Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Von Paaren handeln etliche der dreizehn Geschichten in diesem Band: von solchen, die auseinandergehen, von anderen, die "trotz allem" beieinanderbleiben, von wieder anderen, die gar nicht erst zusammenfinden. Dass die Liebe auch bitter schmecken kann, ahnen oder erfahren sie. Sich selbst und der Welt abhanden zu kommen, müssen manche der Figuren fürchten, den Kontakt zu verlieren, allein zu sein oder zu bleiben und nichts anfangen zu können, nur mit sich. Manche haben ihren Platz ziemlich weit fort von den anderen, zum Beispiel hoch über ihnen wie der namenlose Protagonist der Titelerzählung "Der Hungerturm". Irgendwann freilich werden sie aufgestört von der halb heimlichen Sehnsucht, mit jemandem zu zweit zu sein. Bei anderen genügt ein unerwarteter Zwischenfall, dass der Boden unter ihren Füßen ins Schwanken gerät und brüchig wird. Und es gibt auch welche, denen die Wirklichkeit in die Quere kommt, weil sie ein Bild von sich und Ziele haben, die nicht recht zu ihnen passen. Knapp und zielstrebig, bisweilen in filmartig geschnittenen Szenen und Dialogen berichten die zeitlosen Erzählungen davon, wie aus Unspektakulärem etwas Liebes- und Lebensbestimmendes, mitunter Tödliches erwächst.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 329
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
© 2011, 2020 Michael Thumser M.A.
2., durchgesehene Auflage
Einbandgestaltung: Hugo Enristal
(Foto: Pixabay)
Autorenfoto (Seite 287): © Dr. Mechthild Habermann, 2020
Printed in Germany.
Eine Publikation des Hochfranken-Feuilletons, Hof
Verlag und Druck: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg.
ISBN
Paperback:
978-3-347-17237-1
Hardcover:
978-3-347-17238-8
e-Book:
978-3-347-17239-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Michael Thumser
Der Hungerturm
Dreizehn Erzählungen
Für Sigi,
die mir in vierzig Jahren wenig vorenthalten und das meiste erspart hat.
Inhalt
Damals
Die heimliche Jagd
Güges
Frühstück mit Elenor
Der Hungerturm
Die Lösung oder Im Lauf der Jahre
Schattenspiele
Renaissance
Tun und Lassen
Der gemachte Mann
Das Ende ist alles
Irgendwohin
Das Lied von der Nacht
Über den Autor
Sie sagen,dass die Liebe bitter schmecke.
Oscar Wilde,
SALOME
DAMALS
Damals hatte sie gesagt:
Bleib,
und er war vor der Tür stehen geblieben, hatte seine Tasche abgesetzt und sich langsam umgedreht. Dann war sie auf ihn zugekommen, sehr vorsichtig erst, und hatte gewartet, dass er sie in den Arm nähme; so lange, bis er es tat.
Später hatten sie im Wohnzimmer gesessen. Sie fragte ihn, ob er etwas trinken wolle, und als er um Kognak bat, schenkte sie zwei Gläser ein. Dann stießen sie an.
Wir sollten nicht so unvernünftig sein, sagte sie.
Eine Zeit lang ging es. Er saß jetzt viel in seinem Zimmer, weil er vor dem Examen stand und lernen musste, sodass sie sich nicht oft begegneten. Sie ging zur Arbeit oder kochte, und mit der Zeit stellte sich wieder das Gefühl bei ihr ein, ihrer beider Leben zu versorgen und zufrieden sein zu dürfen. Manchmal kam er in die Küche und legte ihr wie früher die Hände auf die Schultern, wenn sie vor der Spülmaschine oder dem Kühlschrank stand; manchmal küsste er sie in den Nacken, und sie erinnerte sich, dass sie das vor einiger Zeit noch sehr gern gemocht hatte; dann war sie fast ein wenig gerührt, dass auch er sich erinnerte und es ihr zu gefallen weiterhin tat. Woher sollte er wissen, dass sie seit damals weniger empfand dabei?
Eines Abends kam er wieder mit einem Band Gedichte, und sie nickte, setzte sich auf dem Sofa gemütlich zurecht (dabei nahm sie die Füße hoch und legte eine Hand auf die Knöchel) und wartete, dass er zu lesen begänne. Eine Weile blätterte er, manchmal setzte er an, entspannte sich aber gleich wieder und suchte erneut.
Ich finde nichts, sagte er.
Das Buch ist voll, antwortete sie; und er suchte weiter.
Lassen wir es, meinte er und wollte den Band beiseitelegen.
Lies ruhig welche, die wir schon kennen.
Und er las einige. Aber nach dem dritten meinte auch sie, er solle aufhören. Später stellte er den Fernseher an.
Früh lag er manchmal länger als sie im Bett, besonders dann, wenn er in der Nacht zuvor lange aufgeblieben war und gearbeitet hatte.
Sie ließ es zu und hatte nichts dagegen, an solchen Morgen das Frühstück allein zurechtzumachen, denn sie liebte diese halbdunkle Stunde, in der kaum Geräusche in der Wohnung waren und die Heizung langsam warm wurde. Das war schon immer so gewesen: sie nahm sich Zeit mit allem und sah erst lange aus dem Fenster oder blätterte in der Zeitung, bevor sie sich anzog und die Brötchen holte.
An einem Sonntag stand sie fast eine Stunde am Fenster und beobachtete den Sonnenaufgang und die Vögel im Garten und auf den Drähten. Solche Spätherbstmorgen hielt sie für die schönsten im ganzen Jahr. Blätter lagen braun überall auf den Straßen, und die Sonne wärmte schon nicht mehr, nicht einmal mehr an Tagen, die so wolkenlos zu werden versprachen wie dieser. Aber die Luft, wenn sie ganz kalt war, roch gut und war mühelos zu atmen und nicht so zäh wie an den drückend schwülen Stadtsommertagen.
Sie machte das Fenster auf und ließ die Wärme aus dem Zimmer; ihr Schlafanzug begann kalt zu werden, und eine Gänsehaut lief über ihren Körper. So stand sie noch eine Weile und streckte ihren Kopf weit hinaus, atmete tief und sah dem Dampf nach, den sie langsam aus der Nase strömen ließ.
