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»Man erlebt und begreift ein Stück deutsche Geschichte.« Frankfurter Rundschau Lorenz Beckhardt, in einem katholischen Internat erzogen, erfährt erst als Erwachsener, dass er Jude ist und viele Verwandte Opfer des Holocaust wurden. Akribisch geht er der Geschichte seiner Familie nach -- vom Großvater Fritz Beckhardt, dem glühenden Patrioten und Weltkriegspiloten, bis zur Generation, die nach 1945 einen Neuanfang im Land der Täter wagt. Erschütternd beschreibt Beckhardt die Wiedergutmachungsbürokratie in der frühen Bundesrepublik und die alltägliche Demütigung durch Nachbarn. »Eine jüdische Familiengeschichte, facettenreich ausgeleuchtet.« Tilman Jens, Hessischer Rundfunk
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Seitenzahl: 667
Lorenz S. Beckhardt
Der Jude mit dem Hakenkreuz
Meine deutsche Familie
Inhaltsübersicht
Brit Mila
I
Die Rückkehr
Ein fortgesetzter Boykott
Hände an die Hosennaht
Juden an die Front!
II
Da geht noch was
Lina
Wer hat Angst vorm braunen Mann?
Jüdische Nazis
III
Untertauchen im Häusermeer
»Männer, auf die wir stolz sind«
Der Juddebembes singt ein Hitlerjugendlied
Der Sinn von Pessach
Oliver Twist
The Sheffield Blitz
IV
Buchenwald
Weglegen Eins
Friendly Enemy Aliens
Weglegen Zwei
Zu den »Gunners«
V
»In Wiesbaden sehr bekannter Fall«
Die SA trägt wieder Zivil
Wiederjudmachung
VI
Liebe
Das Wohnzimmer der Antifaschisten
Weglegen Drei
VII
Du bist doch Jude!
Juden zu Besuch
Hebräisch für Aufsteiger
VII
Die »Arier« sterben aus
Anhang
Glossar
Literatur
Bildnachweis
Dank
Informationen zum Buch
Über Lorenz S. Beckhardt
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Für
Franziska und Abraham Beckhardt,
Johanna und Emil Neumann,
Paula und Rudolf Boldes und die anderen
Mein Judenthum war mir gleichgiltig,
sagen wir: es lag unter der Schwelle meines Bewusstseins.
Aber wie der Antisemitismus
die flauen, feigen und streberischen Juden zum Christenthum hinüberdrückt,
so hat er aus mir mein Judenthum gewaltig hervorgepresst.
Theodor Herzl
Es schmerzt, aber es fühlt sich gut an. Ein kleiner Raum, vier Menschen sehen mich an. Ich verharre bewegungslos auf einer Liege. Langsam hebt sich mein Kopf. Ich liege in einem weiß gekalkten Behandlungszimmer. Die ersten Minuten eines Neugeborenen. Die vier liegen sich in den Armen. Ihr Lachen und Weinen kreist um mich wie ein auf- und abschwellender Geräuschteppich. Mein Vater, klein, alt und noch immer nicht ergraut, strahlt wie ein beschenkter Lausbub und hält den Mohel, leicht untersetzt, Brille, dunkler Vollbart, an seine Brust gedrückt. Ulrike, meine Frau, schlank, schön und verheult, schlingt schwer atmend ihre Arme um die Frau des Mohel, und ihre Tränen hinterlassen Wasserflecken auf deren weißer Bluse.
Ich liege bewegungslos auf einem Operationstisch, hefte meinen Blick mal an die Decke, mal auf Ulrikes Gesicht, halte ihre Hand fest umklammert. Nervös warte ich auf den Schmerz, doch er kommt nicht. Eine Spritze sticht unter die Haut, dann tritt Stille ein, und ich höre, wie der Mohel mein Fleisch schneidet, ein Geräusch, wie wenn man schweren Filz mit einer Schere durchtrennt. Er zieht die Adern heraus, aus denen mein Blut sickert, bindet sie zu und vernäht die Wunde mit acht Fäden.
