Glücklich sind die Mutigen - Beate Sauer - E-Book

Glücklich sind die Mutigen E-Book

Beate Sauer

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das große Finale der Fernsehschwestern-Saga

Die aufstrebende junge Schauspielerin Joan Vordemfelde bringt alles mit, was man in ihrer umkämpften Branche braucht: Talent, Schönheit, den Willen zum Erfolg. Doch wer es ganz nach oben schafft und wer nicht, das bestimmen immer noch Männer. Das muss Joan bitter erfahren, als sie mit einem berühmten Regisseur arbeitet, der ihre Bewunderung für ihn grausam missbraucht. Doch die Frauen der Familie Vordemfelde halten zusammen: Gemeinsam stellen sie sich dem Establishment der mächtigen Fernsehbranche – und bekommen Unterstützung von unerwarteter Seite.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 607

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Für ihren Beruf würde Franka alles tun. Als Fernsehjournalistin das Weltgeschehen durch die Mattscheibe ins heimische Wohnzimmer holen – das ist unvergleichlich. Darunter leidet die Beziehung zu ihrer Tochter Joan. Die junge Frau ist ein vielversprechendes Schauspieltalent, sie liebt die Bühne und den Film. Doch diejenige, deren Applaus sie am dringendsten braucht – ihre Mutter –, ist nicht für sie da. Joan kämpft weiter für ihren Traum, sie erringt erste Erfolge und ist stolz. Als Joan auf einen Starregisseur trifft, den sie tief verehrt, scheint ihr Glück vollkommen. Er jedoch nutzt seine Macht über sie schamlos aus, richtet sie fast zugrunde. Allerdings hat er seine Rechnung ohne die starken Frauen in Joans Familie gemacht. Wenn es hart auf hart kommt, sind sie füreinander da, vor allem Franka, Joans Mutter. Und sie werden sich wehren.

Die Autorin

Beate Sauer studierte katholische Theologie und Philosophie und absolvierte danach eine journalistische Ausbildung. Dabei wurde ihr klar, dass ihr Herz noch viel mehr für selbst ausgedachte Geschichten schlägt. Mit ihren historischen Romanen und Kriminalromanen hat sie bereits eine große Fangemeinde erobert. Als Kind schaute sie in den Siebzigerjahren gebannt »Ich wünsch mir was« mit Kater Mikesch und Biber Schlurf, »Robin Hood«, »Bezaubernde Jeannie« und »Sissi«. Die Begeisterung für Film und Fernsehen begleitete Beate Sauer ihr ganzes Leben lang und hat sie zu ihrer Fernsehschwestern-Saga bei Heyne inspiriert.

Lieferbare Titel

Wunder gibt es immer wieder

Morgen ist ein neuer Tag

BEATE SAUER

Glücklichsind die Mutigen

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Die Zeilen aus Kabale und Liebe sind zitiert nach: Friedrich Schiller: Kabale und Liebe, Reclam 2014.

Originalausgabe 11/2024

© 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Gisela Klemt

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von © ullstein bild (ddrbildarchiv.de / Morgenstern); Shutterstock.com (suns07butterfly)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29023-8V001

www.heyne.de

Kapitel 1

Franka blickte hektisch auf ihre Armbanduhr, während sie die Tauentzienstraße entlanghastete. Verdammt! Es war schon drei, sie würde es nicht mehr rechtzeitig ins KaDeWe zum Treffen mit ihrer Tochter Joan schaffen. Sie hatte das Studio des SFB schon viel früher verlassen wollen, aber der Schnitt ihres Beitrags über eine Gruppe von Menschenrechtlern in der DDR hatte länger gedauert als geplant. Die Cutterin der ARD-Anstalt Sender Freies Berlin war noch jung und unerfahren, und so hatte Franka wie auf glühenden Kohlen gesessen, bemüht, sich ihre Ungeduld nicht anmerken zu lassen.

Hoffentlich war Joan auch unpünktlich. Sonst würde sie ihr, Franka, bestimmt vorwerfen, dass sie ihre Arbeit mal wieder an die erste Stelle setzte. Was ein häufiges Streitthema zwischen ihnen war.

Im Laufen hangelte Franka eine Zigarette aus ihrer Manteltasche und zündete sie an, wohl wissend, dass sie zu viel rauchte. Aber sie brauchte das, wenn sie angespannt war. Seit sie vor ein paar Tagen nach Berlin gekommen war, um über die Protestbewegung in der DDR zu berichten, stand sie unter Strom. Und sosehr sie sich auf das Treffen mit ihrer Tochter freute, es machte sie auch nervös. Denn ihr Verhältnis war nun mal leider kompliziert.

Vor dem Eingang des KaDeWe nahm Franka noch einen tiefen Zug von der Zigarette. Dann warf sie die Kippe fort und stürmte in das luxuriöse Kaufhaus, ohne den exquisiten Waren einen Blick zu schenken. Die Rolltreppen nahm sie im Laufschritt.

Das Restaurant Silberterrasse im fünften Stock war gut besucht. Eilig schaute Franka sich um, doch zu ihrer Erleichterung konnte sie Joan nirgends entdecken. In diesem Moment wurde an den Fenstern zum Balkon ein Tisch frei, und Franka nahm ihn rasch in Beschlag. Sie und Joan liebten die Aussicht von hier oben.

Franka hängte ihre mit Lammfell gefütterte Lederjacke über die Stuhllehne und erklärte dem Kellner, dass sie mit der Bestellung warten würde, bis ihre Tochter hier sei. Aufatmend ließ sie sich auf dem Stuhl zurücksinken und widerstand der Versuchung, sich erneut eine Zigarette anzustecken.

Unten, auf der breiten Straße, brauste der Verkehr. Neben vielen Tischen im Restaurant standen die edlen Einkaufstüten des KaDeWe. Die Kellner bewegten sich geschmeidig zwischen den Gästen hin und her, servierten appetitlich angerichtete Salate, leckere Sandwiches und feine Kuchen. Ein Mann mittleren Alters las eine Zeitung, deren Überschrift auf der Titelseite Franka mit dicken Lettern entgegensprang: »Auf verlorenem Posten? SED wählt neues Politbüro«. Dies war das einzige Anzeichen auf die faszinierenden, ungeheuerlichen, vielleicht weltbewegenden Ereignisse auf der anderen Seite der Mauer, im Ostteil Berlins und der ganzen DDR.

Seit Monaten protestierten dort Bürgerinnen und Bürger gegen das SED-Regime und für die Demokratie, und es wurden immer mehr. Vor ein paar Tagen waren dafür allein in Ost-Berlin mehr als eine Million Menschen auf die Straßen gegangen. Als Journalistin war Franka mit einem Kamerateam dort gewesen, hatte die Demonstrierenden interviewt.

Sie hatte versucht, professionelle Distanz zu wahren. Dennoch hatten sie der Mut und die Furchtlosigkeit der Menschen zutiefst bewegt. »We shall overcome« – der Protestsong aus ihrer Jugend ging ihr seitdem nicht mehr aus dem Sinn. Würde die SED-Diktatur vielleicht wirklich stürzen? Dieses spießige, repressive System … Sie hoffte es so sehr. Einmal war sie stundenlang an der Grenze festgehalten worden, weil sie vergessen hatte, das Magazin Der Spiegel aus ihrer Reisetasche zu nehmen. Ein anderes Mal hatte man sie festgenommen, weil sie bei einer Recherche von der offiziell genehmigten Reiseroute abgewichen war und sich heimlich mit einigen Punks getroffen hatte. Es kam schon einem Wunder gleich, dass man sie diesmal überhaupt wieder hatte einreisen lassen.

Als am Eingang des Restaurants eine zierliche, junge Frau erschien, hörte Franka schlagartig auf zu grübeln. Große Augen leuchteten in dem herzförmigen Gesicht wie Sterne. Ihr Herz zog sich vor Mutterstolz zusammen. Diese bildschöne blonde Frau war ihre Tochter Joan. Jetzt strich sie sich eine Locke aus der Stirn und schaute sich suchend um. Franka hob die Hand und winkte. Nur um gleich darauf zu sehen, wie sich die Köpfe der Männer im Restaurant zu Joan umwandten. Sie trug einen der gerade angesagten Stadtanzüge. Die superkurze Hose endete oben an den Oberschenkeln, den weiten Blazer trug sie offen, und unter der weich fallenden Bluse zeichneten sich ihre Brüste deutlich ab. Franka bemerkte nur zu gut, dass auch der Zeitungsleser das Blatt sinken und seinen Blick lüstern über Joans wohlgeformte Beine gleiten ließ. Wütend funkelte sie ihn an. Dann hatte Joan auch schon ihren Tisch erreicht, und Franka stand auf, um ihre Tochter fest zu umarmen.

»Tut mir leid, Mama, dass ich zu spät bin.« Joan hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Ich bin auch noch nicht lange hier und …« Die Freude, Joan zu sehen, mischte sich mit einer jähen Angst um sie, und es platzte aus Franka heraus: »Mein Gott, Joany, musst du unbedingt in so einer kurzen Hose herumlaufen?« Im nächsten Moment hätte sie sich ohrfeigen können, denn prompt schob ihre Tochter trotzig das Kinn vor. »Mama, was soll denn das? Seit wann bist du so spießig? Und überhaupt, wie seid du und Tante Lilly in meinem Alter denn herumgelaufen? Ich kenne doch die Fotos. Eure Röcke gingen kaum über den Po.«

Franka sparte sich die Erwiderung, dass dies vor allem auf Lilly zugetroffen und sie selbst dezentere Kleidung getragen hatte. Außerdem war ihre Schwester resolut und schlagfertig und wusste sich zu wehren, anders als ihre sensible Tochter. »Joany, entschuldige«, lenkte sie ein.

