Der Kneipenpastor - Titus Schlagowsky - E-Book + Hörbuch

Der Kneipenpastor E-Book und Hörbuch

Titus Schlagowsky

5,0

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Beschreibung

Mit Gott in der Stammkneipe "Wenn du mich heute hinter der Theke siehst, wirst du nicht glauben, was ich alles erlebt habe. Ich bin in der DDR aufgewachsen - das war kein einfaches Leben. Schließlich hatte ich Erfolg, aber dabei habe ich viele Menschen verletzt und betrogen. Dann bin ich im Knast gelandet - mein absoluter Tiefpunkt! Ich dachte, meine Schuld wäre zu groß, um vergeben zu werden, doch eine Begegnung mit Gott hat alles verändert. Heute predige ich nicht nur von der Kanzel, sondern erzähle auch meinen Kneipengästen von Gottes Liebe. Eines sage ich dir: Egal, wie schwer dich dein eigenes Versagen niederdrückt, Gottes Hand kann dich überall herausretten. Seine Vergebung gilt immer. Doch bis ich das selbst erkannt hatte, war es ein langer Weg…"

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Seitenzahl: 312

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Zeit:6 Std. 6 min

Sprecher:Jan Primke
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TITUS SCHLAGOWSKY

HAUKE BURGARTH

DER

KNEIPENPASTOR

Wie Gott mein Versagen gebrauchte,um Herzen zu verändern

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

In diesem Buch erzähle ich meine Geschichte, so wie sie sich tatsächlich zugetragen hat. Natürlich geschieht das aus meiner persönlichen Perspektive und muss nicht unbedingt die Ansichten, Erinnerungen und Empfindungen Dritter widerspiegeln. Aus Gründen der Sicherheit und des Persönlichkeitsschutzes wurden deshalb einige Namen und Details geändert.

ISBN 978-3-7751-7536-4 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6055-1 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2021 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Autorenfotos: © Ralf Völzke, © Claudia Dewald

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de

Coverfoto: © 2021 Tom Pingel Fotografie www.tompingel.de

Bildteil: © Titus Schlagowski

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Ich widme dieses Buch meinem Herrn Jesus Christus. Ihm, meiner Familie und den Menschen, die mich trotz Knast und Betrug bis hin zu Mord nicht verurteilt haben.

INHALT

Über die Autoren

Prolog

Klosterkindheit

Einstecken und Zurückschlagen

Alles Stasi, oder was?

Ausgelernt und eingearbeitet

Die große Reise

Beinahe geflohen

Als Ossi im Westen

Von Anfang an Beschiss

Zwischen Größenwahn und Mord

Ich will hier raus

Eine neue Familie

Im Visier der Fahnder

Hinter Gittern

Völlig am Ende

Frei im Knast

Verlegt

Die Sache mit den Unterhosen

Der Zaun wird niedriger

Nächstenliebe, die zu weit geht

Seelsorge ist dran

Diakonie heißt Dienen

Nein, es ist nicht alles gut

Danke

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

ÜBER DIE AUTOREN

TITUS SCHLAGOWSKY (Jg. 1969) ist Pastor und Wirt. Mit seiner Ehefrau lebt er in Nastätten. Dort betreiben die beiden eine Kneipe, in der Titus regelmäßig predigt. Nebenbei absolviert er ein Studium zum Gemeindediakon.

HAUKE BURGARTH (Jg. 1964) lebt in Pohlheim bei Gießen. Er arbeitet freiberuflich als Lektor und Journalist, ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

PROLOG

Samstagabend in Nastätten. Direkt neben dem Café »Schöne Aussicht« ist eine kleine Kneipe. Das Licht scheint gemütlich auf die Straße; von drinnen hört man Musik und Stimmengewirr. Der Laden ist voll. Beim Türöffnen kann man einzelne Stimmen unterscheiden:

»Null ouvert.«

»Na dann: Hosen runter.«

»Die Borussen werden …«

»Also mein Chef kann mich mal …«

Im Raum sind hauptsächlich die, die immer hier sind. Paul, Frank und Dieter kloppen ihren Skat, Sabine trinkt mit ihrem Freund ein Feierabendbier, am Stammtisch unterhält sich eine fröhliche Runde. Am Tresen sitzt Holger und fachsimpelt mit Titus, dem Wirt, über sein Motorrad. Als der auf die Uhr schaut, fragt Holger: »Biste morgen wieder dran?«

»Ja, klar. Wenn du noch in der Kiste liegst, fahr ich nach Scheuern und halte da Gottesdienst.«

»Das ist doch diese Klapse …«

»Ja, und die Leute da haben genauso ein Rad ab wie du und ich. Aber entschuldige mich mal eben. Ich geh kurz in den Keller und übe die Predigt.«

»Kannste doch auch hier machen …«

Titus grinst. »Natürlich. Hier. Mitten in der Kneipe. Ich glaub nicht, dass die anderen das hören wollen.«

Holger grinst zurück: »Wetten, dass?«

Er klingelt mit zwei Gläsern, bis auch die Letzten im Raum still geworden sind. Dann ruft er: »Leute, Titus muss seine Predigt für morgen noch mal üben. Ich hab ihm gesagt, dass er das hier machen kann. Dann haben wir sogar Live-Programm. Okay?«

Ein kurzes Zögern liegt im Raum. Dann werfen die Ersten ihre Karten vor sich, andere setzen sich zurecht. Weil Titus immer noch nicht anfängt, skandieren einige: »Predigt – Predigt – Predigt!«

»Alles klar«, meint Titus und lächelt, »aber dass mir hinterher keiner sagt, er wäre dazu gezwungen worden. Und einer von euch übernimmt den Bibeltext.« Holger nimmt die hochgehaltene Bibel und liest den entsprechenden Abschnitt laut vor, dann zieht Titus sein Konzept aus der Tasche und legt los.

