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Krabben zum Frühstück. Nach Jahren in der Großstadt kehrt Spitzenköchin Jette zurück auf die Insel Spiekeroog. Entsetzt stellt sie fest, dass Oma Tildes Tante-Emma-Laden kurz vor dem Ruin steht. Für Jette kommt ein Verkauf nicht in Frage, schließlich verbrachte sie hier die schönsten Stunden ihrer Kindheit. Aber wie kann sie den Laden retten? Als dann plötzlich Benno vor ihr steht, wird es richtig kompliziert. Er war ihre erste große Liebe, doch nach ihrem gemeinsamen Sommer ist er einfach verschwunden. Und auf einmal befindet sich ihr Herz in Seenot … Romantisch und humorvoll – die perfekte Lektüre für den Strandkorb. Dieses E-Book enthält alle drei Einzelfolgen der E-Book-Erfolgsserie.
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Seitenzahl: 274
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Fenna Janssen wurde in Lübeck geboren und wuchs in Hamburg auf. Viele Jahre war sie als Journalistin für diverse Zeitungen tätig. Inzwischen arbeitet sie erfolgreich als Autorin und bleibt auch in ihren Büchern ihrer norddeutschen Heimat treu.
Krabben zum Frühstück
Nach Jahren in der Großstadt kehrt Spitzenköchin Jette zurück auf die Insel Spiekeroog. Entsetzt stellt sie fest, dass Oma Tildes Tante-Emma-Laden kurz vor dem Ruin steht. Für Jette kommt ein Verkauf nicht in Frage, schließlich verbrachte sie hier die schönsten Stunden ihrer Kindheit. Aber wie kann sie den Laden retten? Als dann plötzlich Benno vor ihr steht, wird es richtig kompliziert. Er war ihre erste große Liebe, doch nach ihrem gemeinsamen Sommer ist er einfach verschwunden. Und auf einmal befindet sich ihr Herz in Seenot …
Romantisch und humorvoll – die perfekte Lektüre für den Strandkorb.
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Fenna Janssen
Der kleine Inselladen
Roman
Inhaltsübersicht
Über Fenna Janssen
Informationen zum Buch
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Teil 1 – Neubeginn am Meer
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Teil 2 – Stürmische Zeiten
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Teil 3 – Krabben zum Frühstück
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Impressum
»Hallo Schatz«, sagte Jette und wischte sich mit einem Geschirrtuch über die Stirn. »Ist ein schlechter Moment.«
»Das ist es bei dir ja meistens.« Roberts Stimme klang leicht verzerrt durch das Smartphone, was jedoch auch am Brodeln, Köcheln und Dampfen um sie herum liegen mochte. »Aber diesmal kann es nicht warten. Ich werde befördert!«
Vor Schreck ließ Jette ihr schärfstes Messer auf das Schneidebrett fallen. Das Stück Thunfischfilet, das sie in dünne Scheiben schnitt, wurde in der Mitte aufgespießt, und als das Messer zur Seite kippte, klaffte ein Loch darin. Den konnte sie jetzt nicht mehr gebrauchen. Seufzend legte Jette das Filet beiseite.
Ihr passierte nur höchst selten ein Ungeschick in der Küche, und das wurde im italienischen Sternerestaurant »La Luna« auch nicht anders erwartet. In dem gut besuchten Lokal, nur einen Steinwurf entfernt vom Englischen Garten in München, arbeiteten nur absolute Spitzenköche, und Jette von Straten war stolz darauf, dass sie seit drei Jahren zur Mannschaft gehörte. Ihr Chef Pasquale Battelli hatte sie von Anfang an gefördert, aber wenn sie noch mehr von dem kostbaren japanischen Thunfisch verdarb, würde sie bald unten durch sein. So jovial Pasquale sich gern den Gästen gegenüber gab, so fröhlich er in seiner TV-Kochshow wirkte – Mitarbeiter, die Fehler machten, wurden bei ihm schneller gefeuert, als sie einen schwarzen Trüffel kleinhobeln konnten.
»Bist du noch dran?«, fragte Robert mit jenem Hauch von Gereiztheit, der seit einiger Zeit einfach nicht mehr aus seiner Stimme verschwinden wollte.
»Entschuldigung, ja.« Jette überlegte, ob sie gefahrlos den Pistazienmantel für die Thunfischscheiben vorbereiten konnte, während sie telefonierte. Aber dann beschloss sie, lieber schnell das Gespräch mit Robert zu führen und sich dann wieder mit voller Konzentration ihrer Arbeit zu widmen.
Wenn Pasquale sie mit dem Smartphone in der Hand erwischte, war ohnehin die Hölle los.
»Du wirst befördert«, presste Jette hevor. Ihr Herz geriet aus dem Takt, und sie musste sich mit der freien Hand an der Kante der Arbeitsfläche festhalten.
Plötzlich war er da, der Moment, vor dem sie sich seit mehr als einem Jahr fürchtete. Seit dem Tag, an dem Robert in einem ungewohnten Anfall von Abenteuerlust seine Stellung bei der Stadtsparkasse in München aufgegeben hatte, um für eine Privatbank aus Monaco zu arbeiten.
