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Fast einhundert gleichnishafte orientalische Geschichten sind in diesem Band versammelt und in Beziehung zu Fallbeispielen aus der psychotherapeutischen Praxis gesetzt. Es sind unterhaltende Geschichten, die jedoch nicht nur unterhalten, es sind Lehrstücke, die nicht nur lehren, es sind literarische Miniaturen, die nicht nur um der Kunst willen erzählt und niedergeschrieben wurden - es sind Gleichnisse zur Lebenshilfe, die jeder seinen eigenen Bedürfnissen entsprechend anwenden kann.
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Seitenzahl: 253
Nossrat Peseschkian
Der Kaufmann und der Papagei
Orientalische Geschichten in der Positiven Psychotherapie
FISCHER E-Books
Mit Fallbeispielen zur Erziehung und Selbsthilfe
Geist und PsycheHerausgegeben von Willi Köhler
Begründet von Nina Kindler 1964
Wenn der Arzt seinen Patienten
gute Geschichten erzählt,
dann braucht er halb soviel Narkosemittel.
Ferdinand Sauerbruch
Seit Erscheinen meines dritten Buches ›Der Kaufmann und der Papagei‹ (1979), haben sich die dort angestellten Überlegungen zu einem systematischen und praktischen psychotherapeutischen System entwickelt. Mit diesem System, das wir »positive Psychotherapie« nennen, beschäftigen sich die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychotherapie (DGPP). Obwohl die positive Psychotherapie als therapeutisches Verfahren Ärzte und Diplom-Psychologen anspricht, wendet sie sich als Methode der Selbsthilfe auch an Sozialarbeiter, Krankenpfleger und Mitarbeiter von Gesundheitsbehörden und darüber hinaus an Lehrer, Juristen, Geschäftsleute, Manager, Heimerzieher, Eltern, Angestellte, Studenten, Jugendliche und alle, die vor den Problemen der zwischenmenschlichen Beziehungen nicht die Augen verschließen. Eine positive Motivation war für mich die Reaktion von Fachleuten, Fachzeitschriften und Lesern auf meine Bücher.
In der positiven Psychotherapie beschränkt sich die Behandlung nicht auf das unmittelbare Arzt-Patient-Verhältnis, sondern bezieht Strategien der Selbsthilfe und präventive Maßnahmen der Erziehung mit ein. Im Gegensatz zu Ratschlägen legen Geschichten und Lebensweisheiten als Erweiterungskonzept keine Verpflichtung auf. Das Erweiterungskonzept läßt dem Partner Zeit, sich auf die erwartete Sichtweise einzustellen. Bei der Bezugsperson wird durch diese Methodik die Geduld gefördert, die er im Umgang mit dem Konfliktpartner aufbringen muß.
Die Inhalte von Geschichten bieten dem Hörer als Mitglied der jeweiligen kulturellen Gemeinschaft Verstärkung und Rückversicherung. Sie legen Problemlösungen nahe, wie sie in einem Kulturkreis üblich sind.
Geschichten aus anderen Kulturen bringen Informationen über die dort für wichtig gehaltenen Spielregeln und Konzepte, zeigen andere Denkmodelle und ermöglichen es, das eigene Repertoire von Konzepten, Werten und Konfliktlösungen zu erweitern. Damit ist ein weiterer Prozeß verknüpft, nämlich der Abbau emotionaler Schranken und Vorurteile gegenüber fremden Denk- und Empfindungsweisen, die das Fremde als etwas Aggressives, Bedrohliches wahrnehmen lassen und dort Abwehr produzieren, wo zunächst Verständnis am Platz wäre.
Vorurteile und Ressentiments lassen sich durch transkulturelle Geschichten abbauen. So gesehen können Geschichten ein entscheidender Ansatz sein zu einer breiten Veränderung des Bewußtseins, die ihrerseits Voraussetzung ist für Veränderung in Politik, Wirtschaft und im Umweltverhalten.
Die nächsten Jahre, die letzten dieses Jahrhunderts, werden mit darüber entscheiden, wie und ob die Menschheit in den ersten Jahrzehnten des kommenden Jahrtausends überleben kann. Es wird nur gelingen, wenn die Einsicht wächst, daß es entweder nur eine gemeinsame Zukunft aller oder gar keine Zukunft geben wird.
Wiesbaden, April 1996 Nossrat Peseschkian
Wer sich selbst und andere kennt,
wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
sind nicht mehr zu trennen.
Goethe
Wenn ein deutscher Mann abends nach Hause kommt, möchte er seine Ruhe haben. So wenigstens ist es die Regel. Er setzt sich vor das Fernsehgerät, trinkt sein wohlverdientes Bier, liest seine Zeitung. »Laß mir meine Ruhe. Nach so viel Arbeit steht sie mir zu.« Das ist für ihn Entspannung.
Im Orient entspannt sich der Ehemann anders: Wenn er abends nach Hause kommt, hat seine Frau bereits einige Gäste, Verwandte, Freunde der Familie oder Geschäftspartner eingeladen. Durch die Unterhaltung mit den Gästen fühlt er sich entspannt; frei nach dem Motto: »Gäste sind eine Gnade Gottes.« Entspannung kann also vielerlei bedeuten. Es gibt keine feste Definition für das, was Entspannung heißt. Man entspannt sich so, wie man es gelernt hat, und man hat es so gelernt, wie es in der Familie, der Gruppe, dem Kulturkreis, dem man angehört, üblich ist.
