Der Junge auf dem Berg - John Boyne - E-Book
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Der Junge auf dem Berg E-Book

John Boyne

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Beschreibung

Ein brandaktuelles Buch in Zeiten des weltweiten Rechtsrucks Vom Autor des Welterfolgs »Der Junge im gestreiften Pyjama« – mit »Der Junge auf dem Berg« kehrt John Boyne in das dunkelste Kapitel unserer Geschichte zurück Als Pierrot seine Eltern verliert, nimmt ihn seine Tante zu sich in den deutschen Haushalt, in dem sie Dienst tut. Aber dies ist keine gewöhnliche Zeit: Der zweite Weltkrieg steht unmittelbar bevor. Und es ist kein gewöhnliches Haus: Es ist der Berghof – Adolf Hitlers Sommerresidenz. Schnell gerät der Junge unter den direkten Einfluss des charismatischen Führers. Um ihm seine Treue zu beweisen, ist er zu allem bereit – auch zum Verrat. Eine bewegende Parabel über den Verlust der Menschlichkeit, die bis heute Gültigkeit hat. Preise und Auszeichnungen: - Die Besten 7 im September 2017 - Ausgezeichnet mit dem Lese-Hammer 2018 (Jugendjury) - Ausgezeichnet mit dem Buxtehuder Bullen 2017 - Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 (Jugendjury)

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Seitenzahl: 277

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John Boyne

Der Junge auf dem Berg

Aus dem Englischen von Ilse Layer

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungTeil 1 1936Kapitel eins Drei rote Flecke auf einem TaschentuchKapitel zwei Die Medaille in der VitrineKapitel drei Ein Brief von einem Freund und ein Brief von einer UnbekanntenKapitel vier Drei Fahrten mit der EisenbahnKapitel fünf Das Haus auf dem Gipfel des BergesKapitel sechs Ein bisschen weniger französisch, ein bisschen mehr deutschKapitel sieben Die Geräuschkulisse eines AlbtraumsTeil 2 1937–1940Kapitel acht Das braune PäckchenKapitel neun Ein Schuhmacher, ein Soldat und ein KönigKapitel zehn Frohe Weihnachten im BerghofTeil 3 1941–1945Kapitel elf Ein SonderauftragKapitel zwölf Evas FestKapitel dreizehn Dunkel und LichtEpilogKapitel vierzehn Ein Junge ohne ZuhauseDanksagung

Für meine Neffen, Martin und Kevin

Teil 11936

Kapitel einsDrei rote Flecke auf einem Taschentuch

Obwohl Pierrot Webers Vater nicht im Weltkrieg gestorben war, behauptete seine Mutter Émilie immer, der Krieg hätte ihn umgebracht.

Pierrot war nicht der einzige Siebenjährige in Paris, der mit nur einem Elternteil aufwuchs. Der Junge, der in der Schule vor ihm saß, hatte seine Mutter in den vier Jahren, seit sie mit einem Lexikonverkäufer davongelaufen war, nicht mehr zu Gesicht bekommen. Der Fiesling der Klasse, der Pierrot Le Petit nannte, weil er so klein war, wohnte über dem Tabakwarenladen seiner Großeltern an der Avenue de la Motte-Picquet in einem Zimmer, wo er die meiste Zeit damit zubrachte, Wasserbomben aus seinem Fenster auf die Köpfe der Passanten unter sich fallen zu lassen und hinterher steif und fest zu behaupten, er hätte nichts damit zu tun.

Und in einer Wohnung im Erdgeschoss seines eigenen Wohnhauses in der nahen Avenue Charles Floquet lebte Pierrots bester Freund, Anshel Bronstein, allein mit seiner Mutter, Madame Bronstein, nachdem sein Vater zwei Jahre vorher bei einem missglückten Versuch, durch den Ärmelkanal zu schwimmen, ertrunken war.

Pierrot und Anshel waren im Abstand von wenigen Wochen zur Welt gekommen und wuchsen praktisch wie Brüder auf, denn wenn die eine Mutter ein Nickerchen brauchte, kümmerte sich die andere um beide Babys. Doch anders als viele Brüder stritten sie sich nie. Anshel war von Geburt an taub, deshalb hatten die Jungen schon früh eine Gebärdensprache erfunden, in der sie sich mühelos verständigen und mit flinken Fingern alles ausdrücken konnten, was sie sich zu sagen hatten. Sie suchten sogar spezielle Zeichen füreinander aus, die sie anstelle ihrer Namen benutzten. Anshel wählte für Pierrot das Zeichen für Hund, denn er fand seinen Freund warmherzig und treu, während Pierrot für Anshel, von dem alle sagten, er sei der klügste Junge in ihrer Klasse, das Zeichen für Fuchs verwendete. Wenn sie diese Namen benutzten, sah das so aus:

Sie verbrachten den größten Teil ihrer Freizeit zusammen, indem sie auf dem Marsfeld einen Fußball herumkickten und dieselben Bücher lasen. Ihre Freundschaft war so eng, dass Pierrot als Einziger die Geschichten lesen durfte, die Anshel nachts in seinem Zimmer schrieb. Nicht einmal Madame Bronstein wusste, dass ihr Sohn Schriftsteller werden wollte.