»Stell dir vor«, hatte er damals gesagt. »Mit etwas Glück könnte ich eines Tages im Fürstentum leben, wenn dort bei der Bank eine Stelle frei wird. Wäre das nicht herrlich? Keine verregneten Sommer und keine kalten Winter mehr, nur noch Sonne, schöne Menschen und leckere französische Küche.«
Jette mochte das Münchener Wetter eigentlich ganz gern, obwohl ihr manchmal der frische Wind über der Nordsee fehlte, ebenso wie der endlose Himmel ihrer flachen Heimat. Besonders an die Berge hatte sie sich noch immer nicht gewöhnt. Es war schwierig, wenn der Blick ständig gegen einen Gipfel knallte, anstatt frei in die Ferne zu schweifen. Die Leute hier fand sie eigentlich nicht besonders hässlich, nur der bayerische Dialekt bereitete ihr auch nach zehn Jahren noch immer Schwierigkeiten. Und die gehobene italienische Küche war ihr allemal lieber als französische Froschschenkel oder ähnliches Zeug. Da war sie stellvertretend für ihren Chef ganz italienisch-patriotisch. Aber sie hütete sich, ihre Meinung laut kund zu tun. Schließlich liebte sie Robert, und außerdem war eine Versetzung nach Monaco ja doch mehr als unwahrscheinlich, das jedenfalls sagte sie sich beides täglich aufs Neue.
Irrtum. Nun hatte sie den Salat. »Mit Stückchen von kalten Froschschenkeln an Vinaigrette, bestimmt.«
»Was hast du gesagt?« Roberts Stimme klang um einiges gereizter.
»Äh – nichts.« Sie wusste, jetzt wäre Jubel angebracht gewesen, aber sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Jetzt mach mal halblang, versuchte Jette, sich zu beruhigen. Eine Beförderung hatte gar nichts zu bedeuten. Bestimmt musste Robert noch viele Sprossen auf der Karriereleiter erklimmen, bevor er an eine Versetzung ins sonnige Monte Carlo überhaupt denken konnte.
Eine dumpfe Ahnung jedoch sagte ihr, dass die Dinge anders lagen, dass Robert womöglich schon bald wegziehen würde. Weg von München, weg von ihr. Sie versuchte, zu ergründen, was sie dabei empfand, aber außer einer diffusen Angst vor einsamen Nächten fand sie vorerst nichts.
»Jette, hallo? Bist du noch dran? Was sagst du denn dazu?«
»Das ist toll!« Sie stellte auf Lautsprecherfunktion und legte das Smartphone auf einen sauberen Teller. Dann schnappte sie sich einen langen Holzlöffel und rührte in dem großen Topf mit Nudelsoße für das zweite Gericht, für das sie an diesem vorletzten Montagabend im April zuständig war: Tagliolini mit Pfifferlingen, Petersilie und Kalbsjus. Die Soße konnte nicht warten.
»Du freust dich ja gar nicht.« Robert klang richtig sauer.
Jette sah auf und bemerkte, wie Marie, ihre Kollegin und beste Freundin, mit dem Daumen über die eigene Kehle fuhr.
Upps! Gefahr im Anflug. Schätzungsweise in Gestalt von Pasquale.
»Doch, und wie!«, sagte sie schnell zu Robert. »Ich freue mich sehr für dich.«
»Hörst dich aber nicht so an.«
»Schatz, mein Chef kommt. Und wenn ich nicht in den nächsten zwanzig Sekunden meinen Job verlieren will, muss ich auflegen. Wir reden morgen, okay?«
Der frühe Vormittag war die einzige Zeit des Tages, in der sie einigermaßen entspannt zusammen sein konnten. Obwohl Jette von einer langen Nacht im »La Luna« oft noch übermüdet war, zwang sie sich, jeden Morgen um sieben aufzustehen, um mit Robert anderthalb Stunden zu verbringen, bevor er in die Bank musste.
Wenn er abends heimkam, war sie schon längst wieder bei der Arbeit.
Wie eine Beziehung auf Dauer so funktionieren konnte, war ihnen inzwischen beiden ein Rätsel, aber Jette ahnte, Robert wollte es lieber nicht wahrhaben, genauso wenig wie sie selbst.
Tja, dachte sie jetzt. Der sucht lieber das Weite.
»Bis morgen«, sagte sie noch und konnte regelrecht hören, wie ihr Freund beleidigt die Mundwinkel herabzog. Schließlich kannte sie ihn seit drei Jahren und wusste ziemlich genau, wie er tickte. Abgesehen von seinen fürstlichen Flausen war Robert das Paradebeispiel eines strebsamen und ernsthaften Norddeutschen. Auch ein bisschen dröge, wie man im Norden sagte, was nicht nur trocken bedeutete, sondern auch: ein wenig langweilig und nicht gerade humorvoll. Aber seine absolute Zuverlässigkeit machte diese kleinen Fehler Jettes Meinung nach zu hundert Prozent wieder wett. Sie hatte mit ihm das große Los gezogen, und Zweifel waren nicht geduldet. Mit Anfang dreißig und nach einigen Fehlversuchen musste eine Frau schließlich wissen, wohin sie gehörte. Und Robert war schnell beleidigt. Ein Sensibelchen eben. Da musste sie aufpassen.
