Morgen ist ein neuer Tag - Beate Sauer - E-Book
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Morgen ist ein neuer Tag E-Book

Beate Sauer

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Beschreibung

Studierendenbewegung, Kulturrevolution und Sozialprotest: Ende der Sechzigerjahre bringt das Fernsehen die große Welt in die heimischen deutschen Wohnzimmer

Inmitten der 68er-Bewegung machen sich die Schwestern Lilly und Franzi Vordemfelde auf in eine abenteuerliche Zukunft. Beide könnten unterschiedlicher nicht sein: Lilly arbeitet beim Unterhaltungsfernsehen, wo sie Glanz und Glamour liebt. »Einer wird gewinnen«, »Spiel ohne Grenzen«, »Der goldene Schuss«, überall ist sie dabei. Franzi ist politisch engagiert: Das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Studierendenproteste, der Mord an Benno Ohnesorg, all das erschüttert sie zutiefst und motiviert sie, mit dem modernen Medium Fernsehen die Welt zu verändern. Doch wie schon ihrer älteren Schwester Eva stehen ihnen die Fesseln ihrer Zeit im Weg – und nicht zuletzt ihr Vater, der solche Umtriebe gar nicht gerne sieht. Wieder müssen die Frauen der Familie Vordemfelde kämpfen. Für die Freiheit, für ihr Glück – und die Menschen, die sie lieben.

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Seitenzahl: 574

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Das Buch

Kulturrevolution und Sozialprotest: Ende der Sechzigerjahre fordern zahlreiche lebenshungrige junge Menschen mehr Freiheit und eine gerechtere Gesellschaft. Auch die beiden Schwestern Lilly und Franka Vordemfelde stürzen sich ins Leben. Lilly arbeitet beim Unterhaltungsfernsehen und genießt es, sich mit Promis und Glamour zu umgeben. Clever und charmant arbeitet sie sich in der knallharten Branche nach oben und stößt dabei immer wieder an Grenzen, die ihren männlichen Kollegen nicht auferlegt werden. Ein Lichtblick ist die Liebe, der sie auf diesem Weg begegnet.

Auch Franka macht sich auf, die Fesseln ihrer Zeit zu sprengen. Sie ist politisch hoch engagiert, und das brutale Vorgehen der Polizei gegen die Studentenbewegung erschüttert sie zutiefst. Die mutige junge Frau möchte die Welt zum Besseren verändern. Und die Fernsehberichte, die von vielen Millionen Menschen tagtäglich gesehen werden, scheinen ihr genau der richtige Weg zu sein, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen.

Die Autorin

Beate Sauer studierte katholische Theologie und Philosophie und absolvierte danach eine journalistische Ausbildung. Dabei wurde ihr klar, dass ihr Herz noch viel mehr für selbst ausgedachte Geschichten schlägt. Mit ihren historischen Romanen und Kriminalromanen hat sie bereits eine große Fangemeinde erobert. Als Kind schaute sie in den Siebzigerjahren gebannt »Ich wünsch mir was« mit Kater Mikesch und Biber Schlurf, »Robin Hood«, »Bezaubernde Jeannie« und »Sissi«. Die Begeisterung für Film und Fernsehen begleitete Beate Sauer ihr ganzes Leben lang und hat sie zu ihrer Fernsehschwestern-Saga bei Heyne inspiriert.

BEATE SAUER

Morgenist ein neuer Tag

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 01/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Gisela Klemt

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design unter Verwendung von ullstein bild (Ludwig Binder, mirrorpix); Shutterstock.com (suns07butterfly)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29022-1V002

www.heyne.de

Kapitel 1

Ende April 1967

Im Flur des kalifornischen Filmstudios Paramount atmete Eva ein paarmal tief durch, um ihr heftig pochendes Herz zu beruhigen. Mittlerweile hatte sie schon oft ihre Entwürfe für Filme oder Theaterstücke präsentiert. Dennoch war sie immer wieder aufgeregt, als sei sie ein Neuling und keine gefragte Kostümbildnerin, deren Name regelmäßig im Abspann von großen Hollywoodfilmen erschien. Ein letztes Durchatmen, dann betrat sie den Besprechungsraum.

Dort hatte sich inzwischen schon das Filmteam versammelt – der Regisseur Derek Linklater, die Kameraleute, der Szenenbildner, die Beleuchter und die Maskenbildnerin.

»Hi, Eva.«

»Hi, Derek!«

Sie tauschte angedeutete Wangenküsse mit der Filmcrew aus, schüttelte Hände. Nach einigen Minuten gut gelaunten Small Talks klopfte der Regisseur vernehmlich auf den Tisch. »Dann wollen wir mal. Eva, wenn du bitte …?«

»Natürlich.« Sie nickte. Erwartungsvolle Stille legte sich über den Raum, während sie den Vorhang an der Längswand beiseite zog. Ihre großformatigen Zeichnungen wurden sichtbar, Stoffproben waren daran angeheftet. Am Morgen hatte Eva sie zusammen mit ihrer Assistentin auf Staffeleien aufgestellt. Es waren Kostümentwürfe für ein Melodram, das Anfang des Jahrhunderts in der glitzernden High Society von New York spielte, wo sich eine Hochstaplerin ihren Platz in der feinen Gesellschaft erkämpfte, beinahe ihre große Liebe verlor und schließlich, nach einer inneren Läuterung, doch ihr Glück fand.

Eva deutete auf eine Zeichnung, und bemüht, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen, lächelte sie in die Runde. »Dieses Kleid trägt Fanny, unsere junge Heldin, in ihrer ersten Szene. Angeblich ist sie eine reiche, verwitwete englische Adelige. Sie steht vor dem Spiegel in ihrem Haus an der vornehmen Upper East Side, überprüft, ob an ihrem Aussehen auch alles korrekt ist. Ihr Kleid im Stil der Jahrhundertwende mit der eng geschnürten Taille, der kurzen Schleppe und dem betonten Gesäß habe ich in eleganten Grautönen gehalten. Das Grau steht für die Armut, der unsere Heldin unbedingt entfliehen will, aber auch für ihr zu Beginn des Films kühl taktierendes Wesen. In vielen Szenen wird Fanny deshalb kühle Töne tragen.« Eva deutete auf einige andere Zeichnungen, ehe sie neben eine weitere Staffelei trat. »Dies hier ist das Kostüm, in dem sich Fanny in den männlichen Helden verliebt. Ich habe grauen Samt dafür gewählt, es mit duftiger Spitze am Ausschnitt und an den Ärmeln versehen und eine Schärpe in einem warmen Rotton hinzugefügt. Als Sinnbild für die tief in ihr verborgene, weiche Seite.«

»Das Kostüm für den ersten Auftritt der Heldin ist aus Seide?«, vergewisserte sich Derek Linklater und zündete sich eine Zigarette an.

Eva nickte. »Ja, natürlich. Seide ist ja, anders als Samt, ein kühles Material und unterstreicht so ebenfalls ihren Charakter.«

»Gut. Wie denkst du, wirken die Kostüme mit ihrer schmalen Silhouette in den prächtigen Räumen der Upper East Side?«, wandte sich Linklater an den Szenenbildner.

Dieser gab seine Einschätzung ab, er sah keine Probleme. Doch Linklater wünschte sich Änderungen an den Ballkleidern, sie sollten üppiger ausfallen. Eva widersprach, in ihren Augen war Fanny eine Frau, die genau wusste, was sie wollte, und die keinen Sinn für verspielten Zierrat hatte. In den folgenden Minuten entspann sich darüber eine lebhafte Diskussion mit Linklater und der Filmcrew. Eva machte sich Notizen zu den Kostümen, akzeptierte Argumente, beharrte bei anderen auf ihrem Standpunkt.

Nach etwa zwei Stunden intensiven Austauschs klatschte Linklater in die Hände und verkündete, dass es Zeit für eine Pause sei.

Eva vermerkte neben einer Zeichnung, dass die Farbe des Nachmittagskleids türkisblau sein sollte, statt wie bisher stahlblau, passend zu den Farben eines vornehmen Salons, in dem eine wichtige Szene spielte. Sie liebte diesen Austausch mit dem Team, liebte es, wenn aus unterschiedlichen Meinungen etwas Neues, Besseres entstand. Bald darauf folgte sie der Crew in die Kantine.

Der lichtdurchflutete Raum war modern, wie das ganze Gebäude. Vor der Fensterfront streckte der Goldmohn seine gelben und orangefarbenen Blüten der Sonne entgegen. Auch die üppigen Mariposa-Lilien blühten schon. Ihr Duft und das salzige Aroma des nahen Pazifiks wehten durch ein geöffnetes Fenster und mischten sich mit dem Geruch von Kaffee, getoasteten Bagels und Sandwiches. Weiter unten am Hang wuchsen Palmen und Zypressen. Pinien breiteten ihre Äste über weißen Villen aus. Da und dort leuchtete das Blau von Swimmingpools inmitten der grünen Vegetation.

Eine Gruppe von Menschen näherte sich jetzt der Kantine, darunter ein breitschultriger Mann Mitte dreißig, dessen braun gebrannte Haut mit seinen blonden Haaren kontrastierte. Ihn zu sehen, zauberte Eva ein Lächeln aufs Gesicht. Seit ein paar Monaten waren sie und der Kameramann Jeremy Rodgers, der gerade für das Filmstudio eine Gesellschaftskomödie drehte, ein Paar. Als hätte Jeremy ihren Blick gespürt, schaute er in ihre Richtung und winkte ihr zu. Wie schön, dass sie für den Abend verabredet waren! Über eine Woche hatten sie sich, jeder eingespannt in seine Arbeit, nicht mehr getroffen.