Die hier ist gut, sagte Pierrot dann in der Gebärdensprache und ließ seine Finger durch die Luft flattern, wenn er ihm einen Packen Blätter zurückgab. Ich mochte die Stelle mit dem Pferd und den Teil, wo das Gold entdeckt wird, das im Sarg versteckt ist. Die hier ist nicht so gut, fuhr er dann fort und gab Anshel ein zweites Bündel Papier zurück. Aber das liegt daran, dass deine Handschrift so schlampig ist und ich manche Teile nicht lesen konnte … Und die hier, fügte er hinzu und wedelte mit einem dritten Stapel durch die Luft, als wäre er auf einem Festzug, die hier ergibt überhaupt keinen Sinn. Wenn ich du wäre, würde ich sie in den Mülleimer werfen.

Die ist experimentell, antwortete Anshel in der Gebärdensprache; er hatte nichts gegen Kritik, wollte jedoch die Geschichten, die seinem Freund am wenigsten gefielen, manchmal ein bisschen verteidigen.

Nein, widersprach Pierrot und schüttelte den Kopf. Sie ergibt einfach überhaupt keinen Sinn. Gib sie bloß niemand anderem zum Lesen. Jeder würde denken, du hättest nicht alle Tassen im Schrank.

Auch Pierrot mochte die Vorstellung, Geschichten zu schreiben, aber er konnte nie lange genug stillsitzen, bis er sämtliche Wörter auf das Blatt notiert hatte. Stattdessen setzte er sich lieber vor seinen Freund auf einen Stuhl und fing einfach an, Gebärden aneinanderzureihen, dachte sich etwas aus oder beschrieb einen Streich, den er in der Schule verübt hatte, und Anshel sah aufmerksam zu, bevor er anschließend alles für ihn zu Papier brachte.

Dann habe ich das geschrieben?, fragte Pierrot, wenn er schließlich die Seiten bekam und sie durchlas.

Nein, geschrieben habe ich es, widersprach Anshel und schüttelte den Kopf. Aber die Geschichte ist von dir.

Émilie, Pierrots Mutter, sprach nur noch selten über seinen Vater, obwohl der Junge noch ständig an ihn dachte. Wilhelm Weber hatte bis vor drei Jahren bei seiner Frau und seinem Sohn gelebt, Paris jedoch im Sommer 1933 verlassen, wenige Monate nach dem vierten Geburtstag seines Sohnes. Pierrot hatte seinen Vater als einen großen Mann im Gedächtnis, der ihn auf seinen breiten Schultern durch die Straßen trug, dabei gelegentlich in Galopp verfiel und das Wiehern eines Pferdes nachahmte, so dass Pierrot immer vor Begeisterung schrie. Sein Vater hatte Deutsch mit ihm gesprochen, um ihn an seine Herkunft zu erinnern, und sich alle Mühe gegeben, ihm ein paar einfache Lieder am Klavier beizubringen, obwohl klar war, dass Pierrot darin nie so gut wie sein Vater werden würde. Papa spielte Volkslieder, die ihren Gästen die Tränen in die Augen trieben, besonders wenn er dazu mit seiner sanften, aber kräftigen Stimme sang und von Erinnerung und Reue erzählte. Pierrot war nicht sonderlich musikalisch, machte dies jedoch mit seiner Sprachbegabung wett; es kostete ihn nicht die geringste Mühe, sich mit seinem Vater auf Deutsch und seiner Mutter auf Französisch zu unterhalten und von einer Sprache in die andere zu wechseln. Auf Feiern gab er die Marseillaise auf Deutsch und dann das Deutschlandlied auf Französisch zum Besten, womit er die Tischgäste manchmal in Verlegenheit brachte.

»Ich möchte nicht, dass du das noch länger machst, Pierrot«, sagte seine Mutter eines Abends zu ihm, nachdem seine Darbietung eine kleine Meinungsverschiedenheit mit einigen Nachbarn ausgelöst hatte. »Lern etwas anderes, wenn du im Mittelpunkt stehen möchtest. Jonglieren. Zaubertricks. Kopfstand. Egal was, Hauptsache, du singst dabei nicht auf Deutsch.«

»Warum denn kein Deutsch?«, wunderte sich Pierrot.

»Das frage ich mich auch, Émilie.« Papa saß schon den ganzen Abend im Sessel in der Ecke und trank zu viel Wein – eine Angewohnheit, die ihn immer dazu brachte, über die schlechten Erfahrungen zu grübeln, die ihm keine Ruhe ließen. »Warum denn kein Deutsch?«

»Hast du immer noch nicht genug, Wilhelm?« Maman hatte sich zu ihm gedreht, die Hände fest in die Hüften gestemmt.