Sie hatten sich in einer Schwabinger Kneipe an einem Stammtisch kennengelernt, der den griffigen Namen »Fischköpfe im Lederhosenland« trug, wo sich norddeutsche Zuwanderer einmal im Monat über ihren Kulturschock auslassen konnten. Und Robert Stelling war mit seiner mittleren Größe und dem raspelkurzen schwarzen Haar zwar nicht das Ebenbild eines Hanseaten, aber er sprach mit plattdeutschem Einschlag, er lachte über dieselben Witze wie Jette und schwärmte von einer leckeren panierten Nordseescholle.
Jette hatte zu der Zeit unter einem lang anhaltenden Anfall von Heimweh gelitten. Weniger nach Hamburg, wo sie aufgewachsen und zur Schule gegangen war, sondern nach der Nordseeinsel Spiekeroog, wo ihre heißgeliebte Oma Tilde lebte und wo sie als Kind in den Ferien so glücklich gewesen war, wie sie es in der feinen Villa ihrer Eltern in Hamburg-Blankenese niemals hatte sein können. Die Insel, das wusste sie, seit sie in München lebte, war ihre wahre Heimat. Wenn jemand sie aufforderte, doch mal von zu Hause zu erzählen, erwähnte sie selten ihre Eltern oder Hamburg, konnte sich dafür stundenlang über Spiekeroog auslassen, über das Wattenmeer und die Salzwiesen, über die Lachmöwen und die Brandgänse, über die Fischer und die Geschäftsleute, die den Touristen das Geld aus der Tasche ziehen konnten, wie einst die Strandräuber dem Meer seine Schätze abgerungen hatten.
Aber vor allem erzählte sie von Tilde, dieser starken Frau, die vor fünfzig Jahren ihrer großen Liebe Hinnerk Eriksen auf die Insel gefolgt und für immer geblieben war. Selbst nach dem viel zu frühen Tod ihres Mannes. Aus dem Nichts hatte sie einen kleinen Laden aufgebaut, in dem es von Angelhaken über Dosenpfirsiche bis hin zu Lockenwicklern so ziemlich alles zu kaufen gab, was man sich nur vorstellen konnte. Sie hatte ihre Tochter Martha allein großgezogen und ihr die Liebe zur Insel täglich eingetrichtert.
Bloß war sie damit gescheitert. Martha hatte es gar nicht abwarten können, von dort wegzukommen. Nach Hamburg, in die große weite Welt. Erst bei ihrer Enkelin war Tildes Heimatverbundenheit auf fruchtbaren Boden gestoßen. Und wenn es nach Jette gegangen wäre, dann wäre sie für immer dort geblieben. Jedenfalls bis sie so fünfzehn, sechzehn war. Später zog es auch sie fort, doch seitdem, seit mehr als zwanzig Jahren, hatte sie immer dieses seltsame Gefühl, dass etwas fehlte, dass sie nicht vollständig war. Zugleich konnte sie sich ein Leben auf der Insel schon längst nicht mehr vorstellen. Alles erschien ihr dort so klein, so eng. Jette musste sich eingestehen, dass sie sich inzwischen zu weit von Spiekeroog entfernt hatte. Diese Entfernung maß sich nicht nur in Kilometern, sondern auch in Lebenserfahrung, in Gewohnheiten.
In Tildes Inselladen hatte Jette schon als Kind gern hinter dem Tresen gestanden, auf einem Hocker, weil sie so klein war und auch nie wirklich groß werden sollte. Sie hatte die gutmütigen Sprüche der Kundinnen ertragen, die sich über diese lütte Deern mit den dunklen Augen und braunen Haaren wunderten, die in einer Familie von großen blonden Menschen aus der Art geschlagen war. Und dann hatte sie Mehl abgewogen, Eier gezählt und Zucker in dreieckige braune Tütchen gefüllt. Dort im Laden hatte sie schneller Kopfrechnen gelernt als in der Schule, und wenn sie sich genug in die Höhe gestreckt hatte, so hatte sie auch die alte monströse Registrierkasse bedienen können.
Und so erzählte und erzählte Jette, mit leuchtenden Augen und Sehnsucht im Herzen. Meistens war sie nur zum Schweigen zu bringen, wenn ihr jemand einen Küstennebel ausgab. Das war ein hochprozentiger Anisschnaps, der nach den Weiten der Nordsee schmeckte. Sonst redete sie womöglich noch die ganze Nacht.
»Man könnte meinen, du liebst diese blöde Insel mehr als mich«, hatte Robert sich mal beschwert. Was natürlich Blödsinn gewesen war, denn ein Mann war keine Insel.
Schade eigentlich.
Hinter Marie tauchte jetzt Pasquale auf. Jette kämpfte gegen die Versuchung an, das verdorbene Stück Thunfisch unter einem dicken Pistazienmantel zu verstecken. Es hätte keinen Sinn gehabt. Pasquale besaß ein unheimliches Gespür für Fehler. Und einem Gast, der bereit war, ein kleines Vermögen für ein Menü im »La Luna« auszugeben, durfte keine beschädigte Ware untergeschoben werden. Das war in den Augen des Chefs Hochverrat.