Die Sprache ist einfach. Die Botschaft von Jesus und seiner Liebe kommt an. Und ein gutes Dutzend Kneipengäste hört gebannt zu. Tatsache ist, dass praktisch niemand von ihnen freiwillig eine Kirche betreten würde, aber das hier ist anders. Hier sind sie unter sich. Hier ist niemand, der meint, er wäre etwas Besseres. Schon gar nicht Titus. Denn Titus Schlagowsky hat seine eigene Geschichte. Der Schreiner aus dem Osten kommt zwar aus einer frommen Familie, doch auf der Kanzel steht er erst seit Kurzem. Und in der Kneipe ist er erst wieder aktiv geworden, als er aus dem Knast entlassen wurde.

Das ist seine Geschichte.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

KLOSTERKINDHEIT

»Aber wenn die Glocken läuten, bist du wieder zu Hause«, mahnte meine Mutter.

»Klar«, antwortete ich und spazierte ins Grüne. Ich konnte zwar die Uhr noch nicht lesen, aber ich hörte das Abendgeläut. Dann war es höchste Zeit, heimzugehen.

Ich wurde im Mai 1969 in Crimmitschau in Sachsen geboren und bin in einem Kloster aufgewachsen. Unsere Familie lebte in Frankenhausen, einem kleinen Vorort von Crimmitschau, der »Stadt mit den hundert Schornsteinen«. Wir hatten unsere Wohnung am Ortsrand in einem ehemaligen Kloster. Wer jetzt an eine prächtige Klosteranlage mit riesigen Gebäuden und wunderschönen Gärten denkt, der trifft die Sache nicht ganz. Die Anlage war zwar alt und ist auch heute noch eine Sehenswürdigkeit im Dorf, aber neben der Kirche und dem Priorhaus standen nur noch ein Stall und das heruntergekommene, aus Feldsteinen gemauerte Nonnenhaus. Dort wohnten wir. Es war ziemlich feucht – also nass.

Eigentlich bin ich aber nicht dort groß geworden, sondern auf den Wiesen und Feldern rundherum. Direkt hinter unserem Haus hörte der Ort auf, und in Sichtweite floss die Pleiße. In die andere Richtung ging es am Mühlgraben und seinen Bäumen entlang zum Hofteich – der war fast schon ein See. Das war mein Reich. Hier war ich unterwegs, sobald ich laufen konnte. Zwei Jahre nach mir kam meine Schwester Amri zur Welt, noch einmal zwei Jahre später mein Bruder André. Wir drei erfüllten unser Kinderzimmer mit Leben.

Hatte ich schon erwähnt, dass die Wohnung ziemlich feucht war? An manchen Herbsttagen konnte ich morgens beim Aufstehen meine Hand an die Tapete legen und sie war nass. Im Winter waren Eisblumen an der Fensterscheibe und die ganze Wand glitzerte gefroren. Mit gehörigem Abstand hört sich das vielleicht romantisch an, mich ließ es jedoch krank werden.

Erste Erinnerungen

So gehört es zu meinen frühesten Erinnerungen, dass ich verschickt werden sollte. Um meinen Husten loszuwerden, der gar nicht mehr aufhören wollte, bekam ich eine Lungenkur verordnet. Ziel war Graal-Müritz an der Ostsee. Dort wohnte auch ein Großvater von mir, und ich verbinde viele schöne Erinnerungen mit dem Ort, allerdings nicht mit diesem Kuraufenthalt. Denn den sollte ich vierhundert Kilometer von meinen Eltern entfernt verbringen, und ich war erst vier Jahre alt.

Mein Vater brachte mich im Auto hin. Er war liebevoll, aber in erster Linie preußisch-korrekt. Morgens um fünf stand er auf, um Viertel vor sechs ging er aus dem Haus. Pünktlich um halb vier war er zurück und erwartete einen gedeckten Kaffeetisch. Danach ging er seine Hasen füttern und in den Garten. Um sieben gab es Abendessen und um acht die Tagesschau – Westfernsehen konnten wir bei uns empfangen. Man sieht: So korrekt wie mein Vater war, linientreu war er nicht.

Über die Fahrt in die Kur weiß ich nur noch eins: Ich wollte auf keinen Fall weinen. Später meinte mein Vater einmal: »Wenn du irgendetwas gesagt hättest, Titus – ich wäre direkt mit dir umgekehrt.«

Ich sagte nichts. Ich litt. Und ich blieb, etwa zwölf lange Wochen. Als die Kur zu Ende war, wurde ich an der Ostsee mit vielen anderen in einen Bus nach Chemnitz gesetzt. Mindestens zwölf Stunden waren wir unterwegs. Ich werde diese Busfahrt nie vergessen, so lang war sie. Zweimal ging der Bus kaputt, aber irgendwann waren wir wieder in der Heimat, und als meine Eltern auftauchten, flossen die lang zurückgehaltenen Tränen.

Mein Vater arbeitete in einer unabhängigen Tankstelle – ja, so etwas gab es auch in der DDR. Er hatte zwar Maschinenbau studiert, doch sein Vater war Pfarrer und da blieben ihm die besseren Jobs verwehrt. Er konnte froh sein, wenigstens diese Arbeit zu haben. Meine Mutter war Schneiderin, blieb jedoch erst einmal bei uns Kindern zu Hause. Sie war diejenige, die daheim für den Glauben zuständig war. Sie sang mit uns, sie betete, und sie stellte uns Abend für Abend unter Gottes Segen.

Die Mitbewohner im Haus waren sehr nett. Ich erinnere mich vor allem an die Witwe des Kantors, die über uns wohnte. Ihr Wohnzimmer war unser zweites Zuhause und wir gingen dort ein und aus. Allerdings war ich auch als kleines Kind schon gern für mich allein, draußen in den Wiesen, zum Schmetterlinge-Jagen oder zum Träumen.