Als sie ein paar Geräusche aus dem Schlafzimmer hörte, schloss sie das Fenster und ging hinüber. Er hatte sich im Bett aufgesetzt und sah auf die Uhr.
Guten Morgen, sagte sie.
Er brummte: Es ist spät.
Das macht nichts. Heute ist Sonntag.
Er nahm sie bei der Hand und versuchte, sie zu sich hinunterzuziehen. Er lächelte.
Aber sie machte sich los. Du hast gestern Abend vergessen, das Mundwasser zuzuschrauben. Jetzt ist der Alkohol verflogen und das Zeug wertlos geworden.
Einmal, als sie sich geliebt hatten, steckte er sich eine Zigarette an, legte den Arm unter den Kopf und fragte sie:
Bist du müde?
Nein, sagte sie. Gib mir auch eine.
Sie rauchten.
Früher, sagte sie nach einer Weile, sind wir danach oft noch einmal aufgestanden und mitten in der Nacht in die Stadt gefahren.
Ja. Er erinnerte sich. Damals hatte ich den Kopf nicht so voll wie heute. Übrigens werde er nun häufiger nicht zum Mittagessen zu Hause sein, sondern in der Stadt bleiben, um in der Bibliothek zu arbeiten.
Wenige Monate vor den Prüfungen war er an den Wochenenden oft so müde, dass er schon am frühen Abend in einem Sessel einschlief. Sie löschte dann alle Lichter bis auf zwei Tischlampen, setzte sich ihm gegenüber und las oder strickte. Nach ein, zwei Stunden dann, wenn sie das Buch oder die Handarbeit zur Seite legte, um zu Bett zu gehen, blieb sie oft noch eine Weile sitzen, bevor sie ihn weckte, und beobachtete ihn. Und sie wunderte sich, dass ihr so vieles noch nie aufgefallen war: seine schlechte Rasur zum Beispiel, oder die verschnittenen, brüchigen Fingernägel. Er hatte sich schon immer vernachlässigt, und sein Äußeres wars nie gewesen, was sie zu ihm hinzog. Aber erst jetzt fiel es ihr auf.
Als der Winter kam, sah sie nicht mehr viel von ihm. Manchmal kamen Freunde, mit denen er sich dann in sein Zimmer zurückzog und bis in die Nacht hinein arbeitete. Darum ging sie immer öfter spazieren; noch dazu waren die ersten kalten Tage sonnig, und die dicken Schneehauben auf den Zaunpfählen und die weiß eingehüllten Zweige der Bäume gefielen ihr.
Nach einem solchen Spaziergang kam sie ganz aufgeräumt nach Hause und sagte mit gut gelaunter Kindlichkeit:
Ich will mir einen Hund kaufen. Oder vielleicht nur eine Katze. In den Anlagen spielen so viele Menschen mit ihren Tieren und sehen dabei vollkommen glücklich aus; fast so wie die, die ihre Kinder dabeihaben.
Natürlich, sagte er, wie du willst. Es ist deine Wohnung.
Aber selbstverständlich nur, wenn du dir sicher bist, dass du dich konzentrieren kannst, wenn ein Tier in der Wohnung ist.
Ich weiß nicht, antwortete er. Vielleicht würde es mich stören.
Er hatte sie überraschen und ein Mittagessen kochen wollen, weil sie den ganzen Vormittag in der Stadt zu tun gehabt hatte.
Mein Gott, rief sie, als sie in die Küche kam, was hast du nur mit der Soße gemacht.
Es war so wenig, sagte er und sah in die Pfanne, da habe ich Wasser und Stärkmehl hineingetan, um sie zu strecken.
Sie seufzte. Du wirst es nie lernen.
Beim Essen sagte er: Das Fleisch ist hart, und die Kartoffeln haben einen rohen Kern.
Sie legte das Besteck aus der Hand, sah ihn an und sagte: Es macht nichts. Ich weiß, du hast es gut gemeint.
Wollen wir mit deinen Freunden nicht mal abends fortgehen?, fragte sie, als er kurz aus seinem Zimmer kam, um ein Buch zu holen. Drinnen war alles blau von Rauch.
Sie werden sicher keine Zeit haben, antwortete er zerstreut, während er nach dem Buch suchte.
Als er es gefunden hatte und schon in der Tür stand, rief sie ihn leise zurück und sagte:
Früher ist das nie vorgekommen.
Was.
Sie lachte: Dass du mir wie heute einen ganzen Vormittag lang keinen Kuss gegeben hast.
Es tut mir leid, entschuldige. Und er sah in das Zimmer, wo seine Freunde warteten.
Und wie gestern. Aber sie lachte nicht mehr.
Er küsste sie auf die Wange.
Als er eines Abends zu Bett ging (sie hatte sich schon früher hingelegt), fand er ein kleines Feuerzeug mit seinen Initialen auf dem Kopfkissen.
Danke, sagte er am nächsten Morgen. Und bevor er in die Stadt fuhr, umarmte er sie.
Als er am Abend kam, sagte sie: Du kommst spät.
Er nickte.
Ach, fiel ihm dann ein, ich hatte dir Blumen mitbringen wollen. Den ganzen Tag dachte ich daran, und nun hab ich sie doch vergessen. Wahrscheinlich seien aber die Geschäfte auch schon geschlossen gewesen, meinte er.
Was er sich zu Weihnachten wünsche.
Ruhe, brummte er abwesend. Vor allem brauche er Ruhe.
Sie konnte es nicht glauben.
Sag es noch mal, bat sie glücklich.
Ich versteh dich nicht, lachte er. Ich fragte dich, ob du Lust hättest, über Neujahr in die Berge zu fahren. Was ist so ungewöhnlich daran?
Ich freue mich. Du bist lieb.
Ich bin nicht lieb. Ich habe kaum Geld, du wirst für uns beide bezahlen müssen. Vergiss das nicht.
Das ist egal. Ich freu mich nur, dass du es bist, der den Vorschlag macht.