Jette erinnerte sich nur zu gut an den Kochlehrling im dritten Jahr, der einmal einen Fehler vertuscht hatte, indem er mit Pinienkernen statt mit Walnüssen gefüllte Ravioli hatte rausgehen lassen. Der Gast hatte das Gericht bemängelt, Pasquale war knapp an einem Schlaganfall vorbeigeschrammt, der Lehrling arbeitete heute in der bayerischen Provinz und kochte Schweinshaxe mit Knödeln.
»Robert«, flötete sie liebevoll in Richtung Smartphone. »Ich backe dir morgen früh Rosinenbrötchen. Dann erzählst du mir alles in Ruhe, ja?«
Sie würde dafür noch eine halbe Stunde früher aufstehen müssen als sonst, aber im Augenblick war sie zu jedem Opfer bereit, wenn sie ihn nur friedlich stimmte.
»Geht klar.« Seine Mundwinkel schienen sich zu heben, er hörte sich beinahe fröhlich an, bloß ein klein bisschen nervös.
Sie wollte schon auf das Display tippen, um das Gespräch zu unterbrechen, als er noch hinzufügte: »Dann besprechen wir auch den Umzug. Bis dann.«
Auf einmal hatte es Robert eiliger als Jette, das Telefonat zu beenden, und die Verbindung war tot, bevor sie nur den Arm ausstrecken konnte.
Kurz rieb sie sich über die Stirn. Eine Beförderung ist eine Beförderung, sagte sie sich. Keine Versetzung. Daran hielt sie sich fest. Und das abgebrochene Gespräch eben?, fragte eine lästige Stimme in ihrem Kopf. Jette hörte nicht hin. Bestimmt war nur der Akku seines Smartphones leer gewesen. Solche Kleinigkeiten vergaß Robert leicht. So gewissenhaft er in seinem Job war, so gedankenlos war er in alltäglichen Dingen. Ohne eine Frau, die Tag für Tag für ihn da war, ihm die Wäsche machte, die Wohnung putzte und für ihn kochte, wäre er nicht zurechtgekommen.
Jette tat es gern, auch wenn ihre Rollenverteilung auf andere Leute mittelalterlich wirkte. Ihr gefiel es, so sehr von ihrem Freund gebraucht zu werden. Und zum Ausgleich überraschte Robert sie immer mal wieder mit einer Einladung in ein Rockkonzert, mit Theaterkarten oder mit einem Ausflug an den Starnberger See.
Jette seufzte. Aber was sollte nun werden? Was tat Robert ihr nur an? Sie fühlte sich wie gelähmt und fragte sich einen schrecklichen Moment lang, wie sie den heutigen Abend durchstehen sollte.
Dann verbannte sie mit aller Kraft sämtliche negativen Gedanken, ließ das Smartphone in einer Besteckschublade verschwinden und rührte mit hochkonzentriertem Blick die Nudelsoße um.
Pasquale schlängelte sich an Köchen, Lehrlingen und Gehilfen vorbei direkt auf sie zu.
»Ich habe ein Stück Thunfisch versaut«, sagte Jette, als er vor ihr stand. Lieber gleich alles gestehen und das Donnerwetter ertragen. Das war ihre Devise. So hatte sie es von Oma Tilde gelernt. Einem Sturm aus Nordwest wich man auf einer kleinen Insel nicht aus. Man duckte sich und überstand ihn.
Zunächst hob ihr Chef nur angesichts ihrer Wortwahl seine buschigen grauen Augenbrauen. Ihren Hang zu deftigen Ausdrücken hatte sie auch von Tilde.
»Versaut?«, wiederholte Pasquale.
»Ein Loch reingebohrt«, präzisierte Jette. »Mitten durch.«
»In den japanischen Thunfisch für hundertzwanzig Euro das Kilo?«
»Jep.«
Pasquale begann, stoßweise zu atmen.
»Kratz bitte nicht gleich ab«, bat Jette. »Wäre schade um dich.«
Pasquale klappte den Mund auf und zu. Dann machte er abrupt kehrt und ging.
Noch mal davongekommen, dachte Jette erleichtert.
Über die Schulter sagte er: »Den Schaden ziehe ich dir vom Gehalt ab. Und übrigens wollte ich dir ein Angebot machen. Aber nun muss ich noch einmal darüber nachdenken.«
Spät in der Nacht saßen Jette und Marie zusammen in der leeren Küche auf dem spiegelblanken Fußboden bei einer Tasse Kaffee mit viel Zucker. Sämtliche Mitarbeiter waren heimgegangen, sogar die Lehrlinge im ersten Jahr, die bis zuletzt Pfannen, Töpfe, Arbeitsflächen, Kochplatten und Öfen geputzt hatten.
»Ein Angebot?«, hakte Marie nach und lehnte ihren Rücken so bequem wie möglich gegen einen der riesigen Kühlschränke. »Von unserem Chef? Ist es das, was ich denke?«
Marie stammte aus einem kleinen Ort in der Nähe von Magdeburg und hatte sich anfangs in München genauso fremd gefühlt wie Jette. Schnell waren sie Freundinnen geworden, und Marie machte es ihr leicht, weil sie niemals neidisch war. Vom ersten Tag an hatte sie Jette klargemacht, dass sie selbst vielleicht einen ganz guten Potager abgab, das war in einer großen Küche der für die Suppen zuständige Koch. Niemals jedoch würde sie Jettes Kunst und Können erlangen. Aber das sei auch in Ordnung, sie strebe gar nicht nach Höherem. Ein Job im »La Luna« sei schon hundertmal mehr, als sie sich jemals erhofft hatte.