In Gedanken bei Jeremy, dem geplanten Essen in einem Restaurant am Meer und dem anschließenden Spaziergang am Strand, ging Eva zur Theke und wählte einen Kaffee und ein Käsesandwich.

In dem großen Fernseher an der Stirnwand der Kantine ertönte die Fanfare einer bekannten Nachrichtensendung. Eva bezahlte und wollte sich zu Linklater und ihren Kollegen gesellen, als sie den Sprecher ein Wort sagen hörte, das ihr trotz des amerikanischen Akzents bekannt vorkam. Unwillkürlich wandte sie sich dem Fernseher zu. Jetzt wiederholte der Sprecher es, er sagte »Adenauer«. Was war mit dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler? Eva ging, ihr Tablett in den Händen, näher an den Fernseher heran.

»Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde der am 19. April verstorbene frühere Kanzler der Bundesrepublik Deutschland im Kölner Dom aufgebahrt«, sagte der Nachrichtensprecher gerade.

Gebannt starrte Eva auf den Bildschirm. Sie war so in ihre Arbeit versunken gewesen, dass sie von Adenauers Tod überhaupt nichts mitbekommen hatte, obwohl seither schon fast eine Woche vergangen war. Der Kanzler, der die Geschicke der jungen Bundesrepublik und auch ihre eigene Jugend geprägt hatte, war nicht mehr am Leben!

Auf dem Bildschirm erschien die schwarz-weiße Aufnahme der mächtigen Kathedrale vor einem wolkenverhangenen Himmel, dann weitere Bilder vom Kölner Dom, nun bei Nacht. Ein Sarg wurde, begleitet von einem Fackelzug, durch das Portal getragen. Innenaufnahmen folgten. Eine lange Menschenschlange zog an dem vor dem Altar aufgestellten Sarg vorbei, die Mienen ernst und betroffen, viele tupften sich mit Taschentüchern über die Augen. Ein Schnitt. Soldaten mit Stahlhelmen auf den Köpfen hielten die Totenwache.

Die Kantine der Paramount, das Filmteam an den Tischen, die üppige Vegetation vor den Fenstern – all das nahm Eva nicht mehr wahr. Stattdessen blitzten Bilder in ihrem Gedächtnis auf: das Kanzleramt, ein klassizistisches, weißes Gebäude in Bonn, oberhalb des Rheins. Die Pressebaracken am Rand des Regierungsviertels, dort arbeitete der Vater als leitender Redakteur des Bonner Studios. Ihr Heim im Bonner Süden mit den grünen Fensterläden, inmitten eines Gartens – ein knappes Jahr hatte Eva dort mit ihrer Familie gelebt. Der moderne Bau des WDR am Wallrafplatz in Köln, hier war sie als Sekretärin tätig gewesen, ehe sie sich endlich ihren großen Traum, Kostümbildnerin zu werden, erfüllen konnte. Und auch das Bild von einem jungen, attraktiven Redakteur mit einem selbstironischen Lächeln erschien vor ihrem inneren Auge, Paul, ihre große Liebe und seit vier Jahren ihr geschiedener Mann.

Der heiße Kaffee, der über ihre Hand schwappte, brachte Eva wieder in die Gegenwart zurück. Sie hatte das Tablett schief gehalten.

»Mist«, murmelte sie, und doch wanderten ihre Augen wieder zu dem Fernseher. Die Kamera richtete sich jetzt auf die Staatsgäste, unter ihnen der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson und das französische Staatsoberhaupt Charles de Gaulle. Dann war ein Schiffskonvoi auf dem nebligen Rhein zu sehen, dahinter die düsteren Hänge des Siebengebirges, die Bergkuppen von tief hängenden Wolken verhüllt. Eine Fliegerstaffel donnerte über den Himmel.

»An der Spitze von sechzehn Begleitbooten der deutschen Armee wurde der Sarg des früheren Kanzlers gestern den Rhein hinab zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Friedhof von Rhöndorf in der Nähe von Bonn geleitet«, erläuterte der Nachrichtensprecher. Es war seltsam, die deutschen Orte mit einem amerikanischen Akzent ausgesprochen zu hören, es verstärkte in Eva das Gefühl der Unwirklichkeit. »In seinem Heim in Rhöndorf verstarb der große Staatsmann friedlich im Beisein von Familienangehörigen. Bis zu seinen letzten Lebenstagen war er politisch aktiv. Staatsgäste aus aller Welt würdigten ihn voller Respekt und Wertschätzung.«

»Eva, ist alles in Ordnung mit dir?« Linklater war zu ihr getreten und berührte sie am Arm.

»Ja.« Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Ich bin nur ganz überrascht vom Tod Konrad Adenauers.«

»Hast du die letzten Tage auf dem Mond gelebt? Die Nachrichten waren voll davon.« Linklater grinste gutmütig, blickte dann zu dem Fernseher. »Dieser Schiffskonvoi auf dem nebligen Rhein, das hat was von Wagner, findest du nicht auch? Fehlt nur noch, dass sie die Ouvertüre der ›Götterdämmerung‹ spielen.«

»Mit Adenauers Tod ist eine Ära zu Ende.« Eva zuckte betont leichthin mit den Schultern und folgte Linklater zum Tisch. Aber während sie sich an dem Gespräch beteiligte, in dem es um die Dreharbeiten ging, wanderte ihr Blick immer wieder zu dem Bildschirm. Eine Wehmut erfüllte sie, die sie sich selbst nicht erklären konnte.

Eva schreckte aus dem Schlaf hoch. Einen Moment lang war sie orientierungslos. Dann hörte sie Jeremy leise neben sich atmen, sein Arm lag auf ihrer Hüfte. Der Wecker auf ihrem Nachttisch stand auf halb vier. Sie hatte von Adenauers Begräbnis und von Bonn geträumt. Die Einzelheiten waren zwar mit dem Aufwachen aus ihrem Gedächtnis verschwunden, aber dieses Gefühl von Wehmut war geblieben. Ganz deutlich spürte sie es noch.

Vorsichtig, um Jeremy nicht zu wecken, drehte Eva sich auf die Seite und schloss die Augen wieder. Die nächsten Tage würden anstrengend werden, denn nach der gestrigen Besprechung galt es, die Kostümentwürfe in Schnitte umzusetzen. Wie eigentlich immer bei einer Filmproduktion drängte die Zeit, und sie brauchte dringend ihren Schlaf. Doch sie war hellwach. Als sie die Augen wieder aufschlug, waren die Zeiger des Weckers erst fünf Minuten weitergewandert, obwohl es ihr wie eine Ewigkeit vorkam.

Nein, an Einschlafen war nicht mehr zu denken. Behutsam befreite Eva sich von Jeremys Arm und stieg aus dem Bett. Sie achtete darauf, im Dunkeln nicht über die auf dem Boden verstreuten Kleider zu stolpern. Nachdem Jeremy und sie von dem Restaurantbesuch und dem Ausflug an den Strand nach Hause gekommen waren, hatten sie es kaum abwarten können, sich endlich zu lieben.

An dem Haken neben dem Kleiderschrank fand Eva ihren Morgenmantel. Sie schlüpfte hinein und schlich ins Wohnzimmer. Auch bei Nacht war der Blick aus dem Panoramafenster atemberaubend. Unterhalb von Evas kleinem Haus fiel ein mit Büschen und Sträuchern bewachsener Berghang steil ab. Hinter den Hügelketten erstreckte sich der Pazifik, und in der anderen Richtung bildeten die Ausläufer von Los Angeles ein Lichtermeer. Rot, weiß und gelb funkelte es in der Dunkelheit.

Eva nahm eine Decke vom Sofa, hängte sie über ihre Schultern und trat auf den Balkon hinaus. Dort ließ sie sich auf einem breiten Holzstuhl nieder und zog die nackten Füße unter ihren Körper. Tief atmete sie die kühle Nachtluft ein.

Sie verstand wirklich nicht, warum die Fernsehbilder von dem Begräbnis sie so tief berührt und so viele Erinnerungen in ihr geweckt hatten. Deutschland und Bonn, das war ein Lebensabschnitt, der hinter ihr lag. Ihr Leben und ihre Zukunft spielten sich in den USA ab. Und doch … Vor allem die Erinnerungen an Paul konnte sie einfach nicht aus ihrem Kopf verbannen. Auch er hatte in ihrem Traum eine Rolle gespielt, dessen war sie sich ganz sicher.

Eva versuchte, im Kopf eine Liste der Aufgaben zu erstellen, die am nächsten Tag zu bewältigen waren. Jetzt, da das Farbkonzept der Kostüme genehmigt war, mussten große Mengen an Stoffen bestellt werden. Dies beschwor jedoch auch nur wieder Erinnerungen herauf. An die wundervolle Zeit in Wien, als Eva das Glück und das große Privileg besessen hatte, mit Gerdago, der berühmten Kostümbildnerin der Sissi-Filme, zu arbeiten. Ihr Gespür für Stoffe und Schnitte und das gewisse Etwas, den künstlerischen Funken, damit Filmkostüme die Zuschauer in ihren Bann schlugen, verdankte sie ihr. Aber Wien und Gerdago lenkten ihre Gedanken wieder unweigerlich zu Paul.