Mein Vater ist achtzig Jahre alt, und zum ersten Mal in meinem Leben sitzt er wie ein Jude vor mir. Er trägt eine blaue Kippa mit hellem gemusterten Rand, und von einem Holzstuhl an der Wand aus beobachtet er das Ritual mit wachen Augen. Der Stuhl neben ihm ist mit einer gehäkelten Decke verziert. Hier soll, wenn er denn kommt, als ein weiterer Zeuge der Prophet Eliyahu sitzen, der Vorbote des Messias. Der Mohel trägt eine Kippa aus blauem Samt, auf der goldene Sterne funkeln. Er beginnt die Zeremonie, indem er seine Hand auf mein Bein legt: »Baruch ata Adonai, Eloheinu, Melech ha Olam, ascher kidschanu be Mitzwotaw we ziwanu al ha Mila – Gelobt seiest Du Herr, unser Gott, König der Welt, der Du uns durch Deine Gebote geheiligt und uns die Beschneidung befohlen hast.«
Mein Vater erhebt sich und antwortet: »Baruch ata Adonai, Eloheinu, Melech ha Olam, ascher kidschanu be Mitzwotaw we ziwanu lehachnisso be Brito schel Awraham avinu – Gelobt seiest Du Herr, unser Gott, König der Welt, der Du uns durch Deine Gebote geheiligt hast und uns befohlen hast, ihn in den Bund unseres Vaters Abraham aufzunehmen.«
»So, wir sind fertig«, der Mohel reibt seine Handflächen gegeneinander. Mein Puls schlägt ruhiger. Das Blut strömt zurück in meine Glieder. Nachdem uns der Mohel vor der Zeremonie den Eingriff medizinisch erläutert hat, offenbart er mir beiläufig und ahnungslos ein Geheimnis, als er meinen Vater nach dessen jüdischem Vornamen fragt, den er in die Urkunde eintragen will, die die rituell korrekt durchgeführte Beschneidung dokumentiert. Einen jüdischen Vornamen braucht, wer in der Synagoge aufgerufen wird, aus der Tora zu lesen, aber Kurt, da bin ich mir sicher, hat nie in der Bibel gelesen. Kurt hat keinen jüdischen Namen.
Ihre jüdischen Vornamen hielten die Juden seit dem Mittelalter vor der christlichen Welt verborgen. In unserer Familie werden sie seit drei Generationen nicht mehr vergeben. Ich bin fünfundvierzig Jahre alt und kenne die Namen meines Vaters. Der Mohel hält den Füllfederhalter schwebend über dem Formular und sieht meinen Vater über den Brillenrand fragend an.
»Yehuda ben Joseph«, antwortet Kurt. Erstaunt sehe ich meinen Vater an. Yehuda, Sohn des Joseph. Wenn Kurt einen jüdischen Namen trägt, dann besaß auch Fritz einen solchen, den er sicher weder gemocht noch je benutzt hat. Mein Großvater, der »Jude mit dem Hakenkreuz«, hat demnach – wie es die rabbinische Tradition fordert – am achten Tag nach seiner Geburt den Namen »Joseph Ben Abraham« erhalten.
Ich selbst erhielt das Zeichen des Bundes, den der Ewige mit Abraham und seinen Nachkommen schloss, am 28. Aw des Jahres 5767, und mein Name ist Schlomo.
Schlomo ben Yehuda.
Dass der Krieg längst vorbei war, konnte man in Sonnenberg riechen. Ein wunderbarer, die Nase erfüllender Kaffeeduft verbreitete sich, überdeckte die milde Herbstluft eines sonnigen Oktobertages und strömte durch alle Gassen, bis es schließlich das ganze Dorf roch: Fritz Beckhardt war wieder da. Mein Großvater hatte als Erstes den Kaffeeröster angeheizt, der unübersehbar seit 1926 das ganze rechte Schaufenster seines Ladens füllte. Da stand er in einem weißen Kittel und blickte konzentriert auf das runde Sichtfenster in der von einer Gasflamme erhitzten Trommel, in der die Kaffeebohnen durch eine Schaufel unablässig gerührt wurden. Er beobachtete die allmähliche Verfärbung der Kaffeebohnen und entnahm gegen Ende der Röstung in immer kürzeren Abständen kleine heiße Probemengen, um bloß nicht den Moment zu verpassen, in dem die Bohnen das richtige Braun und der Kaffee damit das gewünschte Aroma hatten. Kaffee rösten, das konnte nur er im Dorf, das war schon immer eine seiner großen Leidenschaften gewesen, die ihm zudem einen Vorsprung vor den Konkurrenten verschaffte.
Brasil Santos hieß die Kaffeesorte, die Fritz am häufigsten verwandte. Sie war das Rückgrat seiner Mischungen, der milden, der würzigen, der magenschonenden oder der preiswerten Haushaltsmischung. Der grüne Rohkaffee lagerte in großen Säcken im Zoll in Biebrich, in einem Wiesbadener Vorort direkt am Rhein. Von dort hatte Kurt, mein Vater, am Tag zuvor nur wenige Kilogramm geholt, denn Kaffee war 1950 ein Luxusgut, auf dem neben dem Einfuhrzoll auch noch hohe Steuern lagen und den sich folglich nur wenige Kunden leisten konnten.
Bis 1933 war das eigenhändige Mischen und Rösten von Kaffee für Fritz noch ein gewinnbringendes Geschäft gewesen. Er verkaufte den Kaffee nicht nur im eigenen Laden, sondern belieferte auch zahlreiche Gaststätten in der Umgebung. Doch 16 Jahre später kauften die Sonnenberger das braune Luxuspulver nur fünfziggrammweise, wenn überhaupt.
