziertes Kleid – die Stickereien symbolisierten Blumen aus den Ländern des Commonwealth, erläuterte der Kommentator –, und eine lange, mit Hermelin besetzte Schleppe hing um ihre Schultern.

Das Gesicht der jungen Königin Elizabeth wirkte ernst und in sich gekehrt, als sei sie sich der vor ihr liegenden Aufgabe nur zu sehr bewusst. Langsam schritt sie durch das Kirchenschiff, eine Prozession aus ebenfalls prächtig gekleideten Männern folgte ihr.

Gebannt sah Eva zu, wie die Königin nun auf einem thronartigen Stuhl aus Holz Platz nahm. Ihre Kehle war ganz trocken geworden, so sehr staunte sie. Und so entschied sie, doch einen Schluck von dem Cocktail zu nehmen. Die kleinen Schwestern schmiegten sich mit großen Augen an die Eltern. Selbst der Vater beugte sich gespannt vor, legte seinen Arm wieder um Franzi und Lilly und zog sie an sich heran.

Im Saal wurde es ganz still, als die junge Königin gelobte, stets ihrem Land zu dienen. Für ein paar Momente war unter der Stimme des Kommentators ihre eigene sehr hell und klar zu hören. Die Zeremonie nahm ihren Lauf. Während der Salbung war die Königin nicht im Bild, die Kameras zeigten stattdessen Aufnahmen der Kirche, da diese Augenblicke zu heilig waren und nicht von der Öffentlichkeit gesehen werden durften.

Jubel ertönte, als der Erzbischof von Canterbury schließlich die englische Krone auf das Haupt der Königin setzte. Sie schien fast zu schwer für Elizabeth zu sein, doch sie hielt sich aufrecht und strahlte eine ganz eigene Würde aus. Die Adeligen in der Kathedrale erhoben sich von ihren Sitzen, schwenkten ihre Kronen und huldigten ihr mit Jubelrufen.

Diese junge, zierliche Frau war nun die Regentin über ein riesiges Reich. Selbst ihr eigener Gatte hatte geschworen, ihr immer zu dienen. Und die kostbaren Gewänder – die mit Hermelin besetzte Schleppe beim Einzug in die Abtei, das Leinenkleid, das man ihr vor der Salbung über das bestickte Seidengewand gezogen hatte, und der goldene Umhang aus Brokat, den sie jetzt trug – symbolisierten ihre Metamorphose in eine gekrönte Monarchin. Auch dank ihrer war sie ein anderer Mensch.

Versonnen verfolgte Eva, wie die junge Königin, die Krone auf dem Haupt, Reichsapfel und Zepter in den Händen, langsam und gefolgt von einer Prozession aus hohen kirchlichen Würdenträgern und Adeligen aus der Abtei schritt. Gewänder besaßen eine ganz eigene Macht. Sie konnten Menschen verwandeln. So wie ja ein Kostüm oder eine Verkleidung einem dabei half, ganz neue Seiten an sich zu entdecken. Eva kannte dieses Gefühl nur zu gut. Auch in dem Kostüm, das oben in ihrem Zimmer im Schrank hing, hatte sie sich bei den Anproben anders gefühlt – lebendig und wagemutig und voller Energie; als sei sie eine junge Frau, der die Welt offenstand, und nicht nur eine kleine Sekretärin. Evas Herz klopfte heftig in ihrer Brust.

Die Kameras fingen die nun jubelnden und Fähnchen schwenkenden Menschenmengen vor der Kathedrale ein. Die gespannte Stimmung im Saal des Hotels löste sich, die Gäste begannen sich zu unterhalten. Ihre Schwestern tranken ihre Limonade aus, und ihr Vater bestellte neue Getränke.

Nur Eva weilte noch immer in einer anderen Welt. Wer wohl die Menschen waren, die die Krönungsroben der jungen Königin entworfen und angefertigt hatten? Es musste wunderschön sein, etwas erschaffen zu können, das so, so … Eva suchte nach Worten … so voller Magie war.

Teil 1

Kapitel 1

September 1955

Wanderschuhe, dicke Wollsocken, Schlafanzug, Unterwäsche … Eva ging noch einmal ihre Liste durch. Das Reise-Necessaire mit Zahnbürste, Seife und Shampoo hätte sie beinahe vergessen. Sie verstaute es eilig im Koffer, klappte ihn zu und trug ihn hinunter in die Diele im Erdgeschoss, wo bereits ihr Rucksack stand. Eva würde ihren Urlaub mit ihrer Cousine verbringen, die vor einem Jahr eine Ausbildung als Hauswirtschafterin in einem luxuriösen Hotel in Fuschl am See im Salzkammergut begonnen hatte.

Im Esszimmer hatten die Schwestern ihr Frühstück fast schon beendet. Seit Kurzem weigerten sie sich, sich gleich anzuziehen. Franzi trug einen Faltenrock und eine Bluse, Lilly ein Kleid mit Blumenmuster, ein Band aus bunten Perlen hing um ihr Handgelenk.

»Eva, da steht ein Artikel vom Papa.« Franzi deutete aufgeregt auf den Münchner Abend, der aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Adenauer in Moskau –harte Verhandlungen mit der sowjetischen Führung lautete die Überschrift.

»Oh, tatsächlich?« Eva nahm sich ein Brötchen und bestrich es mit Butter und Marmelade. Die Mutter goss ihr Kaffee ein. Wochenlang war das alles beherrschende Thema in der Familie gewesen, dass der Vater zu dem Tross aus Journalisten gehören würde, die den Kanzler nach Moskau begleiteten. Seit sie ein Backfisch war, las Eva gerne und aufmerksam Zeitung. Ihr gefiel die Art, wie ihr Vater schrieb, pointiert und bildhaft. Über diesen Staatsbesuch berichten zu dürfen, war ein großes Privileg. Es war der erste Staatsbesuch eines deutschen Kanzlers in Moskau, und Adenauer wollte darauf hinwirken, dass die sowjetische Führung die letzten deutschen Kriegsgefangenen freiließ. Eva hoffte sehr, dass ihm das glückte. Aber musste sich alles immer um den Vater und seine Arbeit drehen?

»Bringst du uns was mit aus Österreich?«, erkundigte sich Lilly.

»Das weiß ich noch nicht«, behauptete Eva.

»Ach, bitte …«

»Na ja, vielleicht eine Tüte Malzkaramell-Bonbons oder Schokolade mit Rosinen«, neckte Eva sie. Die Schwestern mochten diese Süßigkeiten nicht.

»O nein, igitt …«, stöhnte Lilly.

»Das tust du nicht.« Franzi fuchtelte mit ihrem Löffel herum. »Und du hast gelacht, ich hab’s gesehen!«

»Schluss jetzt!«, mischte sich ihre Mutter ein. »Ihr beide müsst in die Schule. Habt ihr die Butterbrote eingepackt?«

Maulend standen die Schwestern auf und holten ihre Ranzen und Jacken. Eva begleitete sie zur Haustür und zog sie an sich. » Passt auf euch auf, ja? Und streitet euch nicht so oft.« Immer wieder fühlte sie sich für die beiden wie eine Mutter und nicht wie eine große Schwester, obwohl sie nur neun Jahre älter war. Seit der Geburt war Eva für sie mitverantwortlich gewesen. Sie hatte sie gewickelt, gefüttert und im Luftschutzbunker getröstet. Wenn ihre Mutter gearbeitet hatte, passte sie auf sie auf.