Diese verdrehte die Augen. »Bitte nenn mich nicht so.«

»Tut mir leid.« Franka hob die Hände. Ein unbehagliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.

»Was hättest du denn gern?«, fragte Franka schließlich in dem Bemühen, die Situation zu entspannen, und reichte Joan die Speisekarte. Stumm vertiefte ihre Tochter sich darin.

Schließlich entschied sie sich für einen Salat und ein Wasser – Franka verkniff sich die Bemerkung, dass sie mal wieder sehr dünn war und besser ein, zwei Kilo zunehmen sollte. Sie selbst wählte ein Sandwich, ebenfalls ein Wasser und einen Espresso.

»War die Generalprobe gut?«, versuchte sie dann, ein Gespräch in Gang zu bringen. »Ich bin so gespannt auf die Premiere!«

»Du kommst also?«

»Ja, natürlich, das hab ich dir doch schon vor ein paar Tagen gesagt.«

Joans skeptische Miene verursachte Franka die üblichen Schuldgefühle, weil sie als alleinerziehende, ledige Mutter oft nicht so für ihre Tochter hatte da sein können, wie sie es sich gewünscht hätte. Joan erklärte brüsk, dass sie mal zur Toilette müsse. Bedrückt sah Franka ihr nach, als sie anmutig wie eine Tänzerin durch das Café schritt.

Schon im Kindergarten hatte Joan es geliebt, auf der Bühne zu stehen. Franka erinnerte sich noch genau, wie ihre kleine Tochter Pippi Langstrumpf gegeben hatte, wie gerührt sie gewesen war. Und wie überrascht, weil dieses sonst oft schüchterne Mädchen auf einmal eine umwerfende Präsenz entfaltet hatte und wie verwandelt gewesen war. Den unbekümmerten Mut, den Witz und die Kraft hatte man ihr sofort geglaubt, als sie mit breitem Grinsen im sommersprossigen Gesicht, die Hände in die Seiten gestützt, auf der Bühne stand und keck zu den Zuschauern blickte.

Bei Aufführungen in der Grundschule und im Gymnasium war das nicht anders gewesen. Immer schien die Luft um Joan zu flirren, wenn sie auf der Bühne stand. Doch wegen wichtiger beruflicher Termine hatte Franka immer wieder mal Theateraufführungen ihrer Tochter verpasst.

Am Ende hatte sich Joans großer Traum erfüllt, und sie hatte eine Ausbildung zur Schauspielerin an der renommierten Otto Falckenberg Schule in München ergattert. Und jetzt spielte sie die Madame Marie de Tourvel in Gefährliche Liebschaften. Das Theater in Charlottenburg war klein, aber es war Joans erste Rolle nach ihrer Abschlussprüfung und ein wichtiger Part.

Der Kellner brachte das Bestellte, und Joan setzte sich wieder zu ihr. Franka drückte die Zigarette, die sie sich mittlerweile doch angesteckt hatte, in dem Aschenbecher aus. »Du kommst genau richtig.«

Joans Miene entspannte sich. »Scheint so. Und um auf deine Frage zurückzukommen: Die Generalprobe war ziemlich chaotisch.«

»Oh, das tut mir leid.«

Joan winkte ab. »Es ist eigentlich ein gutes Zeichen, wenn diese Probe chaotisch ist. Dann läuft in der Regel bei der Aufführung alles nach Plan.« Ein Lächeln, wie ein plötzlicher Sonnenstrahl an einem bewölkten Tag, erhellte ihr Gesicht.

»Bist du aufgeregt?«

»Ja, schon, es ist ja eine wichtige Rolle.« Joan spießte Salat auf ihre Gabel und senkte den Kopf.

»Ich kann mir vorstellen, dass Madame de Tourvel nicht einfach zu spielen ist.«

»Du hast das Stück gelesen?«

»Sobald ich wusste, dass du die Rolle hast.«

»Oh, wirklich?« Joan errötete vor Freude. »Du hast recht. Madame de Tourvel bemüht sich verzweifelt, ihrem Gatten treu zu bleiben. Aber den perfiden Verführungskünsten des Vicomte de Valmont kann sie in ihrer unerfahrenen Tugendhaftigkeit nichts entgegensetzen. Ich fand es sehr schwierig, diesen Zwiespalt auszudrücken.«

»Aber jetzt kannst du ihn spielen?«, fragte Franka behutsam.

»Ich hoffe es.« Joan seufzte, und ihr Gesicht verdüsterte sich. »Lass uns bitte nicht mehr darüber reden. Sonst werde ich nervös.«

»Das verstehe ich.« Franka drückte ihre Hand.

Joan stocherte in ihrem Salat herum. »Ich hab übrigens deinen Beitrag über die riesige Demonstration in Ostberlin gesehen«, sagte sie dann und legte die Gabel beiseite. »All die Menschen, die für ihre Freiheit auf die Straße gegangen sind … Ich hab eine Gänsehaut bekommen.«

»Mich hat das auch sehr bewegt.« Franka nickte. »Der Mut der Menschen und ihr Glaube an eine friedliche Revolution, das war einfach …« Sie suchte nach Worten. »… überwältigend.«

»Denkst du denn, es geht gut? Oder fürchtest du, dass die DDR-Führung doch noch mit der Armee gegen die Demonstranten vorgeht? So wie die chinesische Regierung im Juni gegen die Studenten?« Besorgt schaute Joan Franka an.

Die schrecklichen Fernsehbilder vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 2. Juni hatten sich in Frankas Gedächtnis gebrannt. Während der Demonstration in Ostberlin hatte sie bei all ihrem Enthusiasmus immer mal wieder die bange Frage gestreift, was wäre, wenn plötzlich Panzer auf die friedlich Protestierenden zurollen und Soldaten beginnen würden, in die Menschenmenge zu schießen. »Ich hoffe, die DDR-Führung reagiert rational. Günter Schabowski hat während der Demonstration ja erklärt, die politische Wende sei nun nicht mehr aufzuhalten. Es war sowieso eine Sensation, dass führende DDR-Politiker zu den Protestlern gesprochen haben, auch wenn sie ausgepfiffen wurden. Auf die Unterstützung der Sowjetunion kann die DDR-Führung jedenfalls nicht mehr zählen, falls sie doch darauf spekulieren sollte, das Militär einzusetzen.«

Wieder kam Franka sich in dem eleganten Restaurant vor wie in einer geschützten Blase. Es gab genug Beispiele, dass Regierende sich an ihre Macht klammerten und nicht davor zurückschreckten, ein Blutbad anzurichten – auch wenn sie inständig hoffte, dass das in der DDR nicht geschehen würde.

»Hoffentlich setzen sich die Demonstranten durch, und die DDR-Führung tritt ab, und es gibt freie Wahlen«, sagte Joan nachdenklich.

»Hoffentlich … Und wenn ja, wer weiß, vielleicht werden die BRD und die DDR irgendwann doch wieder ein Land.«

»Obwohl das bedeuten würde, dass der Kapitalismus gesiegt hätte?« Joan grinste Franka an.

»Hast du etwa mit Lilly telefoniert, und hat mich meine Schwester mal wieder als eine sozialistische Eiferin dargestellt?«, ging Franka auf die Frotzelei ein.

»Mit Tante Lilly nicht, aber mit Susanna. Sie hat mir alles Gute für die Premiere gewünscht. Tante Lilly und sie wollen in den nächsten Wochen mal nach Berlin kommen und sich das Stück ansehen.«

Joan und ihre nur ein Jahr jüngere Cousine hätten, wie Franka fand, kaum unterschiedlicher sein können. Susanna war sehr ausgeglichen und rational, sie hatte keinerlei künstlerische Ambitionen und studierte mit Begeisterung Jura. Dennoch verstanden Joan und sie sich gut.

»Wie schön.«

»Laut Susanna macht Tante Lilly übrigens mal wieder eine Diät. Zurzeit isst sie nur Ananas.«

Franka stöhnte genervt auf. »Um Himmels willen. Kürzlich waren es Kartoffeln, dann hat sie gar keine Kohlehydrate mehr gegessen.« Im nächsten Moment hätte sie sich am liebsten auf die Lippen gebissen. Vor ein paar Jahren hatte Joan an einer massiven Essstörung gelitten. Aber ihre Tochter zuckte nur mit den Schultern und bezog die Bemerkung glücklicherweise nicht auf sich. »Susanna und ich finden ja auch, dass Tante Lilly das nicht nötig hat. Aber sie will als Fernsehansagerin nun mal immer perfekt aussehen.«

»Es wird höchste Zeit, dass es endlich auch mal rundliche Ansagerinnen und Nachrichtensprecherinnen gibt«, erwiderte Franka und bremste sich im nächsten Moment. Die Zeit mit Joan war zu schade, um sich über einengende weibliche Schönheitsideale aufzuregen. »Okay, Themawechsel. Deine Oma wünscht dir viel, viel Glück für die Premiere.«

»Ich hab vorhin auch mit ihr telefoniert. Sie hat behauptet, es gehe ihr schon ein bisschen besser. Aber sie hat kaum ein Wort herausbekommen, so heiser war sie.«

»Ohne diese Grippe hätte nichts sie davon abgehalten, zu der Vorstellung zu kommen und dich auf der Bühne zu bewundern.«

»Das weiß ich doch.« Joans Miene wurde weich.