Er sah sie an. Dann strich er ihr mit der linken Hand über die Wange und öffnete mit der rechten ein, zwei Knöpfe an ihrer Bluse; bis sie sich wehrte:
Lass lieber. Dafür ist es nicht Grund genug.
Weil es ihr gelungen war, ihn zu überreden, keine Bücher und auch sonst nichts zum Arbeiten mitzunehmen, hatte sie es sich etwas kosten lassen und in einem teuren Hotel gebucht.
Spät am Abend erst kamen sie an und frühstückten deshalb spät am nächsten Morgen.
Ein prima Hotel, stellte er fest. Ich bin dir dankbar.
Freut mich, wenn es dir hier gefällt.
Er zeigte auf eine junge Frau, die gerade hereinkam und nach einem freien Platz suchte.
Die sieht gut aus, sagte er.
Ja, gab sie zu. Früher hatte er immer hinzugefügt: Aber du gefällst mir besser, und ihre Hand genommen.
Als sie beim Skifahren einmal wenige Meter vor ihm stürzte, hielt er an und sah erschrocken zu ihr hin.
Ist dir was passiert? Hast du dir wehgetan?, rief er.
Nein. Es ist nichts.
Warum stehst du nicht auf?, rief er nach einer Weile.
Sie hatte erwartet, dass er kommen werde, um ihr zu helfen.
Soll ich dir helfen?, rief er ihr zu.
Danke, ächzte sie, als sie sich an den Stöcken hochzog, es geht auch so.
Am Silvesterball tanzten sie viel miteinander. Sie war gut gelaunt, und nachdem er ein paar Gläser getrunken hatte, kam auch er allmählich in Stimmung. Sie schmiegte sich an ihn, und ihm gefiel das Gefühl, ihren Körper nah bei dem seinen zu haben.
Um Mitternacht, als draußen das Feuerwerk abgebrannt wurde, hielt sie ihn zurück und wartete, bis kein Gast außer ihnen mehr im Saal war. Dann stieß sie leise mit ihrem Glas an das seine, küsste ihn und sagte:
Darauf, dass du dein Examen bestehst.
Ja, sagte er und trank, das ist jetzt das Wichtigste.
In der letzten Nacht im Hotel unterhielten sie sich lange.
Ich hab dir Unrecht getan, sagte er und machte ein schuldbewusstes Gesicht.
Wann?
Damals.
Ach so.
Du hast es noch nicht vergessen.
Doch, sagte sie. Fast. Ich bin dir nicht böse.
Sie schwiegen beide eine Weile. Dann fügte sie hinzu:
Und jetzt ist ja alles wieder so wie früher, und sah ihm forschend ins Gesicht.
Eben, stimmte er zu und lächelte. Manchmal beinahe.
In der Nacht vor seinem ersten Examen schliefen sie beide nicht. Gegen Morgen sah er auf die Uhr: in einer Stunde würde er aufstehen müssen, ohne ein Auge zugetan zu haben. Da kroch er zu ihr herüber und legte den Kopf auf ihre Brust, und sie strich ihm langsam über das Haar. Er hatte Angst; aber sie sagte ihm nicht, dass sie es wusste.
Nach der letzten Prüfung holte sie ihn im Auto ab. Als er eingestiegen war, sagte sie:
Wir müssen es feiern. Wohin wollen wir fahren?
Er aber fragte, ob sie böse wäre, wenn er sich zu Hause erst einmal ausruhe. Danach könne man immer noch sehen.
Eine Woche später kam er ins Wohnzimmer und hatte seine Tasche in der Hand.
Es ist doch besser, wenn ich gehe, sagte er.
Ja, sagte sie. Vielleicht wäre es damals schon besser gewesen.
DIE HEIMLICHE JAGD
… es ist schwer für jemanden, der einmal an geistiger Krankheit litt, mit einem Gesunden Mitleid zu haben …
F. Scott Fitzgerald,
ZÄRTLICH IST DIE NACHT
1
An diesem Morgen wie an den Morgen zuvor hatte er Mühe, aus dem Bett zu kommen. Die Augen waren verklebt, der schlechte Geschmack im Mund war diesmal noch unangenehmer als sonst, und sein Körper fühlte sich blass an, zerdrückt und schmerzempfindlich. Christine war in der Küche, Winberg hatte nicht gehört, wie sie aufgestanden war, aber jetzt hatte ihn wohl das Geklapper der Tassen und des Bestecks geweckt. Weil Christine die Rollos erst nach dem Frühstück hochzog, war das Schlafzimmer noch düster; so konnte Winberg die Uhrzeit auf dem Wecker nicht erkennen.
Christine trug ein Tablett ins Wohnzimmer, und als sie damit an der offen stehenden Schlafzimmertür vorbeikam, rief sie ihm zu: Steh auf, es ist schon spät.
Wie spät?
Viertel acht.
Winberg drehte sich langsam aus dem Bett, zog die Brauen über den fast geschlossenen Augen hoch und machte ein dummes Gesicht. Seine Füße tasteten nach den Pantoffeln. Christine kam herein und begann, die Bettdecken aufzuschütteln.
Morgen, sagte sie.
Morgen, wiederholte er, stand auf und gab ihr einen müden Kuss auf die Wange.
Geh und rasier dich, sagte sie aufmunternd.
Beim Frühstück machte ihn der Kaffee nur langsam wacher. Winberg überflog die Schlagzeilen der Zeitung, ohne etwas aufzufassen, und bestrich sich ein Brötchen schlampig mit Butter und Honig.
Du gehst in letzter Zeit zu spät ins Bett, sagte Christine. Jeden Morgen bis du todmüde.
Er nickte und brummte irgendetwas, das nicht verstanden werden sollte.
Später, im Lift, wurde ihm kurz wieder klar, dass ihm diese Morgen mit Christine etwas bedeuteten. Er nahm sie, die mit einer Tasche in der Hand neben ihm stand, in den Arm und küsste sie rasch. Sie tat, als verstünde sie ihn nicht, und nahm seine Zärtlichkeit wie selbstverständlich. Seine Zärtlichkeiten kamen immer plötzlich, immer unvermutet, und sie kamen nie selbstverständlich. Aber sie spürte manchmal – aus einem Satz, oder durch die Art, wie er sie am Arm nahm –, wie sehr er sich anstrengte, sie fühlen zu lassen, dass er sie liebte.
