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Radikal, rebellisch, eigensinnig – Hermann Hesse war zeitlebens ein unbestechlicher Geist, der überlebte Konventionen und anmaßende Autoritäten keineswegs hinnahm, sondern sie anhand eigener Erfahrungen auf ihre aktuelle Tauglichkeit hin überprüfte. In seinen Werken, die seit 1970 eine weltweite Renaissance erfahren und ihn zum meistgelesenen deutschsprachigen Autor des 20. Jahrhunderts gemacht haben, gibt es kaum eine lebenswichtige Frage, die man nicht auf zukunftsorientierte Weise thematisiert findet. 1971 hat Volker Michels, der Herausgeber der Werke Hesses, damit begonnen, u.d.T. »Lektüre für Minuten« die wichtigsten Aussagen des Dichters ausfindig zu machen. Nun, nach Abschluß der ersten Gesamtausgabe in 20 Bänden und Erschließung der ersten Hälfte von Hesses mehr als 35 000 Antworten auf Leserzuschriften, ist es möglich geworden, vollständiger als je zuvor Hesses konstruktives Weltbild in annähernd 1500 Kernaussagen zusammenzufassen. Die sechs Themenbände überliefern die gedankliche Substanz seines bisher erschlossenen Werkes und belegen einmal mehr die zeitlose Aktualität dieses Dichters.
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Seitenzahl: 89
Veröffentlichungsjahr: 2020
Gedanken aus seinen
Werken und Briefen
Vertrauen in die Ordnung der Welt,
Der Einzelne und die Gemeinschaft,
Wirklichkeit und Imagination,
Lesen und Bücher
Zusammengestellt von
Volker Michels
Suhrkamp
Vertrauen in die Ordnung der Welt
Der Einzelne und die Gemeinschaft
Wirklichkeit und Imagination
Lesen und Bücher
Es ist nicht eine blinde Macht von außen, deren Spielball wir sind, sondern es ist die Summe der Gaben, Schwächen und anderen Erbschaften, die ein Mensch mitgebracht hat. Ziel eines sinnvollen Lebens ist, den Ruf dieser inneren Stimme zu hören und ihm möglichst zu folgen. Der Weg wäre also: sich selbst erkennen, aber nicht über sich richten und sich ändern wollen, sondern das Leben möglichst der Gestalt anzunähern, die als Ahnung in uns vorgezeichnet ist.
Aus einem Brief vom 29. 9.1931 an einen unbekannten Leser
*
Es hat jeder Mensch, sofern er überhaupt eine Person ist und ein Gesicht hat, auch seine Art von Schicksal, ihm zubestimmt und zugeboren, und oft sieht es aus, als wähle er dies Schicksal sich selbst und absichtlich, so sicher tut und erlebt er das ihm Zubestimmte.
Aus einem Brief vom 11.10.1940 an Olga Diener
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Man hat die Schicksale, die man hervorruft und die zu einem passen.
Aus einem Brief vom März 1935 an Fanny Schiler
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Keiner von uns kann mehr geben, als er hat, aber auch der Bescheidene, ja Arme ist eben genau insoweit wertvoll und edler Wirkung fähig, als sein innerstes Fühlen mit dem Lebenswillen der Natur einig ist. Alles davon Abweichende führt höchstens zu interessanten Mißgewächsen.
Aus einem Brief vom 15.11.1914 an Gustav Gamper
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Wir sind ein Wurf der Natur, ein Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu Neuem, vielleicht zu Nichts, und diesen Wurf aus der Urtiefe auswirken zu lassen, seinen Willen in uns zu fühlen und ihn ganz zu unserem zu machen, das allein ist unser Beruf.
Aus »Demian«, 1917
*
Jeder von uns ist nur ein Mensch, ein Versuch, ein Unterwegs. Er soll aber dorthin unterwegs sein, wo das Vollkommene ist, er soll ins Zentrum streben, nicht an die Peripherie.
Aus »Das Glasperlenspiel«, 1931-1942
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Unsere Aufgabe als Menschen ist: innerhalb unseres eigenen, einmaligen, persönlichen Lebens einen Schritt weiter zu tun vom Tier zum Menschen.
Aus »Du sollst nicht töten«, 1919
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Ich glaube an die Macht der Idee, denn eine Idee ist für mich nicht ein Hirngespinst, sondern ein Vorausfühlen, eine Zukunftsahnung der Menschheit.
Aus einem Brief vom 3.1.1917 an Hans Sturzenegger
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Ideale sind, grob gesprochen, ja zumeist gar nicht da, um erfüllt zu werden, sondern um auf unser heutiges, tägliches, stündliches Tun und Denken erziehend und vertiefend zu wirken. Es genügt, daß der Gedanke an den Weltfrieden einmal gedacht wurde, gerade wie es genügt, daß der Gedanke von Gethsemane einmal gedacht wurde. Solche Gedanken sterben nicht wieder. Sie leben weiter, werben weiter und verändern die Welt und die Menschen in langsamer Arbeit.
