von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 140
Taschenbuchseiten.
Die Kriminalkommissare Ortwin Tegeler und Ludwig Härtl sind
bei der Sondereinsatzgruppe der Bundespolizei in München
beschäftigt. Doch dann werden beide zu einem Einsatz nach Berlin
geschickt. Während Ludwig Härtl ganz offiziell dort als Ermittler
auftritt, bekommt Tegeler eine neue Identität, um verdeckt arbeiten
zu können. Der Mord an zwei Kriminalbeamten soll aufgeklärt werden,
die einer Gruppe auf der Spur waren, die sich ,Justice Warriors‘
nennen. Da der Verdacht naheliegt, dass auch Kriminalbeamte des BKA
involviert sind, ist äußerste Vorsicht geboten …
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jack Raymond, Jonas
Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber
und Janet Farell.
Copyright
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Alfred Bekker
© Roman by Author Alfred Bekker
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen
haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun.
Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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1
Industrielle Ödnis.
So konnte man das nennen.
Eine moderne Wüste.
Elmer Weber parkte den Wagen auf dem abgelegenen
Industriegelände am Rand von Berlin. Hier wurde schon lange nichts
mehr produziert. Alles tot und vergessen. Die Fabrikhallen standen
leer, ein paar Maschinen, die beim Konkurs des Unternehmens nicht
hatten verkauft werden können, rosteten vor sich hin.
Hier war der Aufschwung vorbei und die Rezession der
Dauerzustand.
Man konnte sich schwer vorstellen, dass es hier mal anders
gewesen war.
Dass dieser Platz ein Hort der Produktivität und
Geschäftigkeit gewesen war.
Das Bruttosozialprodukt wurde jetzt anderswo gesteigert.
Hier nicht mehr.
Und wahrscheinlich nie wieder...
Ratten und streunende Katzen verirrten sich vielleicht noch
hier her. Und Leute, die einen Ort für ein ungestörtes Treffen
suchte und dabei von niemandem beobachtet werden wollten.
Elmer Weber schlug den Kragen seines Mantels hoch. Die Hand
glitt in die Seitentasche. Dort schloss sie sich um den Griff einer
Automatik.
Vom naheliegenden See wehte ein eiskalter Wind herüber.
Weber erreichte den Seiteneingang der ersten Fabrikhalle. Das
Schloss war ausgebaut. Man konnte einfach hineingehen.
Sicherheit null.
Schrott brauchte man nicht zu bewachen, so konnte man
denken.
“Hallo, sind Sie da?”, fragte Weber.
Keine Antwort.
“Hallo?”
Weber erstarrte.
Der Mann, mit dem er sich hatte treffen wollen, lag in
eigenartig verrenkter Haltung auf dem Boden. In der Stirn klaffte
ein daumengroßes Einschussloch.
Er war ganz sicher tot.
2
Weber zog seine Waffe und sah sich um. Aber es war nirgends
jemand zu sehen. Kein Geräusch verriet, dass der Mörder noch in der
Nähe war.
Weber kniete neben der Leiche nieder.
Er sah genau hin.
Das aus der Schusswunde ausgetretene Blut war längst geronnen.
Ein dunkler Fleck hatte sich gebildet. Eine Blutlache war in den
Beton eingezogen.
Dann hörte er Schritte.
Weber blickte auf.
Er atmete tief durch.
Hinter einem der vor sich hin rostenden Maschinenblöcke war
eine Gestalt hervorgetreten.
Wie ein Schatten.
Unheimlich.
Der Mantel reichte bis zu den Knien. Der Kragen war
hochgestellt. In der Rechten hielt er eine Automatik mit
aufgeschraubtem Schalldämpfer. Die Mündung zeigte in Kopfhöhe auf
Weber.
„Sie?“, fragte Weber. Er wirkte konsterniert und vollkommen
überrascht.
„Jedenfalls können Sie nicht behaupten, Sie seien nicht
gewarnt worden“, sagte der Mann im Mantel.
“Hören Sie…”
“Nein.”
“Ich…”
Weber wusste, dass er zu lange gezögert hatte. Die eine
Schrecksekunde, in der ihm bewusst geworden war, wen er vor sich
hatte, fehlte ihm nun. Er versuchte es trotzdem, denn ihm war klar,
dass er gar keine andere Chance hatte.
Jetzt oder nie.
Noch eine Chance gab es nicht.
Weber riss die Dienstwaffe hoch und feuerte.
Er war blitzschnell.
Ein lauter Knall.
Aber der Mann im Mantel war schneller.
Und leise.
Seinen Schuss hörte man kaum. Das Geräusch klang wie ein
heftiges Niesen oder ein Schlag mit einer zusammengerollten
Zeitung.
Der Klang eines Schalldämpfers.
Webers Körper zuckte.
Er verrenkte sich unnatürlich.
Der erste Schuss hatte ihn am Oberkörper getroffen, ungefähr
Herzhöhe. Die Wucht des großkalibrigen Geschosses riss ihn zurück.
Weber trug eine Schutzweste unter der Kleidung. Sein eigener Schuss
wurde verrissen und ging irgendwo in eine der rostigen
Maschinen.
Der nächste Schuss traf Weber mitten in der Stirn und ließ ihn
rückwärts taumeln.
Er wankte, fiel aber nicht.
Noch nicht.
Ein dritter und vierter Schuss folgten - ebenfalls
Kopftreffer.
Ein Mann, der schon tot war, stand immer noch für eine Sekunde
auf zwei Beinen.
Aber länger konnte er sich nicht halten.
Die Lebenskraft war aus ihm gewichen.
Und die Schwerkraft forderte jetzt ihren Tribut.
Weber ging wie ein gefällter Baum zu Boden und blieb in
eigenartig verrenkter Haltung auf dem Betonboden liegen. Es wäre
unmöglich gewesen, jetzt noch sein Gesicht zu erkennen.