Einmal hatte ich mir in den Kopf gesetzt: »Ich besuch mal eben die Tante.« Die Gute wohnte allerdings in Thonhausen – und das war acht Kilometer entfernt. Für einen Fünfjährigen ist das schon eine gehörige Strecke, aber ich marschierte tapfer los. Ich lief und lief, durch die Felder ins benachbarte Gösau und kam schließlich mit schmerzenden Füßen in Heyersdorf an. Den Weg kannte ich, aber zu Fuß kam er mir endlos vor.

Am Ortseingang lag die Dorfkirche auf einem kleinen Hügel, dort machte ich eine Pause. Das Gefühl, das ich empfand, als ich fix und fertig von draußen in die kühle, etwas modrig riechende Kirche kam, um mich auszuruhen, begleitet mich bis heute. Es erzeugt eine Grundgeborgenheit bei mir. Anschließend nahm ich die zweite Hälfte meines Weges unter die Füße – und ich kam an. Das »Wo kommst du denn her?« meiner Tante ist mir immer noch im Ohr.

Natürlich hatten wir Nachbarkinder, und je älter meine Geschwister wurden, desto mehr habe ich auch mit ihnen gespielt, doch der Ausflug zu meiner Tante war schon typisch für mich: Ich war gern allein.

Unser »Klosterleben« war irgendwie sinnbildlich für unser Dasein als Familie. So richtig bewusst wurde mir das, als ich in unserer kleinen Dorfschule eingeschult wurde. Ich lebte in einer ziemlich heilen Welt und fühlte mich wohl, aber ich war anders als die anderen. Alle waren bei den Jungpionieren, der kommunistischen Kinderorganisation der DDR. Mutter erklärte jedoch bestimmt: »Titus, da gehst du nicht hin.« Ich wollte auch ein blaues Halstuch tragen und mit meinen Freunden zusammen sein, aber es war klar: »Auf keinen Fall. Wir identifizieren uns nicht mit diesem Staat.«

Im Laufe der Zeit bekam ich mit, dass meine normale Familie für DDR-Verhältnisse gar nicht so normal war: Der eine Opa (mütterlicherseits) war in der Kriegsgefangenschaft zum Glauben gekommen. Er war zwar extrem streng, aber er lebte seinen Glauben laut und herzlich. Der andere Opa war sogar Pfarrer. Er hatte mit dem bekannten Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer in Finsterwalde studiert. Und er war ein Freund des Bibelübersetzers Hans Bruns, der Taufpate meines Vaters wurde. All das war mir damals nicht bewusst. Ich merkte nur eines: Ich bin anders.

Lausbubenstreiche

Jetzt soll allerdings nicht der Eindruck entstehen, dass ich als Kind ständig allein war und voll mit religiösem Ballast aufgewachsen bin. Ganz und gar nicht. Schon bald war das Fahrrad mein ständiger Begleiter. Damit fuhr ich regelmäßig zu Henri, der so alt war wie ich und auf einem Aussiedlerhof wohnte. Seine Familie war zwar stark kommunistisch geprägt, aber wir kamen trotzdem prächtig miteinander aus. Wir spielten zusammen, fuhren Radrennen, bauten Baumhäuser und kämpften gegen eine andere Bande. Wenn die Jungs aus Gösau kamen, mussten wir unser Territorium verteidigen.

Problematisch wurde es nur, als wir beinah einen Waldbrand verursachten. Dabei hatte es ganz harmlos angefangen: Wir organisierten ein paar Würstchen und wollten sie ihrer Bestimmung zuführen. Bei uns hatte ein Grill allerdings keinen deutschen Nachnamen, und er war auch nicht kugelförmig. Also sammelten wir am Waldrand trockene Ästchen von einer Dornenhecke, zückten unsere Streichhölzer, und schnell knisterte ein kleines Feuer. Wir legten ein paar Äste nach und steckten die Würste auf Stöcke. Nun hätte es losgehen können, doch der Wind blies stärker als gedacht.

»Du«, sagte Henri, »das Feuer brennt ganz schön heftig.«

»Macht nichts, dann sind die Würstchen schneller gut«, meinte ich, nur um direkt danach zu schreien: »Mist, die Hecke brennt.«

Tatsächlich hatten wir das Feuer zu nah an den trockenen Dornbüschen gemacht, der Wind hatte die Flammen dorthin getrieben und ihre Zweige brannten wie Zunder. Erst dachten wir noch darüber nach, zu löschen – aber wie, ohne Wasser?

Wir bekamen richtig Schiss und rannten weg, direkt zu Henri nach Hause. Dort wollte ich mich auf mein Rad setzen und heimfahren, aber …

»Halt! Ihr Burschen bleibt hier«, rief Henris Großvater, der uns gesehen hatte. Unsere Hektik und der Rauch vom Waldrand her sprachen Bände. »Ihr wartet jetzt so lange, bis die Feuerwehr kommt.«

Gott sei Dank brannte nur der trockene Dornbusch ab, und das Feuer ging bald von selbst aus. Die Wiese und der Wald daneben waren wohl zu grün, um zu brennen. Mann, war ich erleichtert!

Aber nicht nur Feuer stand bei uns Jungs hoch im Kurs: Wasser war auch unser Element. Ganz in der Nähe gab es ein paar Karpfenteiche, die von einer Fischereigenossenschaft betrieben wurden. Das waren nicht solche eingerahmten Rechtecke direkt neben einer Straße, sondern ziemlich natürliche Teiche mitten in der Landschaft. Oft waren Henri und ich mit unseren Angeln dort. Angeln? Na ja, wir hatten uns einen Stock geschnitten, ein Stück dünnen Faden daran gebunden und uns aus einem kleinen Nägelchen selbst einen Haken gebogen. So ausgerüstet saßen wir regelmäßig am Ufer. Und genauso regelmäßig kam der Verwalter der Genossenschaft vorbei, nahm uns die mühsam gebogenen Haken ab und jagte uns zum Teufel. Das hinderte uns natürlich nicht daran, schon am nächsten Tag wieder unser Glück zu versuchen. Wir fingen nie auch nur einen einzigen Fisch, aber wir fühlten uns schon wie die Könige, wenn ein Karpfen nur in die Nähe unserer Angeln kam.