So wie Freizeit und Entspannung haben auch Sitten, Gewohnheiten und Wertvorstellungen viele Gesichter. Dies bedeutet nicht, daß das eine Modell besser ist als das andere, sondern daß verschiedene Wertsysteme einander viel zu sagen haben, daß sie sich gegenseitig ergänzen können.
Das tragende Motiv für meine Arbeit ist der transkulturelle Ansatz, der sich mir aufgrund meiner eigenen transkulturellen Situation (Deutschland-Iran) anbietet. Genauso nahe lag mir die Verwendung orientalischer Geschichten als Hilfsmittel, Medien und Kommunikationshilfen in meinem Fachgebiet, der Psychotherapie. Ein weiteres Anliegen war die Verknüpfung von Weisheiten und intuitiven Gedanken des Orient mit den neuen psychotherapeutischen Methoden des Okzident.
Geschichten mit ihrem spielerischen Charakter, ihrer Nähe zur Phantasie, Intuition und Irrationalität stehen in offenkundigem Gegensatz zu den zweckrationalen, technologischen Vorbildern der modernen Industriegesellschaft. Deren Leistungsorientierung ruft Widerspruch auf den Plan: Leistung wird offenkundig bevorzugt. Die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen steht im Schatten. Verstand und Vernunft gelten mehr als Phantasie und Intuition. Dieser geschichtlich-kulturell bedingten Einseitigkeit können wir dadurch begegnen, daß wir – zusätzlich zu unseren Gewohnheiten – andere Denkmodelle und Spielregeln menschlicher Beziehungen in unsere Vorstellungswelt einbeziehen; auch solche, die in einem anderen historisch-kulturellen Rahmen entstanden sind (transkultureller Ansatz). Einen Weg, der Phantasie und Intuition in der Selbsterfahrung und Lösung von Konflikten mehr Raum zu geben, sehe ich in den Geschichten, Mythologien, Parabeln und Konzepten.
Diese ›psychotherapeutische‹ Funktion von Geschichten ist Thema des vorliegenden Buches. Bereits in meinen früher erschienenen Büchern Psychotherapie des Alltagslebens und Positive Psychotherapie habe ich Geschichten und Parabeln zum Teil als Verständnishilfe, zum Teil auch als Methode in der Psychotherapie herangezogen. Die Reaktion meiner Leser und die Erfahrungen im Umgang mit meinen Patienten führten mich dazu, mich um die Frage zu kümmern, was uns diese Geschichten im Rahmen der Erziehung, Selbsthilfe und Psychotherapie sagen können. Dabei ging es mir nicht darum, nur allgemein etwas über die Aktualität der Geschichten herauszufinden, sondern darum, in welchen Konfliktsituationen und bei welchen Erkrankungen sie zur Lösung von Problemen beitragen können. Mir wurde deutlich, daß Geschichten sehr viel mit Medikamenten gemeinsam haben. Zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Form angewandt, kann eine Geschichte zum Angelpunkt des therapeutischen Bemühens werden und Einstellungs- und Verhaltensänderungen einleiten. Falsch dosiert aber, mit einem unechten, moralisierenden Zungenschlag dagegen kann ihre Anwendung gefährlich werden.
In den acht Jahren, in denen ich mich intensiver mit den Geschichten beschäftigte und die Geschichten zusammentrug, die dieser Band enthält, konnte ich selbst immer wieder die Erfahrung machen, daß sie etwas Abenteuerliches, Unberechenbares an sich haben. Gedankengänge, Wünsche und Vorstellungen, die mir vertraut und gewohnt waren, erschienen durch die Geschichten plötzlich in einem anderen Licht. Andere Denkweisen, die zuvor ungewohnt erschienen, wurden mir vertraut. Diesen Standortwechsel halte ich für eine der wesentlichen Funktionen der Geschichten. So hoffe ich, daß auch die Leser an dem Abenteuer des Standortwechsels teilnehmen können und Freude an den Geschichten gewinnen.
Zeitweilig kommen wir um Wissenschaft, Mathematik und gelehrte Diskussion nicht herum, mit deren Hilfe sich das menschliche Bewußtsein weiterentwickelt.
Zeitweilig brauchen wir aber auch Gedichte, das Schachspiel und Geschichten, an denen unser Gemüt Freude und Erfrischung findet. (Nach Saadi)
Der erste Teil dieses Buches gibt einen Abriß der Theorie der Geschichten. Ausgehend von der Positiven Psychotherapie versuchen wir, die Funktionen zu erfassen, die Geschichten in zwischenmenschlichen Beziehungen haben, insbesondere aber bei Problemlösungen und in der psychotherapeutischen Situation.