Bis heute Abend, sagte sie vor der Eingangstür und sah ihm absichtlich mit großen Augen ins verschlossene Gesicht.
Bis dann, sagte er und strich ihr übers Ohr.
Dann nahmen sie zwei verschiedene Richtungen: sie zum Supermarkt, der sich im Erdgeschoss eines der benachbarten Hochhäuser befand; und er ging den Weg durch Grünanlagen und Parkplätze aus dem Hochhausviertel hinaus zur Bushaltestelle.
Dass sie immer noch hier leben mussten!, ging es ihm durch den Kopf. Architekt sein, aber keinen realistischen Gedanken an ein eigenes Haus verschwenden dürfen; verantwortlich sein für alles Mögliche, für dies und das geradestehen sollen und dabei vielleicht nie sein eigener Herr werden können; immer einen oder zwei oder noch mehr über sich haben. Manchmal verspürte er mitten am Tag die Lust, sich irgendwo hinzulegen und keinen Finger mehr zu rühren. Manchmal hätte er Lust, laut und unsinnig herumzuschreien, wo gerade geschwiegen wurde. Manchmal wollte er schon ausholen, um alles um sich herum zu zerschlagen, Computertastatur und Zeichengerät in die Ecke zu schleudern, mit den Ausdrucken von Grundrissen fremder Häuser ein gigantisches Feuer zu entfachen. Manchmal kam es wenigstens dazu, dass er mit der flachen Hand auf den Arbeitstisch schlug, sodass die Finger brannten, und dass er fluchte. Gleich darauf war er dann jedes Mal froh, dass es niemanden interessierte, wenn er sich für kurze Zeit einmal nicht beherrschen konnte, dass keiner ihn fragte, was in ihn gefahren sei, dass ihm niemand den Lärm vorwarf, den er gemacht hatte. An diesem Tag wie an jedem anderen sehnte er sich danach, dass irgendetwas Außergewöhnliches geschehe, ohne daran zu glauben, dass es wirklich eintreten könne. Er hoffte, einmal irgendwo dabei zu sein: sich bei einem furchtbaren Verkehrsunfall als Retter zu bewähren, oder mitzuerleben, wie einem Politiker der Kopf weggeschossen wurde, und dem Attentäter dann ein Bein zu stellen und sich auf ihn zu stürzen, oder den Vergewaltiger einer Frau von seinem Opfer wegzureißen und in die Flucht zu prügeln. Als er noch ein Junge war, hatte er sich immer wieder Situationen vorgestellt, aus denen er als Held hervortreten könnte. Heute genügte es ihm, sich in Gedanken des dankbaren Respekts, der Anerkennung eines fremden Menschen zu versichern. Mit Christine hatte er nie über seine Flausen gesprochen. Sie lebte viel zu sehr in der Wirklichkeit, als dass sie über solche Kindereien nicht würde lachen müssen. Aber manchmal las er ihr aus einer Illustrierten Geschichten vor von Menschen, die so waren, wie er sein wollte: im Alltag mutig, für jemand anderen notwendig, konsequent und zu einem bestimmten Augenblick am richtigen Ort, um etwas zu tun, das nützte.
Winbergs Tag begann in gereizter Stimmung mit einer Besprechung seiner Chefs und jener Mitarbeiter, die an dem Großprojekt beteiligt waren, das schon seit einem halben Jahr im Mittelpunkt umfangreicher Planungsarbeiten stand. Die Leiter der Firma gaben sich unleidlich, aber hinter der Unzufriedenheit mit dem bisher Geleisteten verbarg sich letztlich ein gewisser Gleichmut, ja Desinteresse. Dabei gingen die Arbeiten besser voran, als noch vor Wochen zu erwarten gewesen war. Zwei Stunden lang also machte man sich voreinander wichtig, hob den eigenen Ertrag hervor und drängte die Beiträge anderer zurück, wetteiferte mit mehr oder weniger nebensächlichen Vorschlägen und Anträgen und stritt um Dinge, die noch längst nicht spruchreif waren.
Nachdem Winberg mit ein paar kaum beachteten Worten seine Ergebnisse aus den vergangenen Tagen referiert hatte, zog er sich an eine Wand des Konferenzzimmers zurück und lenkte seine Gedanken auf alles mögliche andere. Nach einer Viertelstunde war er so gleichgültig geworden, dass sich seine Laune besserte. Er versuchte sich auf etwas zu besinnen, worauf er sich freute. Viel war da nicht. Oder doch? Einen Abend am Wochenende wollten Christine und er gemeinsam mit etlichen guten Freunden verbringen, die sie schon lange nicht mehr getroffen hatten; in sechs Wochen würde er mit Christine für ein paar Tage in Urlaub fahren; für die kommende Woche war in einem Kino ein vielversprechender Film angekündigt, Christine und er kannten und schätzten die Produktionen des Regisseurs und sammelten die DVDs wie Bücher oder Platten. Immerhin, dachte Winberg.
Eine Sekretärin drückte sich fast heimlich durch die Tür und musste sich von einem der Chefs ungeduldig anraunzen lassen.
Ein Anruf, sagte sie leise.
Für wen?
Für Herrn Winberg.
Na dann, bitte. Aber beeilen Sie sich nach Möglichkeit.
Winberg bemerkte erst nach und nach, dass damit er gemeint war.
Für mich? Er folgte der Sekretärin.
Am Apparat war eine unbekannte, geschäftsmäßig nüchterne Stimme, die sich mit dem Namen eines Krankenhauses vorstellte. Christine Winberg sei eingeliefert worden. Ob er gleich kommen könne?
Winberg begriff noch nicht. Meine Frau?
Sie hatte einen Unfall. Ist es möglich …
Wann … wo …
Sie wird jetzt operiert.
Mein Gott.
Bringen Sie ein paar Sachen Ihrer Frau mit, bitte. Außerdem sind noch einige Formalitäten zu erledigen.
Wer …
Mit der Polizei können Sie sich anschließend in Verbindung setzen, sagte die Stimme des Krankenhauses.