Einmal kamen wir wieder zu den Teichen, als unser »Freund« schon dort war. Er stand mittendrin mit seinen Stiefelhosen. Dort war ein gemauerter Kasten als Ablauf. Es war Freitagnachmittag, und er hatte den Schieber bereits gezogen, damit das Wasser abfließen konnte. Am nächsten Morgen sollte die Truppe der Fischereigenossenschaft anrücken und die Karpfen einsammeln, die dann fast auf dem Trockenen liegen würden.

Heute war es nichts mit Angeln, das war uns sofort klar. Doch kurz bevor wir den Rückweg antraten, rutschte der Mann in ein Schlammloch. Er kämpfte eine Weile, aber seine Füße waren wie festbetoniert. Als er uns sah, rief er: »Hilfe! Helft mir hier raus! Ich stecke fest. Los, Jungs, geht in den Ort und holt Hilfe!«

Henri und ich schauten uns an. Wir hörten seine eher wütenden als bittenden Rufe. Wir sahen, dass das Wasser ablief und er nicht in Gefahr war. Dann dachten wir an unzählige Angelhaken, die genau dieser Mann von uns einkassiert hatte, und machten uns gemütlich auf den Weg – aber nicht ins Dorf. Es war Freitagabend, es war Sommer und das Wetter war in Ordnung. Schon am nächsten Morgen würden die Helfer sowieso zum Abfischen zu den Karpfenteichen kommen und ihn entdecken.

Wir gingen mit einem Lächeln, und wir schliefen gut in dieser Nacht. Er sicherlich nicht. Der Verwalter verbrachte die Nacht tatsächlich in seinen Stiefeln stehend und wurde erst am nächsten Morgen gerettet – zu seinem Glück sind Sachsen Frühaufsteher! Der einzige Nachteil für Henri und mich war, dass wir nie wieder zu diesen Teichen gehen konnten.

Zwischen Kirche und Kneipe

Was ich in richtig guter Erinnerung habe, ist die Christenlehre. Einmal in der Woche kam dazu Herr Schober vorbei. Wir waren so fünf bis sieben Kinder aus Frankenhausen – all diejenigen mit frommen Eltern. Ich hatte den kürzesten Weg und musste nur einmal den Flur hinuntergehen, denn der kleine Versammlungsraum war bei uns im Kloster.

Herr Schober erzählte uns die ganzen Geschichten aus der Bibel: von Noah und der Arche, von David und Goliat, vom sinkenden Petrus und natürlich von Jesus. Auch wenn ich gern bei den Jungpionieren mitgemacht hätte, die Bibelgeschichten hätte ich nicht eintauschen wollen. Sie haben mich stark geprägt und eine Grundlage geschaffen, die selbst dann nicht ins Wanken kam, als ich für etliche Jahre meine eigenen Wege ging.

Doch das war damals noch nicht in Sicht. So wuchs ich behütet und friedlich in einer beinahe heilen Welt auf, zwischen Teichen und Feuerstellen, mal mit Freunden, mal allein.

Ab und zu gingen meine Eltern am Wochenende tanzen. Genau gegenüber dem Kloster lag ein Gasthof, in dem ein Tanztee veranstaltet wurde. Als Ältester war ich an diesen Abenden für die beiden Kleinen verantwortlich. Falls sie einmal aufwachten, schrien und sich nicht beruhigen ließen, war der Gasthof ja nicht weit entfernt. Ich kletterte dann schnell aus dem Fenster und lief in Schlappen und Schlafanzug über die Straße. Zur Erheiterung der anderen Gäste ging ich zu meinen Eltern und verkündete: »Ihr müsst mal heimkommen, Amri und André schreien …«

Irgendwie war wohl vorgezeichnet, dass Kirche und Kneipe bei mir ganz nah beieinanderliegen. Aber bis daraus eine enge Verbindung wurde, sollten noch etliche Jahre vergehen.

Mit drei Kindern war die Wohnung im Kloster ziemlich eng. Und weil sie auch noch nass war, suchten meine Eltern nach einer anderen Bleibe. Als wir etwas fanden, war ich zuerst begeistert. Ich wusste noch nicht, dass damit der schöne Teil meiner Kindheit vorbei sein sollte.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

EINSTECKEN UND ZURÜCKSCHLAGEN

»Ich schaff das! Das sind doch nur ein paar Steine. Und sie müssen ja bloß in den zweiten Stock.« Immer wieder sagte ich mir das. Die »paar Backsteine« wogen allerdings locker mehr als eine Tonne. Und ich buckelte sie mit meinen sechs Jahren allein die Treppe hinauf, damit wir den Schornstein im neuen Haus wieder aufmauern konnten. Ich musste das nicht tun, aber ich wollte es unbedingt, wollte ein Großer sein und Stärke zeigen. Als mein Vater an diesem Abend nach Hause kam, lagen alle Steine bereits oben. Ich lag auch. Im Bett. Alles tat mir weh, aber ich hatte meinem Vater unbedingt beweisen wollen, was ich konnte.