Der zweite Teil handelt von der praktischen Anwendung der Geschichten. In seinem ersten Abschnitt weisen wir auf die pädagogische Bedeutung von Gleichnissen in verschiedenen Religionen hin, da die Religionen wohl den ursprünglichen Bezugsrahmen der Geschichten darstellen. Die Beziehung zwischen Therapeut und Patient sowie ihre Spiegelung und Reflexion in Geschichten und den in ihnen enthaltenen historischen Beschreibungen ist der Inhalt des zweiten Abschnittes. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich ebenso wie der vierte mit Beispielen für die therapeutische Anwendung der Geschichten, wobei zunächst Probleme der Sexualität und Partnerschaft im Vordergrund stehen, dann aber mosaikartig ein Überblick über verschiedene Krankheitsbilder, psychotherapeutische Fragestellungen und Konfliktsituationen gegeben wird.
Viele Kollegen, die im Rahmen der Psychotherapeutischen Erfahrungsgruppe Wiesbaden (PEW) und der Akademie für ärztliche Fortbildung der Landesärztekammer Hessen mit mir zusammenarbeiteten, haben eigene Erfahrungen mit den Geschichten gesammelt. Auch viele meiner Patienten haben mit ihren Erfahrungen im Umgang mit Geschichten zur Entstehung dieses Buches beigetragen. Besondere Erwähnung verdient die Lehrergruppe der PEW, welche die pädagogische Anwendung der Geschichten diskutierte und praktizierte.
An dieser Stelle möchte ich mich auch bei meinen Freunden und Kollegen bedanken, die mir für dieses Buch Anregungen gaben.
Meinem Kollegen Dr.med. Dieter Schön schulde ich für seine wertvollen Impulse, seine kreative und kritische Beteiligung an Vorbereitung, Ausführung und Korrektur dieses Buches meinen besonderen Dank. Meine Sekretärinnen, Frau Krieger und Frau Kirsch, unterstützten mich durch ihre Aufgeschlossenheit, Sorgfalt und Zuverlässigkeit.
Mein besonderer Dank gilt dem S. Fischer Verlag, vor allem dem Lektor meiner Bücher Willi Köhler, der mich ständig ermutigt und viel zur Entstehung dieser Bücher beigetragen hat. Durch ihr eigenes transkulturelles Beispiel gaben mir meine Verwandten vielfältige Anregungen. Beim Sammeln vieler orientalischer Geschichten, Sprichwörter und volkspsychotherapeutischer Methoden war mir meine Frau Manije eine große Hilfe. Meine Söhne Hamid und Nawid haben sich in der Zwischenzeit als Mediziner zu Spezialisten auf dem Gebiet der orientalischen Geschichten entwickelt.
Wiesbaden, Januar 1979 Nossrat Peseschkian
Der Kaufmann und der Papagei[1]
Ein orientalischer Kaufmann besaß einen Papagei. Eines Tages stieß der Vogel eine Ölflasche um. Der Kaufmann geriet in Zorn und schlug den Papagei mit einem Prügel auf den Hinterkopf. Seit dieser Zeit konnte der Papagei, der sich vorher sehr intelligent gezeigt hatte, nicht mehr sprechen. Er verlor die Federn auf dem Schädel und wurde bald ein Kahlkopf. Eines Tages, als er auf dem Regal im Geschäft seines Herrn saß, betrat ein glatzköpfiger Kunde den Laden. Sein Anblick versetzte den Papagei in höchste Erregung. Flügelschlagend sprang er umher, krächzte und fand schließlich zur Überraschung aller seine Sprache wieder: »Hast du auch die Ölflasche heruntergeworfen und einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, so daß du nun auch keine Haare mehr hast?«
(Nach Mowlana)
Ein König stellte für einen wichtigen Posten den Hofstaat auf die Probe. Kräftige und weise Männer umstanden ihn in großer Menge. »Ihr weisen Männer«, sprach der König, »ich habe ein Problem, und ich möchte sehen, wer von euch in der Lage ist, dieses Problem zu lösen.« Er führte die Anwesenden zu einem riesengroßen Türschloß, so groß, wie es keiner je gesehen hatte. Der König erklärte: »Hier seht ihr das größte und schwerste Schloß, das es in meinem Reich je gab. Wer von euch ist in der Lage, das Schloß zu öffnen?« Ein Teil der Höflinge schüttelte nur verneinend den Kopf. Einige, die zu den Weisen zählten, schauten sich das Schloß näher an, gaben aber zu, sie könnten es nicht schaffen. Als die Weisen dies gesagt hatten, war sich auch der Rest des Hofstaates einig, dieses Problem sei zu schwer, als daß sie es lösen könnten. Nur ein Wesir ging an das Schloß heran. Er untersuchte es mit Blicken und Fingern, versuchte, es auf die verschiedensten Weisen zu bewegen und zog schließlich mit einem Ruck daran. Und siehe, das Schloß öffnete sich. Das Schloß war nur angelehnt gewesen, nicht ganz zugeschnappt, und es bedurfte nichts weiter als des Mutes und der Bereitschaft, dies zu begreifen und beherzt zu handeln. Der König sprach: »Du wirst die Stelle am Hof erhalten, denn du verläßt dich nicht nur auf das, was du siehst oder was du hörst, sondern setzt selber deine eigenen Kräfte ein und wagst eine Probe.«
In den letzten Jahren habe ich eine Vielzahl orientalischer (zumeist persischer) Mythologien und Fabeln zusammengetragen. Diese Mythologien wurden unter dem Gesichtspunkt ausgesucht, daß sie auf zwischenmenschliche wie seelische Konflikte und Mißverständnisse hindeuten und deren Hintergründe und Folgen dem Hörer näherbringen. Daß ich auf orientalische Geschichten zurückgriff, hat keine prinzipielle Bedeutung. Orientalische und okzidentale Mythologien und Weisheiten besitzen in vieler Hinsicht gemeinsame Wurzeln und haben sich erst im geschichtlich-politischen Spannungsfeld voneinander gelöst.