Der Mann im Mantel schraubte den Schalldämpfer ab und steckte
ihn in die Manteltasche. Die Waffe selbst legte er neben den Toten.
“Erledigt”, murmelte er.
Eine Stimme, so klirrend kalt wie der Tod und so schneidend
wie ein Teppichmesser.
Der Killer trug Latexhandschuhe. Weder Schmauch- noch
irgendwelche anderen Spuren würden sich an seinen Händen nachweisen
lassen.
Er drehte den Toten halb herum und begann damit, ihn
systematisch zu durchsuchen. Er schien keine Eile damit zu haben.
Dass hier draußen jemand den Schuss aus der Waffe des Toten gehört
hatte, war mehr als unwahrscheinlich. Und wenn doch, wird sich
niemand darüber wundern, dachte der Mann im Mantel. So weit ist es
schon mit unserer Stadt gekommen ...
Jemand muss für Ordnung sorgen, dachte der Mann im
Mantel.
Und wenn es niemand anderes tut?
Dann muss man es eben selbst in die Hand nehmen.
Was sonst?
3
Ich holte Ludwig an diesem Morgen (wie so oft) ab. Es war ein
Hundewetter. Feiner Nieselregen hatte München in eine Waschküche
verwandelt und wenn man dem Wetterbericht Glauben schenkte, dann
bestand auch keine Aussicht darauf, dass sich innerhalb der
nächsten Woche daran viel änderte.
Ein Hundewetter.
„Nicht mal ein Schirm hilft dagegen!“, meinte mein Kollege,
nachdem er sich zu mir in den Dienstwagen gesetzt hatte - oder
genauer gesagt, in einen silbernen und blauen Mercedes Benz. Ich
fuhr los.
„Wäre nett, wenn du dich mit deinen nassen Haaren jetzt nicht
schüttelst”, meinte ich.
„Sehr witzig! Selten so gelacht, Ortwin!”
„Ganz im Ernst: Ich hoffe wirklich, dass Herr Brackmeier
irgendeinen Job für uns hat, der nicht in München zu erledigen
ist!”
„Wie wäre es mit Sylt?”
“Sylt?”
“Ja.”
“Du machst Witze.
“Gehört doch auch zum bundesweiten Einsatzgebiet unserer
Sonderabteilung und soll es im Moment warm und sonnig sein.”
„Mit dem Glück, dass wir im Moment haben, schickt uns Herr
Brackmeier nach Rügen oder Rostock - und da regnet es im Moment
noch viel mehr als hier.”
“Kann auch sein.”
“Oder ins Ruhrgebiet.”
“Naja…”
Wir quälten uns durch den morgendlichen Verkehr in München und
erreichten schließlich das Hauptpräsidium, wo Ludwig und ich seit
unserer Beförderung unsere Büros hatten. Unser Weg führte zunächst
allerdings zum Büro unseres Chefs, Kriminalhauptkommissar
Brackmeier.
Ich sah kurz auf die Uhr an meinem Handgelenk. Wir waren sogar
etwas zu früh.
„Gehen Sie trotzdem schon mal rein”, begrüßte uns Dorothea
Schneidermann, die Sekretärin unseres Chefs.
Als wir das Büro von Kriminalhauptkommissar Brackmeier
betraten, war der gerade in ein Telefonat vertieft. Mit einer Geste
deutete er uns an, dass wir uns schon einmal setzen sollten.
Worum es genau in dem Telefonat ging, das der leitende
Kriminalhauptkommissar Brackmeier gerade führte, konnte ich mir aus
den Bruchstücken nicht zusammenreimen. Dazu waren
Kriminalhauptkommissars Brackmeiers Gesprächsanteile anscheinend zu
klein.
Als schließlich noch eine Person den Raum betrat, war mir
klar, dass irgendeine größere Sache auf Ludwig und mich wartete.
Bei dieser Person handelte es nämlich um den Leitenden
Kriminaldirektor Georg Sager. Möglicherweise ging es also um eine
Operation, die über den Bereich unserer eigenen Bereichs
hinausging.
Aber das organisierte Verbrechen scherte sich in der Regel ja
auch nicht um mehr oder weniger willkürlich gezogene
Zuständigkeitsgrenzen, sondern verfolgte in der Regel mit aller
Rücksichtslosigkeit seine eigenen Ziele.
Georg Sager nickte uns kurz zu, kratzte sich kurz an seinem
haarlosen, schwarzen Schädel und setzte sich dann ebenfalls.
„Guten Morgen”, sagte Kriminalhauptkommissar Brackmeier,
nachdem er das Gespräch beendet hatte. Er wandte sich an Sager.
„Ich habe soeben mit dem Leitenden Kriminaldirektor Heide
gesprochen”, erklärte er.
Ich nahm an, dass die Rede von Kriminaldirektor Max Heide, dem
Leiter des BKA, Abteilung SO 1 (Schwere und organisierte
Verbrechen) in Berlin, war. So lag der Fall wohl im
Zuständigkeitsbereich der BKA - und damit machte auch das
Erscheinen von Kriminaldirektor Georg Sager Sinn.
„Ich hoffe, Sie haben ihn nicht in unsere Pläne eingeweiht”,
sagte Sager lächelnd.
„Nur in den Teil, den er wissen muss”, erwiderte
Kriminalkommissar Brackmeier.
„Gut.”
„Sie können ganz beruhigt sein.” Kriminalhauptkommissar
Brackmeier deutete auf Ludwig und mich. „Meine
Kriminaloberkommissare Ludwig Härtl und Ortwin Tegeler brauche ich
Ihnen ja nicht vorzustellen.”
„Wir habe es mit einem schwierigen Fall zu tun, in dem wir
leider bisher nicht weitergekommen sind”, erklärte Sager ohne
Umschweife an Ludwig und mich gerichtet.
„Und das hat etwa mit Ihrem Zuständigkeitsbereich zu tun”,
schloss ich.