Die beiden liefen los, und am Gartentor drehte Franzi sich noch einmal zu Eva um. »Ich weiß, du bringst uns was mit.«

Eva winkte ihnen nach, bis sie zwischen den Einfamilienhäusern aus den Zwanzigerjahren und den gepflegten, kleinen Gärten im gutbürgerlichen Stadtteil Pasing aus ihrem Blickfeld verschwanden. Der Tag war sonnig, und obwohl sich an dem wilden Wein neben der Eingangstür schon die ersten Blätter rot verfärbten, war es so früh am Morgen schon recht warm. Hoffentlich blieb das Wetter in den nächsten beiden Wochen so schön.

Evas Mutter blickte von der Zeitung auf, als sie wieder in das Esszimmer zurückkam. In ihrem Morgenrock, ein luftiges Etwas aus zartgrüner Seide und Spitze, wirkte sie mal wieder wie eine Elfe. Sie kleidete sich meistens erst an, wenn alle aus dem Haus waren.

Eva griff nach der Brötchenhälfte und biss hinein. Inzwischen war es selten, dass sie mit der Mutter einmal allein war. Sonst waren immer ihre Schwestern oder ihr Vater da.

»Was habt Margit und du außer Wandern eigentlich noch für eure Ferien geplant?«

»Wir möchten nach Salzburg fahren und dort ein oder zwei Nächte in der Jugendherberge übernachten und uns die Stadt ansehen. Mehr noch nicht. Als wir vor ein paar Tagen telefoniert haben, hat Margit gesagt, sie hätte eine Überraschung für mich. Aber sie ist nicht mit der Sprache herausgerückt, was für eine.«

»Das sieht ihr ähnlich. Sie ist immer für Aufregung gut.« Evas Mutter lächelte. »Ihr beiden habt euch schon ziemlich lange nicht mehr gesehen, oder?«

»Das letzte Mal vor über zwei Jahren.«

»Das ist wirklich lange her.«

»Margit war ja als Au-Pair in London, um ihr Englisch aufzupolieren. Und davor hätten wir uns eigentlich in Frankfurt getroffen, wenn ich nicht wegen dieser Party von Vaters Chefredakteur mit nach München hätte zurückfahren müssen.«

Ein angespanntes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Schließlich seufzte ihre Mutter. »Nimmst du das deinem Vater nach all der Zeit etwa immer noch übel?«

Eva zögerte. »Ja, schon …« Ihre Bewunderung für den Vater war schon früher gebrochen und längst nicht mehr bedingungslos. Seit dem Streit war er ihr vollends fremd geworden. Das wurde ihr plötzlich klar. »Ich hab wirklich versucht, Vater zu erklären, warum mir so viel an der Zeit mit Margit und dem Fest lag und wie stolz ich auf mein Kostüm war, aber er hat mir überhaupt nicht zugehört. Das ist ja oft so bei ihm. Er hört mir nicht zu, und was ich möchte, ist ihm egal.«

»Eva, das stimmt nicht, deinem Vater war es nun einmal wichtig, sich von Anfang an mit seinem neuen Chef gutzustellen. Ohne dieses vertrauensvolle Verhältnis wäre er nicht vor ein paar Monaten zum Leiter der Politik beim Münchner Abend befördert worden. Diese Position und die Moskau-Reise bedeuten ihm sehr viel.«

»Das verstehe ich ja. Trotzdem war es völlig überflüssig, dass ich bei dieser Gartenparty dabei war. Der Chefredakteur hatte mich doch schon eine Minute, nachdem ich ihm die Hand gegeben hatte, wieder vergessen. Und Franzi und Lilly auch.«

»Dein Vater liebt uns, deshalb wollte er uns alle bei sich haben. Er sagt immer wieder, wie sehr ihm der Gedanke an uns die Kraft gegeben hat, die Kriegsgefangenschaft zu überstehen. Er hatte es, als er vor fünf Jahren aus der Gefangenschaft endlich nach Hause kommen durfte, nicht leicht, in seinem Beruf wieder Fuß zu fassen. Das solltest du auch bedenken.« Die Stimme ihrer Mutter klang vorwurfsvoll. »Fast alle guten Stellen in den Zeitungsredaktionen und beim Hörfunk waren inzwischen vergeben. Und dein Vater will doch auch für uns beruflich vorankommen. Damit wir ein gutes Leben haben und glücklich sind.«

War das so? Oder ging es dem Vater nicht vor allem um sich und seine Karriere? Eva hatte ein schlechtes Gewissen bei diesem Gedanken, und so kurz vor ihrem Urlaub wollte sie sich nicht mit ihrer Mutter streiten.

»Ich sollte mir mal ein paar Brote schmieren. Ich muss gleich los.«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich hab dir schon ein Essenspaket vorbereitet, es steht in der Küche.« Auf dem Tisch lagen in Butterbrotpapier eingeschlagene Brote, Äpfel, eine Tafel Schokolade, und sogar eine Thermoskanne stand bereit.

Eva war gerührt. »Wie früher zum Schulausflug. Danke, Mama.«

»Mütter machen das für ihre Töchter, auch wenn sie fast schon erwachsen sind.« Ihre Mutter öffnete eine Schublade des Küchenschranks und holte ihr Portemonnaie heraus. Sie entnahm ihm einen Zwanzigmarkschein und reichte ihn Eva. »Kauf dir etwas Schönes davon, meine Große.«

»Mama, ich verdien doch selbst Geld.«

»Nimm es, Liebes.« Ihre Mutter schloss Evas Finger um den Geldschein. »Ich möchte, dass du und Margit die Ferien wirklich genießt.«

»Das werden wir bestimmt, danke!« Eva umarmte ihre Mutter, sie war mittlerweile fast einen Kopf größer als sie.

»Ruf mal an, damit ich weiß, dass es euch beiden gut geht.« Ihre Mutter strich ihr über die Wange.

»Ja, ja, das mache ich und ich schreibe auch Karten, versprochen!« Eva verstaute das Essen und die Thermoskanne in ihrem Rucksack. In wenigen Minuten fuhr die Straßenbahn an der nahe gelegenen Haltestelle los, die sie zum Hauptbahnhof bringen würde.

Evas Mutter half ihr, den Rucksack aufzusetzen, und begleitete sie in die Diele, wo Eva den Koffer aufhob. Ein letzter Kuss auf die Wange der Mutter, dann verließ sie das Haus. Als sie sich auf dem Gartenweg umdrehte, stand ihre Mutter in der geöffneten Eingangstür und winkte ihr nach. So wie früher, wenn sie zu Klassenfahrten aufgebrochen war, Eva lächelte vor sich hin. Ihre Gedanken wanderten zu Margit und ihren gemeinsamen Ferientagen. Was für eine Überraschung die Cousine wohl für sie hatte?