»Ich weiß nicht«, gab Jette jetzt zurück, obwohl sie es in Wahrheit doch wusste.
»Pasquale bietet dir die Partnerschaft an«, sagte Marie mit fester Stimme. »Er hat doch schon mal davon geredet, weißt du nicht mehr? Vor drei Monaten auf der Weihnachtsfeier.«
»Da hatte er zu viel Prosecco getrunken.«
»Nö. Der war ziemlich nüchtern, als er sagte, er wolle in Zukunft mehr sein Leben genießen und deshalb einen Partner ins Geschäft aufnehmen. Dabei hat er zuerst die neue Kellnerin mit dem Doppel-D-Körbchen angestarrt und dann dich. Die Rollenverteilung war klar.« Marie kicherte.
Jette rührte umständlich ihren Kaffee um.
»Nach der Sache mit dem Thunfisch überlegt er es sich bestimmt noch einmal anders.«
Sie war sich nicht sicher, was sie sich wünschen sollte. Wenn ihr Chef sie wirklich auswählte, dann würde sie für diese Partnerschaft nicht nur ihre gesamten Ersparnisse plus einen Zuschuss von ihren Eltern benötigen. Sie wusste auch, Pasquale würde erwarten, dass sie einen zweiten Michelin-Stern für das »La Luna« erkochte. Und das würde ein ungeheuer großes Stück Arbeit werden. Von einer Sterneköchin wurde erwartet, dass sie einzigartige Gerichte servierte, dass sie die Kunst beherrschte, verschiedenste Geschmacksrichtungen harmonisch in Einklang zu bringen, und immer wieder kreativ war. Und noch so einiges mehr. Vor allem durfte sie niemals nachlassen, sondern musste sich jeden Tag aufs Neue der Herausforderung stellen. Wenn sie jetzt schon an die sechzig Stunden pro Woche arbeitete, würden es in Zukunft achtzig werden.
Mindestens.
Für ein Privatleben hätte sie dann keine Zeit mehr, und natürlich auch für keine Partnerschaft.
Jette zuckte zusammen. Sie dachte an Robert und an das, was er vor ein paar Stunden zu ihr gesagt hatte. Über seine Versetzung, über einen gemeinsamen Umzug. Robert ging wie selbstverständlich davon aus, dass Jette mit ihm nach Monaco ziehen würde. Wieso eigentlich?, fragte sie sich. War seine Karriere wichtiger als ihre?
»So ’n Shiet!«, stieß sie aus.
»Was ist denn los?«, fragte Marie.
»Ich brauche was Stärkeres als Kaffee.«
Ihre Kollegin grinste. »Deine komische Küstenwolke haben wir hier aber nicht.«
»Nebel, nicht Wolke.«
»Den auch nicht.«
»Ein Obstler tut’s auch.«
»In Ordnung.« Marie rappelte sich hoch, öffnete den Kühlschrank in ihrem Rücken und holte eine Flasche Birnengeist heraus. Dann schnappte sie sich zwei Gläser, goss ein und ließ sich von Robert und Monaco erzählen.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie, als Jette geendet hatte.
»Ich habe keine Ahnung.«
Der tiefe Klang eines Schiffshorns dröhnte über das Meer. Jette stand auf einer Braundüne am Nordstrand von Spiekeroog und beobachtete den großen Pott, der in Richtung Cuxhaven zur Elbmündung fuhr. Dort würde er dann den breiten Strom bis nach Hamburg durchpflügen, wo er seine Last abwerfen und neue aufnehmen würde. Der Riese war über und über mit Containern beladen, die von Jettes Aussichtspunkt aus wie bunte Legosteine wirkten. Oma Tilde hatte ihr erzählt, was sie von den alten Einheimischen aus der goldenen Zeit vor der Container-Schifffahrt erfahren hatte. Als die Pötte ihre Ladung noch im Frachtraum gestapelt hatten und als die Insulaner nur darauf warteten, dass ein dicker Sturm aufzog, der so manches Frachtschiff an ihr Ufer spülte. Das waren Freudenfeste gewesen, wenn sie Kisten voller Whisky, kostbares Tuch oder sogar Goldmünzen erbeutet hatten!
Manch ein Schiff blieb auch bei Ebbe im Wattenmeer liegen, weil die Kapitäne aus aller Welt nicht immer gut über die Gezeiten informiert waren. Dann wurde es jedoch schwieriger, Beute zu machen, denn die Mannschaften gaben ihre Fracht nicht kampflos her, und so mancher Mann von Spiekeroog überlebte einen solchen Raubzug nicht. Jette hatte dann wissen wollen, ob ihr toter Opa ein Pirat gewesen war, aber da hatte Oma Tilde immer aufgehört zu erzählen und sich schniefend über die Augen gewischt. Erst als sie schon erwachsen gewesen war, hatte Jette erfahren, dass Hinnerk Eriksen auf seinem Krabbenkutter einen Herzinfarkt erlitten hatte.
Er war nur fünfunddreißig Jahre alt geworden.
Wieder dröhnte das Schiffshorn laut durch die kleine Schwabinger Wohnung.