»Wovon denn genug? Von deinen Freunden, die mein Land beschimpfen?«

»Sie haben es nicht beschimpft«, widersprach sie. »Es fällt ihnen nur schwer, den Krieg zu vergessen, das ist alles. Vor allem denjenigen, die ihre Liebsten in den Schützengräben verloren haben.«

»Aber sie haben nichts dagegen, zu mir nach Hause zu kommen, an meinem Tisch zu essen und meinen Wein zu trinken.«

Papa wartete, bis Maman wieder in die Küche gegangen war, bevor er Pierrot zu sich rief und ihm den Arm um die Taille legte. »Eines Tages werden wir uns zurückholen, was uns gehört«, sagte er und sah dem Jungen tief in die Augen. »Und wenn es so weit ist, denk daran, auf welcher Seite du stehst. Du magst in Frankreich geboren sein und in Paris leben, aber du bist durch und durch Deutscher, genau wie ich. Vergiss das nicht, Pierrot.«

 

Manchmal wachte Papa mitten in der Nacht auf, und seine Schreie hallten durch die dunklen, leeren Flure ihrer Wohnung. Dann hüpfte Pierrots Hund, D’Artagnan, verängstigt aus seinem Korb, sprang mit einem Satz aufs Bett und schmiegte sich zitternd an sein Herrchen. Der Junge zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch und hörte zu, wie Maman Papa hinter den dünnen Wänden zu beruhigen versuchte, leise auf ihn einredete, dass alles in Ordnung war, dass er zu Hause bei seiner Familie war, dass er nur schlecht geträumt hatte.

»Es war aber kein Traum«, hörte Pierrot seinen Vater einmal sagen, und dabei bebte seine Stimme vor Qual. »Es war viel schlimmer. Es war eine Erinnerung.«

In manchen Nächten wachte Pierrot auf, weil er kurz zur Toilette musste, und entdeckte seinen Vater in der Küche, wie er zusammengesunken am Tisch saß und vor sich hin murmelte, neben sich eine leere Flasche. Wann immer das geschah, rannte der Junge barfuß nach unten und warf die Flasche im Hof in die Mülltonne, damit seine Mutter sie am nächsten Morgen nicht entdeckte. Und wenn er wieder nach oben kam, hatte sich Papa normalerweise aufgerappelt und irgendwie wieder ins Bett gefunden.

Weder Vater noch Sohn sprachen jemals am nächsten Tag über diese Vorfälle.

Einmal jedoch, als Pierrot bei einem dieser nächtlichen Einsätze nach unten rannte, rutschte er auf der nassen Treppe aus und fiel hin – nicht so schlimm, dass er sich etwas brach, aber doch so, dass die Flasche in seiner Hand zu Bruch ging, und als er aufstand, grub sich eine Scherbe in seine linke Fußsohle. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er sie heraus, aber gleich darauf quoll viel Blut durch den Schnitt in der Haut; als er auf der Suche nach einem Verband in die Wohnung zurückhumpelte, schreckte Papa auf und sah, was er angerichtet hatte. Nachdem er die Wunde desinfiziert und sich vergewissert hatte, dass sie fest verbunden war, hieß er den Jungen hinsetzen und entschuldigte sich für seine Trinkerei. Unter Tränen erklärte er Pierrot, wie lieb er ihn hatte, und versprach, nie wieder etwas zu tun, das ihn einer Gefahr aussetzte.

»Ich hab dich auch lieb, Papa«, sagte Pierrot. »Aber am liebsten hab ich dich, wenn du mich auf den Schultern trägst und so tust, als wärst du ein Pferd. Ich mag es nicht, wenn du im Sessel sitzt und nicht mit mir oder Maman redest.«

»Das mag ich auch nicht«, erwiderte Papa leise. »Aber manchmal ist es, als würde eine schwarze Wolke über mir hängen und ich könnte sie einfach nicht dazu bringen, weiterzuziehen. Deshalb trinke ich. Es hilft mir, zu vergessen.«

»Was zu vergessen?«

»Den Krieg. Die Dinge, die ich gesehen habe.« Er schloss die Augen, als er flüsterte: »Die Dinge, die ich getan habe.«

Pierrot musste schlucken, hatte fast Angst, die Frage zu stellen. »Was hast du getan?«

Papa reagierte mit einem traurigen Lächeln. »Was auch immer ich getan habe, habe ich für mein Land getan«, antwortete er. »Das kannst du doch verstehen, oder?«

»Ja, Papa.« Pierrot war nicht sicher, was sein Vater meinte, fand aber, es klang trotzdem heldenhaft. »Ich würde auch Soldat werden, wenn du dann stolz auf mich wärst.«

Papa sah seinen Sohn an und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Pass gut auf, dass du dich für die richtige Seite entscheidest.«

Nach diesem Vorfall ließ er das Trinken für mehrere Wochen sein. Die dunkle Wolke, von der er gesprochen hatte, schien plötzlich verschwunden, doch sie kehrte genauso plötzlich zurück, und alles fing von vorne an.

 

Papa arbeitete als Kellner in einem Restaurant in der Nähe. Jeden Morgen verschwand er gegen zehn Uhr und kam um drei wieder, bevor er um sechs erneut aufbrach, um den Gästen das Abendessen zu servieren. Einmal kam er mit schlechter Laune nach Hause und sagte, ein Mann namens Papa Joffre sei zum Mittagessen ins Restaurant gekommen und habe sich an einen von seinen Tischen gesetzt; er habe sich geweigert, ihn zu bedienen, bis sein Chef, Monsieur Abrahams, gesagt hatte, wenn er ihn nicht bediene, könne er nach Hause gehen und brauche nicht wiederzukommen.

»Wer ist Papa Joffre?«, fragte Pierrot, der den Namen noch nie gehört hatte.