Ein tiefblauer See tauchte vor dem Busfenster auf, eingerahmt von grünen Hügeln, und dahinter, in der Ferne, erhoben sich die Alpengipfel. Da und dort entdeckte Eva ein hübsches Kirchlein oder eine Kapelle mit einem Zwiebelturm. Kühe mit Glocken um den Hals grasten auf den Weiden. Über allem spannte sich ein wolkenloser Himmel. Dann glitten stattliche Häuser mit Fensterläden und breiten Holzbalkonen an Eva vorbei. Weiße und rote Geranien hingen über die Brüstungen, und auch die Gärten quollen von farbenfrohen Blumen schier über.

Diese Postkarten-Idylle war Fuschl am See, das Ziel ihrer Reise. Etwa fünf Stunden war sie nun unterwegs, jetzt war es kurz vor drei. Von München nach Salzburg war sie mit dem Zug gefahren und dort in den Bus umgestiegen. Ach, die Gegend und die Ortschaften waren wirklich wunderschön!

»Fuschl am See, Busbahnhof«, verkündete der Fahrer. Eva griff nach ihrem Rucksack und setzte ihn auf. Gleich darauf hielt der Bus an. Rasch nahm sie ihren Koffer aus der Ablage und folgte den anderen Fahrgästen zur Tür.

»Eva, Eva!« Eine vertraute Stimme rief ihren Namen. Sie wandte sich um. Eine blonde Frau kam lachend und winkend auf sie zugerannt. Sie trug eine weite helle Hose und einen schicken ärmellosen Pullover. Ihr Haar war, anders als bei ihrer letzten Begegnung, modisch kurz geschnitten, und ihr Mund war leuchtend rot geschminkt. Margit war nur zwei Jahre älter geworden und doch wirkte sie so erwachsen.

Für einen Moment fühlte sich Eva sehr jung. Aber die strahlenden Augen der Cousine waren ihr wohlvertraut, und ihr Gefühl von Fremdheit verschwand sofort, als sie sich in die Arme schlossen.

»Eva, wie schön, dass du hier bist! Hat mit der Fahrt alles gut geklappt? Ich hab schon befürchtet, dass ich zu spät bin, im Hotel war so viel los«, sprudelte Margit hervor. »Ich wollte dich nicht in meiner Uniform abholen, und dann war da dieser Traktor vor mir auf der Straße und ich hab mir gedacht, ich hätte mich doch nicht umziehen sollen und …«

»Keine Sorge, es ist alles gut gelaufen, und ich freue mich auch sehr, dich zu sehen«, unterbrach Eva lachend ihre Cousine, als diese kurz Luft holte.

»Entschuldige, ich rede mal wieder zu viel.« Margit grinste. »Gib mir mal deinen Koffer. Ach, der ist ziemlich schwer. Wie gut, dass ich mit dem Auto hier bin.« Sie hakte Eva unter und steuerte mit ihr auf einen kleinen Opel zu, der am Straßenrand parkte.

»Heißt das etwa, du hast einen Führerschein?« Erst jetzt realisierte Eva, was die Cousine da gerade gesagt hatte. »Und gehört der Wagen etwa dir?« Margit war wirklich erwachsen geworden.

»Ja, ich hab vor ein paar Wochen den Führerschein gemacht. Den Opel hab ich mir von einem Kollegen geliehen.« Ihre Cousine verstaute Evas Gepäck im Kofferraum. Dann öffnete sie ihr die Beifahrertür und nahm selbst hinter dem Steuer Platz, ehe sie den Zündschlüssel drehte und Gas gab.

Schnell hatten sie den kleinen Ort durchquert und das Seeufer erreicht. Eva war noch ganz überwältigt von den Eindrücken und Neuigkeiten, als Margit sich ihr zuwandte. »Eva, es tut mir leid, ich muss dich gleich mit etwas überfallen.« Ihre Stimme klang schuldbewusst. »Aber wenn du es nicht möchtest, dann sage ich Frau Häuser, der Empfangsdame, ab, versprochen!«

»Worum geht es denn?« Eva war ein bisschen beunruhigt.

»Also, es ist so, dass Filmaufnahmen am Hotel stattfinden. Mit Magda Schneider und ihrer Tochter Romy. Der Film handelt davon, wie sich Elisabeth von Österreich und der Kaiser Franz-Joseph kennenlernen und ineinander verlieben. Romy spielt die junge Elisabeth, also Sissi, und …«

»Mein Gott, ist das aufregend! Und das sagst du mir erst jetzt!« Eva blickte die Cousine gleichermaßen entzückt und fassungslos an. Seit sie als Kind das erste Mal im Kino gewesen war, liebte sie Filme. Diese Begeisterung hatte im Lauf der Jahre noch zugenommen. Nur selten verpasste sie eine Premiere. Sie hatte Romy Schneider in Wenn der weiße Flieder wieder blüht und Mädchenjahre einer Königin auf der Leinwand gesehen. Und nun fand ein Dreh nahe dem Hotel statt, in dem Margit arbeitete.

»Es sollte meine Überraschung für dich sein, ich weiß ja, wie sehr du Filme liebst.« Margit warf ihr einen raschen Blick von der Seite zu, ehe sie sich wieder auf die Landstraße konzentrierte. »Ich dachte, wir könnten ein, zwei Tage in Fuschl bleiben, du schläfst bei mir im Hotel im Zimmer, und wir versuchen, bei den Aufnahmen zuzusehen und dann erst zu unserer Wanderung aufzubrechen. Aber jetzt ist es so, dass das Hotel in Bad Ischl, wo die Filmleute ursprünglich wohnen sollten, wegen eines Wasserschadens schließen musste. Deshalb logieren die Schauspieler und der Filmstab seit gestern bei uns im Hotel am See …«

»Wirklich? Das wird ja immer spannender! Wir werden unter einem Dach mit den Filmleuten sein.« Eva wurde die Brust vor Aufregung und Freude ganz eng.

»Ich finde es ja auch toll.« Wieder hörte sich Margit etwas zerknirscht an. »Aber leider ist es so, dass jetzt ja eigentlich Nachsaison ist und das Hotel deshalb weniger Personal hat. Und mit den Filmleuten sind wir fast ausgebucht. Deshalb hat mich Frau Häuser, unsere Empfangsdame, die für die weiblichen Angestellten zuständig ist, heute Morgen gefragt, ob ich meinen Urlaub nicht verschieben könnte. Ich hab ihr von dir erzählt und dass du schon auf dem Weg nach Fuschl bist. Und da hat sie mir angeboten, dass du ein Zimmer umsonst haben kannst, und für Frühstück und Abendessen müsstest du auch nichts bezahlen. Ich hab ihr gesagt, dass ich das erst mit dir besprechen muss. Wahrscheinlich dauern die Dreharbeiten eine gute Woche.«

»Das heißt, ich darf über eine Woche unter einem Dach mit den Schauspielern und dem Filmstab wohnen?«

»Ja, und du hättest ein eigenes Zimmer …«

»Ich fasse es nicht. Wie schön.« Eva zögerte einen Moment. »Können wir uns denn trotzdem sehen, auch wenn du arbeiten musst?« Sie war hin- und hergerissen. Da war einerseits die faszinierende Aussicht, mit berühmten Schauspielern so lange unter einem Dach zu sein. Andererseits hatten sie ja die Ferien zusammen verbringen wollen.