Zwei Jahre hatten sie in der Hauptstadt an der Donau, die immer noch den Glanz der ehemaligen Habsburger Monarchie ausstrahlte, als frisch Verheiratete miteinander gelebt. Sie waren so verliebt gewesen …

Eva wickelte sich fester in die Decke und kämpfte nicht länger gegen die Erinnerungen an. Ihre Wohnung befand sich in einem umgebauten früheren Adelspalais am Ring – zwei riesige Zimmer mit üppigen Stuckdecken, zugigen Fenstern und einem launenhaften Kachelofen. Wie oft hatten sie das Monstrum im Winter verwünscht und sich, wenn das Feuer mal wieder nicht brennen wollte, abends vor der Kälte in die Wärme eines Kaffeehauses geflüchtet! Stundenlang hatten sie über alles Mögliche geredet. Über Kunst und Politik, über ihre Arbeit – Paul hatte als Journalist für eine deutsche Nachrichtenagentur in Wien gearbeitet, und Eva hatte ihm von den Filmen erzählt, für die sie mit Gerdago Kostüme entwarf, von den Drehbüchern, den Schauspielern und den Freuden und Schwierigkeiten, die Handlung in Kleider zu »übersetzen«.

Aber sie hatten auch miteinander schweigen können. Pauls Miene, nachdenklich und selbstvergessen, während er einen Zeitungsartikel las – Eva sah sie wieder ganz deutlich vor sich. Und oft hatte sie in der Atmosphäre von Kaffeeduft und Zigarettenrauch und Gesprächen ringsum schnell ihr Skizzenbuch aus der Handtasche geholt, weil ihr ein Einfall für ein Kostüm gekommen war.

Sonntags waren sie durch die herrlichen Museen gestreift oder Hand in Hand durch die Straßen mit den verschwenderisch verzierten Jugendstilgebäuden geschlendert. Bei gutem Wetter hatten sie oft ein Picknick in einem Park oder am Ufer der Donau gemacht. Sie waren so glücklich und voller Pläne gewesen, so überzeugt, dass sie gemeinsam ihre Träume verwirklichen würden … Sie, Eva, wollte eine berühmte Kostümbildnerin werden, und Paul wollte mit seiner Arbeit als Journalist die Welt verändern.

Nach den zwei Jahren in Wien waren sie dann ins Rheinland zurückgekehrt und in Pauls alte Wohnung in der Kölner Südstadt gezogen. So hatten sie es vor ihrer Heirat verabredet. Nach den Jahren in Wien und Evas Zeit bei Gerdago sollte Pauls Karriere an der Reihe sein. Und so war er, wie er es sich sehnlich gewünscht hatte, Redakteur für den Hörfunk im Bonner Studio des WDR geworden, im Machtzentrum der Bundesrepublik. Eva wiederum hatte als Kostümbildnerin für ein Kölner Theater gearbeitet, was nach den inspirierenden Jahren mit Gerdago eine ernüchternde Erfahrung gewesen war. Mit dem ziemlich knappen Budget hätte Eva sich noch arrangieren können, aber es gab keine Möglichkeit zu experimentieren oder einmal etwas Ungewöhnliches zu wagen. Alles sollte so gehandhabt werden wie schon seit Jahrzehnten.

Als sie zwei Jahre später eine Stelle bei der CCC-Filmkunst von Artur Brauner in Berlin angeboten bekam, hatte sie sofort zugesagt. Wie eine große Befreiung war ihr dies erschienen. Paul hatte gleichzeitig die Möglichkeit erhalten, als Redakteur für das ARD-Studio in Brüssel zu arbeiten. Sie hatten sich versichert, ihre Beziehung würde die große räumliche Distanz verkraften, schließlich würden sie sich so oft wie möglich an den Wochenenden sehen und ihre jeweiligen Verträge waren auf anderthalb Jahre befristet. Bestimmt würde die Zeit sehr schnell vergehen.

Eva legte den Kopf in den Nacken und verfolgte die blinkenden Lichter eines Flugzeugs mit Kurs auf den Pazifik. Die anspruchsvolle Arbeit damals hatte ihren Tribut gefordert. Wichtige politische Termine hatten Paul in Brüssel festgehalten. Sie selbst wiederum hatte oft sechzehn Stunden am Tag gearbeitet, auch an den Wochenenden. Bei dem deutsch-britischen Monumentalfilm Dschinghis Khan mit dem charismatischen, umwerfend attraktiven Omar Sharif war Artur Brauner einer der Produzenten gewesen, und Eva hatte die riesige Chance gehabt, dem Kostümbildner assistieren zu dürfen. Um mit dem überwiegend britischen Team kommunizieren zu können, hatte sie zusätzlich zu ihrer Arbeit Englischstunden genommen. Als Folge all dessen hatten Paul und sie sich statt alle drei oder vier Wochen oft nur alle sechs oder sieben gesehen. Und dann waren sie oft erschöpft und ausgelaugt gewesen. Kleinigkeiten hatten zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, und Eva war manchmal froh gewesen, wenn es wieder Zeit war, Abschied zu nehmen. Paul war es sicher genauso ergangen – vermutete sie. Denn über ihre Gefühle hatten sie zu jener Zeit schon nicht mehr gesprochen.

Bald, wenn sie wieder zusammenwohnten, würde alles wie früher werden, hatte sie sich getröstet. Aber dann …

Irgendwo an dem bewaldeten Berghang unterhalb von Evas Haus zwitscherte ein Vogel, den etwas in der Dunkelheit aufgeschreckt hatte. Ein trauriger, klagender Laut.

Am Ende der anderthalb Jahre hatte ihr ein amerikanischer Regisseur, den sie bei einem Festival in Berlin kennengelernt hatte, das Angebot gemacht, die Kostüme für seinen nächsten Hollywoodfilm zu entwerfen. Ihr Beitrag zu Dschinghis Khan und der Musikfilm Café Oriental mit Elke Sommer und Bill Ramsey, bei dem sie allein für die Kostüme verantwortlich gewesen war, hatten ihn beeindruckt.

Der Abend, an dem sie Paul davon erzählte, hatte sich für immer in ihre Erinnerung eingebrannt. Unwillkürlich schlang Eva die Arme fest um sich. Sechs Wochen waren seit ihrem letzten Zusammensein vergangen, sie hatte Paul am Flughafen Tempelhof abgeholt. Strahlend war er ihr in der Ankunftshalle entgegengeeilt, lange hatten sie sich dort umarmt, und Eva hatte schon gehofft, zwischen ihnen sei alles gut. Sie waren in ein intimes, sehr hübsches Restaurant am Kurfürstendamm gegangen, das sie beide sehr mochten. Die französische Küche dort war unvergleichlich gut.

Unter dem schönen Deckenfresko und den Kristallleuchtern hatten sie sich ausführlich erzählt, was sie in den vergangenen Wochen erlebt hatten – so etwas ging nicht am Telefon, längere Telefonate wären viel zu teuer gewesen. Ganz gelöst und fröhlich war die Atmosphäre zwischen ihnen, und wenn sich ihre Hände berührt hatten, jagte dies so einen prickelnden Schauder durch Evas Körper, als sei sie ein junges, frisch verliebtes Mädchen.

Der Kellner hatte den Hauptgang gerade abgeräumt, als Eva schließlich tief Luft holte. »Paul, ich muss dir was sagen, eine tolle Neuigkeit. Ich bin noch ganz überwältigt. Du wolltest doch auch immer schon mal in die USA, oder?«

»Warum fragst du das?« Pauls gerunzelte Brauen hatten sie irritiert abbrechen lassen, die Fröhlichkeit war aus seiner Miene geschwunden. Noch einmal holte sie tief Luft. »Paul, stell dir vor, ich hab das Angebot, für einen Regisseur in Hollywood zu arbeiten! Hollywood – davon hab ich doch immer geträumt.«

Paul antwortete nicht. Schweigend zündete er sich eine Zigarette an.

»Paul?« Das Herz hämmerte auf einmal wie wild in Evas Brust. »Ich verstehe ja, dass das sehr plötzlich kommt …«

Er stieß den Zigarettenrauch in einer großen Wolke aus. An einem Nachbartisch flambierte ein Kellner einen Nachtisch, unter dem »Ah« und »Oh« der anderen Gäste züngelten bläuliche Flammen hoch. Der Geruch von karamellisiertem Zucker hing schwer und süßlich in der Luft.

Nun beugte sich Paul vor und stützte die Unterarme auf den Tisch. Seine Augen hatten einen seltsamen Ausdruck, irgendwie traurig, aber auch sehr entschieden. »Eva, ich hab auch eine Neuigkeit zu erzählen. Gestern hab ich das Angebot bekommen, als ARD-Korrespondent nach Moskau zu gehen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »In Moskau wird Weltpolitik gemacht.«

Evas Gedanken überschlugen sich. Als Journalist aus dem Zentrum der Macht zu berichten, war immer Pauls größter Wunsch gewesen. Aber in Moskau würde sie, eine Kostümbildnerin aus dem kapitalistischen Westen, aus einem Land des Klassenfeinds, niemals in ihrem Beruf arbeiten können. »Du könntest doch auch versuchen, als ARD-Korrespondent nach Washington zu gehen«, schlug sie mit schwacher Stimme vor. »Dort wird ebenfalls Weltpolitik gemacht.«

Paul schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich in Washington und du in Hollywood, das wäre ja noch schwieriger als unsere derzeitige Situation. Sechs Stunden Flugzeit sind das bestimmt. Nein, einer von uns beiden wird zurückstecken müssen.«

Eva richtete sich abwehrend auf, doch etwas in Pauls harter Miene verdeutlichte ihr, dass auch er nicht nachgeben würde. Dennoch diskutierten sie während der nächsten beiden Tage stundenlang, ohne eine Lösung zu finden, nur um schließlich die Entscheidung um eine Woche zu verschieben. Mehr Bedenkzeit blieb ihnen nicht, die ARD und der Hollywood-Regisseur wollten Klarheit haben.

Am darauffolgenden Samstag war Eva nach Brüssel geflogen. Und dort, an einem regnerischen Abend, in Pauls Apartment in einem Jugendstilgebäude am Rand der Innenstadt, hatte ihre Ehe geendet: Sie beide hatten nicht von ihrem Traum ablassen wollen.