„Sie sagen es”, nickte Sager.
„In Berlin gibt es eine Serie ungeklärter Morde an
Kriminellen”, erklärte der leitende Kriminalhauptkommissar
Brackmeier. „Die Opfer passen nicht in die üblichen Schemata und
nach den bisherigen Ermittlungen ist es daher auch eher
unwahrscheinlich, dass es sich um Opfer der üblichen
Bandenkriminalität handelt. Stattdessen vermuteten die
Kriminaldirektor Sager und die Kollegen vom BKA eine Art
Todesschwadron, die Kriminelle, mutmaßliche Kriminelle, Personen,
bei denen man auf die Idee kommen könnte, dass die Justiz zu milde
mit ihnen war oder Leute, die immer dafür gesorgt haben, dass kein
Blut an ihren weißen Westen zu sehen ist und stattdessen andere die
Drecksarbeit für sich verrichten ließen, systematisch aus dem Weg
räumt.”
„Eine Todesschwadron?”, echote ich.
“Ganz genau.”
„Das heißt, es besteht die Vermutung, dass Angehörige der
Sicherheitskräfte darin verwickelt sind?”
“Ja.”
“Das klingt nicht gut.”
„Der Verdacht betrifft sowohl vom BKA als auch von der
Polizei”, ergänzte Sager. „Sie können sich denken, dass die
bisherigen Ermittlungen schwierig waren und auf viele Widerstände
gestoßen sind.”
„Ich will nicht hoffen, dass es Kollegen gibt, die so etwas
stillschweigend gutheißen und wegsehen”, meinte Ludwig.
“Das will ich auch nicht hoffen. Doch genau das scheint der
Fall zu sein”, erklärte Sager. „Vielleicht ist in dem einen oder
anderen Fall auch falsch verstandener Korpsgeist dabei.”
“Ja, dieser verfluchte Korpsgeist”, murmelte ich.
“Diese Probleme gibt es ja immer wieder. Jetzt hat sich die
Lage allerdings dramatisch zugespitzt.” Kriminaldirektor Sager
atmete tief durch, bevor er weitersprach. „Ich habe einen fähigen
Kriminalkommissar beauftragt. Sein Name war Elmer Weber. Und die
Tatsache, dass ich von ihm in der Vergangenheit spreche, deutet
schon an, was passiert ist: Er wurde erschossen, bevor er die
Hintergründe dieser Verbrechen aufklären konnte.”
„Kriminaldirektor Sager und ich sind uns einig darüber, dass
es keinen Sinn hat, jetzt einfach einen weiteren Kriminalkommissar
aus ihrem Bereich zur Aufklärung zu schicken”, ergänzte
Kriminalkommissar Brackmeier. „Der oder die Täter sind offenbar im
BKA gut vernetzt.”
„Davon müssen wir leider ausgehen”, nickte Sager. „So
betrüblich das ist.”
„Auf die Kollegen können wir uns also nicht unbedingt
verlassen, wie sich gezeigt hat.”
„Auf den Kriminaldirektor Max Heide können Sie sich absolut
verlassen, und ich bin ihm sehr dankbar für seine vorbehaltlose
Unterstützung in dieser Sache”, fügte Sager hinzu. „Aber ansonsten
wissen wir natürlich nicht, wer in Berlin falsch spielt und uns in
die Suppe spuckt.”
„Kurz gesagt, es muss jemand von außen den Fall übernehmen”,
schloss Herr Brackmeier.
„Das ruft nach einer verdeckten Ermittlung”, meinte ich.
„Genau das hat mir Polizeipräsident Hagen vorgeschlagen”,
erklärte Sager.
„Ich dachte mir, dass Sie, Ortwin, sich unter falscher
Identität nach Berlin begeben, dort als einfacher Kriminalkommissar
Dienst machen. Ihr Partner wird ein gewisser Frank Vogt sein. Der
steht auf der Liste derjenigen, die wir verdächtigen, zumindest
Mitwisser dieser Todesschwadron zu sein.”
„Ein Mann, der es mit den Regeln nicht so genau nimmt, wenn
Sie verstehen, was ich meine”, ergänzte Sager.
„Ja, das kann ich mir so ungefähr vorstellen.”
„Er hatte immer wieder Ärger deswegen, weil er über die
Stränge geschlagen hat, sich in kritischen Situationen nicht
beherrschen konnte, Gefangene misshandelte und so weiter. Das volle
Programm. Ehrlich gesagt, kann er froh sein, überhaupt noch dabei
zu sein.”
Ich hob die Augenbrauen. „Sie meinen, da hält jemand die Hand
über ihn?”
„Lesen Sie sich die Akten durch! Der Verdacht liegt nahe”,
stimmte Sager zu.
„Verstehe.”
„Abgesehen von Ihrem Kollegen Härtl ist Kriminaldirektor Heide
der einzige vor Ort, der in Ihre Mission eingeweiht ist”, erklärte
Sager. „Aber er wird sich davon nichts anmerken lassen und Sie
werden ihn auf dienstlicher Ebene auch weder kontaktieren, noch
über den Stand der Ermittlungen informieren. Kurz gesagt, Sie
unterlassen alles, was über den Rahmen Ihrer neuen Identität
hinausgeht.”
„In Ordnung”, sagte ich.
„Für Sie, Ludwig, habe ich eine andere Aufgabe”, erklärte
Kriminalhauptkommissar Brackmeier nun. „Sie werden offiziell als
ermittelnder Kriminalbeamter nach Berlin reisen.”
„Das heißt, ich bin Webers offizieller Nachfolger”, stellte
Ludwig fest.
Kriminalhauptkommissar Brackmeier nickte.
„Und als solcher denselben Gefahren ausgesetzt, sobald Sie
etwas herausgefunden haben, was jemandem dort unangenehm
ist.”
„Immerhin bin ich vorgewarnt.”