»Ich bin als Zimmermädchen eingeteilt, es gehört zu meiner Ausbildung, dass ich verschiedene Stationen im Hotel durchlaufe. Ein paar Stunden habe ich tagsüber und abends immer mal wieder frei. Wenn die Dreharbeiten zu Ende sind, beginnt mein Urlaub. Einige Tage haben wir dann also auf jeden Fall noch für uns.«

»Das ist schön.«

»Es macht dir wirklich nichts aus?«

»Nein, keine Sorge, ich werde mich schon irgendwie selbst beschäftigen und ganz bestimmt nicht langweilen.« Eva hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil sie über die Filmaufnahmen so begeistert war.

»Ach, ich bin dir so dankbar.« Margit nahm die Hand vom Lenkrad und drückte Evas Arm. »Ich hätte die Kollegen nicht gerne hängen gelassen. Und …«, sie grinste, »… es schadet auch nichts, wenn ich jetzt bei Frau Häuser was guthabe. Schließlich ist sie meine direkte Vorgesetzte.«

In einiger Entfernung tauchte langsam hinter einem Wäldchen ein ockerfarbenes, quadratisches Bauwerk auf. Es wirkte wie ein mächtiger Turm mit einem spitz zulaufenden Dach.

»Das ist das Hotel Fuschl am See, mein Hotel.« Ein gewisser Stolz schwang in Margits Stimme mit.

»Dein Hotel?«, neckte Eva sie.

»Na ja, noch gehört es mir nicht.« Die Freundin nahm den Ball auf. »Aber, wer weiß, was die Zukunft so bringt.«

»Ich weiß noch aus dem Geschichtsunterricht, dass Bad Ischl für die österreichischen Kaiser irgendwie wichtig war. Haben sie da nicht den Sommer verbracht? Waren sie denn auch öfter in Fuschl am See?«

»Das Hotel war früher mal das Jagdschloss der Salzburger Erzbischöfe. Es ist gewissermaßen das Double für das Schloss Possenhofen am Starnberger See, wo Sissi aufgewachsen ist. Es heißt, es war dem Regisseur zu heruntergekommen und zu schäbig.«

»Wirklich?«

»Tja, Film ist nun mal eine große Illusion.«

»Sagt eine sehr altkluge Margit.« Eva lachte. Aber ja, auch wegen der Illusionen liebte sie es, sich Filme anzusehen.

Sie hatten das Wäldchen durchquert, und nun breitete sich das Schlosshotel in seiner ganzen Pracht vor ihnen aus. Es lag auf einer kleinen Halbinsel, das turmartige Bauwerk war nur ein Teil davon und stand direkt am Ufer. Eine Reihe weiterer Gebäude, die niedriger waren, grenzten hufeisenförmig daran. Alle hatten sie rot-weiße Fensterläden. Der makellose Rasen vor dem Hotel war leuchtend grün und eine kreisrunde Auffahrt führte zu dem Portal. Hinter dem Hotel glitzerte der See im Sonnenlicht, als sei er mit Tausenden Diamanten übersät. Eva atmete tief ein. Mein Gott, hier, an diesem zauberhaften Ort, würde sie nun logieren dürfen. Sie war völlig überwältigt.

Margit bog schwungvoll in den Parkplatz seitlich des Gebäudes ein. Dort standen bereits viele Fahrzeuge: Transportwagen, Lkws, einige Limousinen und auch schicke Cabriolets. Wahrscheinlich gehörten sie den Schauspielern.

Eva fühlte sich ganz schwindelig vor Aufregung. Hoffentlich würde sie bei den Dreharbeiten zusehen dürfen.

Die Eingangshalle des Hotels war weitläufig und licht. Eva nahm einen großen Kamin wahr und Hirschgeweihe an den Wänden. Ein dicker Mann, den Hut aus der Stirn geschoben, eine brennende Zigarre im Mund, durchquerte die Halle und verschwand hinter einer Tür.

»War das nicht Ernst Marischka?« Gebannt starrte Eva ihm hinterher.

»Ja, aber ich hatte den Namen vorher noch nie gehört.«

»Margit, das ist der Regisseur von Mädchenjahre einer Königin!«

»Tatsächlich?« Margit winkte unbeeindruckt einem jungen Mann in einer blauen Uniform hinter der Rezeption zu und ging mit Eva zum Aufzug. Der Teppichboden im Innern war so dick, dass Eva das Gefühl hatte, mit den Füßen schier darin zu versinken. Mit einem leisen Surren glitt der Aufzug nach oben.

»Die richtig großen, schönen Zimmer mit Bad und Toilette haben leider die Filmleute in Beschlag genommen. Deines liegt unter dem Dach, und das WC ist auf dem Gang. Das macht dir doch hoffentlich nichts aus?« Margit blickte sie besorgt an.

»Nein, überhaupt nicht.« Eva schüttelte den Kopf. Notfalls hätte sie auch in einem Verschlag genächtigt.

Der Aufzug endete in einem der oberen Stockwerke. Margit nahm wieder den Koffer in die Hand. Sie stiegen eine Treppe hinauf und bogen in einen Flur mit schrägen Wänden ein. Gleich darauf öffnete die Cousine eine Tür. Dahinter lag ein kleines Zimmer mit einer Blümchentapete. Darin standen ein Messingbett, über das eine spitzenverzierte Tagesdecke gebreitet war, und ein Schrank. Durch das Fenster in der Dachgaube konnte Eva auf der anderen Seite des Sees die Berge mit ihren schroffen Felsspitzen und grünen Weiden sehen. »Es ist wirklich hübsch und gemütlich.«

»Da bin ich aber froh, dass es dir gefällt.«

Auf dem Tisch in der Gaube, das bemerkte Eva erst jetzt, stand ein kleiner Strauß gelber Teerosen neben einer Lampe, an der Vase lehnte eine Karte. Das Foto von Romy Schneider mit ihrem Autogramm. »Woher hast du das denn?« Hingerissen drehte sie sich zu Margit um, die wieder ein bisschen schuldbewusst wirkte.

»Romy Schneider hat mir die Autogramm-Karte gestern Abend geschenkt, als ich ihr Bett für die Nacht fertig gemacht habe. Sie ist sehr nett. Und, na ja, ich hab gehofft, dass du einverstanden sein würdest, dass wir unsere Wanderung aufschieben. Deshalb hab ich vorhin schon die Blumen und das Autogramm in das Zimmer gebracht.«

»Ach, Margit, das ist so lieb von dir.« Eva umarmte ihre Cousine stürmisch. »Und jetzt hör schon auf, geknickt zu sein, das sieht dir gar nicht ähnlich.«

»Na gut.« Das Gesicht ihrer Cousine hellte sich auf. »Willst du dich ein bisschen frisch machen und ausruhen? Oder sollen wir gleich ins Restaurant gehen, die Terrasse liegt direkt am See? Du hast nach der Fahrt doch bestimmt Hunger. Ich lade dich natürlich ein.« Rasch blickte sie auf ihre Armbanduhr. »Jetzt haben wir halb vier, bis um sechs habe ich Zeit, anschließend beginnt meine Schicht.«

»Ich packe schnell den Koffer aus und zieh mir was anderes an. Dann komme ich ins Restaurant.« Auf gar keinen Fall würde sie sich ausruhen. Während der Filmaufnahmen in diesem Hotel zu sein, war so spannend. Sie wollte nichts verpassen.