Endlich waren wir in unsere neue Wohnung gezogen. Hier waren die Wände nicht nass, aber es gab jede Menge Arbeit. Wir hatten das Haus von einer verstorbenen Tante geerbt. Hausbesitz war in der DDR allerdings nichts Erstrebenswertes: Der Zustand von Immobilien war in der Regel bescheiden und an Material zum Renovieren kam man genauso wenig heran wie an Handwerker. Zum Glück konnte mein Vater das meiste selbst erledigen und seine Arbeit an der Tankstelle machte sich jetzt bezahlt: Er kannte jeden und jeder kannte ihn – so bekamen wir durch Vitamin B vieles an Baumaterial, was wir sonst nie erhalten hätten.

Mit dem Umzug musste ich leider die Schule wechseln – und damit begann meine persönliche Katastrophe. Ich hatte keinen guten Start und es wurde im Laufe der Zeit nicht besser. Heute wird man als Neuer ja oft in die Klasse hineinbegleitet, vorgestellt und begrüßt. Ich musste von Anfang an allein klarkommen. Die ganzen anderen Zweitklässler kannten sich schon ein Jahr, Freundschaften und Cliquen standen bereits und niemand hatte auf mich gewartet. Daraus entwickelte sich in kürzester Zeit etwas, das man heute Mobbing nennen würde – damals fehlten mir die Worte dafür, aber es fühlte sich übel an.

Es ging damit los, dass ich schnell einen Spitznamen weghatte. Mein Kopf war nicht besonders klein, deshalb rief irgendwann ein Mitschüler: »Du hast ja einen Kopf wie eine Melone, Titus.« »Melone, Melone …«, sangen die anderen und machten sich immer wieder über mich lustig.

Doch damit nicht genug. Ich weiß nicht, wie oft es Milchanschläge auf mich gab. Was Osten und Westen zu dieser Zeit verband, war die Schulmilch. Bei uns war sie Teil der Schulspeisung, während es in der Bundesrepublik hieß: »Milch macht müde Männer munter.«

Jeden Tag vor dem Unterricht gingen zwei aus der Klasse, die gerade Milchdienst hatten, beim Hausmeister vorbei und holten die bestellten Milchflaschen ab. Für fünfzig Pfennige pro Woche gab es täglich eine Flasche Milch, Kakao oder Erdbeermilch. So stand bis zur ersten großen Pause auf fast jedem Tisch eine Glasflasche mit Zellophandeckel. Meine Milch trank ich regelmäßig aus und fast genauso regelmäßig fand ich eine weitere Flasche in meinem Ranzen – mit durchstochenem Deckel, kopfunter und ausgeleert. Es war jedes Mal eine Mordssauerei. Und ich schämte mich, weil ich schon wieder neue Hefte brauchte oder sie über der Heizung trocknen musste, wobei die ganze Umgebung nach Käse stank.

Meine lieben Klassenkameraden achteten allerdings peinlich genau darauf, die Milch immer nur ins vordere Fach meines Ranzens auszuleeren. Im hinteren befanden sich nämlich die Bücher, und wenn die etwas abbekommen hätten, wäre das Beschädigung von Staatseigentum gewesen. Ich weiß gar nicht, wie viel Geld ich in neue Schulhefte investiert habe. Jedes Mal, wenn ich in den Laden gegenüber der Schule kam, fragte die Verkäuferin: »Na, brauchst du wieder ein paar Hefte?«

Es sagt sich so leicht: Kinder können grausam sein. Aber es fühlt sich nicht gut an, wenn sie es sind. Und wenn man selbst das Opfer ist. Fast mein ganzer Schultag bestand aus Hänseleien, Prügeln, Milchattacken und so lustigen Streichen, wie in der Schultoilette aufs Pissoir gesetzt zu werden. Nein, die Schule machte mir keinen Spaß. Viele Jahre lang nicht.

Schulappell und fromme Lehrer

In der DDR an einer Schule zu sein, hieß durchaus, praxisorientierten Unterricht zu bekommen. Wir waren draußen in der Natur oder im Schulgarten, probierten Sauerampfer und sammelten Kartoffelkäfer. Wir rechneten und forschten. Aber wir mussten auch zu Schulappellen antreten. Die Sahnschule in Crimmitschau bot sich hierzu besonders an, denn hinter dem L-förmigen Gebäude war ein riesiger Platz.

Praktisch jeden Samstag bei gutem Wetter mussten wir uns dort als Schüler versammeln – und gutes Wetter bedeutete schon, dass es nicht schüttete. Vorne wurde ein Pult mit Mikrofon aufgebaut und der Direktor las irgendwelche Statuten der SED-Regierung vor. Dabei mussten wir klassenweise antreten und stillstehen. Jedenfalls die anderen, denn ich war ja nicht bei den Jungpionieren. Wie ein Aussätziger musste ich mit den wenigen anderen, die nicht in der kommunistischen Jugendarbeit organisiert waren, vorne neben dem Pult stehen. Wir fühlten uns wie Freiwild und waren verletzt – und genau das sollte diese Extrabehandlung erreichen, ebenso wie die seltsame Regelung, dass diejenigen, die nicht bei den Pionieren waren, nie aufs Klassenfoto durften. Es war ein Signal für mich: Offiziell gehöre ich gar nicht dazu.

Nun gab es an unserer Schule Lehrer, die waren geradeaus und in Ordnung, und andere, die waren einfach übel. Leider waren diejenigen, die sonntags bei uns in der Kirche im Chor sangen, nicht unbedingt die besseren Lehrer – im Gegenteil. Die Sahnschule hatte ihren Eingang auf der einen Seite. Beim Hineingehen war nicht nur Zeit, die Schulmilch abzuholen, sondern auch, um den Hausmeister zu begrüßen. Wenn die Schule zu Ende war, wurde die Ausgangstür auf der anderen Seite des Gebäudes geöffnet. Und wieder ging es am Hausmeister vorbei und an dem Lehrer, der gerade Schließdienst hatte. Man kann sich das etwa so vorstellen wie in der »Feuerzangenbowle«, dem Filmklassiker mit Heinz Rühmann.