»Eva, was machst du denn hier draußen?« Jeremys Stimme schreckte sie auf. Zärtlich legte er ihr die Hände auf die Schultern. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«

»Ich konnte nicht mehr einschlafen und wollte dich nicht wecken.«

»Geht dir die Arbeit nicht aus dem Kopf?«

»Genau«, schwindelte sie. Sie waren ja erst seit wenigen Monaten ein Paar, da wollte sie Jeremy nicht eingestehen, dass sie über ihre gescheiterte Ehe und ihren Ex-Mann gegrübelt hatte.

»Komm mit rein.« Er fasste sie an den Händen und zog sie auf die Füße, nur um im nächsten Moment erschrocken zu sagen: »Mein Gott, du bist ja eiskalt!«

Erst jetzt bemerkte Eva, dass sie fror. Sie schmiegte sich an ihn, dankbar für die vertraute Wärme seines Körpers. Jeremy beugte sich zu ihr, strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Sein Kuss weckte ein heißes Begehren in Eva. Und doch war da auch für einen Moment erneut die Erinnerung an Paul und wie sie weinend und mit gebrochenem, entsetzlich schmerzendem Herzen aus seiner Brüsseler Wohnung gerannt war.

Kapitel 2

Franka – seit ihrem Abitur nannte sie sich so, da ihr der Kosename Franzi zu kindlich war – blieb vor den Schaukästen des Rheinischen Anzeigers am Verlagsgebäude in der Kölner Innenstadt stehen. Rasch überflog sie die dort ausgehängten Zeitungsseiten. Eine Überschrift über die Hungersnot in der indischen Provinz Bihar sprang ihr ins Auge, eine andere verkündete, dass der schwarze Boxweltmeister Cassius Clay den Wehrdienst in Vietnam verweigerte. Und auch vier Tage nach der Beerdigung Konrad Adenauers war dessen Tod immer noch Thema. Fotografien zeigten sein Grab in Rhöndorf, das unter der riesigen Menge von Kränzen und Trauergestecken verschwand, und in den Leserbriefen wurde seine Bedeutung für Deutschland hervorgehoben. Die Fotografien und Artikel gaben jedoch den düsteren Pomp der Beerdigungsfeierlichkeiten nicht ansatzweise so gut wieder wie die Fernsehaufnahmen, die sie gespannt auf ihrem kleinen, gebraucht gekauften Gerät verfolgt hatte.

Franka fühlte das vertraute schmerzliche Ziehen in ihrer Brust. Als ehemalige Volontärin und nun, neben ihrem Studium, freie Mitarbeiterin der Zeitung, hatte sie die Trauernden interviewt, die vor dem Dom anstanden, um dem dort aufgebahrten Leichnam des Kanzlers die letzte Ehre zu erweisen. Sie schrieb gern für die Zeitung, doch ihr Traum war es, Journalistin beim Fernsehen zu werden. Ein gelungener Filmbeitrag konnte viel mehr ausdrücken als Dutzende von Zeilen. Er brannte sich den Menschen in den Kopf, appellierte an ihren Verstand und ihr Gefühl. Und andere durch ihre journalistische Arbeit aufzurütteln, die Welt dadurch zu verändern, das war ihr, Frankas, großes Ziel. Danach sehnte sie sich.

Gleich nach dem anderthalbjährigen Volontariat beim Rheinischen Anzeiger hatte sie sich bei dem Sender beworben. Für ein Volontariat beim WDR waren eine Berufsausbildung oder ein abgeschlossenes Studium Voraussetzung. Doch obwohl sie die abgeschlossene Ausbildung vorweisen konnte, war sie abgelehnt worden. Sie sei noch sehr jung und solle erst einmal Erfahrungen sammeln, hatte man ihr zu ihrer großen Enttäuschung beschieden.

Seitdem hatte sie ein Vierteljahr als Freiwillige für ein Kinderhilfswerk in Persien gearbeitet und weitere drei Monate in einem Kibbuz in Israel. Ihr Vater Axel hielt von ihrem Engagement nichts, aber ihre wohlhabende Mutter Annemie hatte ihr das Geld für die Flüge gegeben. Sie war ihren drei Töchtern Franka, Lilly und Eva gegenüber immer sehr großzügig.

Anschließend hatte Franka sich an der Kölner Universität für Anglistik und Geschichte eingeschrieben. Ein Semester studierte sie nun dort. Doch sie würde sich dieses Jahr wieder beim WDR bewerben, und wenn es erneut nicht mit dem Volontariat klappte, weil die Verantwortlichen sie immer noch für zu jung und unerfahren hielten, dann würde sie es im darauffolgenden Jahr abermals versuchen – bis sie die Zusage bekam, schwor Franka sich. Journalistisch zu arbeiten war so viel wichtiger, als den Vorlesungen von Professoren zu lauschen, über Themen, die oft nichts mit der gegenwärtigen Welt zu tun hatten …

Franka war gerade von den Schaukästen zum Eingang des Verlagsgebäudes getreten, wollte die Tür zum Foyer aufziehen, als eine junge Frau in einem weiten beigefarbenen Mantel aus Popeline, die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie ansprach: »Entschuldigen Sie, arbeiten Sie bei der Zeitung?« Ihre Stimme klang schüchtern, und sie hielt ihre Handtasche ängstlich umklammert.

Franka nickte. »Ich bin freie Mitarbeiterin. Wenn Sie eine Anzeige aufgeben möchten, sind Sie leider zu spät dran. Um vier Uhr ist am Samstagnachmittag in der Abteilung niemand mehr. Aber ich würde Ihnen ohnehin raten, wenn es nichts Eiliges ist, die Anzeige für die kommende Wochenendausgabe aufzugeben. Das ist zwar ein bisschen teuer, bringt aber mehr.«

»Ich möchte keine Anzeige aufgeben.« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Ich … ich brauche Hilfe.«

»Hilfe? Wie meinen Sie das?«

»Das ist kompliziert.« Sie senkte verlegen den Blick und trat von einem Bein auf das andere.

»Geht es um ein Problem, über das berichtet werden soll?«

»Ja …«

Mehr schien ihr im Moment nicht zu entlocken zu sein. Allerdings kam es recht häufig vor, dass sich die Leser an den Rheinischen Anzeiger wandten und um Unterstützung baten, sei es bei Schwierigkeiten mit Ämtern oder Behörden oder wenn sie sich auf andere Weise ungerecht behandelt fühlten. Franka überlegte. Redaktionsschluss war erst morgen, da die Montagsausgabe erst dann gedruckt wurde. Also hatte sie es nicht eilig, ihren Artikel über das Frühlingsfest einer Grundschule im Kölner Süden bei dem zuständigen Redakteur abzugeben.

»Möchten Sie sich vielleicht mit mir unterhalten?«, schlug sie vor. »Mein Name ist Franka Vordemfelde, wie ich schon sagte, bin ich freie Mitarbeiterin beim Rheinischen Anzeiger. Ganz in der Nähe gibt es ein kleines Café, dort könnten wir ungestört reden.«

»Das würde ich gern.« Die junge Frau nickte schüchtern, während sie sich offenbar ein wenig entspannte.

Auf dem Weg zu dem Café in der Nähe des Kölner Doms, vorbei an Passanten, die das schöne Wetter zu einem Bummel nutzten, betrachtete Franka ihre Begleiterin unauffällig. Sie war jünger, als sie zuerst wegen ihres biederen Äußeren vermutet hatte, wahrscheinlich Anfang zwanzig wie sie selbst, und schien ein bisschen pummelig zu sein, so weit man das bei dem unförmigen Schnitt des Mantels beurteilen konnte. Ihr schmales Gesicht war blass, aber hübsch, mit einer Stupsnase und großen braunen Augen. Franka vermutete, dass sie Sekretärin war oder Sachbearbeiterin in einer Behörde, vielleicht auch Kindergärtnerin. Was für ein Problem sie wohl hatte? Möglicherweise hatte ihr jemand einen Kaufvertrag aufgeschwatzt, aus dem sie nun nicht mehr herauskam, so etwas geschah immer wieder.

Vor dem Café war ein Tisch in der Sonne frei, und sie ließen sich dort nieder.

»Möchten Sie auch einen Kaffee?«, erkundigte Franka sich.

»Ja, gern.« Die junge Frau nickte wieder. Franka winkte einem Kellner und gab die Bestellung auf. Jemanden während eines Interviews zu einem Getränk eingeladen, hatte sie bisher nur selten, und sie war plötzlich ein bisschen aufgeregt.

Die junge Frau schaute auf ihre Hände und biss sich auf die Lippen. Ihr Mut schien sie verlassen zu haben.

»Möchten Sie mir vielleicht Ihren Namen nennen?«, fragte Franka freundlich.

»Gabi, Gabriele Neubert. Ich …« Sie brach ab, als der Kellner die Tassen auf den Tisch stellte.

»Was liegt Ihnen denn auf dem Herzen? Ich verspreche Ihnen, alles, was Sie mir erzählen, vertraulich zu behandeln. Und ich werde nur darüber schreiben, wenn Sie es ausdrücklich möchten.« Ein Satz, den so wahrscheinlich auch ältere, erfahrene Kollegen sagten.

»Nein, ich möchte, dass darüber geschrieben wird, deshalb bin ich ja zum Rheinischen Anzeiger gekommen.« Gabi Neubert hob die Tasse hoch, setzte sie dann aber wieder auf dem Unterteller ab. Franka wartete geduldig, dass sie endlich Mut fasste.