Franka schämte sich wegen des Stichs der Eifersucht, der sie durchzuckte. Da sie berufstätig war, hatte ihre Mutter Annemie, Joans Oma, oft bei der Betreuung der Kleinen einspringen müssen. Manchmal, wenn Franka wegen einer Recherche oder eines Drehs unterwegs gewesen war, hatte Joan tagelang bei Annemie gelebt. Die beiden sahen sich nicht nur sehr ähnlich und besaßen diese selbstverständliche Anmut und Eleganz, sie liebten sich auch innig.

Am Nebentisch wechselten die Gäste. Joan griff nach ihrem Glas, doch statt daraus zu trinken, schlug sie plötzlich die Hände vors Gesicht. »O nein«, stöhnte sie, »wie konnte ich das nur vergessen! Ich hätte es dir als Erstes erzählen sollen.«

»Was ist denn?« Franka erschrak.

Joan legte eine dramatische Pause ein, ehe sie sagte: »Stell dir vor … Tante Eva und Chris werden heiraten!«

»Das sind ja wirklich Neuigkeiten.« Franka war perplex. »Eva hatte sich doch geschworen, es bei zwei gescheiterten Ehen zu belassen, und Chris ist ja auch schon einmal geschieden.«

»Nach seinem Herzinfarkt im letzten Jahr haben sie es sich anders überlegt. Verheiratet zu sein, macht wohl vieles einfacher. Gegenüber Ärzten und so … Tante Eva hat gelacht und gesagt, sie würden es beide als eine Vernunftehe betrachten. Wobei sie sich natürlich sehr zugetan sind.«

»Werden sie denn in Kalifornien heiraten? Oder erst nach Evas Umzug in Deutschland?«

»In Los Angeles, im ganz kleinen Kreis, nur mit ein paar Freunden.« Joan trank einen Schluck Wasser. »Das mit der Ehe verstehe ich ja. Aber an Tante Evas Stelle würde ich niemals Los Angeles verlassen, um in München zu leben.«

»Na ja, Eva hat mal erzählt, dass es in Hollywood mit den Aufträgen für sie als Kostümbildnerin immer schwieriger wird. Und dann Chris’ Herzinfarkt …«

»Ja, ich weiß, das ständige Fliegen zwischen L. A. und München ist anstrengend, sein Lebensmittelpunkt als Regisseur ist nun mal Deutschland, und Eva findet hier leichter Arbeit als Chris in den USA. Trotzdem, ich hätte Hollywood niemals gegen München eingetauscht.« Joan verzog den Mund. »Hollywood …«, wiederholte sie nach einer kurzen Pause, während sie plötzlich ihre Arme weit ausbreitete und den Kopf lachend in den Nacken warf, »ich komme … irgendwann, aber ganz sicher, komme ich!«

Ein Flirren, als ob sie auf der Bühne stünde, umgab sie wie eine magische Aura, die Gäste unterbrachen ihre Gespräche und wandten sich zu ihr um.

»Ich wünsche dir, dass du es schaffst«, erwiderte Franka lächelnd und verbarg ihre Sorge, ob ihre empfindsame Tochter, falls sie wirklich einmal in Hollywood drehen sollte, dem gnadenlosen Filmgeschäft gewachsen sein würde.

Der Kellner trat an ihren Tisch und starrte Joan bewundernd an. »Kann ich den Damen noch etwas bringen?«, fragte er.

Joan schreckte auf. »Was …? Nein danke. Wie spät ist es eigentlich?« Sie schaute hastig auf ihre Armbanduhr. »O nein, schon vier! Ich muss schleunigst los.«

»Ich begleite dich zum Ausgang.« Franka beglich die Rechnung, und zusammen fuhren sie auf den Rolltreppen nach unten ins Erdgeschoss. Joan war nun ganz geistesabwesend, als sei sie in Gedanken schon bei der Vorführung.

Draußen, vor einem der riesigen Schaufenster, blieben sie stehen. Die Novemberdämmerung hatte sich bereits über die Stadt gelegt. Das Scheinwerferlicht der Autos und Busse auf der Tauentzienstraße schimmerte milchig durch die feuchte Luft.

»Bis später im Theater«, sagte Franka sanft und zog ihre Tochter an sich.

»Ja, bis nachher.« Joan machte sich los, ging ein paar Schritte, kehrte plötzlich jedoch zu Franka zurück und schlang ihr impulsiv die Arme um den Hals. »Ach, Mama, ich freu mich so, dass du kommst«, flüsterte sie.

Mit einem dicken Kloß im Hals sah Franka ihrer Tochter nach, als sie gleich darauf in Richtung U-Bahn davoneilte. Obwohl sie auf ihren hochhackigen Schuhen fast rannte, bewegte sie sich wie immer anmutig. Ihr Kind … das Kostbarste in ihrem Leben.

Kapitel 2

Lilly versuchte zu ignorieren, dass die im Lauf der letzten Stunden verzehrte halbe Ananas unangenehm in ihrem Magen rumorte. So richtig gut vertrug sie das Obst leider nicht. Rasch rückte sie die übergroße Brille auf ihrer Nase zurecht und zog den breitkrempigen Hut tiefer in die Stirn. Dann betrat sie das Foyer des vornehmen, neobarocken Steigenberger in der Frankfurter Innenstadt. Den Empfangschef im dunklen Anzug an der Rezeption kannte sie von früheren Besuchen. Sie wusste, er war diskret.

»Guten Tag, ich werde von Herrn Ahlsen erwartet«, sagte sie beiläufig. Der grauhaarige Mann neigte höflich den Kopf und konsultierte sein Gästebuch.

»Suite 4, gnädige Frau«, erwiderte er dann ebenso beiläufig.

Den von dezentem Licht erhellten Aufzug hatte Lilly für sich allein. Prüfend betrachtete sie sich in den verspiegelten Wänden. Die übergroße Brille mit Fensterglas war natürlich unvorteilhaft, aber zusammen mit dem Hut erfüllte sie ihren Zweck – man erkannte sie, die Fernsehansagerin Lilly Wenck, wenn überhaupt erst auf den zweiten Blick. Nicht auszudenken, was für einen Skandal es gäbe, wenn die Presse erführe, dass sie, die Gattin des Programmdirektors des Saarländischen Rundfunks, und der Schauspieler Stewart Fry, mit bürgerlichem Namen Michael Ahlsen, ein Verhältnis hatten.

Abgesehen von der Brille, war sie mit ihrem Aussehen durchaus zufrieden. Der breite, eng anliegende Gürtel des Mantels betonte ihre Wespentaille. Dank des Aerobickurses dreimal die Woche und ihrer Diäten hatte sie sich ihre schlanke Figur bewahrt, und auch noch mit Anfang vierzig war ihr Gesicht nahezu faltenlos. Die grauen Strähnen in ihrem Haar ließ sie seit einiger Zeit blondieren. Aber eine Schönheitsoperation war glücklicherweise noch nicht nötig.

Nun kam der Aufzug mit einem leisen »Pling« zum Stehen. Beschwingt stöckelte Lilly den mit dickem Teppichboden ausgelegten Korridor entlang. Die Maskerade und das heimliche Tête-à-Tête;ließen schon jetzt das Blut schneller in ihren Adern kreisen. Das zweimalige Klopfen an der Tür der Suite war ein Code.

Stewart – sie nannte ihn immer mit seinem Künstlernamen, der so viel romantischer war als Michael – öffnete ihr unverzüglich. Das Hemd hing lässig über seiner Hose, im Halsausschnitt schimmerte sein Brusthaar. Es gab ja Männer, die sich da neuerdings rasierten, aber Lilly fand das Brusthaar sehr männlich. Groß und breitschultrig, mit sinnlichen Lippen und blauen Augen hatte Stewart, wie sie mal wieder fand, Ähnlichkeit mit Robert Redford. Er war schon barfuß.

»Ich habe Champagner für uns kalt gestellt«, murmelte er in ihr Ohr, während er sie an sich zog.

Lilly schüttelte den Kopf. »Ich will zuerst dich.« Schon auf dem Weg ins Schlafzimmer knöpfte sie sein Hemd auf, fuhr mit den Fingern spielerisch über seine Brust, ließ ihre Hand dann kundig tiefer wandern. Auf ihren schwarzen High Heels war sie fast so groß wie er.

Stewart stöhnte auf, er öffnete ihren Gürtel, dann ihren Mantel. Während seine Lippen über ihren Hals wanderten, kehrte Lilly ihm den Rücken zu. Heiße Erregung durchflutete sie, als er den Reißverschluss ihres Kleides aufzog und es ihr abstreifte.

In einem schwarzen, mit Spitzen besetzten Korsett und Strapsen stand sie jetzt vor ihm. Herausfordernd lächelte sie ihn an.

»Oh, mein Gott …« Stewart seufzte heiser auf. Dann hob er sie hoch und trug sie zum Bett.

Beide zitterten vor Erregung, während er das Korsett und die Strapse öffnete, ihr die Seidenstrümpfe auszog. Es war ein erprobter Teil ihres Vorspiels, steigerte ihr gegenseitiges Verlangen. Dann war Lilly nackt und zog ihn auf sich. Sie küssten sich, bissen sich vor Lust, und schon bald darauf drang Stewart in sie ein. Ihr Sex war wie immer hart, wild und überwältigend intensiv.

Danach lag Lilly in Stewarts Armen, angenehm müde und sehr zufrieden.

»Jetzt Champagner?«, flüsterte er nach einer Weile.

»Gern«, murmelte Lilly. Schläfrig verfolgte sie, wie Stewart aufstand. Mit Ende dreißig hatte er immer noch einen göttlich straffen Körper. Er schlenderte zu dem versilberten Kühler, entkorkte die Flasche und goss den Champagner in zwei Schalen. Hinter dem großen Fenster breitete sich inzwischen der Abendhimmel aus, durchsetzt von hell erleuchteten Hochhäusern.