Die Sekretärin hatte erschrockene Augen, tat aber so, als hätte sie nichts mitbekommen.
Kann ich helfen?, fragte sie, als Winberg zögerlich aufgelegt hatte.
Meine Frau … Nein, stammelte Winberg, fasste sich dann ein wenig und sagte: Ich muss gleich fort. Er fühlte sich hilflos und seit Langem zum ersten Mal völlig allein.
Man ließ ihn nicht zu ihr. Sie sei am Schädel verletzt, schwer, beträchtlich, sagte ihm ein junger, langer und hagerer Arzt, der ihn mit einer routinierten Bewegung sacht am Arm nahm und langsam den Gang entlang führte. Die Operation sei abgeschlossen und gut verlaufen, soweit man das bei einem Fall wie diesem sagen könne; ob und wie sehr der Eingriff habe helfen können, lasse sich erst später absehen.
Winberg wurde den Eindruck nicht los, dass nicht mehr viel zu machen war, und er wusste nicht: las er das aus dem naturgemäß passiven Gesicht des Arztes, hörte er es aus seinen Worten, aus seiner Stimme? Zu fragen, wie die Chancen stünden, wagte er nicht.
Wir müssen also abwarten, schloss er Arzt, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. Dann sah er auf die Uhr. Entschuldigen Sie mich.
Bitte …, beeilte sich Winberg.
Wenn Sie Fragen haben –, sagte der Arzt.
Winberg hatte viel zu viele Fragen, darum stellte er nicht eine, sondern sah willenlos einer jungen Schwester zu, die mit einem Rolltisch voller dampfender Mittagessen unter Kunststoffhauben auf sie zukam. Dann spürte er einen sterilen Händedruck.
Es ist ein schwieriger Fall, sagte der Arzt zum Abschied, kein außergewöhnlicher, aber ein schwieriger Fall.
Als Fall hatte Winberg Christine noch nicht gesehen.
Der Fall sei eindeutig, sagte ihm ein Polizeibeamter auf der Wache. Bedauerlich, ja, und: Es tut uns leid für Sie und Ihre Frau, sagte er und schien es ehrlich zu meinen.
Winberg nickte irgendwohin. Neben ihm stand ein alter, verwüstet aussehender Mann, der Anzeige gegen Unbekannt erstatten wollte und dem ganzen Raum seine verfahrene, völlig nichtige Geschichte aufdrängte.
Kommen Sie, sagte der Beamte, nahm Winberg mit sich hinter den Tresen und ging voran in einen kahlen Nebenraum, wo ein Tisch, ein paar Stühle, Schränke und Regale standen. Sie setzten sich.
Kennen Sie den Doktor?, fragte der Beamte.
Wen?, gab Winberg zurück.
Doktor Kryger, sagte der Beamte. Ich habe Ihnen gerade berichtet, dass er den Wagen fuhr.
Ach ja.
Sie kennen ihn?
Nein.
Doktor Kryger – Sie haben wenigstens den Namen schon gehört, forderte der Beamte.
Winberg dachte an Christine und wie sie vor dem Auto eines Doktor Kryger lag.
Er führt eine Privatklinik am Stadtrand. Da geben sich sogar die Minister die Klinke in die Hand.
Winberg sah noch, wie Christine mit gefüllter Einkaufstasche vor den Wagen lief.
Der Fall ist eindeutig, wiederholte der Polizist. Ihre Frau hat nach etwas auf der anderen Straßenseite Ausschau gehalten, vielleicht einen Bekannten gesehen. Die Zeugen sagen, sie sei auf die Fahrbahn gelaufen, mit erhobener Hand, als ob sie jemandem winken wollte, und habe nicht nach rechts gesehen und nicht nach links.
Wie heißt der Mann?, fragte Winberg mitten hinein.
Kryger. Mit Ypsilon, antwortete der Polizist und sah Winberg prüfend an.
Wann ist es passiert?
Gegen zehn, sagte der Beamte. Der Mann ist unschuldig, daran ist kein Zweifel.
Unschuldig, wiederholte Winberg.
Der Fall ist eindeutig, sagte der Polizist.
Entsetzen ergriff Winberg erst, als er den grauen Steinwänden der Hochhaussiedlung näher kam – er wusste nicht, ob es Mitleid mit Christine war, was ihn derart erschreckt hatte, oder ob die Verzweiflung ihn ausgerechnet hier packte, weil er jetzt allein hier wohnen sollte, inmitten dieser Häuser, die immer dastanden wie in endlosen Regenschauern und die taten, als könnten sie nicht wahrhaben, dass auch manchmal die Sonne schien. Der Sommer in solch einem Haus sei verlorene Zeit, hatte Christine einmal gesagt.
Als er durch die betonbegrenzten Grünanlagen auf das Haus zuging, das zufällig seine Wohnung enthielt, wurden seine Schritte wie von selbst immer langsamer, als wollten seine Beine den Augenblick noch weiter hinauszögern, in dem ihre Bewegung zum Stillstand kommen musste. Winberg nahm nicht den Lift, sondern stieg Stockwerk um Stockwerk an verschmierten Wänden entlang das stets leicht nach Urin und Gummi riechende Treppenhaus hinauf.
Wenn er sonst seinen Schlüssel aus dem schweren, klirrenden Bund heraussuchte und dann im Schloss der Wohnungstür drehte, rief Christine immer:
Bist dus?,
als ob es auch jemand anderer sein könnte. Er rechnete damit, dass diesmal die Wohnung still bleiben würde, und doch fiel ihm auf, dass niemand rief, und er fühlte sich fast ein wenig schuldig, weil er darüber nicht noch mehr erschrak. Im Flur, als er die Tür geschlossen hatte, blieb er im Halbdunkel stehen und lauschte, als ob hinter einer der Türen schlecht über ihn gesprochen werden könnte. Es war nichts zu hören als das regelmäßige Knacken eines Uhrpendels und das Summen des Kühlschranks.
Du machst dich zum Narren, sagte sich Winberg. Aber er vermochte es nicht, sich zusammenzunehmen. Dabei hatte er nicht einmal Angst um Christine – obwohl er wusste, dass es allen Grund dafür gab. Zunächst musste er sich anstrengen, ein Das-hat-nochgefehlt-Gefühl loszuwerden, das in seinem Kopf war und trotz mühseliger Konzentration auf die Katastrophe selbst immer wieder auftauchen wollte.