Rasch verstaute Eva ihre Kleider im Schrank, wusch sich und tauschte Rock und Bluse, die sie während der Reise getragen hatte, gegen das Dirndl, das sie sich eigens für ihre Ferien in den Bergen genäht hatte. Der Rock war dunkelrot und weiß geblümt, die Schürze hatte den gleichen Rotton. Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel. Das Mieder hatte sie mit einer selbst entworfenen Stickerei verziert. Aus einem Impuls heraus flocht sie sich die dunklen Haare zu Zöpfen und steckte sie sich um den Kopf. Nachdem sie noch rasch Strümpfe und Schuhe angezogen hatte, eilte sie aus dem Zimmer.

Eva nahm lieber die Treppe statt den Aufzug. Doch unten im Erdgeschoss blickte sie sich ratlos um. Margit hatte ihr den Weg ins Restaurant beschrieben. Aber sie hatte in dem weitläufigen Gebäude völlig die Orientierung verloren und keine Ahnung, wo sie war. Ein Stück weiter stand eine Tür offen. Vielleicht war dort jemand, der ihr weiterhelfen konnte.

»Entschuldigen Sie …« Eva lugte in den Raum. Die Jalousien waren geschlossen und das Licht gedämpft. Sie hielt einen Moment inne. Der saalartige Raum war ja voller Gewänder. Dicht an dicht hingen sie an Ständern aus Metall. Und wie schön sie waren. Das mussten die Kostüme für den Film sein. Fasziniert und ohne recht zu wissen, was sie tat, trat sie näher und ging langsam an den Ständern entlang. Da waren weiße Uniformröcke mit goldenen Epauletten. Seidig schimmernde Kleider in allen Farben des Regenbogens, tiefrot und smaragdgrün, sonnengelb und leuchtend blau, bei denen, selbst jetzt, da sie auf Bügeln hingen, zu erahnen war, wie sich die weiten Röcke anmutig über Krinolinen bauschen würden. Andere glänzten geheimnisvoll dunkel wie der Nachthimmel. Es gab hübsche Dirndl und elegante Reitkleider. Und dort … die Gewänder voller Rüschen und aufwendiger Stickereien und glitzernder Steine, sie waren bestimmt für einen Ball gedacht.

Eva sah vor sich, wie die Kleider beim Tanz die Schauspielerinnen umspielten, wie sie im Takt der Musik graziös schwangen und die Verzierungen hell im Licht funkelten. Wer wohl all diese Kostüme entworfen hatte? Ihr Herz zog sich vor Sehnsucht zusammen. Es musste wundervoll sein, so etwas erschaffen zu können.

Am anderen Ende des Raumes hörte sie Stimmen. Es gab wohl noch eine zweite Tür. Plötzlich hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben, und eilte hastig davon.

Wieder im Flur entdeckte Eva etwas weiter vorne ein Fenster. Vor ihr erstreckte sich der See im Sonnenlicht, ein paar Schwäne glitten majestätisch durch das Wasser, und weiter rechts stand das ockerfarbene Gebäude, das wie ein mächtiger Turm wirkte. Jetzt wusste sie wieder, wo sie sich befand. Doch Eva ließen die Eindrücke nicht los, die Stoffe, die Farben und Stickereien, von denen solch eine Pracht und Schönheit ausgingen. Was war nur mit ihr? Und warum war sie so überwältigt, als hätte sie eben in dem Raum voller Filmkostüme ein Stück vom Himmel erblickt?

Margit saß schon im Schatten eines Sonnenschirms auf der Terrasse am Seeufer. Etwas außer Atem ließ sich Eva bei ihr nieder. »Tut mir leid, dass du warten musstest, ich hab mich im Hotel verlaufen.« Wieder verstand sie sich selbst nicht ganz. Die Cousine und sie waren sonst so vertraut miteinander. Aber sie mochte ihr nicht von dem Raum mit den wunderschönen Gewändern erzählen und wie sehr sie sie verzaubert hatten. Der Moment war so kostbar gewesen, dass sie ihn ganz für sich behalten wollte.

»Das macht doch nichts.« Ihre Cousine lächelte sie an und reichte ihr die Speisekarte. »Hier, such dir aus, was du möchtest. Du bist eingeladen.«

»Ich bin eigentlich gar nicht so hungrig. Meine Mutter hat mir ein üppiges Essenspaket mitgegeben. Ich hab gar nicht alles aufgegessen.« Und in der Erinnerung war Eva noch einmal berührt von dem mittlerweile so seltenen vertrauten Moment mit ihrer Mutter.

»Ach, ein Eis geht doch immer. Das Hotel hat seinen eigenen Konditor, es ist wirklich gut.« Margit lachte.

Ein Stück entfernt, auf einem abgesperrten Bereich der Hotelterrasse, stellten einige Männer eine Vogelvoliere auf. Ob sie zu einer Filmszene gehörte? Margit bemerkte Evas fragenden Blick.

»Sissi gehören Vögel, sie füttert sie regelmäßig. Und gegen Ende des Films, bevor sie zu der Hochzeit mit dem Kaiser nach Wien aufbricht, schenkt sie ihnen die Freiheit.« Margit legte die Hand auf die Brust und seufzte tief. »Gewissermaßen im Gegensatz zu dem strengen Hofzeremoniell, in dem sie gefangen sein wird. Das haben die Filmleute gesagt.«

Welche Kleider Romy Schneider wohl bei diesen Szenen tragen würde? Ob sie unter den Filmkostümen waren, die sie eben gesehen hat? Vielleicht eines der Dirndl?

»Was darf ich den Damen denn bringen?« Ein junger, schlaksiger Kellner war zu ihnen getreten. Verlegen warf er Margit bewundernde Blicke zu.

»Darf ich vorstellen … Eva, das ist mein Kollege Rolf, Rolf das ist meine Cousine Eva.« Margit vollführte eine lässige Handbewegung. »Rolf, du hast doch auch Dienst im Restaurant. Morgens und abends wird Eva dort essen. Sei so nett und kümmere dich gut um sie, ja?«

Der junge Kellner versicherte mit rotem Kopf, dass er das »selbstverständlich« tun würde.

Eva entschied sich für ein gemischtes Eis und eine Limonade und Margit für einen Cocktail. Amüsiert verfolgte Eva, wie der Kellner eifrig davoneilte. »Er ist in dich verliebt, weißt du das?«

»Wirklich, denkst du?« Margit wirkte unbeeindruckt. Nun ja, sie hatte noch nie unter einem Mangel an Verehrern gelitten. Männer mochten sie einfach, und sie nahmen es Margit auch nicht übel, wenn sie ihre Avancen zurückwies und nur eine Freundschaft akzeptierte.

»Du bist also nicht an ihm interessiert?«

»Ich mag ihn, er ist nett.« Margit zuckte mit den Schultern. »Aber Rolf ist definitiv kein Mann, in den ich mich verlieben könnte.« Ein verträumter Klang schwang auf einmal in ihrer Stimme mit.