Einmal – es war ein Samstag im Winter und ich hatte schon den Appell überlebt – ließ ich dummerweise meine Mütze am Haken vor dem Klassenzimmer hängen. Am Ausgang rannte ich los, um dem Trupp Klassenkameraden zu entkommen, die gern an der nächsten Ecke auf mich warteten, um mich zu verdreschen. Das passierte besonders samstags, denn da hatten wir keine Hausaufgaben auf und sie hatten Zeit. Ich sprintete also aus dem Schultor, wollte mir die Mütze aufsetzen und merkte, dass ich sie vergessen hatte. Schnell drehte ich mich um. Am Tor stand der Hausmeister neben Herrn Heiliger – der trug nicht nur einen frommen Namen, sondern war auch im Kirchenvorstand der Lutherkirche.

»Entschuldigung, ich habe meine Mütze vergessen. Ich müsste nur mal eben kurz …«, begann ich, doch Heiliger blaffte mich an: »Ist das vielleicht der Eingang?«

»Aber wie soll ich denn meine Mütze holen?«

»Stell dich gefälligst an die Eingangstür und warte, bis wir dir öffnen.«

Wie ein geprügelter Hund schlich ich mich ums Schulgebäude herum und wartete, bis der Letzte gegangen war und die beiden den Ausgang abgeschlossen hatten. Dann kamen sie zu mir, ließen mich noch einmal hinein und zeigten mir deutlich, was sie davon hielten, dass ich ihr wertvolles Wochenende verkürzte. Schnell fand ich meine Mütze, ging natürlich durch den Ausgang hinaus und verfluchte in Gedanken Heiliger, der sonntags immer besonders fromm lächelte und mich jetzt meinen Klassenkameraden ausgeliefert hatte. Die warteten natürlich schon auf mich und verpassten mir eine gehörige Abreibung.

»Dann wehr dich doch …«

Das Verprügeltwerden hörte einfach nicht auf. Nur ein einziges Mal ergriff jemand für mich Partei. Als ich schon am Boden lag, trat Manuela aus meiner Klasse vor mich und funkelte die Jungs an, die mich bearbeiteten: »Jetzt lasst ihn doch endlich mal in Ruhe.« Ich bewundere sie heute noch für ihren Mut.

Tatsächlich war es meine Mutter, die dann für Abhilfe sorgte. Ich war inzwischen in der siebten Klasse und sie seufzte nur noch, wenn ich wieder mit einem blauen Auge oder zerrissener Hose nach Hause kam. Jahrelang hatte sie gepredigt: »Denk daran, Titus, vielleicht hast du ja auch etwas gemacht, was sie geärgert hat. Außerdem hält man immer die andere Wange hin …« Doch eines Tages schaute sie mich an und sagte: »Weißt du was, mir reicht das jetzt. Du bist groß und kräftig – dann wehr dich doch einmal.«

Schon am nächsten Samstag war ich wieder auf der Flucht. Die Schule war vorbei, und die übliche Meute verfolgte mich auf dem Weg nach Hause. Ich rannte den Schulberg hinunter und sagte mir dabei: »Ich will nicht mehr wegrennen. Nie mehr.« Also feuerte ich meinen Ranzen den Berg hinunter und drehte mich um. Da waren sie schon. »Na, kannst du nicht mehr?«, ätzte einer von ihnen und kam auf mich zu. Er wusste die anderen hinter sich und fühlte sich stark. Außerdem hatte ich mich ja noch nie gewehrt.

»Lasst mich endlich in Ruhe«, schrie ich ihn an.

Er war etwas verunsichert, doch dann stichelte er weiter: »Und wenn nicht? Weinst du dann?«

In diesem Moment schlug ich zu. Einmal nur, aber das war genug. Er ging sofort zu Boden. Dann lief ich zum Nächsten. Auch er ging direkt in die Knie. Die anderen wollten nicht warten, bis sie an der Reihe waren. Diesmal rannten sie und nicht ich. Und dabei blieb es.

Ich weiß im Rückblick nicht, was ich hätte anders machen sollen. Aber was an jenem Tag mit mir passierte, war nicht gut für mich. Es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Zwar legte sich ab diesem Moment so schnell keiner mehr mit mir an, doch ich wurde richtig herzlos.

Feuerzangenbowlen-Flair in der DDR

Wie gesagt erinnert mich vieles an der Sahnschule an die »Feuerzangenbowle«. Wir hatten einige Originale als Lehrer. Da war zum Beispiel Herr Sander, ein Erzkommunist, gut zwei Meter groß und hager wie ein Laternenpfahl. Wenn es Winter war, machte er sich immer ein besonderes Vergnügen daraus, die Schneemänner der Grundschüler kaputt zu fahren. Der beste Platz zum Bauen war neben den Lehrerparkplätzen. Wenn Sander in der Nähe war, war das allerdings keine gute Idee. Er fuhr mit seinem Trabbi grundsätzlich jeden Schneemann platt. So lange, bis ein paar Zehntklässler eine Idee hatten.

Am Rand des Parkplatzes stand ein Hydrant für die Feuerwehr – und der ließ sich fantastisch mit Schnee verkleiden. Alle machten mit. Man sah praktisch keinen Unterschied zu einem normalen Schneemann. Auch Sander nicht. Mit seinem zynischen Lächeln und Vollgas fuhr er hinein, doch ein stählerner Hydrant ist stabiler als ein Auto aus Vollkunststoff. Durch die niedrigen Temperaturen splitterte das Plastik seines Trabants einfach weg. Er verlor nie ein Wort darüber, aber seitdem blieben die Schneemänner am Leben.