»Ich … ich bin schwanger, im siebten Monat. Und ich bin nicht verheiratet«, flüsterte Gabi Neubert schließlich. »Und … und das Jugendamt fordert, dass ich das Kind in ein Waisenhaus gebe oder es adoptieren lasse. Aber ich will beides nicht. Ich will es behalten.«

»Oh …« Damit hatte Franka nicht gerechnet. Deshalb war die junge Frau also so rundlich! »Das heißt, Sie sind noch nicht einundzwanzig?«

»Doch, ich bin volljährig. Im Sommer werde ich zweiundzwanzig. Aber meine Eltern unterstützen mich nicht, sie wollen, dass ich das Kleine weggebe. Und deshalb kann das Jugendamt über mein Kind entscheiden.« In ihren Augen schimmerten Tränen.

»Obwohl Sie volljährig sind?« Franka konnte es nicht glauben.

»Ja, die Dame vom Jugendamt hat mir versichert, so sei die Rechtslage. Als ledige Mutter, ohne Unterstützung meiner Eltern oder eines anderen vertrauenswürdigen Verwandten, sei ich nicht in der Lage, mein Kind allein großzuziehen. Ich hab ja auch schon, als die Schwangerschaft sichtbar geworden ist, meine Stelle als Sekretärin verloren. Aber ich weiß, ich würde eine andere Arbeit finden und es schaffen, wenn ich mein Kind nur bei mir behalten dürfte.«

Gabi Neuberts Verzweiflung rührte Franka. Gleichzeitig empfand sie Zorn. Wenn die Rechtslage wirklich so war, war das eine Ungeheuerlichkeit. »Ich finde es unfassbar, dass der Staat über eine erwachsene Frau bestimmt und ihr das Kind wegnimmt! Ich verspreche Ihnen, ich werde den verantwortlichen Redakteuren von Ihrer Situation erzählen. Bestimmt finden sie es sehr wichtig, über das Thema zu berichten.« Natürlich würde sie auch das Jugendamt um eine Stellungnahme bitten, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Gabi Neubert ihre Lage dramatisierte oder sie, Franka, gar belog. Dazu wirkte sie viel zu mitgenommen.

»Das wäre wunderbar.« Ein zaghaftes Lächeln erschien um den Mund der jungen Frau.

»Ich finde es sehr mutig, dass Sie sich an die Presse wenden.«

»Ich weiß nicht, wer mir sonst noch helfen könnte.«

Franka trank einen Schluck Kaffee. Solche Geschichten waren es, wofür sie brannte! Doch sie ermahnte sich, bei all ihrer Empörung eine professionelle Distanz zu wahren. »Was ist denn mit dem Vater Ihres Kindes?«, fragte sie behutsam. »Streitet er die Vaterschaft ab?«

»Ja, er ist verheiratet.« Gabi Neubert errötete und senkte wieder den Kopf, zupfte an ihrem Mantel herum. »Ich weiß, ich hätte nicht … Es war nicht richtig. Aber ich war so verliebt in ihn!«

Franka dachte kurz nach. »Haben Sie dem Jugendamt denn seinen Namen genannt?«

»Nein, ich möchte nicht, dass seine Ehe wegen mir zerbricht.«

Was sehr edelmütig, aber auch sehr dumm war, fand Franka. Anscheinend liebte sie den Vater ihres Kindes immer noch, und wahrscheinlich hatte ihre Weigerung, seinen Namen zu nennen, das Jugendamt noch mehr gegen sie aufgebracht.

»Wovon leben Sie denn jetzt, ohne Arbeit?«

»Ich verdiene mir was als Küchenhilfe in einem Gasthof dazu. Aber das darf niemand wissen. Ich bin nicht als steuerpflichtig gemeldet.«

Wie demütigend und ungerecht das alles war! Franka versicherte Gabi Neubert noch einmal, dass sie sich beim Rheinischen Anzeiger dafür einsetzen würde, dass ein Artikel über ihre Notlage erschien, und verabredete sich mit ihr für Dienstagnachmittag erneut in dem Café, der Montag war der 1. Mai und die Chefredaktion dann nicht im Haus. Dann gab sie der jungen Frau eine ihrer Visitenkarten – vor ein paar Wochen hatte sie sich welche drucken lassen, wieder etwas, was ihr das Gefühl vermittelte, sehr reif und erwachsen zu sein – und verabschiedete sich von ihr.

Vielleicht traf sie ja einen der leitenden Redakteure beim Rheinischen Anzeiger an. Dann konnte sie das Thema gleich zur Sprache bringen.

An anderen Tagen herrschte im Rheinischen Anzeiger kurz vor Redaktionsschluss um vier hektische Betriebsamkeit. Letzte Sätze wurden in die Schreibmaschinen getippt, die Vorlagenblätter samt den Durchschlägen aus den Halterungen der Schreibwalzen gezogen und rasch überflogen, ehe noch kurz handschriftliche Änderungen vorgenommen wurden. Die Luft war schwer von Zigarettenrauch. Fast immer fluchte jemand, der noch einen Fehler entdeckt hatte, welcher eilig korrigiert werden musste. Franka liebte diese Anspannung, das Adrenalin, das durch ihren Körper jagte, wenn sie gegen die Uhr anschrieb.

Doch jetzt, am Samstagnachmittag, war in dem Großraumbüro mit dem abgetretenen grünen Teppichboden nicht viel los. Nur einer von zwei Dutzend Schreibtischen war besetzt, ein älterer Kollege hackte seinen Artikel rauchend in die Tasten. Franka nickte ihm grüßend zu, ehe sie zum Büro des Chefs vom Dienst ging, das in einem Glaskasten am Ende des weitläufigen Raums untergebracht war.

»Guten Tag, Herr Bender.« Sie reichte ihm die beiden Seiten des Artikels, den sie schon in ihrem Zimmer in Köln-Nippes auf ihrer Reiseschreibmaschine geschrieben hatte.

»Das Frühlingsfest in der Grundschule, schön, schön. Gibt bestimmt nette Bilder.« Der Chef vom Dienst war ein schlanker Mann Ende dreißig, der seit einiger Zeit bevorzugt Cordhosen und Rollkragen trug statt Anzug und Krawatte. Allerdings war er nicht so locker, wie seine Kleidung vermuten ließ, und legte großen Wert darauf, seine herausgehobene Stellung gegenüber den anderen in der Redaktion zu unterstreichen. Nur mit dem Chefredakteur und dessen Stellvertreter war er per Du.

»Ich hab den Fotografen getroffen, Herr Bender. Er hat Bilder vom Sackhüpfen und vom Kasperletheater gemacht. Zu beidem hab ich extra etwas geschrieben. Aber … Haben Sie vielleicht einen Moment Zeit? Ich würde Sie gern wegen eines anderen Themas um Rat fragen.«

»Bitte …« Er deutete auf den Sessel vor seinem Schreibtisch, und Franka nahm Platz. »Ich habe eben mit einer jungen Frau gesprochen, die sich vom Rheinischen Anzeiger Hilfe erhofft.« Rasch schilderte sie ihm Gabi Neuberts schwierige Situation. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass das Jugendamt das Recht hat, sie vor die Alternative zu stellen, das Kind in ein Waisenhaus oder zur Adoption freizugeben. Aber wenn das so ist, möchte ich sehr gern einen Artikel darüber schreiben.«

Herr Bender hatte schon während Frankas Bericht immer wieder auf ihren Artikel geblickt und einige Korrekturen vorgenommen. Nun schaute er auf und sagte: »Liebes Fräulein Vordemfelde, wenn wir uns auf die Seite jeder ledigen Mutter schlagen würden, hätten wir keinen Platz mehr für die wirklich relevanten Themen.«

Franka war perplex. Sie war überzeugt gewesen, dass er die Geschichte auch wichtig fand, mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. »Aber … aber das ist ein wichtiges Thema! Es geht nicht nur um eine x-beliebige ledige Mutter. Die junge Frau ist volljährig, und trotzdem bestimmt das Jugendamt über sie und ihr Kind. Das ist doch ein Eingriff in ihre Grundrechte, und das darf nicht sein!«

»Ich bin überzeugt, dass das Jugendamt das Beste für Mutter und Kind im Sinn hat. Und vielleicht hätte die junge Dame, nun ja …« Er räusperte sich. »… besser auf sich aufpassen sollen.«

»Der Kindsvater war daran ja wohl auch beteiligt«, fuhr Franka auf.

»Das bestreite ich keineswegs. Aber dieses Thema interessiert unsere Leser ganz sicher nicht.«

»Das kann ich nicht glauben. Die Leserinnen interessiert es bestimmt. Jede junge Frau kann in so eine Lage kommen.«

»Liebes Fräulein Vordemfelde, dieser Ansicht bin ich nicht. Aber es steht Ihnen selbstverständlich frei, mit unserem Chefredakteur über das Thema zu sprechen.« Der Chef vom Dienst zuckte mit den Schultern, nur um gleich darauf demonstrativ auf seine Armbanduhr zu blicken. »Aber ich bin mir sicher, seine Einschätzung wird genauso ausfallen wie meine.«

»Ja, ich werde mit Herrn Claasen reden.« Franka rang sich noch ein höfliches »Auf Wiedersehen« ab, ehe sie aufstand. Am Dienstag würde der Chefredakteur wieder im Büro sein. Dann wollte sie ihn unbedingt aufsuchen.

Annemie hatte nach ihrer täglichen Gymnastik- und Turneinheit geduscht und zog sich eben an, als sie einen Wagen in der Einfahrt ihres Zuhauses im Bonner Süden hörte. Gleich darauf quietschte das Garagentor. Axel war also schon zurückgekommen und nicht erst am Abend, wie er es eigentlich geplant hatte. Seit vier Jahren arbeitete er jetzt als Redakteur für das ZDF und wohnte unter der Woche in Wiesbaden. Es hatte in ihrer Ehe eine Zeit gegeben, da war sie überglücklich gewesen, ihn am Wochenende endlich wiederzusehen – ganz zu schweigen davon, dass sie auch mit ihm nach Wiesbaden gezogen wäre. Doch diese Zeit war schon lange vorbei. Meist war sie froh, wenn er am Montagmorgen wieder fuhr.