»Er war im Krieg ein bedeutender General.« Maman nahm gerade einen Berg Wäsche aus einem Korb und stapelte sie neben ihrem Bügelbrett. »Ein Held unseres Volkes.«

»Deines Volkes«, sagte Papa.

»Vergiss nicht, dass du eine Französin geheiratet hast.« Maman drehte sich ärgerlich zu ihm um.

»Weil ich sie geliebt habe«, erwiderte Papa. »Pierrot, habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, wie ich deine Mutter zum ersten Mal gesehen habe? Es war ein paar Jahre nach Kriegsende. Ich hatte mich mit meiner Schwester Beatrix in ihrer Mittagspause verabredet, und als ich zu dem Kaufhaus kam, in dem sie arbeitete, unterhielt sie sich mit einer der neuen Verkäuferinnen, einem schüchternen Geschöpf, das erst in dieser Woche angefangen hatte. Ich warf einen Blick auf sie und wusste sofort, das ist das Mädchen, das ich heiraten werde.«

Pierrot lächelte; er liebte es, wenn sein Vater solche Geschichten erzählte.

»Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, konnte aber keine Worte finden. Es war, als würde mein Gehirn tief und fest schlafen. Und so stand ich da und starrte sie bloß an, ohne etwas zu sagen.«

»Ich dachte, mit ihm wäre etwas nicht in Ordnung.« Maman lächelte ebenfalls bei dem Gedanken daran.

»Beatrix musste mich an den Schultern rütteln«, sagte Papa und lachte über sein eigenes törichtes Benehmen.

»Wenn sie nicht gewesen wäre, wäre ich nie mit dir ausgegangen«, fügte Maman hinzu. »Sie sagte mir, ich sollte die Chance nutzen. Du wärst nicht so verrückt, wie du wirkst.«

»Warum sehen wir Tante Beatrix nie?«, fragte Pierrot, denn er hatte ihren Namen im Lauf der Jahre mehrfach gehört, sie aber nie kennengelernt. Sie kam nie zu Besuch und schrieb nie Briefe.

»Darum nicht.« Papas Gesichtsausdruck hatte sich verändert, nun lächelte er nicht mehr.

»Warum denn nicht?«

»Lass gut sein, Pierrot«, bat er.

»Ja, lass gut sein, Pierrot«, wiederholte Maman, deren Miene sich nun auch verdüsterte. »Denn so machen wir es in diesem Haus. Wir schieben die Menschen weg, die wir lieben, wir reden nicht über Dinge, die wichtig sind, und wir erlauben niemandem, uns zu helfen.«

Von einer Sekunde auf die andere war eine fröhliche Unterhaltung verdorben.

»Er isst wie ein Schwein«, sagte Papa wenige Minuten später, ging in die Hocke und sah Pierrot in die Augen, die Finger zu Krallen gebogen. »Papa Joffre, meine ich. Wie eine Ratte, die sich an einem Maiskolben entlangfrisst.«

 

Woche für Woche klagte Papa darüber, wie wenig er verdiente, wie herablassend Monsieur und Madame Abrahams mit ihm redeten und wie die Pariser immer geiziger mit ihren Trinkgeldern wurden. »Deshalb haben wir nie Geld«, nörgelte er. »Sie sind alle so knauserig. Besonders die Juden – das sind die Schlimmsten. Und es kommen ständig welche zu uns, weil es heißt, Madame Abrahams macht den besten Gefilte Fisch und die besten Latkes in ganz Westeuropa.«

»Anshel ist auch Jude«, sagte Pierrot leise, denn er sah seinen Freund oft mit seiner Mutter in die Synagoge gehen.

»Anshel gehört zu den Guten«, brummte Papa. »Man sagt, in jedem Korb mit guten Äpfeln ist auch ein fauliger. Tja, das trifft auch umgekehrt zu …«

»Wir haben nie Geld«, fiel Maman ihm ins Wort, »weil du das meiste von dem, was du verdienst, für Wein ausgibst. Und du solltest nicht so über unsere Nachbarn reden. Denk daran, wie …«

»Du meinst, ich hätte den hier gekauft?« Er griff nach einer Flasche und drehte sie herum, um ihr das Etikett zu zeigen – derselbe Hauswein, der im Restaurant ausgeschenkt wurde. »Deine Mutter kann manchmal sehr naiv sein«, fügte er auf Deutsch an Pierrot gewandt hinzu.

Trotz allem verbrachte Pierrot liebend gern Zeit mit seinem Vater. Einmal im Monat ging Papa mit ihm in den Tuileriengarten, wo er die verschiedenen Bäume und Pflanzen, die die Parkwege säumten, beim Namen nannte und erklärte, wie jede sich im Lauf der Jahreszeiten veränderte. Seine eigenen Eltern, so erzählte ihm Papa, waren passionierte Gemüsegärtner gewesen und hatten alles geliebt, was mit dem Leben auf dem Land zu tun hatte. »Aber sie haben natürlich alles verloren«, fügte er hinzu. »Der Hof wurde ihnen weggenommen. Ihre ganze harte Arbeit zerstört. Davon haben sie sich nie wieder erholt.«

Auf dem Nachhauseweg kaufte er bei einem Straßenverkäufer für beide ein Eis, und wenn das von Pierrot hinunterfiel, gab sein Vater ihm dafür sein eigenes.