Wir neigen dazu, Geschichten, Märchen, Sagen, Mythologien und Parabeln als Domäne der Kinder zu betrachten. Ihnen haftet etwas Unzeitgemäßes an. Die Geschichten erzählende Großmutter im westlichen Abendland scheint bald ebenso der Vergangenheit anzugehören wie der professionelle Geschichtenerzähler des Orients. Diese Entwicklung mag etwas damit zu tun haben, daß Geschichten und Mythologien weniger den Verstand, die klare Logik und damit das Leistungsprinzip als vielmehr Intuition und Phantasie ansprechen.
In der Erziehung verwandte man traditionsgemäß seit langem Geschichten. Sie waren Vehikel, mit deren Hilfe Wertvorstellungen, moralische Auffassungen und Verhaltensmodelle vermittelt und im Bewußtsein der Menschen verankert wurden. Dazu eigneten sie sich vor allem wegen ihres großen Unterhaltungswerts. Sie waren der Teelöffel Zucker, der selbst bittere Moral versüßte und interessant machte.
Die ›Moral‹ der Geschichten ist in unterschiedlicher Weise verschlüsselt: Mal ist sie klar und deutlich auf den ersten Blick zu erkennen, mal erscheint sie kaschiert und nur als Andeutung.
In orientalischen Ländern haben Geschichten schon seit langem die Bedeutung von Lebenshilfen, die sich mit der des Vergnügens und des Zeitvertreibs verbindet. Meist waren es Geschichtenerzähler und Derwische, die Geschichten unters Volk brachten und so dazu beitrugen, ein wesentliches Bedürfnis nach Information, Identifikation und Lebenshilfe zu erfüllen. Die Erzählungen enthielten zum Teil religiöse Aussagen und entstammten dem Koran, andere bezogen sich unmittelbar auf das zwischenmenschliche Zusammenleben. Sie traten an die Stelle guter Ratschläge und harter Maßnahmen. Man traf sich in Kaffeehäusern, eigens dafür bestimmten Sälen oder im Kreis der Großfamilie. Vor allem am Donnerstagabend, da im Orient der Freitag ein Feiertag ist. Einige Erzählungen wurden gesprochen, andere gesungen oder dramatisch dargestellt und weckten damit das Mitgefühl der Zuhörer, die oft spontan mitlachten oder mitweinten. Meines Wissens war dies früher die einzige öffentliche Veranstaltung, bei der Männer und Frauen – sie allerdings tief verschleiert – gemeinsam teilnehmen konnten.
Geschichten waren ein Element der Volkspsychotherapie, die sich seelischer Konflikte annahm, lange bevor Psychotherapie eine wissenschaftliche Disziplin wurde. Es gibt eine Unzahl von Beispielen dafür, wie Geschichten als Lebenshilfe, im weitesten Sinn sogar gezielt als Psychotherapie Verwendung fanden. Wohl das bekannteste dieser Beispiele ist die Geschichtensammlung 1001 Nacht, deren Rahmenhandlung von der Heilung eines psychisch erkrankten Herrschers mit Hilfe der Geschichten berichtet. Sie steht unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten: Da ist einmal die schließlich erfolgreiche Behandlung des kranken Sultans durch die kluge Scharzad, zum anderen sind ihre Erzählungen Behandlung der Zuhörer und Leser, welche die Inhalte der Geschichten aufnehmen, ihre Lehren daraus ziehen und sie in ihre Gedankenwelt einverleiben. In gleicher Weise wirken auch andere Geschichten, mögen sie dem orientalischen, europäischen oder einem anderen Kulturkreis entstammen.
Geschichten, Märchen, Mythen, Fabeln, Parabeln, künstlerische Produktionen, Dichtungen, Witze etc. sind – neben dem Wert, den sie, l’art pour l’art, für sich selbst haben – Medien und Werkzeuge einer ›Volkspsychotherapie‹ und einer ›Volkspädagogik‹, mit denen sich Menschen bereits lange vor Entwicklung der Psychotherapie geholfen haben. Die Frage, die sich mir stellt, lautet: Lassen sich diese Möglichkeiten nicht auch gezielt, bewußt in der psychotherapeutischen Konfliktverarbeitung und der Selbsthilfe anwenden, ohne daß sie als ›Kinderkram‹ oder nostalgische Raritäten mit Liebhaberwert abgetan werden?
In meiner Praxis, in Seminaren und Vorträgen konnte ich immer wieder feststellen, daß gerade Parabeln und orientalische Geschichten den Zuhörer oder Patienten ansprechen. Sie sind für mich Bilder in Sprache, sie kommen dem Verständnis und Einfühlungsvermögen entgegen.