„Das war Weber auch”, sagte Sager. „Er war der fähigste Mann
meiner Abteilung und ganz bestimmt alles andere als ein
leichtsinniger Mann. Wir nehmen an, dass er irgendetwas
herausgefunden hat, was jemandem hätte gefährlich werden
können.”
„Jemanden, der mit dieser Todesschwadron zu tun hat”, schloss
Ludwig.
Sager nickte.
„Ja, das ist anzunehmen. Er wollte sich mit einem gewissen
Polizeioberkommissar Sven Hecker vom Berliner Polizeipräsidium
treffen. Hecker wollte darüber auspacken, was er über die
Todesschwadron wusste, aber dabei anonym bleiben, weil er
Repressalien fürchtete. So zumindest hat es Weber mir in unserem
letzten Telefonat berichtet.”
„Zu dem Treffen ist es nicht mehr gekommen?”, hackte ich
nach.
Sager wandte den Blick in meine Richtung.
„Das wissen wir nicht. Tatsache ist, dass Hecker und Weber
zusammen in einer einer alten Fabrikhalle am Rand von Berlin
erschossen aufgefunden wurden. Die Tatwaffe wurde vom Täter
zurückgelassen. Es handelt sich um eine Automatik, die in mehreren
Schießereien einer Drogen-Gang namens ‘The Crazy Ones’ verwendet
worden ist.”
„Haben die etwas mit dem Tod unserer Kollegen zu tun?”, fragte
ich.
„Entweder das - oder es sollte der Eindruck erweckt werden,
dass irgendein Gangster Weber und seinen Informanten auf dem
Gewissen hat.”
„Was ziemlich plump wäre”, meinte ich.
„Wir wissen nicht, wie nahe unserer Kollege Weber an der
Wahrheit wahr. Vielleicht hätte er durch das Gespräch mit Hecker
entscheidende Hinweise bekommen, und es war für die Gegenseite
einfach keine Zeit, um sorgfältig zu planen”, wandte Sager ein.
„Und davon abgesehen: Wenn Sie die Daten-Dossiers studieren, die
für Sie zusammengestellt wurden, dann werden Sie feststellen, dass
diese Vorgehensweise bei verschiedenen Morden dieser Todesschwadron
ebenfalls angewendet wurde.”
„Was heißt das genau?”, hakte ich nach.
„Man hat Waffen verwendet, die zuvor schon benutzt worden
waren - und zwar in einschlägig bekannten kriminellen
Kontexten.”
„Und wer kommt an solche Waffen am besten heran?”, warf Ludwig
ein und gab die Antwort auf diese rhetorische Frage gleich selbst:
„Natürlich genau die Kollegen oder Bullen, die sie bei
irgendwelchen Razzien beschlagnahmt und anschließend unterschlagen
haben.”
„Das trifft den Nagel auf den Kopf, Herr Härtl”, nickte
Kriminaldirektor Sager.
„Sie werden nicht viel Zeit haben, sich in den Fall
einzuarbeiten”, erklärte Kriminalhauptkommissar Brackmeier.
„Schließlich werden Sie beide umgehend erwartet. Allerdings in
unterschiedlicher Eigenschaft.”
Ludwig sah mich kurz an.
„Wenn du nur einfacher Kriminalbeamter bist - und ich
Kriminaloberkommissar bleibe, dann …”
„Hör auf, Ludwig!”
„… bin ich ja sogar mal dir gegenüber weisungsbefugt!”
„Du bist doch dienstälter. Bist du das dann nicht
sowieso?”
„Das habe ich nie in den Vorschriften nachgesehen,
Ortwin.”
Kriminalhauptkommissar Brackmeier ergriff nun wieder das Wort.
„Sie werden sich auf jeden Fall offiziell nicht kennen”,
erklärte er. „Zur weiteren Vorgehensweise: Vermeiden Sie zunächst
jeden Anschein, dass Sie etwas miteinander zu tun haben und
insbesondere Sie, Ortwin, sollten sehr vorsichtig sein, wenn Sie
Kontakt aufnehmen. Man verrät sich manchmal durch
Kleinigkeiten.”
„Schon klar”, sagte ich. „Was ist mit der eventuell
notwendigen Unterstützung durch der Ermittlungsgruppe
Erkennungsdienst?”
„Die haben Sie natürlich”, versicherte Kriminalhauptkommissar
Brackmeier. „Was Ludwig angeht, kann er diese Unterstützung auch
offiziell anfordern und einsetzen. Was Sie angeht, Ortwin, so
sollten Sie bei der Kontaktaufnahme immer äußerste Vorsicht walten
lassen. Und das meine ich sehr ernst!”
Unser Chef brauchte das nicht weiter in allen Einzelheiten
auszuführen. Was er meinte, war mir durchaus klar. In einem
verdeckten Einsatz gab es immer die Gefahr, dass man aufflog. Das
konnte auf vielfältige Weise geschehen. Und eine der häufigsten
war, dass der Betreffende nicht gut genug auf sein Smartphone
aufgepasst hatte. Die Möglichkeiten der modernen
Kommunikationstechnologien erleichterten es zwar einerseits, auch
während des verdeckten Einsatzes mit seiner Zentrale in Verbindung
zu bleiben. Gleichzeitig erhöhten sie aber auch das Risiko, das man
enttarnt wurde. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen konnte man es zum
Beispiel nie vollkommen ausschließen, dass das eigene Handy nicht
von der anderen Seite gehackt und überwacht wurde.
„Ich werde schon aufpassen”, versprach ich.
„Da bin ich mir sicher, Ortwin”, meinte Kriminalhauptkommissar
Brackmeier.
4
„Na, wie ist die Aussicht für dich, mal eine Weile Dienst zu
machen, ohne dass ich die ganze Zeit auf dich aufpasse?”, meinte
Ludwig, als wir später das Büro von Kriminalhauptkommissar
Brackmeier verlassen hatten. Wir hatten uns beide einen Kaffee
besorgt. Anschließend hatten wir uns in Ludwigs Büro begeben. Mein
Kollege nahm einen Schluck und ließ seinen Rechner hochfahren. Wir
wollten uns etwas mit den Fakten des Falles vertraut machen, auch
wenn dafür nicht viel Zeit blieb.