Das waren die Dinge, an die sich Pierrot zu erinnern versuchte, wann immer es zu Hause Schwierigkeiten gab. Nur wenige Wochen später brach in ihrem Wohnzimmer ein Streit aus, als einige Nachbarn – andere als die, die dagegen protestiert hatten, dass Pierrot die Marseillaise auf Deutsch sang – über Politik zu diskutieren begannen. Die Stimmen wurden laut, alter Groll kam ans Tageslicht, und als die Gäste gegangen waren, gerieten seine Eltern in einen heftigen Streit.

»Wenn du nur aufhören würdest zu trinken!«, schrie Maman. »Der Alkohol bringt dich dazu, die schrecklichsten Dinge zu sagen. Merkst du nicht, wie sehr du andere verärgerst?«

»Ich trinke, um zu vergessen!«, rief Papa. »Du hast nichts von dem gesehen, was ich sehen musste. Dir gehen nicht Tag und Nacht diese Bilder im Kopf herum.«

»Das ist doch ewig her.« Sie ging zu ihm und wollte seinen Arm nehmen. »Bitte, Wilhelm, ich weiß, wie sehr es dich quält, aber vielleicht liegt es daran, dass du nie vernünftig darüber reden willst. Wenn du mir deinen Kummer anvertrauen würdest …«

Émilie sprach diesen Satz nie zu Ende, denn in diesem Moment tat Wilhelm etwas sehr Böses; etwas, das er zum ersten Mal wenige Monate vorher getan hatte und von dem er geschworen hatte, es nie wieder zu tun – allerdings hatte er dieses Versprechen seither schon mehrmals gebrochen. Obwohl Pierrots Mutter empört war, fand sie immer einen Weg, sein Verhalten zu entschuldigen, besonders wenn sie ihren Sohn in seinem Zimmer entdeckte, wie er über die erschreckenden Szenen, die er miterlebt hatte, weinte.

»Du darfst ihm keine Vorwürfe machen«, sagte sie.

»Aber er tut dir weh.« Pierrot blickte mit Tränen in den Augen zu ihr auf. Auf dem Bett sah D’Artagnan von einem zum anderen, bevor er heruntersprang und seinem Herrchen die Nase in die Seite stupste; der kleine Hund wusste immer, wenn Pierrot durcheinander war.

»Er ist krank.« Émilie griff sich an den Kopf. »Und wenn jemand, den wir lieben, krank ist, ist es unsere Aufgabe, ihm zu helfen, dass es ihm bessergeht. Wenn der Betreffende es zulässt. Aber wenn nicht …« Sie holte tief Luft, bevor sie weitersprach. »Pierrot … Was würdest du dazu sagen, wenn wir wegziehen würden?«

»Alle drei?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nur du und ich.«

»Und Papa?«

Maman seufzte, und Pierrot konnte sehen, wie ihr Tränen in die Augen traten. »Ich weiß nur«, antwortete sie, »dass es so nicht weitergehen kann.«

 

Das letzte Mal sah Pierrot seinen Vater an einem warmen Sommerabend einige Monate nach seinem vierten Geburtstag, als die Küche wieder einmal mit leeren Flaschen übersät war und Papa herumzuschreien begann, sich mit den flachen Händen rechts und links an den Kopf schlug und darüber klagte, dass sie da drin waren, dass sie alle da drin waren, dass sie kamen, um sich an ihm zu rächen – Sätze, die für Pierrot keinen Sinn ergaben. Papa griff zur Anrichte hinüber und warf stapelweise Teller, Schüsseln und Tassen zu Boden, zerschlug sie in Hunderte von Stücken. Maman flehte ihn mit ausgestreckten Armen an, versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen, aber er schlug um sich, traf sie ins Gesicht und schrie Worte, die so schrecklich waren, dass Pierrot sich die Ohren zuhielt und mit D’Artagnan in sein Zimmer rannte, wo sie sich zusammen im Kleiderschrank versteckten. Pierrot zitterte und drängte die Tränen zurück, während der kleine Hund, der jede Art von Verstimmung hasste, winselte und sich an den Jungen drückte.

Pierrot blieb stundenlang im Schrank hocken, bis wieder Ruhe eingekehrt war, und als er herauskam, war sein Vater verschwunden, und seine Mutter lag reglos auf dem Küchenboden, das Gesicht voller Blut und Schrammen. D’Artagnan lief vorsichtig zu ihr, senkte den Kopf und leckte ihr mehrmals das Ohr ab, um sie aufzuwecken, aber Pierrot starrte sie nur ungläubig an. Er nahm all seinen Mut zusammen und rannte nach unten, wo Anshel wohnte, und dort deutete er nur aufs Treppenhaus, außerstande, ein Wort der Erklärung hervorzubringen. Madame Bronstein, die den vorangegangenen Streit durch die Decke gehört haben musste, aber wohl zu verängstigt gewesen war, um einzugreifen, rannte die Treppe hinauf, indem sie zwei oder drei Stufen auf einmal nahm. In der Zwischenzeit starrte Pierrot zu seinem Freund hinüber, der eine Junge außerstande zu sprechen, der andere außerstande zu hören. Als er auf dem Tisch hinter Anshel einen Stapel Papier entdeckte, setzte er sich dorthin und begann in dessen neuester Geschichte zu blättern. In eine Welt einzutauchen, die nicht seine eigene war, empfand er irgendwie als willkommenen Ausweg.