»Gibt es denn jemanden, in den du verliebt bist?« Eva beugte sich interessiert vor.

»Einen amerikanischen Barpianisten, den ich in London kennengelernt habe.«

»Jetzt nimmst du mich aber auf den Arm!«

»Nein, ich sage die Wahrheit, ich schwöre es!« Lachend legte sich Margit die linke Hand auf die Brust und hob die rechte. Ihre Augen strahlten. »Peter ist Pianist im Dorchester, einem ziemlich feinen Hotel. Ein paar Wochen, bevor meine Zeit als Au-Pair zu Ende war, war ich mit ein paar Freundinnen im Kino. Es war klar, dass wir alle nicht mehr lange in London bleiben würden, deshalb wollten wir uns endlich mal einen Drink in dieser teuren Bar gönnen. Peter und ich haben uns angesehen, während er gespielt hat. Da war sofort dieses Prickeln zwischen uns, es war wirklich so«, kam sie einer ungläubigen Frage von Eva zuvor. »Und dann, nach ein paar Stücken, hat er sich einfach neben mich an die Bar gesetzt. Er hat gelächelt und gesagt, dass er nur für mich gespielt hätte. So fing alles an …«

»Wie romantisch!«

Der junge Kellner erschien wieder an ihrem Tisch und brachte ihre Leckereien. Er schien einer Unterhaltung nicht abgeneigt, aber Margit bedachte ihn mit einem freundlichen, wenn auch unmissverständlich knappen »Vielen Dank, Rolf«, und er verschwand wieder.

»Und du?« Margit sog an dem Strohhalm in ihrem Cocktail. »Wie steht es denn bei dir um die Liebe? Gibt es da jemanden? Wir haben uns im letzten Jahr nicht sehr oft geschrieben.«

»Beim Tanzen habe ich ein paar junge Männer kennengelernt, und mit einem habe ich ein bisschen geknutscht.« Eva errötete. »Aber es war nichts Ernstes.«

»Und da ist auch kein heimlicher Schwarm? Keine große, unerfüllte Liebe?« Margit senkte ihre Stimme zu einem dramatischen Flüstern.

»Nein, wirklich nicht.« Eva kam sich langweilig vor. Wie bunt und voller Abenteuer Margits Leben war, während sie noch nicht einmal von einem intensiven Flirt erzählen konnte.

Kurz hing sie ihren Gedanken nach, während sie ihr Eis löffelte. »Du und dein Peter«, wandte sie sich schließlich wieder der Cousine zu, »ich stelle mir das ziemlich schwierig vor, verliebt und so weit voneinander entfernt zu sein. Willst du denn nach deiner Ausbildung wieder nach London gehen?«

»Nein, er wird versuchen, eine Stelle als Barpianist in Salzburg zu bekommen. Er ist sehr talentiert und dorthin kommen viele amerikanische Touristen, deshalb stehen seine Chancen sicher nicht schlecht. Und wenn ich meine Ausbildung abgeschlossen habe, wollen wir zusammen nach Paris gehen.«

»Paris …« Eva seufzte sehnsüchtig.

»… ja, ich will mein Französisch unbedingt verbessern. Gute Sprachkenntnisse brauche ich nun mal, wenn ich Empfangsdame in einem luxuriösen Hotel werden – oder gar mein eigenes besitzen will.« Margit breitete die Arme aus, als wollte sie die ganze Welt umarmen, und lachte übermütig. Eva traute es ihrer Cousine durchaus zu, dass sie ihre Pläne verwirklichte.

»Und du, was ist mit dir? Wie stellst du dir deine Zukunft vor?« Margit hob das Cocktailglas hoch, um den letzten Rest des Getränks mit dem Strohhalm aufzusaugen.

»Ich, ach …« Eva zuckte mit den Schultern, »ich werde weiter als Sekretärin arbeiten, und wenn ich Glück habe, treffe ich einen Mann, in den ich mich wirklich verliebe, und dann werde ich heiraten und Kinder mit ihm haben.« Selbst ihr entging nicht, wie resigniert sich das anhörte. Das Brautkleid, das sie sich selbst entwerfen würde, war ihr bisher immer als das Schönste an ihrer Hochzeit erschienen.

»Das klingt aber nicht gerade begeistert«, erwiderte Margit prompt. »Willst du denn nicht mehr vom Leben? Hast du gar keine Träume?«

»Ja, schon, aber ich weiß eigentlich gar nicht, was genau.« Eva starrte auf den See hinaus, wo ein Ausflugsdampfer vorbeifuhr, das Kielwasser glitzerte im Sommerlicht wie eine riesige Schleppe. Mit der Distanz zu ihrem Zuhause und im Zusammensein mit ihrer lebensfrohen Cousine wurde Eva plötzlich klar, wie unzufrieden und traurig sie war.

»Du wolltest doch so gerne Schneiderin werden. Ich hab nie verstanden, warum Onkel Axel dir nicht erlaubt hat, eine Lehre zu machen. Das ist doch ein ehrbarer Beruf. Meine Mutter hat es auch nicht verstanden.«

»Vater fand das für unsere Familie nicht angemessen, er und Mutter kommen nun mal aus dem Großbürgertum. Eine Schneiderlehre, das sei nur was für kleine Leute, hat er gesagt.«

»Weißt du, was meine Mutter sagt? Dass ihr Bruder manchmal ein ziemlicher Snob ist …« Margit brach ab. »Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen.«

»Ich weiß ja, dass die beiden sich nicht so gut verstehen«, wehrte Eva ab. Ihre resolute Tante, Margits Mutter, war Kriegswitwe, sie arbeitete als Empfangsdame in einem großen Frankfurter Hotel und stand mit beiden Beinen im Leben. Anders als der konservative Vater hatte sie ziemlich liberale Ansichten. Dass sie aus einer Bankiers-Familie stammte, war ihr völlig egal. Evas Vater hatte seine Schwester sogar mal »eine verkappte Kommunistin« genannt, fiel Eva ein. Plötzlich nahm sie wahr, dass ein Schatten auf Margits eben noch so fröhliches Gesicht gefallen war. Sie wirkte plötzlich in sich gekehrt, ja bekümmert.

»Was ist denn?«, fragte Eva erschrocken.

»Ach, nichts …«

»Das glaube ich aber nicht.«

Margit senkte den Kopf. »Mein Vater ist ja ganz am Anfang des Krieges gefallen«, sagte sie schließlich leise.

»Ja, ich weiß.«

»Ich habe ihn kaum gekannt, ich war damals erst fünf. Trotzdem habe ich ihn als Kind oft vermisst. Und später dann habe ich mir vorgestellt, wie er sich mit mir freuen würde, wenn etwas Schönes in meinem Leben geschieht. Als ich mich in Peter verliebt habe oder den Ausbildungsplatz in diesem renommierten Hotel bekommen habe. Ich finde es so schade – das sollte ich wohl wieder nicht sagen –, dass dein Vater sich nicht über dein Talent zu nähen und Kleider zu entwerfen freuen kann. Denn du hast dein Dirndl selbst genäht, oder?«, fragte Margit nach einer Pause sanft. »Es ist so hübsch, vor allem die Stickerei auf dem Mieder.«

Margits Worte über den Vater hatten ins Schwarze getroffen und Eva wehgetan. Ihr Blick hellte sich wieder auf. »Ja, das ist mein eigener Entwurf …«, gab sie zögerlich zu.