Mein Zug nach Berlin ging nämlich schon am frühen Nachmittag.
Ludwig würde später am Abend folgen.
„Du - auf mich aufpassen?”, echote ich und nahm ebenfalls
einen Schluck Kaffee aus meinem Becher.
„Ja, sicher!”
„Ich habe das irgendwie anders in Erinnerung.”
„Ach, ja?”
„Genau umgekehrt, um genau zu sein.”
„Ach, komm Ortwin, das ist nicht dein Ernst.”
“Doch, ist es!”
Ludwig saß an seinen Rechner. Seine Finger glitten über die
Tastatur. Er rief die über unser Datenverbundsystem zugänglichen
Dossiers auf, die uns zur Verfügung standen. Dazu kamen noch die
Datensätze, die eigens für uns zusammengestellt worden waren.
Wir überflogen die Berichte der Gerichtsmedizin, der
Ballistik, Zeugenaussagen und was es sonst noch so gab. „Dieser
Hecker sollte unser Ansatzpunkt sein”, meinte ich. „Weber wollte
ihn treffen. Der Grund dafür bestand mutmaßlich darin, dass Hecker
auspacken wollte.”
„Leider ist es dazu nicht mehr gekommen. Und befragen können
wir ihn dazu auch nicht mehr”, meinte Ludwig.
„Das ist mir schon klar”, gab ich zurück. „Aber ich will auf
einen anderen Punkt hinaus.”
„Und der wäre?”
„Jemand wie Hecker entschließt sich nicht von heute auf
morgen, sich an einen BKA-Kriminalkommissar zu wenden, um gegen die
eigenen Kollegen auszusagen.”
„So weit wir wissen, sollte es keine offizielle Aussage
werden. Nichts davon, was Hecker gesagt hätte, wäre in irgendeiner
Form gerichtsverwertbar gewesen.”
„Ja, ich weiß”, gab ich zu und fuhr mir dabei mit der flachen
Hand über das Gesicht und schüttelte dann den Kopf. „Worauf ich
hinaus will, ist etwas anderes: Dieser Hecker war in seine
Abteilung, die Berliner Polizei, die Polizeigewerkschaft und so
weiter vollkommen integriert. Der Job war für ihn nicht nur ein
Job. Sieh dir die lobenden Zeugnisse an, die er bekommen hat! Wenn
sich so jemand dazu entschließt, sich gegen die eigenen Kollegen zu
stellen, dann geht dem meistens ein längerer Prozess der
Entscheidung voraus.”
„Das würde ich auch so sehen”, meinte Ludwig.
„Und davon müsste doch jemand in seinem Umfeld etwas
mitbekommen haben.”
„Er war verheiratet.”
„Vielleicht hat Hecker mit seiner Frau darüber gesprochen,
vielleicht auch mit einem Freund.”
„Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren das dann auch Polizisten”,
meinte Ludwig. „Komm, du weißt doch selbst, wie das ist: Erstens
glaubt man, dass ein Außenstehender die Probleme, die mit unserem
Beruf zusammenhängen, gar nicht richtig verstehen kann und zweitens
ist es ohnehin ziemlich selten, dass unsereins jemanden
kennenlernt, der von außerhalb kommt.”
“Hm.”
“Schon wegen dem Schichtdienst und dem Freizeitrhythmus, der
nicht unbedingt so richtig zum Rest der Bevölkerung passt.”
“Stimmt leider.”
“Siehst du!”
“Man muss es eben nehmen, wie es kommt.”
“Kann man so sagen.”
„Okay, dann suchen wir nach einem Polizisten in Heckers
Umgebung, dem er traute und dem er vielleicht mehr gesagt
hat.”
„Ich suche danach”, korrigierte mich Ludwig. „Denn ich werde
offiziell als Kriminaloberkommissar in Berlin sein. Du hältst dich
bitte von diesem Hecker fern. Das fällt nur auf.”
Ludwig hatte natürlich recht. Es war besser, wenn er diesem
Fahndungsansatz nachging.
„Was diese Waffe angeht, die in den Mordfällen Weber und
Hecker als Mordwaffe angesehen wird ...”
„Kollege Förnheim soll die Befunde nochmal überprüfen - genau
wie Dr. Wildenbacher sich die gerichtsmedizinischen Unterlagen
nochmal vornehmen soll”, unterbrach mich Ludwig. „Ich telefoniere
nachher mit den beiden.”
Dr. Dr. Friedrich G. Förnheim - von uns kurz FGF genannt - war
der Naturwissenschaftler und Ballistiker des Ermittlungsteams
Erkennungsdiensts in Quardenburg, auf dessen Dienste wir zu unserer
Unterstützung zurückgreifen konnten. Und Dr. Gerold Wildenbacher
war unser Gerichtsmediziner. Beide waren Experten von
außergewöhnlichem Ruf auf ihrem jeweiligen Gebiet. Und manchmal
ergaben sich durch die Überprüfung allein durch die Nahbetrachtung
der vorhandenen Untersuchungsergebnisse Aspekte, die die
Ermittlungen unter Umständen in eine völlig neue Richtung lenken
konnten.
In diesem Moment betrat Dorothea Schneidermann Ludwigs Büro.
Sie reichte mir zwei Smartphones. Sie unterschieden sich optisch
nicht. Außerdem bekam ich einen Umschlag.
„Sie heißen ab jetzt Ortwin Mandelkow”, sagte Dorothea.
„Dann brauche ich mich ja nicht groß umzugewöhnen”, sagte
ich.
„Genau das ist der Sinn der Sache”, gab Dorothea zurück. „Ihre
neuen Papiere sind im Umschlag. Man erwartet Sie in Berlin bereits.