»Stell endlich die blöde Tröte ab«, schimpfte Robert im Halbschlaf.
Jette fuhr hoch. Okay, sie musste dringend einen anderen Weckton auf dem Smartphone einstellen.
Sie stand auf und verschwand aus dem Schlafzimmer.
Eine halbe Stunde später weckte sie Robert mit einem sanften Kuss.
»Die Rosinenbrötchen sind gleich fertig.«
»Hm«, brummte er nur. Aber schließlich wälzte er sich aus dem Bett und erschien kurz darauf frisch geduscht und topfit in der Küche. Kein Wunder. Er hatte ja auch seine acht Stunden Schlaf bekommen.
Jette hingegen fühlte sich wie gerädert, und vorhin im Spiegel hatte sie tiefe dunkle Ränder unter ihren Augen entdeckt.
Still saß sie mit ihrem Freund am Küchentisch und knabberte lustlos an einem halben Brötchen.
»Was ist los mit dir?«, fragte er gut gelaunt. »Träumst du mal wieder?« Er zog sie gern damit auf, dass sie von Zeit zu Zeit gar nicht richtig da war und gedankenverloren in die Ferne schaute. Heute hatte sie nicht mal ein müdes Lächeln dafür übrig.
»Nein. Ich schlafe noch.«
Sofort war er eingeschnappt. »Niemand zwingt dich, so früh aufzustehen.«
Jette presste die Lippen aufeinander. Jetzt ein falsches Wort, und es würde Streit geben. Dabei war es wichtig, dass sie friedlich miteinander redeten. Ihre Beziehung, das spürte sie, war an einem Scheideweg angekommen. Daher trank sie nur von ihrem Kaffee und wartete ab.
Robert hielt das Schweigen nicht lange aus.
»Also, in zwei Wochen geht’s los.«
»So bald schon?«, fragte Jette erschrocken. Sie hatte geglaubt, noch alle Zeit der Welt zu haben, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ein solcher Transfer eines Mitarbeiters musste doch von langer Hand vorbereitet werden, oder?
Ihr kam ein Verdacht. »Wie lange weißt du es schon?«
Robert wich ihrem Blick aus. »Seit Anfang Februar.«
»Und mir sagst du es erst jetzt? Wir haben fast Ende April. Warum? Willst du mich auf den letzten Drücker vor vollendete Tatsachen stellen, damit ich keine Chance habe, irgendwie zu reagieren?«
Sein Gesichtsausdruck war ihr Antwort genug. Das schlechte Gewissen konnte er nicht verbergen.
Jette zwang sich, ein paarmal ruhig durchzuatmen.
»Wie stellst du dir das vor?«, fragte sie dann ruhig. »Ich habe eine Kündigungsfrist einzuhalten. Und ich kann Pasquale nicht so plötzlich im Stich lassen.«
Robert schwieg.
»Vor allem, weil er mir vielleicht ein Angebot machen will. Also, das wollte er jedenfalls gestern Abend tun. Dann habe ich ein Thunfischfilet zerstochen, und da war er erst mal sauer und hat gesagt, er zieht mir den Schaden vom Gehalt ab. Aber …«
Sie bemerkte, dass sie hektisch plapperte, und verstummte schlagartig.
Robert sagte immer noch nichts. Saß nur da und pickte die Rosinen aus seinem Brötchen. Sorgsam legte er sie an den Tellerrand, richtete sie in Reih und Glied auf, als seien sie Teil einer alten Rechentafel.
Jette schaute ihn ratlos an, Zeit verstrich. Und dann sickerte die Wahrheit in ihr Innerstes, langsam aber unaufhaltsam wie das Meer, wenn es mit der Flut ins Watt zurückkehrte und zuerst die Vertiefungen im Schlamm ausfüllte, bevor es einen ganzen Landstrich in Besitz nahm.
»Du willst gar nicht, dass ich mitkomme«, sagte sie tonlos.
Robert blickte hoch, und sie erschrak. Er schien glatt durch sie hindurchzusehen. Jette erinnerte sich daran, was ihre Oma ihr vor vielen Jahren mit auf den Weg gegeben hatte: »Verlieb dich nur in einen Mann, der dich wirklich sieht. Sein Blick muss bis in dein Herz reichen und nicht an deinem hübschen Gesicht haltmachen.«
Damals hatte sie das lächerlich gefunden. Vor allem, weil sie sich selbst nicht für hübsch hielt. Es war bloß das Gewäsch einer alten Frau. Doch heute begriff sie. Robert hatte sie niemals wirklich »gesehen.« Vielleicht hatte er sich ganz zu Anfang darum bemüht, aber bis zu ihrem Herzen war er niemals vorgedrungen.
»Es tut mir leid«, sagte er lahm. »Ich halte es für besser, wenn ich zunächst allein zurechtkomme.«
Das war eine Lüge, und sie wussten es beide. Robert war nicht der Mann, der allein leben konnte. Er brauchte eine Partnerin, die für Ordnung in seinem Alltag sorgte.
»Wie heißt sie?«, fragte Jette nur, während ihr innerlich so kalt wurde, dass sie zitterte.