 

Mehrere Wochen lang waren sie ohne Nachricht von Papa, und Pierrot wünschte sich sehnlichst, er würde zurückkehren, auch wenn er sich gleichzeitig davor fürchtete. Eines Morgens erhielten sie die Nachricht, dass Wilhelm von einem Zug überfahren worden war, zwischen München und Penzberg, der Kleinstadt, in der er zur Welt gekommen war und in der er seine Kindheit verbracht hatte. Als Pierrot das hörte, ging er in sein Zimmer, schloss die Tür ab, sah den Hund an, der auf seinem Bett döste, und sagte ganz ruhig: »Jetzt sieht Papa uns vom Himmel aus, D’Artagnan. Und eines Tages werde ich erreichen, dass er stolz auf mich ist.«

 

Danach boten Monsieur und Madame Abrahams Émilie eine Arbeit als Bedienung an, was Madame Bronstein geschmacklos fand, da sie einfach nur die Stelle besetzen wollten, die vorher ihr verstorbener Ehemann gehabt hatte. Aber Maman, die wusste, dass sie und Pierrot das Geld brauchten, nahm dankbar an.

Das Restaurant lag auf halber Strecke zwischen Pierrots Schule und seinem Zuhause, und von nun an las und malte er jeden Nachmittag in dem kleinen Raum im Untergeschoss, während die Kellner und Köche kamen und gingen, Pause machten, über die Gäste schwatzten und meistens viel Wirbel um ihn veranstalteten. Madame Abrahams brachte ihm immer einen Teller mit dem jeweiligen Tagesgericht herunter, gefolgt von einer Kugel Eis als Nachtisch.

Drei Jahre lang, als er zwischen vier und sieben Jahre alt war, saß Pierrot jeden Nachmittag in diesem Raum, während Maman oben die Gäste bediente, und obwohl er nie von seinem Vater sprach, dachte er jeden Tag an ihn, stellte sich vor, wie er dastand, sich morgens seine Uniform anzog und abends seine Trinkgelder zählte.

 

Jahre später, als Pierrot auf seine Kindheit zurückblickte, stieß er auf zwiespältige Gefühle. Obwohl er sehr traurig über seinen Vater gewesen war, hatte er jede Menge Freunde gehabt, war gern zur Schule gegangen, und er und Maman hatten glücklich zusammengelebt. Paris erfuhr damals eine Blütezeit, und die Straßen sirrten immer vor Menschen und Energie.

Aber 1936, an Émilies Geburtstag, nahm das, was ein glücklicher Tag hätte sein sollen, eine tragische Wendung. Am Abend waren Madame Bronstein und Anshel mit einem kleinen Kuchen zum Feiern heraufgekommen, und Pierrot und sein Freund mampften gerade ihr zweites Stück, als Maman ganz unerwartet zu husten begann. Zuerst dachte Pierrot, sie hätte sich an einem Kuchenkrümel verschluckt, aber das Husten dauerte viel länger, als es normal gewesen wäre, und erst als Madame Bronstein ihr ein Glas Wasser zu trinken gab, hörte es auf. Doch als sie sich wieder erholt hatte, waren ihre Augen blutunterlaufen, und sie presste eine Hand an die Brust, als hätte sie Schmerzen.

»Es geht mir gut«, sagte sie, als ihr Atem wieder normal ging. »Ich muss mich verkühlt haben, das ist alles.«

»Aber meine Liebe …« Madame Bronstein wurde blass und deutete auf das Taschentuch, das Émilie in der Hand hielt. Pierrot sah ebenfalls hin, und sein Mund öffnete sich, als er in der Mitte drei kleine Blutflecke entdeckte. Maman starrte sie auch einige Sekunden an, bevor sie das Tuch zusammenknüllte und in die Tasche stopfte. Dann setzte sie beide Hände vorsichtig auf die Armlehnen ihres Stuhls, stand auf, strich ihr Kleid glatt und bemühte sich zu lächeln.

»Émilie, alles in Ordnung?«, fragte Madame Bronstein, die ebenfalls aufstand, und Pierrots Mutter nickte hastig.

»Es ist nichts«, sagte sie. »Wahrscheinlich nur eine Halsentzündung, allerdings bin ich ein bisschen müde. Vielleicht sollte ich schlafen gehen. Du warst so aufmerksam, den Kuchen zu bringen, aber wenn du und Anshel nichts dagegen habt …?«

»Natürlich, natürlich«, erwiderte Madame Bronstein, klopfte ihrem Sohn auf die Schulter und strebte so eilig zur Tür, wie Pierrot es noch nie erlebt hatte. »Wenn du etwas brauchst, stampf einfach ein paarmal auf den Boden, dann bin ich sofort oben.«

In dieser Nacht hustete Maman nicht mehr und auch in den folgenden Tagen nicht, aber wenig später, während sie im Restaurant einige Gäste bediente, schien sie komplett die Kontrolle über sich zu verlieren und wurde nach unten gebracht, wo Pierrot mit einem der Kellner Schach spielte. Diesmal war ihr Gesicht grau, und auf ihrem Taschentuch befanden sich keine einzelnen Blutflecke, sondern es war komplett rot. Schweiß rann ihr übers Gesicht, und als Dr. Chibaud eintraf, sah er sie nur kurz an und rief einen Krankenwagen. Innerhalb einer Stunde lag sie in einem Bett im Hôtel-Dieu, einem Pariser Krankenhaus, wo die Ärzte sie untersuchten und besorgt miteinander flüsterten.