Viele Menschen fühlen sich überfordert, wenn sie mit abstrakten psychotherapeutischen Konzepten und Theorien konfrontiert werden. Da die Psychotherapie sich aber nicht nur unter Fachleuten abspielt, sondern eine Brücke zu den Patienten, den Nicht-Fachleuten darstellt, steht sie in besonderem Maß unter dem Gebot, verständlich zu sein. Eine Verständnishilfe ist das Beispiel, die mythologische Geschichte, das sprachliche Bild. Es enthält Bezüge zu innerseelischen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Inhalten und Vorgängen und bietet Lösungsmöglichkeiten an. Losgelöst von der unmittelbaren Erfahrungswelt des Patienten, seinen Widerständen gegenüber der Aufdeckung seiner Schwächen, hilft das mythologische Beispiel, gezielt eingesetzt, eine in mancher Hinsicht veränderte Beziehung zu den eigenen Konflikten zu gewinnen.
Diese Erkenntnis führte mich dazu, das bildliche Denken sowie mythologische Geschichten und Fabeln als Verständnishilfen in den therapeutischen Prozeß einzubeziehen.
Seit 1968 arbeite ich an einem neuen Konzept der Selbsthilfe und Psychotherapie (Differenzierungsanalyse), das ich Positive Psychotherapie nenne. Grundzüge und Techniken dieser Methode sind in dem Buch Positive Psychotherapie; Theorie und Praxis einer neuen Methode ausführlich dargestellt. Hier beschränke ich mich auf einen kurzen Abriß.
Die Positive Psychotherapie hat drei Aspekte:
Der positive Ansatz;
b)Das inhaltliche Vorgehen;
c)Die fünfstufige Positive Psychotherapie.
Wenn wir von positiver Psychotherapie sprechen, so soll dies in die Richtung des transkulturellen Denkens deuten. Positiv bedeutet, entsprechend seinem ursprünglichen Wortsinn (lateinisch: positum) das Tatsächliche, das Vorgegebene. Tatsächlich und vorgegeben sind nicht nur die Krankheiten und Störungen, die mißglückten Versuche, Probleme zu lösen, sondern auch die Fähigkeiten und Möglichkeiten, die jeder Mensch besitzt und die es ihm in die Hand geben, neue, andere, vielleicht bessere Lösungen zu finden. Wir versuchten daher, uns nicht an den gängigen Bewertungen von Konflikten, Krankheiten und Symptomen festzubeißen, sondern auch andere Einschätzungen der Störungen zu berücksichtigen und diese in einem neuen Licht zu sehen. Besonders wichtig scheint uns die Überlegung, daß der Patient nicht nur die Krankheit mit sich bringt, sondern auch die Fähigkeit, seine Krankheit zu überwinden. Der Therapeut hat die Aufgabe, ihm dabei zu helfen. Der positive Ansatz versucht, zusammen mit dem Patienten, alternative Möglichkeiten, Lösungen zu vermitteln, die bislang jenseits des Bewußtseinshorizontes lagen. Sie erlauben uns, unseren Standort zu wechseln und andere Denkmodelle einzubeziehen als die, die uns in unseren Konflikten noch verstärkten. Ein Beispiel: Wenn der Ehepartner oder Freund fremdgegangen ist, haben wir verschiedene Möglichkeiten, die sich als Lösungen unseres Konfliktes anbieten und die unterschiedliche Folgen nach sich ziehen. Man kann mit dem Schrotgewehr oder dem Schnappmesser ›Gerechtigkeit‹ und ›Ehre‹ wiederherstellen. Man kann Alkohol trinken und so den Kummer ersäufen; man kann Drogen nehmen und mit ihrer Hilfe eine bessere Welt suchen; man kann Rache üben und selbst fremdgehen; man kann auch – eher unbewußt – mit dem Körper reagieren und das Problem für sich durch Somatisierung, durch eine ›Flucht in die Krankheit‹ zu lösen versuchen. Man kann auch versuchen, durch Gespräche Verständnis und Einsicht zu erreichen.
Vergleichbares trifft auf das Krankheitsverständnis zu: Frigidität beispielsweise wird von der betroffenen Frau und ihrem Partner in der Bedeutung von ›Geschlechtskälte‹ oder ›Orgasmusunfähigkeit‹ anders erlebt, als wenn andere, ebenfalls ›positiv‹ enthaltene Bedeutungen wahrgenommen werden. Eine dieser alternativen Bedeutungen ist: Frigidität als die Fähigkeit, mit dem Körper ›nein‹ zu sagen. Die Wirkung der Umdeutung geht über ein Spiel mit Worten hinaus. Sie betrifft ebenso das Selbstverständnis der Patientin wie die Auswirkungen der Störung auf die partnerschaftliche Beziehung und den Weg einer eventuellen Behandlung. Ähnliches gilt für andere Störungen und Krankheiten. So ist der positive Ansatz für die Medizin, die Psychotherapie, aber auch für den potentiellen Patienten eine Provokation zum Umdenken.