Als Annemie kurz darauf die Treppe ins Erdgeschoss hinunterging, stand die Tür zum Esszimmer offen. Axel saß am Tisch, in eine Zeitung vertieft. Mit Anfang sechzig war er dank seiner markanten Gesichtszüge immer noch ein gut aussehender Mann. Seine grauen Haare verliehen ihm etwas Distinguiertes. Aber es gab in einer Ehe Wichtigeres als körperliche Attraktivität, nämlich Liebe, Nähe und Intimität. Doch die empfand Annemie ihrem Mann gegenüber schon lange nicht mehr.

»Du bist früher gekommen.« Sie bot ihm die Wange zum Kuss dar, ein eingespieltes Ritual.

»Ich konnte im ZDF früher weg, ein Kollege ist für mich eingesprungen. Ich hab dir nämlich eine große Neuigkeit mitzuteilen. Die sind übrigens für dich.«

Nun erst bemerkte Annemie den üppigen Blumenstrauß, der auf dem Tisch lag. Anemonen, Tulpen und Nelken in den zartrosa und lila Tönen, die sie sehr mochte. Wenn Axel sich die Mühe gemacht hatte, etwas zu kaufen, was ihr wirklich gefiel, wollte er sie wahrscheinlich zu irgendetwas überreden.

»Tatsächlich? Was denn für eine Neuigkeit?«

»Der derzeitige Auslandskorrespondent des ZDF in London muss nach Deutschland zurückkehren. Aus gesundheitlichen Gründen, es heißt, er hat wohl Krebs.«

»Der Ärmste. Aber was hat das mit uns zu tun?« Annemie verstand nicht.

»Ich werde ihn für drei Monate vertreten!«

»Das heißt, du wirst Auslandskorrespondent?« Das war ein prestigeträchtiger Posten, wie sie natürlich wusste. Deshalb strahlten seine Augen so.

»Erst mal für drei Monate. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass mich das ZDF befördern und ich den Posten für die üblichen zwei Jahre kriegen werde. Ich fliege nächste Woche schon nach London, und du kommst so bald wie möglich nach.«

»Oh …« Jetzt erst begriff Annemie und fühlte sich überrumpelt. In London würden Axel und sie wieder jeden Tag und nicht nur am Wochenende das Leben teilen.

»Annemie …« Axel bemerkte ihr Zögern und griff nach ihrer Hand. »Ich weiß, zwischen uns lief es in den letzten Jahren nicht so gut. Aber wir hatten vor dem Krieg, als ich als Zeitungskorrespondent in London war, dort so schöne Jahre! Wahrscheinlich tut es uns gut, wieder einmal mehr Zeit miteinander zu verbringen. Seit ich für das ZDF arbeite, sind wir viel zu selten zusammen.«

Die beiden Jahre in London waren wirklich wundervoll gewesen. Sie eine glückliche Mutter mit Eva als Säugling und sehr verliebt in Axel, den charmanten, zugewandten Ehemann und liebevollen Vater.

»Annemie, ich möchte nicht ohne dich nach London gehen.« Seine Stimme klang ungewohnt zärtlich.

War es ihm wirklich wichtig, dass sie ihn begleitete? Oder wäre es ihm peinlich, wenn seine Kollegen mitbekamen, dass es in seiner Ehe kriselte? Eine perfekte Fassade bedeutete ihm immer sehr viel, wie sie inzwischen wusste. Dennoch regte sich die Sehnsucht in ihr, dass sich in ihrer Ehe alles wieder zum Guten wendete.

Doch noch immer zögerte sie. »Du weißt, ich habe meine Gymnastikkurse.«

»Es wird sich bestimmt eine Vertretung für dich finden. Auch wenn dich deine Kursteilnehmerinnen sicher vermissen. Annemie, bitte …«

»Und Franka und Lilly?«

»Annemie, sie sind erwachsen. Sie leben ihr eigenes Leben, sie kommen doch meistens nur noch sonntags zum Essen vorbei.«

Axel hatte recht, manchmal war sie wirklich überfürsorglich gegenüber ihren Töchtern. Vielleicht war die gemeinsame Zeit in London wirklich eine Chance für sie. »Gut … ich komme mit«, stimmte sie zögernd zu.

»Ich freue mich!« Axel umarmte sie und küsste sie auf den Mund.

Einen Moment lang gab sie sich der Liebkosung hin, dann machte sie sich von ihm los. »Wo werden wir denn wohnen?«

»Das ZDF zahlt mir einen festen Betrag für eine Unterkunft, ich hab mich erkundigt, das entspricht der Miete für ein kleines Reihenhaus in einem Vorort. Aber wir könnten uns natürlich auch etwas Größeres, zentral Gelegenes leisten, wenn du möchtest.«

Er spielte mit diesen Worten auf ihr Erbe an, durch das sie ihm unter anderem alle zwei Jahre den Kauf eines schicken neuen Wagens und die große Wohnung in Wiesbaden ermöglichte, die er so gut wie für sich allein hatte, denn sie besuchte ihn dort nur selten. Aber wenn sie schon einmal in London lebten, wäre es schön, in Kensington, Mayfair oder Belgravia zu wohnen, Viertel mit eleganten georgianischen und viktorianischen Häusern, mit kleinen, verwunschenen Plätzen und Parks, wo sie so gern mit Eva im Kinderwagen spazieren gegangen war.

Sie nickte. »Ja, lass uns eine Wohnung oder ein Haus in der Innenstadt mieten.« Sie nannte ihm die Viertel, die sie so sehr mochte. »Islington oder Chelsea würden mir auch gefallen«, fügte sie hinzu.

»Wunderbar, mein Schatz.« Axel lächelte sie an. »Ich beauftrage gleich am Montag einen Makler. Bestimmt finden wir etwas Schönes.«

Annemie ließ sich von seiner Begeisterung anstecken. Ja, vielleicht würde London wirklich eine Chance für sie beide sein.

Kapitel 3

Am nächsten Vormittag kämpfte Franka in der Straßenbahn mit der Müdigkeit. Vorhin, auf der Zugfahrt von Köln nach Bonn, war sie ein paarmal eingenickt. Die Party mit der tollen Beat- und Rockmusik hatte erst am frühen Morgen geendet, und sie fühlte sich immer noch verkatert. Eigentlich wäre sie nur zu gern noch in ihrer Studentenbude im Bett geblieben. Aber es war ein Ritual, dass sich die Familie sonntags zum Essen bei ihren Eltern traf, und ihrer Mutter zuliebe fuhr Franka hin.

Hoffentlich war ihr Vater einigermaßen gut gelaunt! In der letzten Zeit stritten sie sich ständig. Vor über zehn Jahren war Eva nach einer heftigen Auseinandersetzung mit ihm nach Wien gegangen, obwohl sie noch nicht volljährig war. Damals war Franka noch ein Kind gewesen, und sie hatte unter dem Bruch zwischen der geliebten großen Schwester und dem Vater gelitten. Aber inzwischen verstand sie Eva gut. Der Vater konnte so ein Tyrann sein und ließ nur seine Meinung gelten!

Nun kam die Straßenbahn mit quietschenden Bremsen zum Halten. Franka nahm ihre Handtasche und stieg aus. Ihr kurzer Weg führte sie an Gründerzeitanwesen vorbei, wo hinter schmiedeeisernen Zäunen bunte Frühlingsblumen aus der Erde sprossen. Auch im Garten der elterlichen Villa blühten die Forsythien, und den Rasen säumten Tulpen und Narzissen.

Franka blieb im Schutz des Torpfostens stehen. Rasch zog sie einen Spiegel aus ihrer Handtasche und betrachtete sich prüfend. Ein bleiches, schmales Gesicht umrahmt von dunkelbraunen Haaren blickte ihr entgegen. Sie trug ein bisschen Rouge auf, doch gegen die Ringe unter ihren Augen konnte sie nichts machen. Dann öffnete sie das Tor und ging zum Haus, ein hübsches Gebäude mit Sprossenfenstern und anheimelnden grünen Fensterläden.

Franka hatte kaum ihren Schlüssel ins Schloss der Eingangstür gesteckt, als diese sich schon öffnete. Ihre Mutter stand im Türrahmen und sah sie, von Küchenduft umweht, lächelnd an. Blond, zierlich und schön, wie sie war, wirkte sie nicht wie Anfang fünfzig, sondern mindestens zehn Jahre jünger. Sie bewegte sich elegant wie eine Tänzerin, dem tat auch ihre Schürze keinen Abbruch.

»Schön, dass du da bist, Liebes.« Die Mutter küsste sie auf die Wange und bedachte sie dann mit einem prüfenden Blick. Ihr entgingen die Ringe unter den Augen und das Rouge ganz sicher nicht. »Deine Schwester ist auch schon hier«, sagte sie jedoch nur.

Franka hängte ihre Jacke auf und verzog unwillkürlich den Mund, denn die Diskussion des Internationalen Frühschoppens aus dem Fernseher im Wohnzimmer war unüberhörbar – das übliche sonntägliche Ritual, das sie seit ihrer Kindheit begleitete. Für den Vater war diese Sendung, moderiert von dem Journalisten Werner Höfer, so wichtig wie für andere der Kirchgang.