Pierrot verbrachte diese Nacht bei den Bronsteins, schlief mit dem Kopf am Fußende neben Anshel im Bett, während D’Artagnan auf dem Boden schnarchte. Natürlich war er sehr verängstigt und hätte gern mit seinem Freund über das gesprochen, was vor sich ging, aber selbst wenn er sich noch so gut in Gebärdensprache verständigen konnte, im Dunkeln nützte sie ihm nichts.

Eine Woche lang besuchte er Maman jeden Tag, und jeden Tag schien sie mehr nach Luft zu ringen. Er war als Einziger bei ihr an dem Sonntagnachmittag, als ihr Atmen irgendwann ganz aufhörte und ihre Finger sich aus seinen eigenen lösten; dann glitt ihr Kopf auf dem Kissen zur Seite, ihre Augen weit geöffnet, und er wusste, dass sie von ihm gegangen war.

Pierrot saß mehrere Minuten ganz still da, bevor er leise den Vorhang um das Bett zuzog und sich wieder auf den Stuhl zu seiner Mutter setzte, wo er ihre Hand hielt und sich vornahm, sie nie mehr loszulassen. Schließlich kam eine ältere Krankenschwester herein, sah, was passiert war, und sagte zu ihm, sie müsse Émilie an einen anderen Ort bringen, wo ihr Leichnam für den Bestatter vorbereitet werden konnte. Bei diesen Worten brach Pierrot in Tränen aus, die, wie er glaubte, nie versiegen würden, und er klammerte sich an seine tote Mutter, während die Krankenschwester ihn zu trösten versuchte. Es dauerte lange, bis er sich beruhigt hatte, und dann fühlte sich sein ganzer Körper innen wie zerbrochen an. So einen Schmerz hatte er bisher nicht gekannt.

»Ich will, dass sie das hier mitnimmt.« Er zog ein Foto seines Vaters aus der Tasche und legte es neben sie auf das Bett.

Die Krankenschwester nickte und versprach, dafür zu sorgen, dass das Bild bei Maman blieb.

»Hast du Verwandte, die ich für dich anrufen kann?«, fragte sie.

»Nein.« Pierrot schüttelte den Kopf, außerstande, ihr in die Augen zu sehen, aus Furcht, darin entweder Mitleid oder Desinteresse zu entdecken. »Nein, es gibt niemanden. Nur mich. Jetzt bin ich ganz allein.«

Kapitel zweiDie Medaille in der Vitrine

Simone und Adèle Durand waren mit nur einem Jahr Abstand zur Welt gekommen. Keine der beiden Schwestern hatte je geheiratet, sie schienen damit zufrieden, sich gegenseitig zur Gesellschaft zu haben, obwohl sie sich überhaupt nicht ähnlich waren.

Simone, die Ältere, war überraschend groß und überragte die meisten Männer. Diese wunderschöne Frau mit dunklem Teint und großen braunen Augen hatte eine Künstlerseele. Am liebsten saß sie stundenlang am Klavier, versunken in ihre Musik. Adèle hingegen war eher klein, mit dickem Hintern und fahler Hautfarbe, und watschelte herum wie eine Ente, eine Vogelart, der sie ziemlich ähnlich sah. Sie war unentwegt aktiv und die weitaus geselligere der beiden, jedoch vollkommen unmusikalisch.

Die Schwestern wuchsen in einer großen Villa etwa hundertdreißig Kilometer südlich von Paris in Orléans auf, der Stadt, die fünfhundert Jahre vorher von der berühmten Jeanne d’Arc aus der Belagerung befreit worden war. Als kleine Mädchen hatten sie geglaubt, ihre Familie wäre die größte in ganz Frankreich, denn außer ihnen beiden gab es noch rund fünfzig andere Kinder im Alter zwischen wenigen Wochen und siebzehn Jahren, die in den Schlafsälen im dritten, vierten und fünften Stock ihres Hauses wohnten. Manche waren freundlich, manche ruppig, manche schüchtern und manche gemein, aber alle hatten eins gemeinsam: Sie waren Waisen. Von der Wohnung der Familie im ersten Stock waren ihre Stimmen und Schritte zu hören, wenn sie sich vor dem Zubettgehen unterhielten oder morgens umherliefen und kreischten, sobald ihre nackten Füße die kalten Marmorböden berührten. Doch obwohl Simone und Adèle mit ihnen unter einem Dach wohnten, fühlten sie sich auf eine Weise von den anderen Kindern getrennt, die sie erst ganz verstanden, als sie älter waren.

Monsieur und Madame Durand, die Eltern der beiden Mädchen, hatten das Waisenhaus nach ihrer Heirat eröffnet und bis zu ihrem Tod geführt. Sie hatten sehr strenge Regeln, wer aufgenommen werden konnte und wer nicht. Als sie tot waren, übernahmen die Schwestern das Waisenhaus und widmeten sich voll und ganz der Fürsorge von Kindern, die niemanden auf der Welt hatten; und bei den Aufnahmeregeln führten sie einige wichtige Änderungen ein.