Im Wohnzimmer lag die Zeitung noch halb aufgeschlagen auf dem Tisch, Geschirr, Butter und Marmelade standen hastig zusammengestellt auf einem Tablett. Im Schlafzimmer waren die aufgeschüttelten Kissen und Decken ordentlich über die Bettenden gebreitet. Durch das offene Fenster kam ab und zu ein leichter Windzug, der ein wenig nach Ruß roch und ein wenig nach jungen Bäumen. Christines Leben schien in der Wohnung geblieben zu sein, ihre durch die Jahre hindurch bis ins Unbewusstsein eingeübten allmorgendlichen Tätigkeiten schienen nur für kurze Zeit unterbrochen. Was da im Krankenhaus lag, wollte mit Christine noch nicht allzu viel zu tun haben. Ein paarmal fiel es Winberg schwer, die Vorstellung aufzugeben, sie werde im nächsten Moment aus einem Zimmer zu ihm kommen; dann beobachtete er sich, wie er lächelte und gerade dabei war, die Erinnerung an den Anruf, an das Krankenhaus und die Polizeistation wie eine dumme Einbildung abzuschütteln.
Als er, eigentlich grundlos, die Toilette betrat, spürte er, dass er sich gleich würde übergeben müssen. Danach spülte er den Mund aus und steckte sich eine von Christines Zigaretten an. Er hatte sich jetzt derart aus dem Griff verloren, dass er sich kaum mehr entsinnen konnte, was mit dem Rauch zu machen sei, den er in Mund und Lungen hatte. Er stellte sich ans Schlafzimmerfenster, als ob es von hier aus eine Aussicht zu genießen gäbe, und beobachtete auf der abgezirkelten Wiese ein paar spielende Kinder, bunte Punkte, die einem noch kleineren Punkt, einem Ball, nachjagten und sicher gleich von einem Hausmeister vertrieben oder von einem alten, gelangweilt auf Belästigung wartenden Mieter beschimpft werden würden.
Winberg wusste nichts mit sich anzufangen, alles war ihm aus der Hand genommen, er konnte nicht einmal danach fragen, was nun zu tun sei, nur noch danach, was war; und jede Antwort, die ihm gegeben werden könnte, würde ihm maßlos lästig sein oder ihn beunruhigen oder nicht genügen und Anlass geben zu neuen Fragen. Er hatte Angst, dass dieser Zustand so bald nicht enden würde, sollte Christine jetzt sterben.
Als er wenig später in der Firma anrief, um die Fragen zu beantworten, wo er denn geblieben und warum er nicht wiedergekommen sei, bat er kurz angebunden um eine Woche Urlaub.
Wofür brauchen Sie den? Wir stecken mitten in einer entscheidenden Phase, erinnerte ihn die Stimme am Telefon, von der er jetzt nur wusste, dass sie das Sagen hatte.
Unbezahlt, sagte Winberg ins Blaue hinein. Mir reicht eine Woche unbezahlter Urlaub.
Er erhielt ihn, zusammen mit ein paar überflüssigen Bemerkungen seines Abteilungsleiters. Dann setzte sich Winberg in einen Sessel, ein leeres Glas in der Hand, in das etwas einzuschenken er vergessen hatte. Ihm graute vor den vielen Tagen allein mit sich. Aber es war ihm, als wäre etwas zu tun, das vielleicht so lange bräuchte, getan zu werden.
2
Am nächsten Morgen, nachdem er ein belangloses Telefongespräch mit Christines Arzt geführt hatte, machte sich Winberg mit dem Auto auf den Weg. Krygers Klinik, deren Adresse er aus dem Telefonbuch kannte, bestand aus vier großen Gebäuden im Stil klinkergemauerter, strohgedeckter Ostfriesenhäuser. Sie standen wie zufällig verstreut, zwischen dichten Bäumen und Buschwerk in einem umfänglichen Grundstück. Winberg ließ den Wagen stehen und schlenderte durch ein mit Sorgfalt und Raffinement arrangiertes Stück künstlicher Natur, in dem die Vögel sangen und ab und zu ein Frosch Laut gab, als wäre dies alles extra bestellt, als gehorchten Tiere, Pflanzen und der Wind dem Dirigat eines verborgenen Majordomus. Am Hauptgebäude, zu dem ein breiter, leicht gewundener Kiesweg führte, war eine Überwachungskamera versteckt, und auch die reich verzierten, unbezwingbaren Gitter vor manchen Fenstern des Erdgeschosses entgingen Winberg nicht.
Eine Art Empfangsdame saß hinter einem breiten Massivholztresen inmitten eines Waldes aus üppigen Grünpflanzen und trank mit edler Bewegung aus einer Tasse. Sie fragte er wie beiläufig nach Doktor Kryger.
Ob er angemeldet sei und erwartet werde? Andernfalls könne er jetzt allerdings nicht zu ihm. Sie erbot sich noch zu telefonieren. Winberg aber lehnte rasch ab und entfernte sich mit ein paar Ausreden in eine der seitab führenden Lauben, wo er sich zwischen Gruppen wartender Besucher und Patienten schob, die in Bademänteln rauchten.
Auf einem Wegweiser fand er Krygers Zimmernummer. Vor der Tür fühlte sich Winberg mit einem Mal ausgeleert und ratlos. Mit beklommenem Atem setzte er sich auf einen Stuhl und wartete; dann beobachtete er einen Arzt und eine Sekretärin, die nacheinander das Zimmer betraten. Winberg stand auf, näherte sich der Tür und lauschte, sobald er sich selbst unbeobachtet fühlte. Innen wurde gesprochen, in dunklen, dumpfen Worten, die Winberg nicht verstand. Dann senkte sich die Klinke, und einen Augenblick später, gerade als Winberg sich abgewandt hatte und langsam einige Schritte weiter ging, trat hinter dem Arzt und der Sekretärin ein älterer, mittelgroßer und schlanker Mann mit frischem, lebendigem Gesicht heraus, der sich bei seinen Begleitern knapp nach diesem und jenem erkundigte und mit leicht gesenktem Kopf Antworten entgegennahm. Winberg ging den dreien nach und sah zu, wie nach kleiner Pause der Ältere, ganz offensichtlich Doktor Kryger, dem Jüngeren eine Hand auf die Schulter legte, nickte und ihm ein paar Worte sagte, die der andere mit auffälliger Erleichterung aufnahm.