Die Stelle, die Sie einnehmen sollen, konnte seit geraumer Zeit
nicht besetzt werden. Einen Datensatz mit näheren Informationen zu
Ihrem Dienstpartner sind Ihnen in Ihr Mail-Fach überspielt
worden.”
„Das wirkt so, als wäre dieser Einsatz sehr gut vorbereitet”,
stellte ich fest.
Dorothea lächelte.
„Sollten Sie jemals in einen schlecht vorbereiteten Einsatz
geschickt worden sein, ist das ganz gewiss vor meiner Zeit gewesen,
Ortwin.”
Ich lächelte nachsichtig.
„Natürlich!”
„Aber Sie haben schon recht. Es ist folgendermaßen:
Kriminaldirektor Sager hatte ein paar bürokratische Hürden zu
überwinden, bevor er von oben das Okay für diese Mission bekam. Und
die Zeit wurde offenbar gut genutzt.”
„Na, wenn das so ist …”
„Sie haben noch gar nicht danach gefragt, wieso Sie zwei
Handys bekommen haben.”
Ich hob die Augenbrauen.
„Dann frage ich jetzt danach.”
„Das eine ist Ihr neues offizielles Diensthandy für Ortwin
Mandelkow. Ihrer Legende nach waren Sie zuvor im BKA-Büro Bremen
und hatten da ein paar Schwierigkeiten.”
„Okay, mit meiner Legende werde ich mich ausführlich
beschäftigen.”
„Ich habe kurz drüber gesehen. Sie haben in Bremen eine
geschiedene Frau. Wenn jemand auf die Idee kommen sollte, das zu
überprüfen, wird der Anruf umgeleitet und es meldet sich eine
Innendienstlerin hier in München.”
„Dann kann ja nichts schief gehen.”
„Außerdem ist das Gerät mit einem Bewegungsprofil gespeist,
das zu einem Kommissar aus Bremen passt.”
„Sie rechnen also damit, dass man mein Handy hackt.”
„Das ist mehr als wahrscheinlich. Aber selbst wenn jemand es
nur trackt, um herauszufinden, wo Sie in letzter Zeit so gewesen
sind, könnte das unangenehm für Sie werden, wenn die Daten nicht
plausibel sind.”
„Und ein Handy zu tracken, das kann nun wirklich jeder.”
„Rechnen Sie damit, dass dieser Apparat in der einen oder
anderen Form überwacht wird. Schalten Sie das Gerät erst ein, wenn
Sie in Berlin aus dem Zug steigen. Dann passt alles
zusammen.”
„Und ich nehme an, ich soll damit auf gar keinen Fall
irgendwelche Nachrichten mit der Zentrale hier in München oder dem
Ermittlungsteam Erkennungsdienst in Quardenburg austauschen”,
schloss ich.
„Darum ersucht Sie Kriminalhauptkommissar Brackmeier ganz
dringend”, bestätigte Dorothea. „Das zweite Gerät ist für Ihre
eigentliche Arbeit gedacht. Es ist ebenfalls auf Ortwin Mandelkow
eingetragen, damit man nicht sofort auf Ihre wahre Identität als
BKA-Kriminalkommissar Ortwin Tegeler schließen kann, sollte das
Gerät mal in falsche Hände oder an einen geschickten Hacker
geraten.”
„Ich habe verstanden.”
„Eine neue Dienstwaffe bekommen Sie in Berlin. Und dass Sie
möglichst nichts bei sich tragen sollten, was in irgendeiner Weise
Ihre wahre Identität verraten könnte, brauche ich einem erfahrenen
Ermittler wie Ihnen ja wohl nicht zu sagen.”
„Nein.”
„Herr Brackmeier bestand allerdings darauf, dass ich Sie
trotzdem darauf hinweise.”
Ich lächelte nachsichtig. „Vielen Dank.”
5
Ich nahm am Nachmittag einen ICE von München nach Berlin.
Normalerweise bin ich es gewohnt, dass mich irgendjemand am Bahnhof
abholt, wenn ich als Kriminaloberkommissar unterwegs bin und in
Zusammenarbeit mit irgendeiner Fachabteilung Ermittlungen
durchführen muss. Aber in diesem Fall war das natürlich nicht so.
Rang hat eben seine Privilegien - und die galten leider für
Kriminalkommissar Ortwin Mandelkow aus München nicht.
Ich nahm mir ein Taxi und fuhr damit zu dem Gebäudekomplex im
Zentrum von Berlin, in dem das BKA untergebracht war. Zuerst
meldete ich mich natürlich beim Büro des Kriminaldirektor.
Die Sekretärin musterte mich auf eine Weise, die mir ziemlich
unangenehm war. Durchdringend ist wohl das richtige Wort. Aber das
war natürlich pure Einbildung. Gerade zu Beginn eines solchen
Auftrags glaubt man dauernd, dass jeder einem ansehen müsste, wer
man wirklich ist.
Dass Max Heide seine Sekretärin meine Mission betreffend
eingeweiht hatte, konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen.
Ludwig und ich hatten nur flüchtig mit Heide zu tun gehabt,
schließlich gehörte er ja zu einer anderen Sondereinsatzgruppe der
Bundespolizei. Aber Heide war ein erfahrener Mann. Und eigentlich
war es ausgeschlossen, dass so jemand ein dermaßen großes Risiko
einging.
Die Sekretärin des Chefs war für jeden, der an Informationen
kommen wollte, die eigentlich nicht für ihn bestimmt waren, immer
eine der ersten Angriffspunkte. Das war bei nachrichtendienstlichen
Attacken so, aber auch in Fällen von Industriespionage.
„Sie sind also der Neue”, sagte die Sekretärin. Sie war
rothaarig und zierlich. Ihre dichte Mähne konnte durch das Haarband
kaum gebändigt werden.
„Kriminalkommissar Ortwin Mandelkow.”