»Wer?«
»Sei wenigstens ehrlich!«
Robert gab nach. »Sandra ist eine junge Kollegin von mir. Wir werden gemeinsam nach Monaco versetzt. Aber es ist nicht so, wie du denkst. Wir haben ein rein berufliches Verhältnis.«
»Ja«, erwiderte Jette bitter. »Noch. Das wird sich bestimmt bald ändern.«
Neues Land, neuer Job, neue Liebe.
Eines musste sie Robert lassen: Er flüchtete nicht kopflos, er handelte nach einem Masterplan.
»Ach, Jette, mit uns läuft es doch schon lange nicht mehr gut.«
»Das weiß ich selber!«, schrie sie, zornig auf einmal. »Aber ich habe mich bemüht!«
»Ich auch«, erwiderte er leise.
Dummerweise konnte sie dagegen nichts sagen. Ihre Wut verpuffte. Auch das Zittern ließ nach. Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber und dachten darüber nach, dass sie auch gute Zeiten erlebt hatten, lustige Zeiten, innige Zeiten. Jette beschloss, nicht länger böse zu sein. Sie wollte die gute Erinnerung bewahren und dann nach vorn schauen. Ein Teil von ihr war sogar ein wenig erleichtert. Es war schon seit langem mühsam gewesen mit Robert, mit einer Liebe, die keine mehr war.
Dann kam ihr ein Gedanke. »Aber am Telefon hast du gestern gesagt, wir müssen den Umzug besprechen. Deshalb dachte ich, dass ich mitkommen soll.«
»Na ja«, Robert räusperte sich umständlich, bevor er fortfuhr. »Wie du weißt, gehört dieses Haus meinem Onkel.«
»Ja. Und?«
»Er will renovieren und Luxusapartments aus den Wohnungen machen.«
Es dauerte ziemlich lange, bis Jette verstand. »Soll das heißen, alle Mieter müssen raus?«
Robert nickte nur.
»Und seit wann weißt du das?«
»Erst seit kurzem, das schwöre ich dir. Er hat den Plan so lange geheim gehalten, damit niemand Zeit hat, groß dagegen zu protestieren.«
Sie glaubte ihm, es half bloß nichts. Ihr war, als ob sie den Boden unter den Füßen verlieren würde.
Vor etwas mehr als einem Jahr waren sie als Paar hier eingezogen, nachdem sie ewig nach einer bezahlbaren Bleibe in München gesucht hatten. Natürlich waren sie nur durch Roberts Beziehungen an diese Wohnung gekommen, aber Jette hätte nie gedacht, dass sich dies noch einmal rächen würde. Sie hatte Roberts Onkel Werner nur einmal getroffen. Er war schon vor dreißig Jahren nach München gezogen und hatte mit Immobilien ein Vermögen verdient. Offenbar hatte er noch nicht genug.
Sie wollte wieder wütend werden, fand aber nicht die Kraft dazu. Eine bleierne Müdigkeit ergriff sie.
»Aber wo soll ich denn hin?«, fragte sie und hasste sich dafür, dass ihre Stimme so hilflos klang.
Ein Hauch von Mitleid blitzte in Roberts Augen auf. »Du kannst bestimmt bei deiner Freundin unterkommen, bis du was Eigenes gefunden hast.«
Sie lachte bitter auf. Marie wohnte in einer WG mit fünf anderen Leuten. Ihr Zimmer war ungefähr halb so groß wie die Abstellkammer in der Villa von Jettes Eltern in Blankenese.
»Und bis dahin kannst du deine Sachen bei mir unterstellen«, fügte Robert schnell hinzu. »Ich habe einen Lagerraum gemietet, weil ich nicht gleich alles mitnehmen kann. Der ist groß genug für all unser Zeug.«
Sie starrte ihn an. »Ich will nicht, dass mein Bett und dein Sofa zusammenwohnen, wenn wir es nicht mehr tun.«
»Jette, was redest du da? Bist du irre?«
Vielleicht, dachte sie. Vielleicht drehe ich jetzt wirklich durch.
Sie stand auf. »Ich muss Schlaf nachholen.«
Ohne ein weiteres Wort wollte sie die Küche verlassen, aber Robert war mit zwei Sätzen bei ihr und schloss sie in seine Arme.
Einen kostbaren Augenblick lang ließ sie sich fallen. So hatten sie sich immer versöhnt, wenn es mal Probleme gegeben hatte. Nicht mit vielen Worten, mit einer Flasche Wein oder etwa Sex, sondern mit einer festen, stillen Umarmung, die manchmal nur ein paar Sekunden dauerte, manchmal über Minuten kein Ende fand.
Jette schlang ihre Arme um ihn und legte den Kopf an seine Schulter. Es fühlte sich gut an. Sicher.
Erst nach einer Weile bemerkte sie dieses leise Gefühl der Fremdheit. Es hatte sich während des Gesprächs eingeschlichen und ließ sich von der körperlichen Nähe nicht mehr vertreiben.
»Alles gut«, sagte sie und löste sich von ihm. So traurig war sie auf einmal, dass sie zum ersten Mal nach langer Zeit brennendes Heimweh nach Spiekeroog empfand. Nach Oma Tilde, nach dem kleinen Inselladen und der Wohnung darüber.
»Wirklich?«, fragte Robert. Unauffällig linste er zu seiner Armbanduhr, aber sie sah es doch.