Nein, hörte Winberg Kryger dann sagen, ich fahre übermorgen trotzdem, bleibe aber am Wochenende in Notfällen übers Handy erreichbar. Sie wissen ja, wo. Und er nannte den Namen eines Hotels in einem der kleineren Seebäder. Winberg, der dort vor Jahren beruflich zu tun hatte, kannte es: für Wochenendausflüge ein beliebtes Ziel und in gut einer Autostunde erreichbar.
Winberg betrat die Cafeteria erst eine Minute nach den anderen. Mit ein paar Blicken hatte er ausgemacht, wo sie saßen. Dann mischte er sich in eine der kurzen Reihen von Wartenden vor den Schaltern und ließ sich, als er gefragt wurde, eine Cola geben. Er setzte sich unscheinbar zu einem plaudernden Pärchen und sah von der Seite zum Tisch der anderen hinüber.
An Doktor Kryger war vieles, was sich Winberg unangenehm aufdrängte. Vom ersten Augenblick an störte ihn seine makellose Erscheinung, die Kleidung, an der alles stimmte, eins zum anderen sich fügte, alles zueinander passte: die vornehmen Streifen in der Krawatte zum diskreten Muster des weichen Anzugs zur Geschmeidigkeit des Schuhleders zur Frische des Hemdes zum zurückhaltenden Glanz der Ringe, die er an beiden Händen trug. Der Körper des Mannes schien zweitrangig, zum Anzug hinzuerfunden: das weißgraue, noch volle und gepflegte Haar, der von pfiffiger, vielleicht bissiger Intelligenz klein und scharf gewordene Blick, die eng anliegenden, noch ziemlich kleinen Ohren, die gewölbte, eine Spur zu voluminöse Nase, die dem Gesicht unverwechselbaren Charakter gab. Winberg begann, jede von Krygers Bewegungen zu verabscheuen, die sich grazil, aber nicht affektiert gaben, genau bemessen, niemals hastig, fehlerlos. Als Kryger an diesem Tisch der Klinikkantine Kaffee aus einem Pappbecher trank, tat er das so, wie Winberg in einer exklusiven Bar einen teuren Drink zu sich genommen haben würde.
Winberg spürte: da war nichts, das ihn und Kryger einander näher bringen könnte, keine gemeinsame Gewohnheit, nichts von beiden Wertgeschätztes, auch nichts, das sie vereint ablehnten, nicht ein einziges Wort ihrer beiden Sprachen. Kryger würde ihm viel zu fremd bleiben, als dass er ihn je würde hassen können. Und Winberg, seine Wahrnehmungen sortierend, bemühte sich sofort darum, sich darauf einzustellen.
Wenig später, als Kryger und die beiden andern die Cafeteria verließen, kamen sie an Winbergs zwischen die Schultern gezogenem Kopf vorüber. Sie sprachen gerade über den Unfall vom Vortag. Kryger nannte ihn ein bedauerliches Unglück, erwähnte das arme Opfer, das für einen Augenblick der Unaufmerksamkeit eine schreckliche Strafe zahlen müsse. In seiner Stimme schwang – nicht ganz echt? – der Ton einer inneren Bewegung, mit der er begonnen zu haben schien, ohne sie je zu Ende bringen zu wollen. Der jüngere Arzt bemühte sich sichtlich um die Worte seines Chefs und bedauerte im Weggehen die Schwierigkeiten, die sich für Kryger aus dem Ganzen ergeben hätten, und die Verlegenheit auch des Mediziners, der nicht überall Hilfe leisten könne, wo er sie spenden wolle.
Winberg legte das Gesicht in die Hände. Während Christine bewusstlos in einem kastenförmigen Bett inmitten elektronischer Apparate lag, die ihr Leben bestärken und, sobald nötig, ersetzen sollten, konsolidierte sich hier die unverbrüchliche Kameradschaft der Unbeteiligten, durch die Erleichterung geeint, mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Ihre dienstliche Sprache setzte den interesselosen Erinnerungen die Maske der Geschäftigkeit auf, des innerlichen Engagements und der Bestürzung über das unverdiente Leid eines anderen. Die Gesichter verzogen sich gerade so wie bei der Rundfunknachricht von einer mittleren Katastrophe irgendwo im Lande oder weit weg auf der Welt, mit einer gewissen Anzahl von Todesopfern und Schwerverletzten. Die Stimmen bedeckten sich soweit, dass man gerade noch begreifen konnte, es sei nicht schön, was andernorts geschah an schlimmen Dingen. Die Gesichter, die dergleichen daherlogen, schienen sich für Winberg von einer Sekunde auf die andere mit abstoßender Haut zu überziehen, hässlich wie das abgehandelte Ereignis selbst.
Eine nicht mehr junge Schwester empfing ihn, sie war von Arbeit und Verantwortung niedergedrückt und strahlte klinische Sauberkeit aus wie einen Vorwurf gegen Winbergs abgetragene Jacke und staubige Schuhe. Mit müdem Gesicht teilte sie ihm mit, dass der Stationsarzt nicht zu sprechen sei; Christine lag noch auf der Intensivstation.
Sie hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt, sagte die Schwester. Er könne noch nicht zu ihr hinein.
Aber durch eine Glasscheibe durfte er sehen: auf ihr entstelltes und geschundenes Gesicht unter dem Turban des Kopfverbands, auf die Leitungen von Maschinen, auf die Schläuche in den Körper hinein und aus ihm heraus, auf das simultane stumme Wandern gezackter Lichtkurven über einen Bildschirm. Sein Blick wartete eine Weile darauf, dass Christines bräunliche, perlmuttern schimmernde Augenlider sich bewegten.
Wie ist ihr Zustand?, fragte Winberg.