»Ich weiß noch genau, wie du immer die schönsten Kleider für unsere Puppen genäht hast. Einfach so, ohne irgendeine Vorlage. Du hast die tollsten Kreationen gezeichnet. Du bist begabt, Eva. Willst du nicht doch noch eine Lehre als Schneiderin machen?«

»Mir reicht es, in meiner Freizeit zu schneidern«, wehrte Eva ab und wechselte schnell das Thema. »Margit, erzähl mir von deiner Arbeit.«

Aber Margit hörte ihr gar nicht zu, sie richtete sich auf und deutete zu der Voliere, die eben am Rand der Terrasse aufgestellt worden war. »Oh, schau mal …«

Ein wenig entfernt davon hatte sich eine Gruppe von Leuten versammelt, die etwas miteinander besprachen, vielleicht eine Filmszene. Eva erkannte sofort Romy Schneider, die auch in Alltagskleidung strahlend hübsch aussah. Magda Schneider erschien ihr dagegen ziemlich matronenhaft. Eva war kein großer Fan von ihr, irgendwie war sie ihr immer zu bieder. Und da war der Regisseur Ernst Marischka, wieder mit einer Zigarre im Mund. Die anderen in der Gruppe kannte sie nicht.

»Weißt du, wer die alle sind?«, wandte sie sich neugierig an Margit. »Also, außer, Romy und Magda Schneider und dem Regisseur …«

»Nee, ich hab nur sagen hören, dass der Mann mit dem Hut und dem Schnurrbart, der neben Romy Schneider steht«, Margit wies auf einen untersetzten Herrn in den Fünfzigern, »der Kameramann ist. Den Namen hab ich vergessen, aber er hat wohl mit Veit Harlan gearbeitet.«

»Oh …« Veit Harlan hatte den berüchtigten NS-Propagandafilm Jud Süß gedreht. Deswegen hatte es nach dem Krieg einige Prozesse gegeben, mit großen Berichten in den Zeitungen. Eva hatte den Film nie gesehen. Aber was sie darüber wusste, fand sie abstoßend.

Eine große schlanke Frau um die fünfzig trat jetzt zu der Gruppe. Sie war sehr elegant, hatte attraktive, etwas strenge Gesichtszüge und strahlte etwas Einschüchterndes aus.

»Und das, warte mal, sie hat so einen seltsamen Namen«, hörte Eva die Cousine sagen. »Das ist … Jetzt hab ich’s! Gerdago, sie ist die Kostümbildnerin.«

»Das ist Gerdago? Und sie hat die Kostüme zu Sissi entworfen?« Eva fuhr auf.

»Ja, und?« Margit zuckte mit den Schultern.

»Gerdago, also, das ist ihr Künstlername, eigentlich heißt sie Gerda Iro oder Gerda Gottstein. Sie war auch für die Kostüme von Mädchenjahre einer Königin und Maskerade verantwortlich, der Film hatte schon in den Dreißigerjahren Premiere, ich hab ihn in einer Wiederholungsvorführung gesehen und fand die Gewänder hinreißend elegant.« Evas Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Da war dieses schwarze, schmal geschnittene Kostüm mit dem kurzen Samt-Jäckchen und …«

»Den hab ich auch gesehen! Aber wer die Kostümbildnerin war, habe ich mir nicht gemerkt«, unterbrach Margit sie erstaunt.

Eva sah wieder den Raum mit den wunderschönen Kleidern vor sich. Ach, wenn sie all die Roben doch nur noch einmal betrachten könnte.

Kapitel 2

Eva erwachte am nächsten Morgen voller Vorfreude auf den Tag. Sie sprang aus dem Bett und öffnete die Fensterläden. Tiefblau breitete sich der See unter ihr aus, die Alpen mit ihren Schneefeldern schienen zum Greifen nah, und der Himmel war wolkenlos. Außenaufnahmen stand also nichts im Wege. Sie war fest entschlossen, bei den Dreharbeiten zuzusehen. Das würde sie schon schaffen. Sie wusch sich und zog sich schnell an. Dann machte sie sich auf den Weg ins Erdgeschoss.

Am Abend, als Margit ihrer Arbeit als Zimmermädchen nachgegangen war, hatte sie die letzten Brote aus dem Essenspaket der Mutter auf einer Bank am Seeufer gegessen und war nicht im Restaurant gewesen. Bei dem Gedanken, alleine dort zu frühstücken, war ihr ein bisschen unbehaglich zumute. Bestimmt war alles sehr elegant und luxuriös. Warum konnte sie nicht auch so selbstbewusst und weltgewandt sein wie Margit?

Der Frühstücksraum war in lichten Tönen gehalten, die Stühle hatten Bezüge aus hellem Chintz, und auf den Tischen lagen Silberbesteck und kunstvoll gefaltete Stoffservietten. Unsicher blickte Eva sich um. Durfte sie sich setzen, wohin sie wollte? Zu ihrer Erleichterung kam Rolf, der junge Kellner vom gestrigen Nachmittag, auf sie zugeeilt und nahm sie unter seine Fittiche. »Fräulein Eva, einen wunderschönen guten Morgen! Wenn Sie mir bitte folgen würden?« Er dirigierte sie zu einem kleinen Tisch vor einem Fenster und reichte ihr dann die Frühstückskarte. »Möchten Sie Kaffee, ja? Und ein gekochtes Ei? Wachsweich? Sehr gerne! Und darf ich Ihnen einen Orangensaft empfehlen?«

Eva entschied sich für Toast und Marmelade statt Brötchen – zu Hause gab es das nicht oft. Dann entfernte er sich mit einer angedeuteten Verbeugung. Er schien sich Margits Wunsch, sich um Eva zu kümmern, wirklich zu Herzen genommen zu haben. Neugierig blickte sie sich um. Die anderen Gäste waren vornehm gekleidet, sie fühlte sich in ihrem Dirndl ein wenig deplatziert. Die meisten Männer trugen Anzug und Krawatte, die Frauen Kleider oder Kostüme aus teuren Stoffen und von erstklassiger Machart. Die Schauspieler konnte sie zu ihrem Bedauern nirgends entdecken. Eva vertrieb sich die Zeit damit sich vorzustellen, wie sie da einen Kragen größer nähen und dort für eine Jacke einen anderen Stoff nehmen würde. Sie tat das ganz oft, Kleidungsstücke in Gedanken umgestalten, wenn sie auf etwas warten musste, es war ihr zur Gewohnheit geworden.

Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Gespräch mit Margit am vergangenen Nachmittag. Es stimmte einfach nicht, dass es ihr reichte, in ihrer Freizeit zu nähen. Sie liebte es, ebenso wie die Abendkurse, in denen sie lernte, Schnittmuster zu kreieren. Ein paar hatte sie inzwischen besucht. Nach dem Lyzeum hätte sie darum kämpfen sollen, eine Lehre als Schneiderin zu machen. Doch damals hatte sie dem Vater noch vertraut, dass er wusste, was das Beste für sie sei, und ihm nachgegeben. Und jetzt verbrachte sie ihre Tage damit, für die Geschäftsführung einer großen Druckerei langweilige Briefe zu schreiben.