„Man hat Sie mir schon angekündigt”, sagte sie. „Obwohl das
schon seltsam ist …”
„Was ist seltsam?”
„Dass die Stelle so schnell besetzt werden konnte, während
vorher die Bewerber offenbar nicht gut genug sein konnten - oder
plötzlich dann doch wieder abgesagt haben!”
„Tja, um ehrlich zu sein, wäre ich auch lieber nach Sylt
gekommen, anstatt in eine Stadt, die auch ein ziemlich ‚heißes
Pflaster‘ aufzuweisen hat.”
Sie lächelte.
„Das kann ich gut nachvollziehen.”
„Leider hat niemand auf mich gehört.”
„Ich habe gehört, Sie hatten in Bremen ein paar
Probleme.”
„Ich wusste gar nicht, dass es die Aufgabe der Sekretärin ist,
über diese Dinge Bescheid zu wissen.”
„Ich bin gerne gut informiert”, sagte sie.
„Wie heißen Sie?”
„Britta. Britta Schütte.”
„Sie können mich Ortwin nennen.”
„Das werde ich davon abhängig machen, wie gut wir miteinander
auskommen, Kommissar Mandelkow.”
„Das war deutlich.”
„So bin ich eben!”
Einen Augenblick später betrat ich das Büro von
Kriminaldirektors Heide. Er war nicht allein in seinem Büro. Den
Mann, der in einem der tiefen Ledersessel Platz genommen hatte,
erkannte ich von den Bildern, die ich in meinem Dossier gesehen
hatte. Es war niemand anderes, als mein zukünftiger Partner: Frank
Vogt. Vogt hatte ein kantiges Gesicht, einen breiten Nacken und
dunkles, kurz geschorenes Haar. Die Augenbrauen waren sehr kräftig
und wuchsen in der Mitte zusammen. Ich versuchte mir nicht anmerken
zu lassen, dass ich ihn erkannt hatte.
Frank Vogt musterte mich und seine Augenbrauen formten dabei
eine gewundene Linie. Er schien wenig begeistert von der Aussicht
zu sein, in Zukunft mit mir in den Straßen von Berlin Dienst machen
zu müssen. Das konnte ich ihm nicht einmal verdenken.
Man ist als Kriminalkommissar im Einsatz darauf angewiesen,
seinem Partner absolut vertrauen zu können. Wenn da die Chemie
nicht richtig stimmt und man sich nicht nach kurzer Zeit auf
irgendeine Weise zusammenrauft, dann kann das ganz schnell
lebensgefährlich werden.
„Kommissar Mandelkow? Wir sind froh, dass Sie hier sind”,
sagte Kriminaldirektor Heide.
„Ganz meinerseits.”
„Dies ist Frank Vogt, Ihr Dienstpartner. Er wird Sie in alles
einweisen. Eine Dienstwaffe bekommen Sie an der Ausgabestelle.
Munition ebenfalls. Und ansonsten kann ich nur hoffen, dass Sie
sich gut einleben.”
„Ich werde mir Mühe geben”, versprach ich.
„Wir ermitteln zurzeit gegen eine kriminelle Gang, die sich
‘The Crazy Ones’ nennt und unter der Führung eines gewissen Mirko
Talaman steht”, erklärte Kriminaldirektor Heide. „Die ‘Crazy Ones’
haben sich ziemlich brutal einen Platz im hiesigen Drogenhandel
erkämpft, indem sie die Konkurrenz rücksichtslos aus dem Weg
geräumt haben. Darüber hinaus stehen etliche Clubs inzwischen unter
ihrer Kontrolle.”
„Und warum läuft dieser Mirko Talaman noch frei herum?”,
fragte ich.
„Wie das so ist, Kommissar Mandelkow: Die Beweise reichen
nicht. Außerdem arbeitet Talaman’ Gang inzwischen mit dem Clan von
Ahmed Habeb zusammen, der hier, im Gebiet um die großen Parks, eine
wichtige Rolle spielt.”
„Und der hält die Hand über ‘The Crazy Ones’?”, fragte
ich.
„Wer da die Hand über wen hält, kann man unterschiedlich
interpretieren”, fuhr Heide fort. „Aber im Großen und Ganzen ist
die Arbeitsteilung inzwischen wohl die: The Crazy Ones erkämpfen
zusätzliche Marktanteile auf der Straße und der Habeb-Clan sorgt
dafür, dass die Drogengelder hinterher auch gewaschen werden und in
legale Projekte investiert werden können. So schließt sich dann der
Kreis. Aber über all die Einzelheiten wird Sie Ihr neuer Partner
informieren. Außerdem finden natürlich regelmäßige Briefings
statt.”
„Schon klar.”
„Das unterscheidet sich alles nicht großartig von der
Vorgehensweise, die Sie aus Bremen kennen.”
„Okay.”
„Dann wünsche ich Ihnen Hals- und Beinbruch, Kommissar
Mandelkow.” Das Telefon auf Kriminaldirektor Heides Schreibtisch
klingelte. Der Direktor seufzte hörbar. „Wie Sie sehen, werde ich
gerade mal wieder anderweitig verlangt. Wenn Sie noch Fragen haben
oder sich Probleme ergeben, dann wenden Sie sich bitte jederzeit an
mich.”
6
„Scheint, als wäre Kriminaldirektor Heide jemand, mit dem man
auskommen könnte”, meinte ich später, nachdem Frank Vogt und ich
das Büro des Chefs verlassen hatten.
Vogt schien erstmal einen Kaffee zu brauchen. Ich begleitete
ihn zum Automaten. Er machte mir einen ziemlich reservierten
Eindruck und ich fragte mich, wie lange es wohl dauerte, bis wir
einigermaßen warm miteinander werden würden.
„Er ist ein netter Kerl”, sagte Vogt schließlich. „Aber er
kann knallhart sein. Da sollte sich niemand täuschen.”
„Verstehe.”