Aus »Den Pazifisten«, 1915
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Die Einsicht oder Ansicht, daß das Vollkommene und die Wissenschaft Stückwerk ist, darf niemand daran hindern, doch stets weiterzubauen und eben doch das Mögliche zu erreichen.
Aus einem Brief, 1912 an Reinhard Buchwald
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Utopien sind nicht da, um sklavisch realisiert zu werden, sondern um die Möglichkeit des Schwierigen und doch Ersehnten zur Diskussion zu stellen und den Glauben an diese Möglichkeit zu stärken.
Aus der Rezension »Neue deutsche Bücher [vi]«, September 1936
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Nichts entzieht sich der Darstellung durch Worte so sehr und nichts ist doch notwendiger, den Menschen vor Augen zu stellen, als gewisse Dinge, deren Existenz weder beweisbar noch wahrscheinlich ist, welche aber eben dadurch, daß fromme und gewissenhafte Menschen sie gewissermaßen als seiende Dinge behandeln, dem Sein und der Möglichkeit des Geborenwerdens um einen Schritt näher geführt werden.
Aus dem Motto zum »Glasperlenspiel«, 1934
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Daß man nicht mit sich und dem, was man von selber ist und kann, zufrieden ist, sondern sich dem Vollkommenen nähern möchte, wenigstens die Sehnsucht danach nicht verliert, das ist doch gerade der beste Teil des Menschen, ein Nachklang der Ebenbildschaft Gottes.
Aus einem Brief vom August 1942 an seinen Neffen Uli Hesse
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In sich innen trägt man alles, worauf es ankommt, von außen kann niemand einem helfen. Mit sich selbst nicht im Krieg liegen, mit sich selbst in Liebe und Vertrauen leben – dann kann man alles. Dann kann man nicht nur seiltanzen, dann kann man fliegen.
Aus »Klein und Wagner«, 1919
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Sobald du etwas probierst, was von dir innen heraus befohlen wird, dann geht es auch.
Aus »Demian«, 1917
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Wenn der, der etwas notwendig braucht, dies ihm Notwendige findet, so ist es nicht der Zufall, der es ihm gibt, sondern er selbst, sein eigenes Verlangen und Müssen führt ihn hin.
Aus »Demian«, 1917
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Jeder starke Mensch erreicht unfehlbar das, was ein wirklicher Trieb ihn suchen heißt.
Aus »Der Steppenwolf«, 1925-1927
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Wer die höchste Kraft des Begehrens ins Zentrum richtet, gegen das wahre Sein hin, gegen das Vollkommene, der scheint ruhiger als der Leidenschaftliche, weil man die Flamme seiner Glut nicht immer sieht, weil er zum Beispiel beim Disputieren nicht schreit und nicht mit den Armen fuchtelt. Aber ich sage dir: er muß glühen und brennen.
Aus »Das Glasperlenspiel«, 1931-1942
*
Die Flamme
Ob du tanzen gehst in Tand und Plunder,
Ob dein Herz sich wund in Sorgen müht,
Täglich neu erfährst du doch das Wunder,
Daß des Lebens Flamme in dir glüht.
Mancher läßt sie lodern und verprassen,
Trunken im verzückten Augenblick,
Andre geben sorglich und gelassen
Kind und Enkeln weiter ihr Geschick.
Doch verloren sind nur dessen Tage,
Den sein Weg durch dumpfe Dämmrung führt,
Der sich sättigt in des Tages Plage
Und des Lebens Flamme niemals spürt.
1910
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Was ich niemals wünsche, auch in den schlechtesten Stunden nicht, das ist ein mittlerer Zustand zwischen Gut und Schlecht, so eine laue, erträgliche Mitte. Nein, lieber noch eine Übertreibung der Kurve – lieber die Qual noch böser und dafür die seligen Augenblicke noch um einen Glanz reicher!
Aus »Wanderung«, 1918/19
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Klarheit über ihre Gefühle und über die »Tragweite« und Folgen ihrer Handlungen haben nur die guten, gesicherten Menschen, die an das Leben glauben und keinen Schritt tun, den sie nicht auch morgen und übermorgen werden billigen können. Ich habe nicht das Glück, zu ihnen zu zählen, und ich fühle und handle so wie einer, der nicht an morgen glaubt und jeden Tag für den letzten ansieht.
Aus »Klingsors letzter Sommer«, 1919
*
Wir sollen alles das sehr ernst nehmen, was wir selber zu verantworten haben und was wir für unsre Pflicht und Aufgabe halten – aber das von außen Kommende, das Schicksal, das außerhalb unserer Einflüsse und Entschlüsse liegt, das brauchen wir nicht ernster zu nehmen als nötig und sollen ihm unser Ich ruhig entgegensetzen und es nicht in uns hineinlassen. Sonst wäre es keinem denkenden Menschen (es gibt freilich wenige) möglich, das Leben zu ertragen.