»Fräulein Eva …« Der junge Kellner stand mit einem Tablett neben ihr. »Fräulein Margit hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass sie heute Abend gegen sechs Zeit hat, ihr Dienstplan hat sich geändert.« Selbst bei dieser Mitteilung errötete er.

Eva unterdrückte ein Schmunzeln. »Vielen Dank, Rolf.«

»Haben Sie denn für heute schon Pläne?« Er goss ihr, die linke Hand hinter dem Rücken, schwungvoll etwas Kaffee ein.

»Ich möchte bei den Dreharbeiten zusehen. Kennen Sie einen Platz, von dem aus man einen guten Blick auf die Terrasse und das Seeufer hat?« Sie war sich sicher, dass dort gedreht würde, weshalb hätten sich die Filmleute sonst vor der Vogel-Voliere besprechen sollen? Doch die Antwort des Kellners war enttäuschend. »Meines Wissens werden heute Aufnahmen in Bad Ischl gemacht.«

»Oh, das ist ja schade. Wo denn dort?«

»Da habe ich leider keine Ahnung, aber ich kann Ihnen gerne eine Busverbindung heraussuchen, bestimmt spricht es sich in dem Ort schnell herum, wo gefilmt wird. Bad Ischl ist nicht groß.«

Hoffentlich hatte Rolf recht.

Rolf hielt Wort, und eine gute halbe Stunde später durchquerte Eva, nachdem sie noch schnell auf ihrem Zimmer gewesen war, um ihren Rucksack zu holen, die Halle. Sie hatte die Eingangstür fast erreicht, als sie eine tiefe Männerstimme rufen hörte: »Hallo, Fräulein!«

Verwundert drehte sie sich um. »Ja, bitte, meinen Sie mich?«

Der beleibte Regisseur Ernst Marischka und ein schlanker, braun gebrannter Mann Ende dreißig kamen auf sie zu. »Ja, genau, um Sie geht es mir.« Der Regisseur musterte sie kritisch von oben bis unten. Dann wandte er sich an seinen Begleiter. »Das Fräulein würde passen, oder?«

»Ich denke schon.« Der schlanke Mann nickte.

»Aber …« Eva öffnete den Mund, um zu fragen, was das zu bedeuten habe, doch der Regisseur fiel ihr ins Wort: »Haben Sie heute schon was vor?«

»Ich, nein …«

»Uns ist eine Statistin ausgefallen. Sie wollen doch bestimmt in einem Film mitwirken, oder? Jeder will das.«

Eva stockte der Atem. »Ich soll Statistin sein, in Sissi?«

»Ja, genau das.«

Ihr verschlug es die Sprache. »Na… natürlich will ich das!«, stammelte sie.

»Schön, schön, hab ich’s doch gewusst.« Der Regisseur tätschelte Evas Arm und verschwand.

»Kommen Sie mal mit.« Der schlanke Mann winkte ihr, ihm zu folgen.

»Ich werde wirklich Statistin sein?« Eva starrte ihn an, unfähig, sich von der Stelle zu rühren.

»Ja, wie oft wollen Sie es denn noch hören? Und fünfundzwanzig Schillinge gibt’s außerdem. Aber jetzt stehen Sie hier nicht herum. Wir haben sowieso schon zu viel Zeit verloren.« Der schlanke Mann bog in einen Flur. Die Angst, er könnte es sich anders überlegen, riss Eva aus ihrer Starre, und sie lief hinter ihm her. Es kam ihr wie ein Traum vor.

Gleich darauf öffnete der Mann die Tür zu dem Raum, in dem die Filmkostüme hingen. »He, ist da wer?«, rief er. Als keine Antwort kam, wies er Eva an zu warten, und eilte davon.

Sie würde als Statistin in einem Film mitwirken! Und eben hatte sie noch befürchtet, die Dreharbeiten zu verpassen. Eva wurde ganz schwindelig. Ob sie vielleicht im nächsten Moment in ihrem Zimmer unter dem Dach wieder aufwachen würde?

Der schwache Geruch nach Talkumpuder und Parfüm war jedoch ganz real, und das Kleid auf der Schneiderpuppe mit den silbernen Stickereien wirkte echt. Vorsichtig berührte Eva den beigefarbenen, seidig schimmernden Stoff. Aber sie stutzte. Er fühlte sich nicht kühl und glatt an. Das war gar keine Seide, das war …

»Sagen Sie mal, was machen Sie denn da?« Der scharfe Ton ließ Eva zusammenzucken und zurückweichen. Eine schlanke, elegante Frau mit sehr verärgerter Miene kam auf sie zu. Es war: Gerdago. »Wer sind Sie überhaupt?«

»I… ich …«, stotterte Eva. »Mein ... mein Name ist Eva Vordemfelde.«

»Und was haben Sie hier überhaupt zu suchen?«

»Ich … ich sollte warten. Ich werde als Statistin gebraucht.« Eva fühlte sich wie eine Schülerin, die von der Lehrerin bei einer Untat ertappt worden war.

»Ach, Sie hat man dafür auserkoren.« Gerdago fasste sie bei den Schultern und betrachtete sie prüfend. »Gut, Sie sind schlank und mittelgroß, das Kostüm sollte Ihnen passen.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich schicke Ihnen meine Assistentin, sie wird Ihnen bei der Anprobe helfen. Aber fassen Sie so lange gefälligst nichts an.«

»Es tut mir leid. Mir kommt das alles wie ein Traum vor …« Eva holte tief Luft. Sie musste das einfach sagen. »Ich finde diese Kostüme so schön. Und Ihre Kostüme in Maskerade und in Mädchenjahre einer Königin fand ich auch schon wunderschön.« Sie verstummte verlegen.

»Da schau her, Sie sind ja gut informiert.« Gerdago schien amüsiert.

»Ja, und ich habe auch in Filmzeitschriften über Sie gelesen. Und … darf ich Sie etwas fragen?«

»Meinetwegen, wenn Sie sich kurzfassen, ich habe nicht viel Zeit.«

»Der Stoff des Gewandes auf der Schneiderpuppe. Ich dachte es sei Seide. Aber es ist Nylon, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt.«

»Aber die Stickereien sind doch so aufwendig …«

»Und jetzt möchten Sie wissen, warum diese kostbaren Stickereien auf einem verhältnismäßig billigen, synthetischen Stoff gefertigt wurden?«

»Ja, genau.«

»Es gab nicht genug Seide.« Gerdagos Stimme klang trocken.

»Oh …«

»Seit Kriegsende sind erst zehn Jahre vergangen. Deshalb ist Seide in so großen Mengen, wie wir sie für all die Kostüme benötigt hätten, einfach nicht zu bekommen. Beantwortet das Ihre Frage?«

»Ja, das tut es.« Wieder kam sich Eva wie ein Schulmädchen vor.

»Gut, denn jetzt muss ich wirklich weiter.« Gerdago nickte ihr knapp zu, dann verließ sie den Raum.