»Ich schau dir in die Augen.« Lächelnd beugte Stewart sich zu ihr. Er hatte Lilly mal anvertraut, wie sehr er Humphrey Bogart um die Rolle in Casablanca beneidete. Die Gläser klirrten leise, als sie miteinander anstießen. Kühl und prickelnd rann der Champagner Lillys Kehle hinunter.

Mit der freien Hand streichelte Stewart ihren Rücken. »Du kannst hoffentlich über Nacht bleiben?«

»Ja, ich habe Rudolf gegenüber behauptet, ich würde mit einer Freundin in die Oper gehen.« Sie dankte wieder einmal dem Himmel, dass ihr Mann so gutgläubig war.

»Liebling, manchmal wünschte ich mir, wir würden uns viel öfter sehen. Und nicht nur, um miteinander Sex zu haben. Bei dir kann ich der sein, der ich wirklich bin … Nicht immer der Schauspieler.«

Um Himmels willen … Lillys angenehme Schläfrigkeit verflog mit einem Schlag. Vor einigen Jahren hatte sie eine Affäre mit einem jungen Schauspieler gehabt, der sich leider in sie verliebt hatte. Es hatte sie sehr viel Mühe gekostet, ihm ein Engagement in Hamburg zu verschaffen. Das war weit genug entfernt, damit er sie möglichst schnell vergaß. Seitdem achtete sie sorgsam darauf, sich nur mit verheirateten Männern einzulassen. Derartige Komplikationen wollte sie nicht noch einmal haben.

Lilly strich mit dem Zeigefinger sachte über Stewarts Lippen. »Ja, es wäre schön, wenn wir uns öfter treffen könnten«, hauchte sie, »aber viel zu gefährlich. Denk an deine Frau und deine Kinder.«

»Wir beide hätten uns viel früher begegnen sollen …«

»Schatz, wir haben doch immerhin unsere heimlichen Treffen.« Sie musste aufpassen, dass es sich nicht zu sehr wie »uns bleibt immer noch Paris« anhörte. »Außerdem liebt deine Frau dich sehr und du sie im Grunde deines Herzens auch«, fügte sie rasch hinzu. Dann goss sie ein bisschen Champagner auf Stewarts Brust und leckte ihn spielerisch ab.

Stewart sog scharf die Luft ein, dann drehte er sie lachend auf den Bauch. »Du verruchtes Luder!«

Außerdem ermöglicht deine Frau dir mit ihrem ererbten Vermögen ein Leben, das du dir als Schauspieler gar nicht leisten könntest, fügte Lilly in Gedanken hinzu. Nun, das würde Stewart hoffentlich spätestens dann wieder einfallen, wenn er in seinen geliebten Porsche stieg und zu der herrschaftlichen Villa im Taunus brauste.

Im nächsten Moment stöhnte Lilly lustvoll auf, als seine Hände ihre Oberschenkel auseinanderdrückten. Auf keinen Fall wollte sie sich von Stewart trennen müssen. Der Sex mit ihm war einfach zu gut.

Kapitel 3

Das kleine, familiengeführte Hotel, in dem Franka untergekommen war, lag in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms, nur wenige Minuten vom KaDeWe entfernt. In ihrem Zimmer erledigte sie ein paar berufliche Telefonate und vertiefte sich anschließend in die Süddeutsche Zeitung und die FAZ. Dann war es auch schon Zeit, dass sie sich umzog. Rasch tauschte Franka ihre Jeans und den sportlichen Pullover gegen einen langen Rock und eine Seidenbluse und die bequemen Stiefel gegen schicke Pumps. Sonst lag ihr nicht viel an eleganter Kleidung, aber für Joans Premiere machte sie gern eine Ausnahme.

Wieder erfüllte sie ein zärtlicher, schmerzlicher Stolz auf ihre Tochter. Joans Vater Frieder, ein Polizeikommissar, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Franka noch gar nicht lange mit ihm zusammen gewesen war und überhaupt noch nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst hatte. Sie war sehr in Frieder verliebt gewesen, und die Trauer um ihn hatte sie schier erdrückt. Erst ein paar Jahre nach Joans Geburt hatte Franka es geschafft, sich wieder auf eine Beziehung einzulassen. Mittlerweile hatte es einige Männer in ihrem Leben gegeben, und sie dachte nur noch selten an Frieder.

Aber jetzt fragte sie sich, wie es wohl wäre, mit ihm gemeinsam zur Premiere zu gehen und als stolze Eltern im Parkett zu sitzen. Gleich darauf schob sie den Gedanken energisch beiseite. Er war einfach schrecklich sentimental.

Die Leuchtziffern des Radioweckers standen auf kurz nach sieben. Es war noch Zeit, schnell den Deutschen Fernsehfunk, das Fernsehen der DDR, einzuschalten, ehe sie sich auf den Weg machte. Vielleicht fand jetzt ja die Pressekonferenz mit Mitgliedern der SED-Führung statt, auf die in den DDR-Nachrichten früher am Tag hingewiesen worden war.

Franka drückte den Knopf der Fernbedienung und griff nach ihrem Mantel. Tatsächlich, der Sekretär für Informationswesen, Günter Schabowski, ein Mann Anfang sechzig mit braunen Augen, ordentlich zurückgekämmtem Haar und randloser Brille, erschien auf dem Bildschirm. Er hatte die Ausstrahlung eines biederen Versicherungsvertreters, war jedoch ein Hardliner. Hatte man ihn vorgeschickt, um Repressionen gegen die Demokratiebewegung zu verkünden?

Draußen im Flur des Hotels lachte jemand, eine Tür schlug zu. Franka war kurz abgelenkt.

»Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen«, sagte Günter Schabowski jetzt.

Wie bitte? Ungläubig starrte Franka auf den Bildschirm, das Blut rauschte in ihren Adern. Konnte das wirklich bedeuten, dass …?

Bei der Pressekonferenz formulierte ein Kollege die Frage, die ihr durch den Kopf schoss. »Ab wann tritt das in Kraft?«

Schabowski suchte in seinen Unterlagen. »Nach meiner Kenntnis ist das … tritt das sofort in Kraft«, sagte er dann. »Ja, unverzüglich«, bekräftigte er noch einmal, an die Journalisten gewandt.

Franka fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht, atmete tief durch. Schabowksi hatte soeben tatsächlich verkündet, dass die Grenze geöffnet wurde! Ihre Gedanken und ihr Herz rasten. Sie musste sofort einen Grenzübergang nach Ostberlin aufsuchen, verfolgen, was nun dort geschah, darüber berichten!

Mit zitternden Händen griff Franka nach dem Telefon, wollte ihr Kamerateam verständigen. Sie hatte die Nummer bis auf die letzte Ziffer gewählt, als sie eine Erkenntnis durchzuckte. Joans Premiere … Wenn sie zur Grenze fuhr, würde sie das Theaterstück verpassen.

Und wenn sie sich erst die Aufführung anschaute und dann …? Aber in den zwei, drei Stunden konnte so unendlich viel geschehen!

Falls die Mauer, das Stein gewordene Zeugnis der SED-Herrschaft, durchlässig wurde, war das ein welthistorisches Ereignis. Als Journalistin durfte sie das nicht verpassen! So etwas erlebte sie wahrscheinlich nur ein einziges Mal im Leben. Aber da war auch Joan. Franka spürte ihre Arme um ihren Hals, und ihr glückliches »Ach, Mama, ich freu mich so, dass du kommst« klang ihr im Ohr.

Verdammt! Verdammt! Innerlich hin- und hergerissen, hämmerte Franka mit der Faust auf den Schreibtisch.

In ihrem Kostüm im Stil des achtzehnten Jahrhunderts, die verschränkten Arme eng vor den Körper gepresst, schritt Joan in der Garderobe des Theaters auf und ab. Ihr war schlecht vor Aufregung, ihr Kopf war ganz leer, sie konnte sich an kein einziges Wort ihres Textes erinnern. So war das immer vor Aufführungen. Auch während ihrer Ausbildung an der Otto Falckenberg Schule in München hatte sie das so erlebt. Doch obwohl dieser Zustand eine Qual war, wollte Joan ihn keinesfalls missen. Er gehörte unabänderlich zu ihrem Dasein als Schauspielerin dazu, war die Bedingung dafür, dass sie in weniger als einer Stunde auf die Bühne treten und zu leben beginnen würde.

Denn zu spielen bedeutete für sie leben. Schon bei ihren ersten Auftritten als Kind hatte sie das gespürt, ohne es richtig benennen zu können. Auf der Bühne konnte sie die sein, die sie auch im wirklichen Leben gern gewesen wäre. Der Schmetterling, der sich aus der Larve befreite. Die Frau, die das Publikum in ihren Bann zog.

Als Jugendliche hatte sie sich eine Zeit lang selbst verloren, sich dick und hässlich gefühlt und deshalb Angst gehabt, sich anderen Menschen zu zeigen. Jenes Jahr, in dem sie wegen ihrer Probleme nicht hatte spielen können, war die schlimmste Phase ihres Lebens gewesen. Als sie schließlich angefangen hatte, ihren inneren Zwiespalt mit Alkohol zu betäuben, hatte ihre Mutter sie in die Jugendpsychiatrie einweisen lassen. Joan war darüber außer sich vor Wut gewesen und hatte sich anfangs der Behandlung verweigert. Doch einer Therapeutin war es schließlich gelungen, ihren Panzer zu durchdringen. Und sie hatte Joan in ihrem Wunsch bestärkt, Schauspielerin zu werden.