Stabilisiert, antwortete die Schwester und sah ihm in das an den Wangen eigentümlich verschobene Gesicht, das sie jetzt mehr interessierte als die seit einem Tag unveränderten Züge der Patientin.
Hat es Sinn, auf den Doktor zu waren?, fragte er.
Die Schwester schüttelte den Kopf. Telefonieren Sie mit ihm, riet sie. Später.
Noch ein Blick in Christines Gesicht. Winberg hätte helfen mögen, sie waschen, das Bett richten, oder nur bei ihr wachen und darauf achten, dass die Lichtlinien nicht aufhörten, über den Bildschirm zu flattern. Aber derlei Beistand war nicht gefragt. Besondere Menschen hatten hier den Auftrag dazu; Menschen, die durch nichts zu denen gehörten, denen sie helfen sollten. Für einen Moment suchte Winberg ein Opfer für den Funken Hass, der ihm gerade zur Verfügung stand. Aber nach wem er auch Ausschau hielt: er fand nur welche, die nichts dafür konnten, jeder auf seine Art. In seinem Kopf hieß es jetzt wenigstens: dran bleiben. Am Leben dieses Krygers teilnehmen von außen. Es ansehen, wenn es schon nicht zu verstehen war.
Am folgenden Morgen machte Winberg Krygers Wohnung ausfindig, fuhr hin und folgte ihm, als er aus dem Haus trat und fortfuhr, mit dem Auto in die Klinik; wartete dort zwei Stunden, bis Kryger wiederkam; ging hinter ihm her weiter ein paar Straßen in Richtung der Innenstadt in einen Park; blieb dort eine Viertelstunde lang etwa zwanzig Meter von ihm entfernt auf einer Bank sitzen, solange Kryger in einer Zeitung las; folgte ihm dann durch die Anlage in ein dahinter gelegenes Wohnviertel mit herrschaftlichen, kostspielig renovierten Mietshäusern hinter reich verzierten Fassaden aus der vorletzten Jahrhundertwende; wartete, bis Kryger aus einem der Häuser wieder herauskam, in dem er offensichtlich jemanden besucht hatte – einen Patienten, eine Geliebte? –; blieb dicht hinter ihm, solange er durch eine Reihe engerer, winkliger Sträßchen und Gassen der Altstadt ging; und ließ endlich den Abstand zu Kryger wieder größer werden, als sie auf einen weiten, übersichtlichen Platz traten, an dessen einer Seite eine große Kirche stand. Nachdem Kryger über einige flache Stufen aus dem Sommerlicht im fast abweisend dunklen Portal verschwunden war, lehnte Winberg sich an eine Laterne, legte einen Fuß über den anderen und entspannte sich endlich. Jetzt könnte er überlegen: ob er hier warten solle; ob er Kryger in die Kirche folgen oder ob er einfach fortgehen solle; was überhaupt er von Kryger wollte, ob er eine Aussprache erwarte oder gar so etwas wie eine Entschuldigung; ob es ihm genügen würde, in Krygers Gesicht zu schlagen oder ihn anzuspucken; oder ob er ihn nur fragen wollte, was vorgefallen sei – von alledem hatte Winberg nicht die Andeutung einer Vorstellung.
Weil Kryger länger in der Kirche blieb, als Winberg erwartet hatte, ging er ihm schließlich nach. Drinnen hatten seine Augen Mühe, sich an das bedrückende Dämmerlicht zu gewöhnen. An den Wänden neben dem Eingang brannten auf nüchternen Stufengestellen Hunderte von Kerzen, rechts, wenige Schritte weiter, hing von der Decke ein kleines, rot leuchtendes Gefäß; fremde Ansichten aus einer Welt, an die Winberg sich seit seiner Trauung mit Christine nicht mehr erinnert hatte.
Mit langsamen Schritten erreichte er die hinterste Bankreihe. Durch die Fenster im Lichtgaden hoch über ihm fielen schwere Strahlen und markierten den Weg zur Vierung, zum Altar. Von hier hinten war das Mittelschiff ganz zu überblicken. Um diese Stunde verteilten sich nur wenige Menschen in der Kirche, ein paar alte Frauen, die auf knorrigen Knien, die mürben Hände ineinander verknotet, bewusstlos über den Bänken hingen; und weiter vorne eine kränklich aussehende Schwangere, die Hände im aufgeblähten Schoß, die halb geschlossenen Augen ohne sicheres Ziel nach vorne gerichtet. Von dort näherte sich träge ein Mann, der, einen Sonnenhut auf dem Kopf, die Wandgemälde betrachtete, dabei manchmal stehen blieb und einen Finger an den Stein legte mit einer Geste, mit der ein Fachmann prüft, ob die Farbe trocken ist. In einer der Bänke vor dem Altarraum saß Kryger, unauffällig, in durchaus bequemer, aber nicht nachlässiger Haltung. Hin und wieder legte er den Kopf auf die rechte, dann auf die linke Schulter, veränderte in Abständen die Positur ein wenig, wirkte dabei stets entspannt, fast heiter. Zwischen den Fingern bewegten sich die Perlen des Rosenkranzes, manchmal öffneten sich Krygers Lippen, sodass man ahnte, wie er die Gebete murmelte, ein ums andere Mal. In seiner Sammlung schien er so abwesend, dass Winberg nicht näher an ihn heran wollte. Er setzte sich in eine der hinteren Bänke und starrte nach vorn auf Krygers sorgfältig gebürsteten Hinterkopf. Einmal verließ ein schwarz gekleideter Geistlicher die Sakristei, die ans rechte Seitenschiff grenzte. Als er Kryger erkannte, der jetzt aufgestanden war, ging er mit schnellen Schritten auf ihn zu, lächelte, und beide gaben einander die Hand, jeder mit einem Gesichtsausdruck zwischen Hochachtung und Freude über eine alte Bekanntschaft. Nach ein paar Worten, von denen Winberg nichts verstand, hob der Priester die Hand, zum Abschied winkend, und verließ die Kirche durch einen Seitenausgang. Kryger hatte sich wieder gesetzt; saß ganz ruhig da, als hätte nichts seine Meditation unterbrochen.
3