Beispiele für den Prozeß des Umdenkens bieten uns die Geschichten. Die Einlinigkeit des logischen Denkens führt uns oft genug nicht aus den Schwierigkeiten hinaus, sondern – so paradox es auch scheint – tiefer in Probleme hinein. Ihr setzen die Geschichten unerwartete, verblüffende, nichtsdestoweniger ›wirkliche‹, ›positive‹ Lösungen entgegen. Diese scheinen zwar der Gewohnheit und Logik zu widersprechen, wirken aber wie der Sprung aus dem Löwenkäfig eines Konfliktes.
Was ›positives Vorgehen‹ heißt, veranschaulicht folgende Geschichte:
Die Situation des Kranken – und nicht nur des psychisch Kranken – gleicht in vieler Hinsicht der eines Menschen, der über längere Zeit hinweg nur auf einem Bein steht. Nach einiger Zeit verkrampfen sich die Muskeln, das belastete Bein beginnt zu schmerzen. Er ist kaum mehr in der Lage, das Gleichgewicht zu halten. Doch nicht nur das Bein schmerzt, die gesamte Muskulatur beginnt sich in dieser ungewohnten Haltung zu verspannen und zu verkrampfen. Der Leidensdruck wird unerträglich, der Mensch schreit um Hilfe.
In dieser Situation treffen ihn verschiedene Helfer an.
Während er weiter auf dem einen Bein stehenbleibt, beginnt ein Helfer das belastete und verkrampfte Bein zu massieren. Ein anderer nimmt sich die verkrampfte Nackenpartie vor und walkt sie nach allen Regeln der Kunst durch. Ein dritter Helfer sieht, daß der Mensch sein Gleichgewicht zu verlieren droht, und bietet ihm seinen Arm als Stütze an. Von den Umstehenden kommt der Rat, der Mensch solle vielleicht die beiden Hände zu Hilfe nehmen, damit ihm das Stehen nicht mehr so schwerfalle. Ein weiser alter Mann schlägt vor, er solle daran denken, wie gut er es eigentlich hat, wenn er sich mit Menschen vergleicht, die überhaupt keine Beine besitzen. Beschwörend redet einer auf ihn ein, er solle sich vorstellen, er sei nur eine Feder, und je intensiver er sich darauf konzentriere, um so mehr würden seine Leiden nachlassen. Ein abgeklärter Alter setzt wohlmeinend hinzu: »Kommt Zeit, kommt Rat.« Schließlich geht ein Zuschauer auf den Leidenden zu und fragt ihn: »Warum stehst du auf einem Bein? Mach doch das andere gerade und stelle dich darauf. Du hast doch ein zweites Bein.«
In meiner psychotherapeutischen Praxis machte ich eine Beobachtung, die ich später – dafür sensibel geworden – auch im alltäglichen Leben immer wiederfinden konnte: Sowohl bei orientalischen als auch bei europäischen und amerikanischen Patienten fanden sich im Zusammenhang mit bestehenden Symptomen Konflikte, die auf eine Reihe sich wiederholender Verhaltensweisen zurückgehen. In der Regel waren es nicht etwa die großen Ereignisse, die zu Störungen führten. Vielmehr führten die immer wiederkehrenden kleinen seelischen Verletzungen zu ›empfindlichen‹ oder ›schwachen‹ Stellen, die sich schließlich zu Konfliktpotentialen auswuchsen. Was sich auf dem erzieherischen und psychotherapeutischen Sektor als Konfliktpotential und Entwicklungsdimension darstellte, fand sich in der Moral, Ethik und Religion im normativen Sinn als Tugend wieder.
Wir versuchten diese Verhaltensbereiche zu sichten und zu einem Inventar zusammenzustellen, mit dessen Hilfe sich die inhaltlichen Komponenten der Konflikte und Fähigkeiten beschreiben lassen. Diese Bereiche, die wir als Aktualfähigkeiten bezeichneten, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Zu nennen sind die leistungsorientierten psychosozialen Normen (sekundäre Fähigkeiten): Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Gehorsam, Höflichkeit, Ehrlichkeit, Treue, Gerechtigkeit, Fleiß/Leistung, Sparsamkeit, Zuverlässigkeit und Genauigkeit; sowie die emotional orientierten Kategorien (Primäre Fähigkeiten): Liebe, Geduld, Zeit, Vorbild, Vertrauen, Kontakt, Sexualität, Hoffnung, Glaube und Einheit.