»Jedes Kind, das auf sich allein gestellt ist, ist uns willkommen«, erklärten sie. »Unabhängig von seiner Hautfarbe, Rasse oder Religion.«

Simone und Adèle hatten ein außergewöhnlich enges Verhältnis. Tag für Tag gingen sie zusammen übers Gelände, begutachteten die Blumenbeete und gaben dem Gärtner Anweisungen. Was die Schwestern abgesehen von ihrer körperlichen Erscheinung wirklich unterschied, war, dass Adèle vom Aufwachen am Morgen bis zum Einschlafen am Abend fast pausenlos zu reden schien, wohingegen Simone kaum jemals etwas sagte, und wenn, dann in kurzen Sätzen, als würde jeder Atemzug sie Energie kosten, die zu verschwenden sie sich einfach nicht leisten konnte.

Pierrot lernte die Durand-Schwestern einen knappen Monat nach dem Tod seiner Mutter kennen. In seinen besten Kleidern und mit einem brandneuen Schal, den Madame Bronstein am Nachmittag zuvor in den Galeries Lafayette als Abschiedsgeschenk für ihn erstanden hatte, stieg er an der Gare d’Austerlitz in einen Zug. Sie, Anshel und D’Artagnan waren zum Bahnhof mitgekommen, um ihn zu verabschieden, und Pierrot spürte mit jedem Schritt, wie ihm das Herz ein wenig schwerer wurde. Er war verängstigt und einsam, voller Trauer um Maman, und wünschte sich, er und sein Hund könnten bei seinem besten Freund einziehen. In den Wochen nach dem Begräbnis hatte er auch wirklich bei Anshel gewohnt, und als Madame Bronstein und ihr Sohn am Sabbat zusammen in die Synagoge gingen, hatte er sogar gefragt, ob er mitkommen könne; aber sie hatte gesagt, das wäre im Moment keine gute Idee, und er solle stattdessen mit D’Artagnan einen Spaziergang auf dem Marsfeld machen. Die Tage vergingen, und eines Nachmittags kam Madame Bronstein mit einer ihrer Freundinnen nach Hause, und Pierrot hörte, wie die Besucherin erzählte, ein Cousin von ihr habe ein Goi-Kind adoptiert, und es sei rasch Teil der Familie geworden.

»Das Problem ist nicht, dass er ein Goi ist, Ruth«, gab Madame Bronstein zurück. »Das Problem ist, dass ich einfach nicht genug Geld habe, um ihn zu behalten. Meine Mittel sind knapp, so ist es nun mal. Levi hat mir sehr wenig hinterlassen. Oh, ich lasse mir nichts anmerken oder versuche es zumindest, aber es ist nicht leicht für eine Witwe, so ganz allein. Und was ich habe, brauche ich für Anshel.«

»Du musst zuerst für dein eigenes Kind sorgen, keine Frage«, erwiderte die Dame. »Aber ist da nicht jemand, der vielleicht …«

»Ich habe es versucht. Glaub mir, ich habe mit allen gesprochen, die mir eingefallen sind. Oder würdest du etwa …?«

»Nein, tut mir leid. Die Zeiten sind schwer, das hast du selbst gesagt. Und außerdem wird das Leben in Paris für Juden nicht gerade einfacher, oder? Der Junge ist bestimmt besser in einer Familie aufgehoben, die mehr wie seine eigene ist.«

»Vielleicht hast du recht. Es tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen.«

»Natürlich musstest du fragen. Du tust dein Bestes für den Jungen. So bist du nun mal. So sind wir nun mal. Aber wenn es nicht geht, geht es eben nicht. Wann willst du es ihm sagen?«

»Heute Abend, glaube ich. Das wird nicht einfach.«

Pierrot ging in Anshels Zimmer zurück und rätselte über dieses Gespräch, bevor er das Wort Goi in einem Lexikon nachschlug und sich fragte, was das überhaupt damit zu tun hatte. Er saß lange da, warf dabei Anshels Kippa, die über der Stuhllehne gehangen hatte, von einer Hand in die andere; später, als Madame Bronstein hereinkam, um mit ihm zu sprechen, hatte er sie aufgesetzt.

»Nimm das ab«, fauchte sie und riss sie ihm vom Kopf, bevor sie sie wieder dorthin hängte, wo er sie vorgefunden hatte. Es war das erste Mal, dass sie unfreundlich zu ihm wurde. »Mit so etwas scherzt man nicht. Das ist kein Spielzeug, das ist heilig.«

Pierrot sagte nichts, war aber beschämt und bedrückt. Man erlaubte ihm nicht, in die Synagoge zu gehen, man erlaubte ihm nicht, die Mütze seines besten Freundes zu tragen; für ihn war offensichtlich, dass er hier nicht erwünscht war. Und als Madame Bronstein ihm sagte, wo er hingeschickt werden sollte, gab es erst recht keinen Zweifel mehr.

»Es tut mir so leid, Pierrot«, sagte sie, nachdem sie ihm alles erklärt hatte. »Aber ich habe über dieses Waisenhaus nur Gutes gehört. Ich bin sicher, da wirst du glücklich sein. Und vielleicht wirst du bald von einer wunderbaren Familie adoptiert.«