Bei genau diesem Sander hatte ich einmal ein Referat zu halten, Thema »Umwelt«. Dazu hatte ich kurz vorher einen Diavortrag in der Kirche gesehen. Ich fragte also den Referenten: »Kannst du mir deine Dias leihen? Ich weiß allerdings nicht, ob ich sie dir zurückgeben kann. Vielleicht werden sie mir abgenommen.« Ich bekam die Dias und mein Vortrag wurde richtig multimedial.

Auf Tonkassette hatte ich »Air« von Bach als Endlosschleife laufen und die Bilder zeigten die Landschaft um Crimmitschau, wie sie wirklich war: Schrebergärten, wo Abfall entsorgt wurde, die Mülldeponie auf dem Weg ins nahe Zwickau und die Pleiße in ihren vielen Farben. Durch die Textilindustrie war der Fluss montags blau, dienstags gelb und mittwochs grün. Nur übers Wochenende konnte sich das Wasser kurz erholen. All das zeigte und erzählte ich in meinem Referat. Jede Minute rechnete ich damit, dass das Licht angehen und Sander meine Rede beenden würde, systemkritisch genug war sie. Doch nichts passierte. Ich schloss mein Referat ab und der Lehrer ging an die Fenster. Dort ließ er ohne ein Wort eine Jalousie nach der anderen nach oben schießen – was natürlich streng verboten war. Dann schaute er mich durchdringend an und meinte: »Eins. Setzen.«

Es war fast typisch, dass gerade die Lehrer, die eigentlich gegen mich hätten sein müssen, es nicht waren. So wie Witzel, ein geradliniger Kommunist, der Staatsbürgerkunde unterrichtete. Wenn es bei uns im real existierenden Sozialismus mal wieder keine Butter gab, aß er eben Margarine. Wenn das Bier in der Flasche nur eine trübe Brühe war, dann trank er es trotzdem. Aber er konnte damit umgehen, dass ich in der Kirche war. Er akzeptierte sogar, dass ich immer wieder kritisch nachfragte und seinen Unterricht regelmäßig schmiss. Dieser Mann hatte das »Bonbon« an der Anzugjacke, also das Parteiabzeichen der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Doch als ich später die Schule mit einem mittelmäßigen Abschluss verließ, war er der Einzige, der mir eine Eins gab. Überall hatte ich Zweier, Dreier und Vierer, aber ausgerechnet in Staatsbürgerkunde eine Eins!

Käse aus dem Paradies

Auch wenn ich inzwischen nicht mehr verprügelt wurde, hatte ich doch kaum Freunde – außer einem, und der war besonders treu. Unser Hund Larry war eine Promenadenmischung mit Rückgrat. Wenn er wollte, war er den ganzen Nachmittag über an meiner Seite, und wenn nicht, dann sagte er kurz Tschüss und war weg. Heute denke ich manchmal, dass mich dieses Tier gerettet hat.

Immer noch zog es mich in die Einsamkeit, zum Beispiel in die Tongruben neben der Stadt. Sie waren längst stillgelegt, aber für mich waren sie ein wichtiger Rückzugsort. Oft radelte ich nach der Schule dorthin, stieg auf ein Floß, das ich mir aus ein paar Brettern und Balken selbst zusammengebaut hatte, und fuhr mit Larry über die vollgelaufene Tongrube auf »meine« Insel. Da war ich zu Hause. Im Sommer schwamm ich im See, im Winter schmolz ich mir Schnee im Topf, warf einen Brühwürfel hinein und aß meine selbst gekochte Suppe. Ich wusste, wann und wo die Himmelsschlüssel oder die Maiglöckchen blühten, und ich kannte die besten Pilzstellen. Die Gegend war mein Paradies – übrigens im wahrsten Sinn des Wortes, denn dort floss der Paradiesbach und die ganze Gegend drum herum hieß »Paradies«.

Einmal war ich dort wieder unterwegs, als es von der A4, die oberhalb des Waldes verlief und Polen mit dem Westen verband, einen gewaltigen Schlag tat. Kurz danach purzelten Pakete den Abhang herunter. Oben auf der Autobahn war ein Lkw umgekippt, der Käse in den Westen liefern sollte, doch daraus wurde nun nichts mehr.

Als ich sah, wie viel Käse im Wald verstreut lag, schnappte ich mir mein Fahrrad und fuhr schnell nach Hause. Dort holte ich den Fahrradanhänger aus dem Schuppen und ab ging’s zurück ins Paradies. Ich sammelte die Käseblöcke ein, packte sie auf den Hänger, bis er voll war, und versteckte sie in einer leeren Scheune. Kurz darauf brauste ich wieder los. Am Ende hatte ich ein paar hundert Kilo Käse auf die Seite gebracht. Oben auf der Autobahn waren die Sirenen von Polizeiwagen zu hören, doch niemand störte mich, denn das Gelände war ziemlich unzugänglich.

Als ich mit dem ersten vollen Fahrradhänger nach Hause kam, gab es große Diskussionen.

»Wo hast du denn den Käse her?«, fragte meine Mutter.

»Gefunden.«

»Gefunden? Einen ganzen Hänger voll Käse?«

»Ja.«

»Das gibt’s doch nicht. Den hast du bestimmt irgendwo weggenommen.«

»Nein. Ich hab ihn wirklich gefunden – und es gibt noch viel mehr davon.«

Irgendwann glaubte mir meine Mutter und sie war praktisch genug, die unverhoffte Lieferung anzunehmen.

Wenn wir in den nächsten Monaten von irgendetwas genug zur Verfügung hatten, dann war es Käse. Wir haben ihn verschenkt, eingetauscht und selbst gegessen. Die Aktion wurde sogar vertont. Zu meiner Konfirmation gab es ein Lied, in dem es hieß: »Titus mit dem Rade fand allerfeinste Käsquadrate«.