Die Aktualfähigkeiten werden im Verlauf der Sozialisation inhaltlich entsprechend dem soziokulturellen Bezugssystem gestaltet und durch die einzigartigen Bedingungen der individuellen Entwicklung geprägt. Als Konzepte werden sie in das Selbstbild aufgenommen und bestimmen die Spielregeln dafür, auf welche Weise man sich und seine Umwelt wahrnimmt und mit ihren Problemen fertig wird. Der Einfluß der Aktualfähigkeiten vollzieht sich in folgenden vier Medien: 1. Mittel der Sinne (Beziehung zum eigenen Körper), 2. Mittel des Verstandes, 3. Mittel der Tradition, 4. Mittel der Intuition und Phantasie (vgl. Positive Psychotherapie, 1977, S.108ff.). Die Konzepte sind Steuermänner des Verhaltens. Das auf die Aktualfähigkeiten ›Sparsamkeit‹ und ›Fleiß/Leistung‹ bezogene Konzept »Sparst du was, dann hast du was – hast du was, dann bist du was« beispielsweise, das ein Mensch vertritt, hat Einfluß auf sein Erleben und viele seiner Handlungen: auf das Verhältnis zum eigenen Körper, zum Essen, zum Lustgewinn, zur Bedürfnisbefriedigung, zum Beruf, zum Partner, zu den zwischenmenschlichen Beziehungen, zur Phantasie, Kreativität und schließlich zur eigenen Zukunft. Mit anderen Konzepten verbunden, kann dieses Konzept in weitem Ausmaß die individuellen Möglichkeiten bestimmen: »Gäste einladen ist für mich rausgeschmissenes Geld«; »Was für mich zählt, ist der berufliche Erfolg«; »Ich brauch meine Mitmenschen nur dafür, um meine Interessen durchzusetzen«; »Gefühlsduselei ist Quatsch, Märchen sind Kinderkram«.
In dieser Form verknüpfen sich die Konzepte eng mit den Gefühlen und können so im Falle eines Konfliktes zum Auslöser von Aggressionen und Ängsten werden.
Während der eine sehr viel Wert auf Fleiß/Leistung oder Sparsamkeit legt, betont der andere die Ordnung, die Pünktlichkeit, den Kontakt, die Gerechtigkeit, die Höflichkeit, die Ehrlichkeit etc. Jede dieser Normen erfährt ihrerseits ihre eigene situations-, gruppen- und gesellschaftsgebundene Gewichtung. Diese unterschiedlichen Wertorientierungen treffen im zwischenmenschlichen Zusammenleben und im Erleben des einzelnen aufeinander und können dort zu Dissonanzen führen. So wird beispielsweise die ›lebendige, persönliche Unordnung‹ des einen für den anderen, dem Ordnung das halbe Leben ist, zu einem fast unüberwindlichen Problem. Man wechselt dann lieber den Partner, als daß man die andere Wertvorstellung und ihre Folgen ertragen könnte.
Die Aktualfähigkeiten besitzen für die Methode der positiven Psychotherapie eine große Bedeutung. Um die Tragfähigkeit eines Patienten im Hinblick auf mögliche Konfliktbereiche zu prüfen und ihm in der Differenzierung seiner Situation zu helfen, orientieren wir uns an einer Liste der Aktualfähigkeiten, dem Differenzierungsanalytischen Inventar, kurz DAI genannt. Wir brauchen dabei nicht mehr allgemein von Streß, Konflikt oder Krankheit zu reden, sondern können feststellen, wann eine konflikthafte Reaktion auftritt, in welcher Situation, bei welchem Partner und bezüglich welcher Inhalte. Eine Frau, die regelmäßig abends schwere Angstanfälle erleidet, wenn ihr Partner zu spät nach Hause kommt, zeigt nicht nur Angst vor dem Alleinsein, was auf die Aktualfähigkeit ›Kontakt‹ hindeuten würde, sondern ist auch mit ihrer Angst an die Aktualfähigkeit ›Pünktlichkeit‹ gebunden. Dieses differenzierte Vorgehen ermöglicht es uns, uns gezielter mit den Bedingungen eines Konfliktes auseinanderzusetzen.
In den Geschichten zeigen sich die Aktualfähigkeiten in unterschiedlichsten Erscheinungsformen: Während pädagogisch ausgerichtete Geschichten, wie beispielsweise der Struwwelpeter, vor allem einzelne psychosoziale Normen wie Gehorsam, Höflichkeit und Ordnung vermitteln, stellen andere Geschichten eben diese Normen in Frage und konfrontieren den Leser mit ungewohnten, fremden Konzepten.
Die Einteilung der Aktualfähigkeiten in die leistungsbezogenen sekundären Fähigkeiten und die emotional orientierten primären Fähigkeiten findet sich in einer Reihe von hirnorganischen Untersuchungen bestätigt. Sie weisen darauf hin, daß die beiden Großhirnhälften, die Hemisphären, nach zwei unterschiedlichen Informationsverarbeitungsprogrammen operieren. Die linke Hemisphäre ist für logische Schlüsse, analytische Schritte und den verbalen Kommunikationsteil zuständig. In anderen Worten: Die linke Hemisphäre trägt in irgendeiner Weise die leistungsorientierten sekundären Fähigkeiten und ist Repräsentant von Verstand und Vernunft. Der rechten, in der Regel nicht dominierenden Hemisphäre werden ganzheitliches Denken, einheitliches Erfassen, bildhafte Vorstellung und emotionale, weniger zensierte Assoziationen zugeschrieben. Sie steuert die emotional orientierten primären Fähigkeiten und ist demnach der ›Sitz‹ von Intuition und Phantasie. Legen wir diese Hypothese zugrunde, gewinnt die Anwendung von Geschichten und Mythologien in der Psychotherapie eine neue Wertigkeit: Der beabsichtigte Standortwechsel vollzieht sich als Bahnung der Intuition und Phantasie, die dann therapeutisch wichtig wird, wenn Vernunft und Rationalität alleine die auftretenden Probleme nicht bewältigen konnten. Man gewinnt Zugang zur Phantasie und lernt in den Sprachbildern der Geschichten zu denken … (vgl. Watzlawick et al. 1969).