Franka folgte der Mutter in die Küche. Dort stand Lilly, ihre Zwillingsschwester, an der Spüle und wusch Salat. Anders als Franka, die groß und dunkelhaarig war, kam sie vom Aussehen und der Figur her ganz nach ihrer Mutter, und wie diese war sie bildhübsch. Ihr eng anliegendes hellblaues Minikleid betonte ihre perfekten Rundungen, sie war schlank und wirkte doch auch sehr weiblich. Franka fühlte sich plötzlich schlaksig und unscheinbar.

Bei der Party gestern in Köln war ein wahnsinnig gut aussehender junger Typ gewesen, dessen Lächeln ihr Herz zum Schmelzen brachte. Doch er hatte nur einmal mit ihr getanzt und sich dann einer anderen Frau zugewandt. Lillys Charme wäre er bestimmt erlegen und ihr nicht von der Seite gewichen, dachte Franka jetzt.

Wie so oft empfand sie einen schmerzlichen Neid auf die hübsche Schwester, die stets von jungen Männern umschwirrt wurde. Neun Monate hatte sie mit Lilly im Mutterleib verbracht, wahrscheinlich würde sie keinem Menschen jemals so nahe sein wie ihrer Zwillingsschwester. Franka liebte sie – und gleichzeitig gab es kaum jemanden, der sie so auf die Palme bringen konnte wie Lilly. Sie beide hatten darüber nie gesprochen, aber vermutlich ging es ihr umgekehrt genauso.

»Hallo, Lilly«, sagte sie und ließ ihren Blick über die Schwester gleiten, »oh, dein Kleid ist ja wirklich superkurz.«

»Na ja, ich kann so was halt tragen.« Ihre Schwester zuckte mit den Schultern. Für Franka schwang deutlich im Gegensatz zu dir in ihren Worten mit. »Mama, dir würde diese Rocklänge auch stehen.« Lilly wandte sich der Mutter zu.

»Um Himmels willen, nein.« Ihre Mutter schüttelte abwehrend den Kopf, während Franka sich am Küchentisch niederließ und begann, Tomaten und Zwiebeln klein zu schneiden. »Ich finde dein Kleid auch arg kurz.«

»Ach, Mama …« Lilly schüttelte amüsiert den Kopf, und ihre blonden Locken wippten.

Während ihre Mutter den Backofen öffnete und den dort schmorenden Braten mit Soße begoss, herrschte bis auf die gedämpften Stimmen aus dem Fernseher einen Moment lang Stille in der Küche. Dann sah Franka Lilly an. »Wie ist es so bei deiner Arbeit beim ›Opium fürs Volk‹?« Diese Spitze konnte sie sich einfach nicht verkneifen.

Lilly gab die gewaschenen und in einer Schleuder getrockneten Salatblätter in eine Schüssel. »Wenn du damit in deinem albernen marxistischen Jargon meinst, ob es mir immer noch bei Der goldene Schuß gefällt: Ja, es gefällt mir sehr.«

»Seit wann kennst du dich denn mit Karl Marx aus?«

»Franka, würdest du bitte den Tisch decken?«, schaltete sich ihre Mutter rasch ein, offensichtlich in dem Versuch, einen drohenden Streit zu vermeiden.

»Natürlich.« Franka ging ins Esszimmer und holte das Sonntagsgeschirr aus Meißner Porzellan und das Silberbesteck aus dem Schrank. Währenddessen war hinter der geschlossenen Glastür, die den Raum vom Wohnzimmer trennte, immer wieder der Name »Adenauer« zu hören. Natürlich erörterte die Männerrunde des Internationalen Frühschoppens den Tod des früheren Kanzlers. Hoffentlich war mit seinem Dahinscheiden auch der Mief der Nachkriegszeit endlich vorbei, überlegte Franka.

Sie hatte gerade die Leinenservietten in die versilberten Ringe geschoben und auf dem Tisch drapiert, als sich die Glastür öffnete und ihr Vater ins Esszimmer kam. Seine Miene war abwesend, anscheinend weilte er in Gedanken noch bei der Sendung.

»Hallo, Franzi.« Er nickte ihr kurz zu. Wie immer weigerte sich ihr Vater, sie Franka zu nennen.

»Papa, ich bin Franka.«

Er ignorierte ihre Worte, stattdessen trat er an den Schrank, nahm vier Sektgläser heraus, stellte sie auf den Tisch und verschwand dann in der Küche. Franka hörte die Kühlschranktür klappern, gleich darauf kehrte er mit einer Sektflasche zurück. Der Korken knallte, als er sie öffnete, und zischend entwich die Kohlensäure.

»Was gibt es denn zu feiern?«, fragte Franka verwundert.

Ihr Vater schickte sich an, den Sekt in die Gläser zu füllen, hielt dann jedoch inne und starrte Lilly, die ihm mit ihrer Mutter gefolgt war, schockiert an. Offenbar hatte er ihr in der Küche keinen einzigen Blick zugeworfen. Franka verkniff sich ein Grinsen.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wie kannst du nur so herumlaufen? Dein Kleid bedeckt ja kaum deinen Po!«, herrschte ihr Vater Lilly an.

»Ach, Papa, jetzt übertreib mal nicht.« Lilly zog einen Schmollmund.

»Ich übertreibe überhaupt nicht, das ist vulgär! Das nächste Mal, wenn du nach Hause kommst, ziehst du dich anständig an.«

»Als ich kürzlich in Köln war, hab ich die jüngste Tochter von Dr. Meinrad getroffen. Ihr Rock war mindestens genauso kurz wie meiner.«

»Das gefällt ihm garantiert ebenfalls nicht.«

Dr. Klaus-Jürgen Meinrad, ein hohes Tier beim WDR, war dem Vater auch nach dessen Wechsel zum ZDF freundschaftlich verbunden geblieben. Trotz seiner barschen Worte entspannte sich die Miene des Vaters etwas. Franka verdrehte innerlich die Augen. Lilly war sein Liebling, und sie wusste genau, wie sie ihn zu nehmen hatte. Nun tätschelte ihre Schwester seinen Arm. »Papa, jetzt sag schon, was es zu feiern gibt!«

Der Vater füllte nun endlich die Sektgläser und verteilte sie an seine Familie. Dann hob er breit lächelnd sein Glas. »Nächste Woche fliege ich nach London, dort werde ich für mindestens drei Monate das ZDF-Studio leiten!«

Lilly fiel ihm um den Hals. »Wie schön, Papa, ich freu mich so für dich! Dann sehen wir dich ganz bestimmt oft in den Nachrichten, vor dem Buckingham Palace oder dem Parlament. Vielleicht triffst du sogar mal die Queen! Oder Prinz Charles. Er ist so süß!«

»Ja, bestimmt laden sie Papa zum Tee in den Palast ein.« Franka seufzte ungeduldig. War Lilly so naiv, oder tat sie nur so? »Herzlichen Glückwunsch, Papa«, sagte dann aber auch sie und umarmte ihn, während ihr Herz sehnsüchtig klopfte. Ob sie auch einmal Auslandskorrespondentin werden würde? Die Vorstellung war wundervoll. Sie kannte keine Frau, die diesen Posten innehatte. »Weshalb hat man sich für dich entschieden?«, erkundigte sie sich interessiert.

»Ich war ja vor dem Krieg in London Auslandskorrespondent für die Berliner Morgenzeitung. Daran hat man sich jetzt offensichtlich beim ZDF erinnert.« Obwohl ihr Vater das mit einem Schulterzucken abtat, wirkte er sehr zufrieden mit sich.

»Mama, du begleitest Papa doch, oder?« Franka sah ihre Mutter erwartungsvoll an, die bis dahin noch nichts gesagt hatte. Seit einiger Zeit hatte sie den Eindruck, dass es in der Ehe der Eltern kriselte.

Doch ihre Mutter nickte lächelnd. »Natürlich.«

Der Vater ergriff Annemies Hand. »Ich freu mich sehr auf die Zeit mit eurer Mutter in London. Und ihr beide werdet uns dort besuchen. Ich schenke euch die Reise.«

»Wirklich? Oh, wie toll, danke, Papa!« Wieder fiel ihm Lilly um den Hals.

»Vielen, vielen Dank.« Auch Franka war hingerissen. In London spielte sich das wahre, das neue Leben ab. Die Musik der Bands mit ihren Rhythmen, die unter die Haut gingen, und ihren gewagten Texten über Liebe und Politik … Nur daran zu denken, ließ Frankas Herz schneller schlagen und die Beats durch ihren Körper pulsieren. Und Mary Quant … Ihre Kleidung war so jung und sexy und verführerisch. Unbedingt musste sie sich so etwas kaufen.

»Ach, wie werden mich meine Kolleginnen beneiden, wenn ich in einem Kleid von Mary Quant bei der Arbeit aufkreuze!« Lilly hatte wohl den gleichen Gedanken.

»Genug geredet, jetzt müssen wir mit eurem Vater anstoßen.« Ihre Mutter hob das Glas. »Auf dich und London, Axel!«

»Ja, auf dich und London, und auf Mama«, stimmten Franka und Lilly lachend zu.

Während ihre Mutter die Suppe mit dem Eierstich in die Teller schöpfte und sie den ersten Gang aßen, schwärmte Franka mit Lilly davon, was sie alles in London unternehmen wollten. Auf dem Oberdeck eines roten Busses fahren, durch die Läden schlendern, die EMI Studios besuchen, wo die Beatles ihre Platten aufnahmen. Ausnahmsweise waren sie in ihrer Begeisterung ganz einer Meinung.

»Ich habe übrigens auch eine Neuigkeit mitzuteilen«, sagte Lilly schließlich, legte den Löffel neben ihren Teller und strahlte in die Runde. »Ab dem kommenden Monat werde ich fest angestellte Assistentin bei Der goldene Schuß.«

Der Vater bedachte sie mit einem wohlwollenden Blick. »Mir ist das übrigens schon im Sender zugetragen worden. Der Regisseur und der Aufnahmeleiter sind voll des Lobes für dich.«

»Und das ohne jede Ausbildung! Ich bin stolz auf dich.« Ihre Mutter berührte sie zärtlich an der Schulter.