Aus einem Brief vom Mai 1933 an seinen Sohn Bruno
*
Für mich ist erster Glaubenssatz die Einheit hinter und über den Gegensätzen. Natürlich leugne ich nicht die Möglichkeit, solche Schemata aufzustellen, wie »aktiv« und »kontemplativ«, und leugne nicht, daß es nützlich sein kann, die Menschen aufgrund solcher Typenlehre zu beurteilen. Es gibt Aktive und es gibt Kontemplative. Aber dahinter steht die Einheit, und wirklich lebendig und im günstigen Fall vorbildlich ist für mich nur der, der beide Gegensätze in sich hat. Ich habe nichts gegen den rastlosen Arbeiter und Schaffer und habe auch nichts gegen den nabelschauenden Einsiedler, aber interessant oder gar vorbildlich kann ich beide nicht finden. Der Mensch, den ich suche und erwünsche, ist der, der sowohl der Gemeinschaft wie des Alleinseins, sowohl der Tat wie der Versenkung fähig ist. Und wenn ich in meinen Schriften, wie es scheint, dem beschaulichen Leben den Vorzug vor dem tätigen gebe, so ist es vermutlich deswegen, weil ich unsre Welt und Zeit voll von aktiven, tüchtigen, rührigen, der Kontemplation aber unfähigen Menschen sehe.
Aus einem Brief vom Dezember 1954 an Karl Friedrich Borée
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Die Leute leben alle zentrifugal, ich versuche das Gegenteil.
Aus einer Postkarte vom September 1955 an Hilde Jerusalem
*
Weg nach innen
Wer den Weg nach innen fand,
Wer in glühendem Sichversenken
Je der Weisheit Kern geahnt,
Daß sein Sinn sich Gott und Welt
Nur als Bild und Gleichnis wähle:
Ihm wird jedes Tun und Denken
Zwiegespräch mit seiner eignen Seele,
Welche Welt und Gott enthält.
1918
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In jedem Menschen, er sei noch so einseitig gebildet, schlummert eine vergessene Brüderschaft mit Sonne und Erde.
Aus »Vom Naturgenuß«, 1908
*
Man hört manchmal Leute sagen, die »Natur« gebe ihnen nichts, sie hätten kein Verhältnis zu ihr. Dieselben Leute werden bei der Frühjahrssonne fröhlich, bei der Sommersonne träge, bei Schwüle schlaff und bei Schneewind frisch. Das ist immerhin schon ein Verhältnis, und man braucht sich dessen nur bewußt zu werden, so ist man schon reif zum Naturgenuß. Denn unter diesem verstehe ich nicht ein rechenschaftsloses Wohlbefinden, sondern im Gegenteil ein bewußtes Mitleben und Zusammenhängen mit der Natur. Ist dies einmal vorhanden, so spielt die sogenannte »Schönheit« der Gegend und des Wetters keine große Rolle mehr … Die Natur ist überall schön oder nirgends.
Aus »Vom Naturgenuß«, 1908
*
Bei Nacht im Freien unterwegs zu sein, unter dem schweigenden Himmel, an einem still strömenden Gewässer, das ist stets geheimnisvoll und regt die Gründe der Seele auf. Wir sind dann unserm Ursprung näher, fühlen Verwandtschaft mit Tier und Gewächs, fühlen dämmernde Erinnerungen an ein vorzeitliches Leben, da noch keine Häuser und Städte gebaut waren und der heimatlos streifende Mensch Wald, Strom und Gebirg, Wolf und Habicht als seinesgleichen, als Freunde oder Todfeinde lieben und hassen konnte. Auch entfernt die Nacht das gewohnte Gefühl eines gemeinschaftlichen Lebens; wenn kein Licht mehr brennt und keine Menschenstimme mehr zu hören ist, spürt der etwa noch Wachende Vereinsamung und sieht sich losgetrennt und auf sich selber gewiesen. Jenes furchtbarste menschliche Gefühl, unentrinnbar allein zu sein, allein zu leben und allein den Schmerz, die Furcht und den Tod schmecken und ertragen zu müssen, klingt dann bei jedem Gedanken leise mit, dem Gesunden und Jungen ein Schatten und eine Mahnung, dem Schwachen ein Grauen.
Aus »Schön ist die Jugend«, 1907
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Es ist kein Tag so streng und heiß,
Des sich der Abend nicht erbarmt,
Und den nicht gütig, lind und leis
Die mütterliche Nacht umarmt.
Aus dem Gedicht »Vergiß es nicht«, 1908
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Ist nicht jeder eindämmernde Abend eine Heimkehr, eine geöffnete Türe, ein Hörbarwerden alles Ewigen? … Laß dir die Abende heilig sein und dränge ihr Schweigen nicht aus deiner Wohnung.
Aus »Eine Stunde hinter Mitternacht«, 1899
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Bekenntnis
Holder Schein, an deine Spiele
Sieh mich willig hingegeben;
Andre haben Zwecke, Ziele,
Mir genügt es schon, zu leben.
Gleichnis will mir alles scheinen,
Was mir je die Sinne rührte,
Des Unendlichen und Einen,
Das ich stets lebendig spürte.
Solche Bilderschrift zu lesen,
Wird mir stets das Leben lohnen,