»Lass man. Du musst los.«
»Etwas Zeit habe ich noch. Ich könnte bleiben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich lege mich noch ein wenig hin.«
»Okay. Dann – bis morgen früh.«
Jette ließ sich im Schlafzimmer aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Sie hörte, wie Robert das Geschirr abräumte. Das tat er sonst nie. Dann bemerkte sie, dass er auf Zehenspitzen hereinkam, um nach ihr zu sehen. Schnell schloss sie die Lider. Kaum war er wieder weg, nahm sie die Betrachtung der Zimmerdecke wieder auf. Die Wohnungstür fiel ins Schloss.
Sie war allein. Was mache ich jetzt bloß?, fragte sie sich. Was zum Teufel soll ich tun?
Sie verbrachte den halben Tag in einer Art Dämmerzustand. Mal schlief sie für ein paar Minuten ein, dann schreckte sie wieder hoch. Als sie sich am späten Nachmittag auf dem Weg zum »La Luna« machte, war sie mit ihren Überlegungen noch keinen Schritt weitergekommen.
»Was ist passiert?«, fragte Marie sofort.
Aber Jette hatte keine Zeit, ihrer Freundin etwas zu erklären. Sie war spät dran, und in der Küche ging es bereits hektisch zu.
Etwas später knetete sie langsam einen Brotteig. Daneben lagen in einer großen Edelstahlschüssel vier sardische Lammrücken in einer Marinade aus Olivenöl, Rosmarinzweigen und Oregano. Lammrücken im Brotmantel war eine der Spezialitäten des Restaurants. Der Teig durfte nur per Hand geknetet werden. Pasquale lehnte Küchenmaschinen grundsätzlich ab. Manche seiner Köche spotteten, sie konnten froh sein, dass sie moderne Kochplatten und Öfen benutzen durften. Wenn es nach dem Chef gegangen wäre, hätten sie die Gerichte über dem offenen Feuer gegart.
Wenn Pasquale so etwas zu Ohren kam, gab’s ein Donnerwetter – und gern auch mal eine fristlose Entlassung. Auch deshalb herrschte in der Küche chronischer Personalmangel.
»Er beobachtet dich die ganze Zeit«, raunte Marie, als sie einmal mit einem großen Suppentopf in den Händen vorbeikam.
»Ich weiß«, flüsterte Jette. »Das macht mich ganz verrückt.«
Marie wagte es, ein paar Sekunden stehen zu bleiben. »Ich wette, der will dich als Partnerin, weil du so gut mit Leuten umgehen kannst. Wenn er hier nämlich weiterhin allein herrscht, hat er bald keine Köche mehr.«
Sie huschte weiter, als Pasquale auf sie aufmerksam wurde.
Dann näherte er sich Jette. Ihr taten inzwischen die Finger weh, aber sie konnte nicht aufhören, den Teig zu kneten. Wenigstens hatte sie so etwas zu tun.
»Ich hatte gehofft, du würdest heute etwas früher kommen.«
»Tut mir leid«, gab sie automatisch zurück. »War nicht möglich. Außerdem ist Dienstag. Ich dachte, wir wären nicht voll ausgebucht.«
»Nun, das sind wir aber. Und ich hätte mit dir sprechen wollen.«
»Tut mir leid«, sagte sie wieder, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Pasquale stieß eine Art Knurren aus. »Dann morgen«, sagte er noch und entfernte sich wieder.
Jette ließ endlich den Brotteig in Frieden, wendete die Lammrücken und bepinselte sie mit der Marinade.
Als ihr Smartphone klingelte, glaubte sie schon, Robert wollte ihr eine neue Hiobsbotschaft überbringen.
Aber zu ihrer Überraschung erkannte sie auf dem Display den Namen ihrer Mutter.
Das war höchst ungewöhnlich. Martha von Straten rief nie von sich aus an. Sie vertrat die Ansicht, ihre Tochter habe sich bei ihr zu melden.
Sie war nicht lieblos und bemühte sich durchaus um ein gutes Verhältnis. Aber sie hatte so ihre Prinzipien.
Plötzlich wurde Jette von einem Schwindel erfasst. Schnell nahm sie das Gespräch an und lehnte sich Halt suchend gegen die Arbeitsfläche.
»Ist was mit Papa?«, fragte sie statt einer Begrüßung.
Ihren Vater Hajo liebte Jette heiß und innig. Obwohl er der vornehmen Hamburger Bankiersfamilie entstammte, in die Martha nur eingeheiratet hatte, war er viel weniger versnobt als sie und besaß ein großes Herz.
»Sag schon, Mama!«
»Was redest du da, Kind? Deinem Vater geht es gut. Der strotzt nur so vor Gesundheit.« Aus ihrem Mund klang es, als wäre sie nicht glücklich darüber.
»Also, hör zu, Jette. Ich rufe wegen deiner Großmutter Tilde an. Sie hatte einen Unfall.«
»Einen Unfall?«, fragte Jette zurück. Sie hörte selbst, wie ihre Stimme kreischte, konnte aber nichts daran ändern. »Was ist passiert?«
Ihre Kollegen hielten in der Arbeit inne und sahen zu ihr herüber. Marie ließ ihre Suppentöpfe stehen und kam auf sie zu.