Lilly gelang alles so leicht, fast spielerisch, dachte Franka und empfand wieder einen schmerzlichen Stich. Erst hatte sie direkt nach ihrer Zeit als Au-Pair in Frankreich eine Aushilfsstelle bei Spiel ohne Grenzen beim WDR ergattert. Dann war sie, der besseren Bezahlung wegen, als Aushilfe zum ZDF gewechselt, und jetzt hatte sie nach nicht mal einem Jahr eine Festanstellung! Während sie, Franka, mit ihrer Bewerbung für das Volontariat beim WDR gescheitert war.

Die Stimme des Vaters riss sie aus ihren Gedanken. »Ich hab gehört, dass Der goldene Schuß nächstes Jahr aus dem Casino von Monte Carlo gesendet wird.«

»Was? Wirklich?« Lilly kreischte entzückt auf. »Wann denn?«

»Im Frühling oder Frühsommer, vielleicht wird sogar Fürstin Gracia Patricia der Stargast sein.«

»Oh, mein Gott, ich fasse es nicht …« Lilly schlug die Hände vor den Mund. »Und ich werde mit dabei sein!« Sie ließ sich auf ihrem Stuhl zurücksinken und starrte verzückt an die Decke.

»Woher weißt du das denn, Axel?«, fragte ihre Mutter.

»Ich hab so meine Kanäle.« Er winkte nonchalant ab.

Franka stimmte zwar mit seiner konservativen Gesinnung nicht überein, aber ihr Vater war, was seine Fülle an Informationen betraf, ein erstklassiger Journalist.

Lilly trug die Suppenteller ab, und Franka half der Mutter, den Braten, die Kartoffeln und den Salat ins Esszimmer zu bringen.

Die Schüsseln wurden herumgereicht, alle füllten ihre Teller, und Lilly schob sich, immer noch mit einem verzückten Gesichtsausdruck, eine Gabel Salat in den Mund.

Dann wandte sich ihre Mutter Franka zu. »Du hast noch gar nichts erzählt, Liebes«, sagte sie freundlich. »Wie war deine Woche? Hast du auch irgendwelche Neuigkeiten?«

»Nicht direkt.« Franka war unschlüssig, ob sie von Gabi Neubert erzählen sollte. Aber die Begegnung mit ihr wühlte sie immer noch auf, sie musste das einfach loswerden. »Außer, dass mich gestern eine junge Frau vor dem Rheinischen Anzeiger angesprochen und um Hilfe gebeten hat.«

»Dich um Hilfe gebeten?«, erkundigte Lilly sich prompt ungläubig.

»Allerdings, sie bekommt ein Kind, ohne verheiratet zu sein, und das Jugendamt will es ihr, obwohl sie volljährig ist, wegnehmen.«

»Das ist doch nicht möglich!« Ihre Mutter wirkte genauso schockiert wie Franka am Vortag.

»Das ist die Rechtslage.« Der Vater spießte ein Stück Fleisch auf die Gabel. »Die Sozialdemokraten wollen das schon seit ein paar Jahren ändern und die Vormundschaft über alle ledigen Mütter abschaffen. Da sieht man es, falls Willy Brandt und Konsorten an die Macht kommen, wird es mit unserem Land in allen Bereichen bergab gehen. Nicht nur mit Sitte und Moral.«

Franka öffnete den Mund zu einer empörten Antwort, doch Lilly mischte sich ein: »Deine Hilfesuchende hätte mal besser auf sich aufpassen sollen, dann wäre sie auch nicht schwanger geworden.«

Das konnte doch nicht wahr sein! Einen Moment lang war Franka sprachlos, ehe sie Lilly anfuhr: »Sogar du solltest wissen, dass zu einer Schwangerschaft zwei gehören, der Mann und die Frau! Aber die Männer müssen keine Konsequenzen tragen, während Frauen sich noch nicht mal die Pille verschreiben lassen dürfen. Es sei denn, sie sind verheiratet und haben schon vier Kinder.« Unter jungen Frauen war das ein großes Thema. Ein befreundeter Medizinstudent hatte Franka einen Gynäkologen genannt, der sich nicht an diese Vorschrift hielt und unter der Hand Rezepte für die Pille ausstellte. Den musste sie unbedingt aufsuchen. Nur für den Fall der Fälle … Nie sollte es ihr so ergehen wie Gabi Neubert.

Lilly verdrehte die Augen. »Stell dir vor, ich weiß, wie Kinder gezeugt werden.«

»Dann solltest du dich anderen Frauen gegenüber auch solidarisch verhalten.«

Der Vater verschluckte sich an dem Stück Fleisch und hustete heftig. Dann hieb er mit hochrotem Gesicht auf den Tisch. »Ihr beide, geht es noch? Solche Gesprächsthemen dulde ich nicht in meinem Haus! Und überhaupt, Franka, wie steht es eigentlich mit deinem Studium? Ich bezahle es, damit du etwas lernst, und nicht, damit du gefallenen jungen Frauen beistehst.«

»Wie kannst du nur so borniert sein?« Franka konnte sich kaum beherrschen.

»He, Fräulein, mäßige gefälligst deine Ausdrucksweise.«

»Franka, Axel, Schluss jetzt!« Ihre Mutter wurde selten ärgerlich, aber wenn, dann konnte sie sehr energisch sein. So wie jetzt. »Ich will keinen Streit beim Essen.«

»Entschuldige, Mama«, murmelte Franka zerknirscht.

»Außerdem glaubst du doch nicht im Ernst, dass dich der Rheinische Anzeiger über dieses Thema schreiben lässt«, bemerkte ihr Vater noch, ehe er sich erneut von den Kartoffeln nahm.

»Axel, das ist unser letztes gemeinsames Mittagessen, ehe du nach London fliegst«, mahnte ihre Mutter mit erhobener Stimme.

»Schon gut, tut mir leid, Annemie. Du hast ja recht. Ich sage nichts mehr dazu.« Er legte begütigend seine Hand auf ihre. »Lasst uns das Essen genießen.«

Franka senkte zornig den Kopf über ihren Teller. Hoffentlich täuschte sich der Vater. Der Chefredakteur musste sie einfach über diese Ungerechtigkeit berichten lassen!

Doch ihr Vater sollte leider mal wieder recht behalten. Niedergeschlagen verließ Franka am Dienstag den Rheinischen Anzeiger und ging an tristen Nachkriegsbauten mit Schuhgeschäften und Bekleidungsläden vorbei in Richtung Dom. Aus einem Brauhaus schallte Stimmengewirr, obwohl es erst Nachmittag war. Die Fenster standen wegen des frühlingshaft warmen Wetters weit offen.

Der Chefredakteur war nicht bereit gewesen, sie einen Artikel über Gabi Neuberts Notlage schreiben zu lassen. Nicht nur, dass er das Thema nicht wichtig fand, er war auch der Ansicht, dass eine Zeitung in einer katholischen Stadt nicht Partei für eine ledige Mutter ergreifen könne. So was sei nun mal gegen die herrschende Moral.

Hitzig hatte Franka ihn an die Unabhängigkeit der Presse erinnert, was ihm jedoch nur ein mildes Lächeln entlockte. Sie müsse noch viel lernen, hatte er gesagt. Keine Zeitung könne gegen ihren Herausgeber agieren und riskieren, Käufer und vor allem Anzeigenkunden wegen eines unangebrachten Artikels zu verlieren.

Frankas Herz sank, als sie Gabi Neubert vor dem Café sitzen sah. Die junge Frau trug ein graues, hochgeschlossenes Kleid und hatte eine Hand auf ihren gerundeten Leib gelegt, als wolle sie ihr Ungeborenes schützen. Nun blickte sie auf, bemerkte Franka, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Verdammt … Franka wurde das Herz noch schwerer. Sie hatte Gabi Neubert Hoffnungen gemacht. Wie sollte sie nur erklären, dass sie nichts für sie tun konnte?

»Fräulein Vordemfelde, wie schön, dass Sie gekommen sind.« Vertrauensvoll blickte die junge Frau sie an.

»Sie haben es also auch hierher geschafft.« Was redete sie da für einen verlogenen Unsinn? Franka ärgerte sich über sich selbst, während sie sich zu Gabi Neubert setzte. Sie wäre dankbar für jeden Aufschub gewesen, selbst für die kurze Zeitspanne, um Kaffee zu bestellen, doch der Kellner war nirgends zu sehen. Ein Motorrad donnerte auf der Straße vorbei, die Domglocken begannen, drei Uhr zu schlagen. Dann läuteten sie weiter, wohl für eine Messe.

Es half nichts, sie musste der jungen Frau die Wahrheit sagen. »Fräulein Neubert … Ich … Es tut mir leid. Ich habe sogar mit dem Chefredakteur gesprochen, aber der Rheinische Anzeiger wird keinen Artikel über Sie drucken.«

Die Schultern der jungen Frau sackten nach vorn, während die letzten Glockentöne im Rauschen des Verkehrs verhallten. Ihr Gesicht wurde blass. »Die Zeitung will wohl ihre Leser nicht verschrecken?«

»Ja, das auch …« Franka verstummte. Sie konnte Gabi Neubert einfach nicht sagen, dass der Chefredakteur ihre Notlage nicht wichtig fand.

Die junge Frau strich mit abwesendem Gesichtsausdruck über ihren Leib. »Ich bin Ihnen trotzdem dankbar, dass Sie es versucht haben«, flüsterte sie schließlich.