Nach der mittleren Reife hatte Joan ein paar Monate bei ihrer Tante Eva in Los Angeles gelebt und dort eine Schauspielschule besucht – eine wunderbare, bestärkende Erfahrung, die ihr über ihre quälenden Selbstzweifel hinweghalf, als ihre ersten Bewerbungen an deutschen Schauspielschulen und -akademien abgelehnt wurden.

Ihrer Mutter hatte sie nie anvertraut, wie belastend diese Monate gewesen waren, wenn sie vorspielte, auf Zusagen hoffte und dann doch nur Absagen erhielt. Joan verstand selbst nicht, warum, aber da war in ihr immer eine Schranke, die sie daran hinderte, sich ihrer Mutter wirklich anzuvertrauen. Aber mit Eva hatte sie in jener Zeit viel telefoniert. Ihre Tante hatte ihre peinigenden Selbstzweifel ernst genommen, als Kostümbildnerin kannte sie die ja auch, und Joan immer wieder darin bestärkt, nicht aufzugeben.

Ein Lächeln huschte über Joans Gesicht. Auch wenn sie es nicht verstand, dass Eva nach Deutschland zurückkehrte, es würde schön sein, sie jetzt öfter treffen zu können. Eva war für sie viel eher eine ältere Freundin als eine Tante. Lilly, die temperamentvoll und exaltiert war, mochte sie auch. Aber mit Eva verband sie etwas Besonderes, vielleicht, weil sie beide Künstlerinnen waren.

»Joan, da ist jemand für dich am Telefon!« Die Garderobiere hatte den Kopf zur Tür hereingesteckt. »Aber mach’s kurz, ja? Du musst noch geschminkt werden.«

»Schon gut, ich beeil mich, versprochen.« Wahrscheinlich war es Oma, die ihr noch mal Glück wünschen wollte. Mit ihrem breiten, steifen Rock schob Joan sich im Gang vorsichtig an ein paar Beleuchtern vorbei, gleichzeitig atmete sie tief den unverwechselbaren Theatergeruch ein, eine Mischung aus Talkumpuder, Farbe und Politur. Das Telefon befand sich im Flur an der Wand, in der Nähe des Bühnenausgangs. Lächelnd nahm Joan den Hörer in die Hand. »Oma …?«

Eine kurze Pause, dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter, sie klang eilig und gepresst. »Nein, Joany, ich bin’s, Mama. Joany, es scheint sich etwas Unglaubliches anzubahnen! Ich kann es selbst noch kaum fassen. Stell dir vor, vielleicht wird die Mauer heute Nacht geöffnet! Schabowski hat so was eben in einer Pressekonferenz angedeutet.«

Joan sog scharf die Luft ein. Es war ihr sofort klar, worauf das hinauslaufen würde. »Du willst also mit einem Team an die Grenze?«

»Ja, ich muss einfach dabei sein, wenn das wirklich geschieht! Aber ich versuche, nach der Pause zu kommen, versprochen. Du hast deine großen Auftritte ja erst später im Stück.«

Joan fühlte die gleiche abgrundtiefe Enttäuschung in sich aufsteigen, wie wenn sie als Kind ihre Mutter vergebens im Publikum gesucht hatte. Sie hätte sich ihr so gern gezeigt, ihr vor Augen geführt, welche Fortschritte sie gemacht hatte und dass sie jetzt wirklich eine Schauspielerin und nicht mehr eine Amateurin war.

»Joany, ich hoffe, das ist in Ordnung für dich?«

Natürlich war es das nicht. Aber sie hatte jetzt nicht die Energie, sich mit ihrer Mutter zu streiten. »Ja, klar«, erwiderte sie steif.

»Wirklich?«

»Ja, es wäre toll, wenn die Mauer fallen würde.« Die Garderobiere blieb jetzt bei Joan stehen und deutete mahnend auf ihre Armbanduhr. »Mama, ich muss in die Maske«, sagte sie rasch, froh, das Gespräch beenden zu können.

»Hals- und Beinbruch, mein Schatz.«

»Danke.«

Während Joan zur Garderobe zurückeilte, sagte sie sich, dass sie kein Kind mehr war. Es war nicht wichtig, ob ihre Mutter sich das Stück anschaute oder nicht. Aber die Enttäuschung saß wie ein schmerzender Stachel in ihr: Wenn es darauf ankam, war für ihre Mutter die Arbeit immer wichtiger als ihre Tochter.

Kapitel 4

Ein penetranter Ton ließ Annemie aus dem Schlaf aufschrecken. Um sie herum war es dunkel. Kurz fühlte sie sich orientierungslos, doch dann begriff sie, dass sie in eine Decke eingekuschelt auf dem Sofa im Wohnzimmer lag. Sie hatte sich eine Kultursendung im Fernsehen anschauen wollen, war aber schnell zu müde gewesen. Diese lästige Erkältung schaffte sie wirklich, deshalb hatte sie beschlossen, ein Nickerchen zu machen.

Laut der Digitalanzeige am Videorekorder war es halb acht. Um Himmels willen … Sie hatte mehr als vier Stunden vor sich hingedöst!

Nun setzte der penetrante Ton wieder ein. Die Türklingel! Stöhnend richtete Annemie sich auf, schlüpfte in ihre Pantoffeln und wickelte sich enger in den Morgenmantel, den sie über ihrem Pyjama trug. Dann tappte sie in die Diele und spähte durch den Türspion.

Dank des Bewegungsmelders war der Vorplatz hell erleuchtet. Annemie blinzelte überrascht. War sie so benebelt von ihrer Erkältung, dass sie sich nur einbildete, ihre Enkelin Susanna draußen stehen zu sehen, oder war sie es wirklich?

Wieder ertönte die Klingel. »Oma?«

Das war, sehr real, die Stimme ihrer Enkelin.

Annemie öffnete die Haustür. »Susanna, Kind, was machst du denn hier?«

»Oma, Gott sei Dank, ich hab mir schon Sorgen gemacht!« Susanna trat, begleitet von Annemies rot-weiß getigertem Kater Rosso, in die Diele. Unter ihrem Mantel trug sie eine schicke schwarze Hose aus Satin und an den Ohren Kreolen, was Annemies Eindruck von Unwirklichkeit noch verstärkte. Ihre Enkelin bevorzugte sonst Jeans und Cordhosen und benutzte kaum Schmuck. Ein heftiger Hustenanfall schüttelte Annemie. »Schnell rein mit dir, Oma.« Susanna schloss energisch die Haustür und führte sie ins Wohnzimmer.

»Mama hat mir gesagt, dass du krank bist.« Susanna unterbrach sich und musterte Annemie prüfend. »Du siehst wirklich ziemlich mitgenommen aus. Ich bin hier in Bonn zu einer Party eingeladen, eine Mitstudentin feiert Geburtstag, da dachte ich, ich schau mal schnell nach dir.«

»Das ist sehr lieb, aber du hättest nicht kommen sollen – nicht, dass du dich noch ansteckst.« Die Freude über den unerwarteten Besuch und die Sorge um Susannas Gesundheit stritten sich in Annemie.

Susanna winkte ab und hängte ihren Mantel über die Sessellehne. »Ich war schon ewig nicht mehr erkältet.« Groß und schlank, wie sie war, mit den braunen Augen und den langen, dunklen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, war sie Franka wie aus dem Gesicht geschnitten. Wieder einmal dachte Annemie, wie eigenartig es war, dass ihre beiden Enkeltöchter jeweils ihren Tanten und nicht ihren Müttern ähnlich sahen. Sie kämpfte gegen die Müdigkeit an, die sie schon wieder überkam. Rosso hatte sich neben ihr aufs Sofa gefläzt und schnurrte zufrieden.

»Tut mir leid, ich bin heute keine gute Gastgeberin. Magst du ein Glas Wasser oder einen Saft?«

»Oma, du bist krank. Bleib bitte einfach auf dem Sofa sitzen. Kann ich dir was zu trinken bringen? Ich übernachte bei Freunden in Bonn. Bevor ich morgen Vormittag nach Mainz zurückfahre, kann ich auch gern für dich einkaufen gehen.«

»Das ist nett, aber meine Freundin Katja erledigt das für mich, du kennst sie ja, sie wohnt nur ein paar Straßen entfernt. Und die Damen aus meinen Gymnastikkursen kümmern sich auch.« So lästig Annemie ihre Erkältung auch fand, war sie doch über all die Fürsorge gerührt. Der bunte Herbststrauß auf dem Couchtisch stammte von einer Schülerin, und andere hatten ihr Schokolade oder Tee vorbeigebracht. »Aber, Kind, hast du denn morgen keine Vorlesungen?«, fiel ihr plötzlich ein.

»Doch, aber die lasse ich mal ausfallen.« Susanna zuckte mit den Schultern und grinste.

Bei der immer sehr pflichtbewussten jungen Frau war so etwas eigentlich eher ein gutes Zeichen, fand Annemie. Sie war auch immer gern zur Schule gegangen, ganz anders als Joan … Joan, wie hatte sie das nur vergessen können!