An jenem Herbsttag des Jahres 1950 stand Fritz in seinem Schaufenster, röstete Kaffee und wartete auf Kundschaft, aber niemand kam. Es war der Tag der Wiedereröffnung des Geschäfts, das Fritz im Februar 1934 nach einem vernichtenden Boykott der örtlichen Bevölkerung hatte schließen müssen. Mit einem altmodischen Vervielfältigungsapparat hatten er und Kurt am Vortag stundenlang Flugblätter hergestellt. Die Preise der Waren hatten sie von Hand in eine Wachsmatrize gekratzt, diese in einen rechteckigen Kasten gelegt, in dessen Deckelklappe ein Tuch eingespannt war. Zwischen Matrize und Tuch wurde ein Blatt Papier gelegt, das Tuch wurde heruntergedrückt und mit schwarzer Farbe bestrichen. So hatten sie jedes Flugblatt einzeln gedruckt, und Kurt hatte sie danach bis zur hereinbrechenden Dunkelheit im Dorf verteilt. Mehr Werbung war nicht drin, zu mehr reichte das Geld nicht. Als Fritz am nächsten Morgen das Geschäft aufschloss, war er noch guter Dinge, und Kurt lief an seinem ersten Tag als Juniorchef eines, wie er vom Hörensagen wusste, einstmals erfolgreichen Unternehmens nervös hinter der Theke auf und ab.
Das Innere des Ladens hatte sich nicht verändert, seit Karl Pfeiffer das Geschäft übernommen hatte. Der Nazi hatte keinen Pfennig in eine neue Ausstattung investiert, als hätte er geahnt, dass der Jude überleben und zurückkommen werde. Den Kaffeeröster, den Pfeiffer nicht bedienen konnte, hatte er im Schaufenster verstauben lassen. Die Eingangstür aus Glas mit braunem Holzrahmen stammte noch von 1898. Das zweite Schaufenster links vom Eingang zeigte Stoffe und Textilien, denn die Firma existierte seit mehr als hundert Jahren als Gemischtwarenhandlung. An den Wänden des Verkaufsraums standen deckenhohe Regale voller Textilien und aufeinandergeschichteter Stoffballen.
An der Stirnseite befanden sich Schränke mit Schubladen für Lebensmittel. Weiße Emailschilder verrieten, ob sich Weizen- oder Roggenmehl, Zucker, Kaffee, Tee, Reis, Nudeln oder Hülsenfrüchte darin befanden. Ein Speiseölbehälter aus Zink, mit einem gläsernen Abfüllstutzen, der auf einen ganzen, einen halben und einen viertel Liter geeicht war, hing an der Wand. Ringsum lief eine schwere Eichentheke, vor der die Kunden üblicherweise auf Bedienung warteten. Die Luft im Raum war trocken, und wenn Fritz nicht gerade Kaffee röstete, roch es nach Staub und Mottenpulver. Pausenlos brannten ein paar Glühbirnen, denn es drang nur wenig Tageslicht durch die vollgestellten Fenster.
Fritz blickte hinaus auf die Straße. Pfeiffer hatte, als absehbar war, dass er das Haus und das Geschäft zurückgeben müsse, auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Schuppen angemietet und seine Waren hinübergetragen. Es war ein ebenerdiger Verschlag mit einer Fläche von etwa drei mal sechs Metern, dessen Außenwände zur Hälfte aus Backsteinen und darüber aus Holz waren.
Abends beleuchtete eine schummrige Gaslaterne die Straße, die kleinen Fenster mit den spärlichen Auslagen und die klapprige Holztür. Vor dem Verschlag war ein Gemüsegarten mit grünen Latten eingezäunt, hinter dem der Rambach vom Taunus herab Richtung Wiesbaden floss. Bis auf die Gaslaterne, die mittlerweile durch eine elektrische ersetzt war, sah ich diese Straßenszene während meiner Kindheit, wenn ich aus dem Fenster blickte.
Ein paar Kunden näherten sich Pfeiffers Schuppen, blieben auf dem Trottoir stehen und blickten herüber. »Alte Kameraden«, murmelte Fritz und zuckte mit den Schultern. Dann hob er die Thekenplatte hoch und verschwand im hinteren Lagerraum, in dem Fässer mit Essig, Speiseöl und Heringen standen, daneben Kisten mit Waschmitteln, Säcke mit Erbsen, Linsen und Graupen. In einem Innenhof zum Nachbarhaus, in dem bis 1934 Fritz’ Schwiegereltern gewohnt hatten, stand ein Metallfass mit Handpumpe, in dem sich Petroleum für Lampen befand.
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