Eine nahezu alltägliche Szene soll die dynamische Beziehung der Medien und Aktualfähigkeiten veranschaulichen. Sie als Leser können versuchen herauszufinden, welche Aktualfähigkeiten und Medien den Verlauf der folgenden Szene bestimmen.
Ein verheirateter, vierzig Jahre alter Geschäftsmann sitzt in einem Bahnabteil. Er liest den Wirtschaftsteil seiner Zeitung und schaut von Zeit zu Zeit auf die Landschaft, die an seinem Fenster vorüberfliegt. Bei einem kurzen Aufenthalt öffnet sich die Abteiltür und eine junge Dame kommt herein. Sie trägt eine größere Reisetasche und versucht, diese auf das Gepäcknetz zu heben. Der Geschäftsmann legt seine Zeitung weg, springt auf und mit einem kurzen »Entschuldigen Sie« hebt er galant das Gepäckstück in das Netz. Schon bei ihrem Eintreten war er sehr angetan von ihrer Erscheinung. Doch als er sie sitzen sieht, elegant die Beine übereinandergeschlagen, fühlt er sich durch die Figur seiner Mitreisenden fasziniert. Irgendwie empfindet er sich plötzlich um Jahre jünger und sonnt sich noch nachträglich in dem Lächeln, das die charmante junge Dame ihm für seine Hilfeleistung geschenkt hatte. Der Wirtschaftsteil seiner Zeitung ist ihm auf einmal nicht mehr anziehend genug. Immer wieder läßt er die Zeitung sinken und schaut sein Gegenüber an, registriert die Haarfarbe, fühlt sich durch die Farbe und die Form ihrer Augen irritiert und wehrt seinen Blick auf den Blusenausschnitt ab, indem er ruckartig wieder versucht, sich in die Zeitung zu vertiefen. Er fühlt sich ertappt und beobachtet. Währenddessen schießen ihm die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf, ohne daß er ihnen Einhalt gebieten könnte:
»Diese Frau gefällt mir sehr gut. Wenn ich so meine Frau damit vergleiche …« Das Stichwort ›meine Frau‹ holt ihn für kurze Zeit zurück auf den Teppich der Realität: »Früher war ich in sie sehr verliebt. Aber inzwischen gibt es Probleme über Probleme.« Unwillkürlich denkt er daran, daß ihm seine Frau in der Nacht zuvor keine Gelegenheit gegeben hatte, zärtlich zu sein. Unter Vorwürfen, er habe ja auch sonst kaum Interesse für sie und nehme sich wenig Zeit, hatte sie sich einfach im Bett umgedreht und so getan, als schlafe sie. Dabei muß er schlucken, weil er seine Reisebegleiterin vor sich sieht. Der Duft eines angenehmen Parfüms steigt ihm in die Nase, was ihm so vorkommt, als flirte sie mit ihm. Ein Gedanke setzt sich in seinem Kopf fest: »Ich muß unbedingt diese Frau kennenlernen. Und wenn ich mich nicht zu dumm anstelle, merkt meine Frau nichts. Überhaupt, wie wäre es, wenn ich tausche?« Doch leicht fällt ihm dieser Gedanke nicht: »Würde ich das dann überhaupt durchhalten? Kann ich es mir überhaupt meinen Kindern gegenüber leisten? Was würden meine Verwandten dazu sagen? Meinen Kollegen könnte ich mit einer solchen attraktiven Freundin natürlich ganz schön imponieren. Die wollen alle, aber können nicht.« Plötzlich steht ihm ein Bild aus seiner Kindheit vor Augen: Seine Mutter weint, der Vater war zu einer Freundin gegangen. Irgendwie fühlte er sich benommen bei dieser Vorstellung. Doch schnell reißt er sich aus seinen trüben Gedanken: »Ich habe in meinem Leben eine Menge geleistet und habe wohl das Recht, jetzt auch was vom Leben zu haben. Ewig diese Pflichten: Morgens früh aufstehen, gleich der Ehefrau ein Sonntagslächeln zeigen (weil sie sonst gleich anfängt, muffig zu werden), im Büro exakt und ordentlich und ohne jeden Fehler die Arbeit verrichten, freundlich zu Geschäftspartnern sein, denen man am liebsten in den Hintern treten würde. Der tägliche Ärger wegen der tausend Kleinigkeiten.« Und nach dem Streß abends – er hört die Stimme direkt im Ohr: Du hast keine Zeit für mich. Du vernachlässigst mich. Selbst zu den Kindern bist du ein Rabenvater: seine Frau. – Wenn das nicht genug Grund ist, Bekanntschaft mit dem herrlichen Geschöpf zu knüpfen. Verdient hätte ich es ja, bei diesem Hundeleben. Wenn nur nicht die blöden Hemmungen wären. Er hält die Zeitung auf dem Schoß, lächelt so gewinnend, wie er nur kann, räuspert sich – und bringt keinen Ton heraus.