Abrupt richtete sie sich auf. Der Kater bedachte sie mit einem missbilligenden Blick. »Joan hat jetzt gleich Premiere!«

Susanna nickte. »Ich hab auch gerade daran gedacht. Ich kann es kaum erwarten, mit Mama in die Vorstellung zu gehen. Bestimmt habe ich bald eine berühmte Cousine! Opa will die Vorstellung übrigens auch besuchen. Das hat er mir erzählt, als er mich vor ein paar Tagen in Wiesbaden zum Essen eingeladen hat.«

»Oh, tatsächlich?« Annemie versuchte, ihre Stimme neutral klingen zu lassen. Das Verhältnis zu Axel, ihrem Ex-Mann, hatte sich im Laufe der Jahre so weit gebessert, dass sie sich zu Weihnachten und zum Geburtstag Karten schrieben, herzlich war es jedoch nicht. Für die sensible, komplizierte Joan hatte er sich nie sehr interessiert, anders als für die ausgeglichene, strebsame Susanna. Ob sich das jetzt änderte, weil er hoffte, dass Joan als Schauspielerin Karriere machte? Axel war es schon immer sehr daran gelegen, sich im Glanz von Berühmtheiten zu sonnen. Aber vielleicht entdeckte er wirklich seine Zuneigung zu seiner anderen Enkelin, und es war gemein, dass sie ihm schlechte Beweggründe für sein Interesse unterstellte.

»Oma …«, Susanna beugte sich besorgt vor, »… dir fallen ja gleich die Augen zu. Ich geh lieber wieder, dann kannst du dich ins Bett legen. Und nein, du musst mich nicht zur Tür bringen. Bis morgen Vormittag!«

»Hab einen schönen Abend, Kind.« Lächelnd sah Annemie zu, wie Susanna in ihren Mantel schlüpfte und auf für sie ungewohnt hohen Absätzen – Absätze, die Lilly wahrscheinlich dennoch als flach bezeichnet hätte – das Zimmer durchquerte. Gleich darauf klappte die Haustür zu.

Susanna hatte recht, sie sollte ins Bett gehen. Aber stattdessen wanderte Annemies Blick zu dem Porträtfoto an der Wand. Ein älterer Herr mit offenen Gesichtszügen und gütigen Augen schaute sie davon an. Wehmut und Dankbarkeit stiegen in ihr auf – Max, die große Liebe ihres Lebens. Nach ihrer freudlosen Ehe mit Axel waren ihr siebzehn glückliche Jahre mit Max vergönnt gewesen. Jahre voller Zuneigung, Geborgenheit und Wärme. Jeder Tag mit ihm war ein Geschenk. Bei ihm hatte sie wachsen, ihren vielfältigen Interessen nachgehen können. Noch wenige Wochen vor seinem Tod vor zwei Jahren, nach einer kurzen, unheilbaren Krebserkrankung, hatte er sie ermutigt, sich an dem neumodischen Aerobic zu versuchen. Das erste Video mit Jane Fonda hatte sie sich, an ihn geschmiegt, angesehen. Annemie war überzeugt gewesen, für die schnellen Übungen zu der rhythmischen Musik viel zu alt zu sein. Aber Max hatte nur lächelnd gesagt: »Natürlich kannst du das.« Und so war es dann auch gekommen, sie unterrichtete Aerobic jetzt einmal in der Woche.

Max war Joan ein liebevoller, großzügiger und geduldiger Großvater gewesen. Auch in der schwierigen Phase ihrer Essstörung und ihrer Alkoholprobleme hatte er immer daran geglaubt, dass sie ihren Weg gehen würde. Wie hätte er sich über ihre heutige Premiere gefreut!

Rosso sprang jetzt auf den Boden, reckte sich ausgiebig und gähnte. Annemie musste ebenfalls gähnen.

»Du hast recht, ich sollte endlich ins Bett gehen«, sagte sie und stand auf. Der Kater folgte ihr.

In der Diele öffnete sie ihm die Haustür. Rosso strich kurz um ihre Beine, ehe er, den Schwanz hocherhoben, in der Dunkelheit verschwand.

Im oberen Stockwerk putzte Annemie sich die Zähne, zum Duschen war sie zu müde. Nachdem sie noch einen Löffel Hustensaft und eine Halstablette genommen hatte, legte sie sich schlafen.

Bilder von Joan zogen ihr durch den Sinn. Vor ein paar Tagen hatte ihre Enkelin ihr Fotos von den Kostümproben geschickt: Joan in einem zartgrauen Seidenkleid im Stil des Rokoko, eine weiß gepuderte Perücke auf dem Kopf. Teils allein, teils mit anderen Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne. Selbst auf den Bildern hatte sie eine große Präsenz ausgestrahlt. Es war gar nicht nötig, sie den Text sprechen zu hören. Ihre Gestik und Mimik hatten all die Gefühle ihrer Figur ausgedrückt. Morgen gleich nach dem Frühstück würde sie ihre Enkeltochter anrufen und fragen, wie die Premiere verlaufen war. Sie war so gespannt auf die Kritiken!

Draußen auf der Straße waren plötzlich laute, ja aufgeregte Stimmen zu hören, was um diese Uhrzeit im Winter ungewöhnlich für die gutbürgerliche Bonner Südstadt war.

Rief da jemand etwas von einer Mauer? Doch ehe Annemie genauer lauschen konnte, schlief sie ein.

Ein kleines, blondes Mädchen steht auf einer Bühne, es trägt ein goldenes Kleidchen. Wie aus der Ferne sieht Annemie sich, als ob sie in dem dunklen Zuschauerraum säße, und doch ist sie in dem Kind. Ja, sie ist das Kind. Das weiß sie tief in ihrem Innern. Das kleine Mädchen hat Angst. Sein Herz schlägt ganz schnell. Noch andere Menschen sind auf der Bühne, die es in dem gleißenden Scheinwerferlicht nur schemenhaft erkennen kann. Jetzt beugt sich jemand zu ihm. Eine warme Frauenstimme raunt dem Mädchen ins Ohr: »Du kannst das, ich vertraue dir.« Zuversicht erfüllt den kleinen Körper. Das Mädchen rennt los, springt. Etwas katapultiert es in die Luft. Es schlägt einen Salto, kommt auf breiten Schultern zum Stehen, an der Spitze einer menschlichen Pyramide, hoch oben über der Bühne. Donnernder Applaus brandet auf. Ein heißes Glücksgefühl durchströmt das Mädchen. Es fühlt sich leicht und frei, als könnte es fliegen. Dann wird es plötzlich dunkel auf der Bühne. Und ganz kalt. Das Glücksgefühl des Mädchens erlischt jäh. Es verliert jeden Halt, fällt tiefer und tiefer, in einen unendlichen Abgrund aus Traurigkeit.

Ein Miauen weckte Annemie. Ihr war kalt wie in ihrem Traum, und auch die entsetzliche Traurigkeit erfüllte sie immer noch. Zitternd tastete sie nach ihrer Nachttischlampe. Licht flammte auf. Sie hatte die Decke von sich geworfen. Rosso, der durch die Katzenklappe und die angelehnte Schlafzimmertür hereingekommen war, hockte auf dem Boden und schaute sie vorwurfsvoll an.

»Komm …«, wollte Annemie flüstern. Doch verstört, wie sie war, versagte ihr die Stimme. Stumm streckte sie die Hand aus, und der Kater sprang aufs Bett. Seinen vom Schnurren vibrierenden Körper unter ihren Fingern zu fühlen, beruhigte sie etwas. Früher hatte sie diesen Albtraum oft gehabt. In Details hatte er variiert. Aber das Glücksgefühl, das sich in diese furchtbare, lähmende Traurigkeit verwandelte, war immer gleich geblieben. Annemie hatte nie entschlüsseln können, woher der Traum kam, was er bedeutete. Es gab dafür keinerlei Anhaltspunkte in ihrem Leben, denn in ihrer Kindheit hatte sie niemals einen Zirkus besuchen dürfen. In den Augen ihrer großbürgerlichen Eltern war so etwas vulgäre Unterhaltung.

Jahrelang hatte der Albtraum sie nicht mehr heimgesucht, noch nicht einmal nach Max’ Tod, in ihrer tiefsten Trauer. Ob er jetzt wiedergekommen war, weil sie an Joans Premiere gedacht hatte und außerdem fiebrig war? Annemies Atem beruhigte sich, und sie fühlte sich nicht mehr ganz so niedergeschlagen. Ja, so musste es sein. Es wäre zu schrecklich, wenn der Albtraum wieder ihr regelmäßiger Begleiter würde.

Kapitel 5

Heute werde ich zum letzten Mal als Kostümbildnerin auf dem Gelände der Paramount sein, dachte Eva. Vor drei Tagen, bei der Abschiedsfeier mit ihren Kolleginnen und Kollegen, war sie noch ganz gelassen und heiter gestimmt gewesen. Doch nun, während sie die kurvenreiche Straße nahe Los Angeles entlangfuhr, um ihre persönlichen Sachen aus ihrem Büro zu holen und die Schlüssel abzugeben, empfand sie doch eine große Wehmut. Über fünfundzwanzig Jahre hatte sie als Kostümbildnerin für die berühmte Filmproduktionsfirma gearbeitet. Mehr als hundert Filme hatte sie in dieser Zeit ausgestattet. Opulente historische Dramen, romantische Komödien, emotional mitreißende Liebesfilme und auch einige düstere Thriller waren darunter gewesen. Zahlreiche Preise hatte sie mit ihren Kostümen gewonnen, und einmal war sie – der Höhepunkt ihrer Karriere – sogar für den Oscar nominiert gewesen.