Spießrutenlauf zur Gemeinde

Während dieser Zeit besuchte ich in der Lutherkirche in Crimmitschau erst die Jungschar, dann den Konfirmandenunterricht und schließlich die Junge Gemeinde. Vieles davon fand im Turmzimmer der Kirche statt. Eine enge Spindeltreppe führte hinauf, aber oben war Platz für eine tolle Gruppe. Es gab sogar Tischtennisplatten – ich habe keine Ahnung, wie die dort hinaufgekommen waren.

Der Pastor und der Kantor, die uns unterrichteten, machten ihre Sache wirklich gut. Der Weg in die Kirche war jedoch sportlich – und zurück genauso, denn wenn wir uns treffen wollten, saßen unten auf dem Platz vor der Kirche immer »zufällig« ein paar junge Leute, die uns anhielten. Sie fragten: »Was hast du dabei?«, und nahmen uns unser Geld ab. Auch in die Scheiben der Kirche flogen regelmäßig Steine. Man hätte das anzeigen können, doch wen hätte es interessiert? Im Nachhinein denke ich, dass viele dieser Schikanen gewollt, gesteuert oder zumindest geduldet waren. Für mich bedeutete es Woche für Woche Spießrutenlaufen. Es war anstrengend, aber das war es mir wert.

Wir hatten als junge Leute eine gute Zeit miteinander, wir fuhren auf Freizeiten und Rüstzeiten und bekamen immer wieder Besuch von hochkarätigen Sprechern wie dem bekannten Evangelisten Theo Lehmann. Das geistliche Programm war richtig gut, aber auch sonst machten wir unsere Erfahrungen. Nach einem Treffen mit der Jungschar an Silvester war ich zum ersten Mal besoffen. Ich trank ein paar Bier und einige Gläser Wein – »Lindenblatt« stand auf dem Etikett. Ich war dreizehn oder vierzehn, und als ich mich nachts auf den Heimweg durch den Schnee machte, merkte ich schon, dass etwas anders war. Ich kämpfte mich nach Hause und bekam irgendwann meinen Schlüssel ins Schloss.

Im Treppenhaus verschwanden die Treppen immer wieder und kamen dann zurück und die Stufen waren viel steiler als sonst. Erst nahm ich Anlauf, dann krabbelte ich sicherheitshalber auf allen vieren weiter, doch irgendwann kam ich einfach nicht mehr voran. Es dauerte eine Weile, bis ich kapierte, dass ich gegen das Schienbein meines Vaters gestoßen war und es deshalb nicht weiterging.

»Das war’s dann wohl«, meinte er. »Mit solchen Aktionen kannst du warten, bis du achtzehn bist.«

In dem Moment musste ich kotzen. Mein Vater musterte mich und sagte: »Du weißt, was das heißt: Hausordnung.«

So putzte, bohnerte und polierte ich die Treppe bis in die frühen Morgenstunden. Mein erster Rausch hat definitiv keinen Spaß gemacht.

Eine Weile später befreundete ich mich im Urlaub mit einer Pastorentochter. Wir verstanden uns gut und schrieben uns fast täglich Briefe. Aber irgendwann sagte sie einfach: »Das passt nicht«, und trennte sich von mir.

Das war sicherlich nicht der entscheidende Grund, aber ich habe mich Stück für Stück von der Kirche entfernt. Ich dachte an die Enttäuschungen durch diverse Gemeindeglieder und Lehrer und schließlich meine Freundin. Ich wollte da raus. Ich wollte Abstand. Und den nahm ich mir.

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ALLES STASI, ODER WAS?

Meinen Glauben hatte ich zwar weitestgehend an den Nagel gehängt, aber mit meiner christlichen Vergangenheit war die Berufswahl in der DDR trotzdem eingeschränkter als für Normalsterbliche. Ein Studium und die »besseren« Berufe waren damals Parteimitgliedern vorbehalten oder denen, die wenigstens als linientreu galten. Viele Möglichkeiten blieben mir nach der Schule nicht, unterm Strich eigentlich nur eine: die Ausbildung zum Schreiner.

Es hätte schlimmer kommen können. Die Arbeit in meinem Betrieb war ganz okay. Und nun war ich unterwegs zum ersten Blockunterricht in der Berufsschule in Plauen. Weil die Schüler aus der ganzen Region kamen, waren wir in einem Internat untergebracht. Es lag ein bisschen außerhalb, ein Plattenbau vom Feinsten mit einem echten Portal.

»Wer bist du und wohin willst du?«, war die knappe Begrüßung an der Pforte. »Schlagowsky, Titus, ich lerne Schreiner …«

»Ach, einer von den Neuen. Dann mal hereinspaziert.«

Drinnen war es so ähnlich wie beim Militär: lange Gänge, kleine Stuben und ab und zu ein Bad mit Toilette für zwölf bis vierzehn Leute. Ich hatte Glück: Wir waren nur zu zweit im Zimmer. Volkmar Gutsche war in Ordnung. Er kam aus einer kleinen, privat geführten Gärtnerei in Werdau – also fast aus meiner Nachbarschaft – und war ein echter Headbanger. Musik musste für ihn hart und laut sein und er hatte sogar eine AWO, ein Viertakter-Moped mit 15 PS, das über hundert Sachen fuhr. Wir waren zwar nicht in allem auf einer Wellenlänge, aber vom Typ her – groß, blond, bullig, renitent – waren wir uns schon recht ähnlich.

Die Nacht im Internat war morgens um sechs zu Ende. Waschen, Schulsachen packen und Zimmer räumen stand an. Und wehe, die Bettlaken waren nicht akkurat glatt gezogen, dann war Hofdienst vorprogrammiert. Wir rückten zum Essen in den Speisesaal aus, wo es jeden Tag dasselbe gab: eine undefinierbare bräunliche Flüssigkeit, angeblich Kaffee, eine Scheibe Brot, Sternchenmargarine und Erdbeermarmelade aus dem Eimer, die so widerlich war, dass ich bis heute keine mehr essen kann.