Aber auch wenn es schmerzte, Hollywood zu verlassen, war Eva letztlich doch mit sich im Reinen. Und zwar nicht nur wegen Chris’ Krankheit, die es für ihn zu anstrengend machte, häufig zwischen Kalifornien und Deutschland hin- und herzufliegen. Sie wollte auch gern ihre Mutter, ihre Schwestern und ihre Nichten öfter sehen und nicht nur ein- oder zweimal im Jahr – für mehr Reisen nach Deutschland hatte sie meistens neben ihrer Arbeit keine Zeit gefunden. Dazu kam, dass die Werbemaßnahmen und die Merchandising-Strategien für die Blockbuster Unsummen verschlangen, und die Budgets an anderer Stelle, wie auch in Evas Sparte der Kostümbildnerei, immer geringer ausfielen. Ständig hatte sie um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kämpfen müssen. In den letzten Jahren hatte sie oft wochenlang Arbeitstage von zwölf oder sechzehn Stunden gehabt. Sie schaffte das nicht mehr, sie war jetzt Anfang fünfzig – und sie wollte es auch nicht mehr. Chris’ Herzinfarkt hatte ihr drastisch vor Augen geführt, wie kurz und kostbar das Leben sein konnte. In den bangen Stunden auf dem Flur der Intensivstation, als die Ärzte um sein Leben kämpften, hatte sie begriffen, was sie alles viel zu selten mit ihm geteilt hatte. Ganz alltägliche Dinge wie gemütlich im Bett zu frühstücken, abends mit einem Rotwein auf dem Balkon zu sitzen, Strandspaziergänge, durch Städte zu bummeln, aber auch ausgedehnte Reisen zu unternehmen. Sie wollte endlich mehr Zeit mit Chris verbringen, und – sosehr sie ihre Arbeit auch liebte – sie wollte endlich wieder mehr leben.

Einige Haarnadelkurven erforderten Evas ganze Konzentration, kurz blitzte der tiefblaue Pazifik hinter einem felsigen, von Ginster überwucherten Berghang auf. Dann verlief die Straße gerade, was es ihr erlaubte, ihren Gedanken wieder freien Lauf zu lassen. Nachdem sie die Schlüssel bei der Paramount abgegeben hatte, würde sie einen Abstecher zu ihrer Schneiderin machen, zu einer Anprobe ihres – unwillkürlich schmunzelte sie – Hochzeitskleides. Auch wenn Chris und sie im ganz kleinen Kreis nur standesamtlich heiraten würden, wollte sie für diesen Anlass doch ein neues Kleid haben. Natürlich hatte sie es selbst entworfen, jedoch nicht die Zeit gefunden, es auch zu nähen. Aber später würde sie es auch als Cocktailkleid tragen können.

Hinter einer weiteren Kurve tauchte jetzt das breite Tor am Gelände der Paramount auf. Selbst auf die Entfernung von über hundert Metern war das riesige Logo darüber – der weltberühmte schneebedeckte Berg – klar zu erkennen. Eva verringerte die Geschwindigkeit. George, der ältere, schnauzbärtige Mann in dem Pförtnerhäuschen, arbeitete schon fast so lange für das Filmstudio wie sie, er war auch bei ihrer Abschiedsparty gewesen. Wie immer hob er grüßend die Hand und öffnete die Schranke, ohne dass sie sich ausweisen musste.

Eva nickte ihm lächelnd zu und fuhr langsam die von Flachbauten gesäumte Straße zu ihrem Büro entlang. Da und dort wuchsen Palmen auf dem weitläufigen Gelände. Ein vertrauter, alltäglicher Anblick. Bald würde sie solche Bäume überwiegend nur noch in botanischen Gärten sehen. Eine seltsame Vorstellung.

Eva war froh, dass das weiß gestrichene, schlichte Haus, in dem ihr Büro, die Schneiderei und die Räume für die Anproben lagen, an diesem Morgen verwaist war. Ihr Nachfolger, der an der renommierten Parsons School of Design studiert und schon für Studios wie Century Fox gearbeitet hatte, würde erst in ein paar Tagen seine Stelle antreten, und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nahmen an einem Gewerkschaftstreffen teil. Deshalb hatte Eva sich diesen Vormittag ausgesucht, um ihre persönlichen Sachen zu holen.

Das Foto von Chris mit seinem Dreitagebart und dem für ihn so typischen optimistischen Lachen, kurz vor seinem Infarkt aufgenommen, verstaute sie behutsam in dem mitgebrachten Pappkarton, so wie auch Fotografien von ihrer Mutter und ihren Schwestern. Bei den Bildern ihrer Nichten Joan und Susanna hielt Eva kurz inne. Wie die Zeit verging! Es erschien ihr, als wäre es erst gestern gewesen, dass Fotografien der beiden im Säuglingsalter auf ihrem Schreibtisch gestanden hatten. Jetzt waren sie attraktive junge Frauen, bereit, die Welt zu erobern. Es würde schön sein, sie häufiger zu sehen.

Eva legte eine Vase aus Ton, die Chris und sie bei einem Kurzurlaub in Mexiko gekauft hatten, mit in den Karton und einige Steine und Muscheln, gesammelt bei Spaziergängen am Strand und viel zu seltenen Wanderungen in den Bergen. Darüber hinaus gab es an persönlichen Dingen nur noch ihre Farbkästen, Tuschen, Stifte und Pinsel sowie einige leere Skizzenbücher und Blöcke in verschiedenen Formaten.

Als Eva auch dies verstaut hatte, war der Karton voll. Noch einmal schaute sie sich in dem Büro um. Da waren die Regale voller Nachschlagewerke, Bildbände und Ausstellungskataloge, manche stammten von ihren Vorgängern, viele andere hatte sie im Laufe der Jahre für die Paramount erworben. Der große Arbeitstisch, auf dem sie immer ihre Entwürfe und Stoffproben ausgebreitet hatte, und der nun leer geräumte Schreibtisch: Dies alles harrte ihres Nachfolgers.

Nach einigen versonnenen Momenten hob Eva entschlossen den Karton hoch und verließ das Büro. Ihre Karriere war ja mit dem Abschied von der Paramount nicht zu Ende. Nachdem sie sich in München richtig eingelebt hatte, würde sie fürs europäische Kino arbeiten. Kontakte besaß sie viele, sie musste sie nur reaktivieren, und sie freute sich auf die Herausforderung, Kostüme für kleine Filme mit einer individuellen Handschrift zu entwerfen.

Eva verstaute den Karton im Kofferraum ihres Saab. Die Vorstellung, ein letztes Mal den Fundus aufzusuchen, war sehr verlockend. Dort hingen Kostüme aus den Anfangsjahren des Filmstudios – getragen von den Stars Gloria Swanson und Rudolph Valentino – bis zur Gegenwart, so auch Hunderte ihrer eigenen Entwürfe. Immer wenn sie diesen magischen Ort betrat, war es ihr, als ob die Kleider unter ihren schützenden Hüllen zum Leben erwachten und ihr Dialogzeilen zuraunten. Aber sie widerstand. Noch einmal die langen Reihen der Kostüme entlangzuwandern, würde sie wirklich melancholisch stimmen.

Stattdessen stieg sie ins Auto und fuhr los, zum fünfhundert Meter entfernten Verwaltungsgebäude.

Eva hatte ihr Kommen angekündigt. Maureen, die Sekretärin des Verwaltungsdirektors, eine Frau in ihrem Alter mit dunklem Bubikopf, erwartete sie schon. Eva hatte Maureen immer gemocht.

»Hallo, Eva«, sagte sie lächelnd, »für dich ist heute bestimmt ein besonderer Tag.«

»Na ja, ich bin zum letzten Mal hier. Der Abschied fällt mir schon schwer.« Eva zuckte mit den Schultern, sie verstand nicht, warum Maureen sie so strahlend ansah.

»Nein, ich meine, für dich als Deutsche!«

»Wie meinst du das?« Eva kramte in ihrem Gedächtnis, während sie Maureen ihre Schlüssel reichte. Bei Boris Beckers und Steffi Grafs Siegen in Wimbledon und beim Grand Slam hatten die Kollegen sie immer enthusiastisch beglückwünscht, obwohl sie sich nichts aus Tennis machte. Fand im Moment ein wichtiges Turnier statt?

Maureen quittierte ihr den Empfang der Schlüssel und reichte ihr das Formular, während sie erstaunt bemerkte: »Sag bloß, du hast heute noch keine Nachrichten gehört!«

»Nein, das hab ich nicht. Mein Autoradio funktioniert nicht mehr und …« Eva wollte sagen, dass Chris und sie beim Frühstück auf Radio und Fernsehen verzichteten. Aber Maureen fiel ihr ins Wort: »Mein Gott, Eva, den Eisernen Vorhang gibt’s nicht mehr!«

»Wovon redest du?« Eva war immer verblüffter.

»Die Mauer … Sie ist seit gestern Nacht offen. Die Menschen aus der DDR dürfen in den Westen!«

»Wie bitte?«

Maureen setzte zu einer Antwort an, doch ihr Telefon klingelte, und sie nahm den Hörer ab. Gleich darauf setzte sie sich aufrechter hin. »Mark, ja … Ja, ich kann mitschreiben.«

Mark Brandis war der Verwaltungsdirektor. Maureen machte eine entschuldigende Geste und griff zu Stift und Block.

Eva hauchte zum Abschied einen Kuss in die Luft, ehe sie ratlos das Büro verließ.

In den letzten Tagen und Wochen war immer wieder über große Demonstrationen in Ostberlin und der ganzen DDR berichtet worden, die das Ende des SED-Regimes und die Öffnung der Grenze forderten. Aber dass die Regierung tatsächlich nachgegeben haben sollte, war kaum zu glauben. Vielleicht hatte Maureen da etwas missverstanden.

Wieder im Auto, versuchte Eva es mit dem Radio, aber es war nur das wohlbekannte, entnervende Rauschen zu hören. Da sie den Saab vor dem Umzug Mitte Januar verkaufen wollte, lohnte es sich nicht, es reparieren zu lassen – so hatte sie zumindest gedacht.

Eva sah die Mauer vor sich, die ihr im Anflug auf Berlin immer wie eine riesige, brutale Wunde erschienen war. Sie musste wissen, ob die Grenze tatsächlich offen war! Den Abstecher zu ihrer Schneiderin würde sie auf den Nachmittag verschieben.

Als Eva eine halbe Stunde später in ihrer Garageneinfahrt aus dem Wagen stieg, kam Chris schon aus der Haustür. Seine Wangen waren schmal geworden, und der dicke Norwegerpullover hing weit um seinen Körper. Fünf Kilo hatte er bestimmt abgenommen. Auch seine Bewegungen waren seit der Erkrankung langsamer und bedächtiger.

Aber all das war ihr egal, denn seine Augen glänzten.

»Chris, ich hab gehört …«, begann Eva.

»Die Mauer ist offen! Es ist einfach unglaublich, komm mit.« Chris fasste sie am Arm und zog sie ins Haus. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Ein Nachrichtensprecher nannte den Namen »Günter Schabowski« und sagte dann auf Englisch etwas von »Reisefreiheit« und »überraschender Grenzöffnung«. Aber Eva hörte ihm gar nicht richtig zu. Gebannt starrte sie auf die überwältigenden Bilder: eine riesige Menschenmenge, die sich rings um eine schier unendliche Schlange von kleinen Autos von einer Brücke in Richtung Westen schob. Wildfremde Männer und Frauen lagen sich in den Armen, lachten, weinten. Andere standen am Straßenrand und jubelten ihnen zu.

Dann Bilder vom Brandenburger Tor, auch das ein Symbol der geteilten Stadt. Auf beiden Seiten hatten sich Tausende von Menschen versammelt. Sie überwanden die Absperrungen, kletterten auf die Mauer, hakten sich unter, sangen lauthals »So ein Tag, so wunderschön wie heute«.

»Man kann es wohl sagen, in dieser Nacht ist die Berliner Mauer gefallen.« Selbst der routinierte Nachrichtensprecher räusperte sich bewegt.

Eva liefen die Tränen über die Wangen, sie schmiegte sich an Chris, dessen Augen ebenfalls feucht waren. Er drückte sie fest an sich.

»Chris, ich hätte nie gedacht, dass ich das noch erlebe«, flüsterte Eva. »Wir kommen in ein Deutschland, in dem es keine teilende Grenze mehr gibt! Wenn das kein gutes Omen ist …«

»Es könnte kein besseres geben.« Chris beugte sich zu ihr und küsste sie zärtlich.

Kapitel 6

Im Bad ihres Hotelzimmers drehte Franka die Dusche voll auf und ließ das heiße Wasser auf sich prasseln. Was für eine unglaubliche, wunderbare Nacht lag hinter ihr! Die Erinnerung an die Minuten, als die ersten Menschen aus der DDR über die Brücke am Grenzübergang Bornholmer Straße gekommen waren, anfangs nur wenige, dann in einem immer größer werdenden Strom, verursachte ihr immer noch Herzklopfen.

Nach ihren Interviews mit den vor Freude und Rührung überwältigten Menschen waren sie und ihr Kamerateam noch stundenlang durch Westberlin gezogen, hatten festgehalten, wie sich die Straßen ständig mehr mit Trabis und Wartburgs füllten, eine unüberschaubare Menschenmenge den Ku’damm bevölkerte und Männer und Frauen schließlich jubelnd am Brandenburger Tor auf der Mauer standen.

Gegen Morgen war Franka dann ins Studio des SFB am Theodor-Heuss-Platz gefahren, um das Filmmaterial zu sichten und einen sendefähigen Beitrag daraus zusammenzustellen. Danach war sie selbst auch über den Ku’damm gezogen, hatte jegliche professionelle Distanz sein lassen und mit den Menschen ausgelassen gefeiert. In ihrer Jugend hatte sie inständig gehofft, dass die Welt besser und gerechter werden würde. Letzte Nacht schien diese Utopie wahr geworden zu sein.

Schließlich stellte Franka die Dusche ab, denn ihre Haut war inzwischen krebsrot. Sie strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht.

In ihre Freude mischten sich jetzt Schuldgefühle. Wie Joan diese verrückte, wundervolle Nacht wohl erlebt hatte? Wieder hoffte sie, dass ihre Tochter es verstand, dass sie in dieser Situation nicht zu ihrer Premiere hatte kommen können.

In ein großes Handtuch gewickelt, verließ Franka das Bad. Das beim Zimmerservice bestellte Frühstück wartete auf sie, aber aufgekratzt und übermüdet, wie sie war, brachte sie nur eine Tasse Kaffee hinunter. Es war kurz vor zehn, Joan war gewiss schon wach. Franka schlüpfte in frische Unterwäsche, dann in ihre Jeans und den Pullover. So schnell wie möglich wollte sie ihre Tochter sehen.

Joan lebte in einer Wohnung unter dem Dach, in einem Gründerzeithaus in der Nähe des Tiergartens. Außer Atem kam Franka oben an. Ich sollte wirklich weniger rauchen, das würde meinen Lungen guttun, dachte sie zerknirscht.

Eine hübsche junge Frau mit brünettem Pagenkopf öffnete ihr, wahrscheinlich Joans Mitbewohnerin, eine Medizinstudentin.

»Hallo, ich bin Joans Mutter.« Franka reichte ihr die Hand. »Ist meine Tochter da?«

»Ich glaube, sie liegt noch im Bett, aber kommen Sie doch bitte herein. Ich bin übrigens Yvonne.«

Also tatsächlich die Mitbewohnerin, Joan hatte den Namen mal erwähnt. Franka folgte ihr in die kleine Küche.

»Joan war gestern atemberaubend gut.« Yvonne lächelte sie an. »Aber das finden Sie bestimmt auch.«

»Sie waren bei der Premiere?«

»Ja, natürlich.«

Die Selbstverständlichkeit, mit der die junge Frau das sagte und voraussetzte, dass sie, Franka, auch bei der Aufführung gewesen war, verstärkte ihre Schuldgefühle.

»Vorhin kam eine Kritik im Radio. Sie war super, und Joan wurde besonders gelobt. Das hat sie auch wirklich verdient. Sie hat das Publikum verzaubert. Aber jetzt lasse ich Sie nicht länger warten und schaue mal nach ihr.« Yvonne verschwand im Flur.

Nervös ging Franka in der Küche auf und ab. Zum ersten Mal war sie hier. Sie hatte ihrer Tochter angeboten, ihr beim Umzug von München nach Berlin zu helfen, doch Joan hatte das lieber mit Freunden gemacht.

Auf einem Regal entdeckte Franka ein ihr aus der Kindheit vertrautes Geschirr mit Blümchenmuster. Ihre Mutter hatte es Joan anscheinend geschenkt. Ob Joan und sie selbst Spaß bei dem Umzug gehabt und in Erinnerungen geschwelgt hätten, als sie es auspackten? Vielleicht hätten sie abends, nach getaner Arbeit, an dem runden Tisch mit der Resopalplatte gesessen, durch das geöffnete Fenster über die Dächer Charlottenburgs geblickt, Rotwein getrunken und über alles Mögliche geschwatzt. Aber diese Gedanken waren müßig. Joan hatte ihre Hilfe ja nicht haben wollen.

»Hallo, Mama.« Joans Stimme ließ Franka den Kopf wenden. Ihre Tochter, in einen weißen Frotteebademantel gehüllt, lehnte mit verschränkten Armen in der offenen Tür. Ihre Augen waren verquollen vom Schlaf, ihr Kinn abwehrend vorgereckt.

Franka schoss durch den Kopf, dass ihre Tochter als kleines Mädchen auch so einen flauschigen weißen Bademantel gehabt hatte. Mit der unergründlichen Logik von Kindern hatte sie ihn ihren »Feenmantel« genannt. Der Kosename Joany lag ihr auf der Zunge, aber sie verkniff ihn sich gerade noch rechtzeitig.

»Bitte verzeih mir, dass ich gestern nicht zu deiner Premiere gekommen bin …« Sie strich ihrer Tochter über den Arm, aber Joan reagierte nicht auf die Berührung. Kein guter Anfang. Rasch redete Franka weiter. »Es tut mir wirklich sehr leid, und ich kann es verstehen, wenn du enttäuscht und sauer auf mich bist.«

Joan antwortete nicht, zupfte mit abgewandtem Gesicht an ihrem Bademantel herum.

»Heute Abend habt ihr doch auch eine Aufführung. Ich komme ganz bestimmt.« Franka hob die Rechte zum Schwur. »Dieses Mal wird mich nichts davon abhalten. Ich komme, selbst wenn Erich Honecker nach Bonn reist und Helmut Kohl persönlich um die Wiedervereinigung bittet. Was natürlich, zugegeben, ziemlich unwahrscheinlich ist.«

»Wenn du meinst.« Joan zuckte mit den Schultern, ging auf ihren Witz nicht ein.

»Yvonne hat gesagt, dass du umwerfend warst.«

»Meine Kollegen waren auch gut.« Joans Stimme klang sehr flach. Franka fühlte sich immer elender und hilfloser. »Ich werde alle Rezensionen lesen«, beteuerte sie.

»Schön.« Noch immer schaute sie Franka nicht an.

»Hast du vielleicht Lust, irgendwo mit mir frühstücken zu gehen? Ich hab heute Morgen noch nichts gegessen, und du ja offensichtlich auch nicht.«