„Es heißt, Sie hätten ein paar Probleme in Bremen
gehabt.”
Ich nahm einen Schluck aus meinem Kaffeebecher.
„Hat Sie Kriminaldirektor Heide darüber informiert - oder
vielleicht doch eher seine Sekretärin?”, gab ich zurück.
Frank Vogt lächelte gezwungen.
„Gute Beziehungen zur Sekretärin des Chefs zu haben, hat noch
nie jemanden geschadet, würde ich sagen.”
„Ist die jedem gegenüber so auskunftsfreudig?”
„Und beantworten Sie jede Frage mit einer Gegenfrage,
Mandelkow?”
„Kann eine gute Taktik sein.”
„Werde ich mir merken, Mandelkow.”
„Nennen Sie mich Ortwin.”
Er zögerte einige Augenblicke, trank erstmal seinen Kaffee
leer und war den Becher dann in einen der bereitstehenden
Papierkörbe.
„Ich bin Frank”, sagte er dann.
Immerhin ein Anfang, dachte ich.
„Was meine Probleme in Bremen anbetrifft, die hatten nichts
mit Norman Gärtner, dem dortigen Chef zu tun.”
„Sondern?”
„Ach komm schon Frank, ich wette, das weißt du längst!”
„Du hast ein paarmal etwas zu heftig hingelangt, würde ich
sagen.”
„Es hat niemanden getroffen, der es nicht verdient gehabt
hätte”, gab ich zurück.
Frank Vogt lachte.
„Ich bin auch nicht dafür, überall nachgiebig zu sein”, meinte
er. „Das Verbrechen nimmt Überhand, gerade hier in Berlin! Glaub
mir, wenn du etwas länger hier in der Stadt bist, dann wird dir
Bremen wie ein Erholungsort dagegen erscheinen.”
Ich ließ ihn in diesem Glauben.
Ein kräftiger Kerl mit Halbglatze und aufgekrempelten
Hemdsärmeln begegnete uns.
„Frank, es gibt einen Einsatz! - Kreuzberg, Alte Brauerei!”,
sagte er.
„Was ist passiert?”
„Es hat einen von den Crazy Ones erwischt. Man hat ihn in
einem Müllcontainer gefunden.”
„Das dürfte heißen, wir haben ein paar unruhige Tage vor
uns.”
„Allerdings.”
Der Mann mit der Halbglatze musterte mich.
„Sie sind der Neue?”
„Ortwin Mandelkow”, sagte ich.
„Ich bin Kriminalhauptkommissar Albrecht Grünwald und leite
die Abteilung, die gegen The Crazy Ones ermittelt. Sie können sich
gleich am Tatort nützlich machen und ein paar Leute befragen.
Meistens ist das Zeitverschwendung, weil die Angst viel zu groß ist
und niemand auszusagen wagt. Aber wer weiß. Man wird ja immer
wieder mal positiv überrascht.”
„Er hat noch keine Waffe. Wir kommen nach”, erklärte Frank
Vogt.
Kommissar Grünwald nickte. „Okay.”
7
Wenig später saß ich zusammen mit Frank Vogt in einem
Dienstwagen aus den Beständen der Fahrbereitschaft des BKA Berlin.
Dass ich auf dem Beifahrersitz Platz nehmen musste, war ungewohnt.
Wenn ich während unserer Hamburger Zeit mit Ludwig unterwegs
gewesen war, hatte ich meistens am Steuer gesessen. Alte
Gewohnheit.
Bei dem Wagen handelte es sich um einen Mercedes. Nicht ganz
das neueste Modell, aber in Top gepflegtem Zustand und außerdem mit
ein paar luxuriösen Extras ausgestattet.
„Der Wagen gehörte mal einem Clan-Chef, der ihn jetzt nicht
mehr braucht, weil er für die nächsten dreißig Jahre in einer
Justizvollzugsanstalt sitzt”, erklärte mir Vogt. „Der Wagen wurde
beschlagnahmt.” Er grinste. „Ist zwar mal mit Drogengeld finanziert
worden, wurde aber schließlich doch noch einem guten Zweck
zugeführt.”
Ich hatte inzwischen meine Dienstwaffe bekommen.
Wir waren unterwegs zur Alten Brauerei und ich stellte fest,
dass Frank Vogt sich offenbar ganz hervorragend in den Straßen von
Berlin auskannte. Das installierte Navigationssystem war
abgeschaltet. Vogt schien es nicht zu benötigen und die Stadt wie
seine Westentasche zu kennen.
Als wir schließlich den Tatort erreichten, war das sehr
schnell daran zu erkennen, dass überall Einsatzfahrzeuge standen -
sowohl vom BKA als auch vom Berliner Polizeipräsidium. Und streng
genommen musste man bislang auch vom Fundort der Leiche und nicht
vom Tatort sprechen, denn ob das Opfer wirklich in der Nähe des
Müllcontainers gestorben war, in dem man ihn abgelegt hatte, musste
sich ja erst noch erweisen.
Wir stiegen aus.
Kommissar Grünwald und einige Kollegen waren bereits bei der
Arbeit. Ich sah Grünwald mit ausholenden Bewegungen gestikulieren
und sich mit einer Frau unterhalten. Vermutlich eine
Erkennungsdienstlerin. Dass es sich um eine Frau handelte, konnte
ich nur auf Grund des Verhältnisses von Hüfte und Schultern
vermuten, denn sie trug einen Ganzkörperoverall mit Kapuze und
wandte mir den Rücken zu.
Wir kamen hinzu.
„Wir haben Blutspuren gefunden”, berichtete die
Erkennungsdienstlerin. „Ob die mit der Tat in Verbindung stehen
oder dem Opfer zuzuordnen sind, können wir so natürlich noch nicht
feststellen. Aber es liegt der Verdacht nahe, dass das Opfer hier
in der Nähe umgebracht und dann zu dem Container geschleift
wurde.”
„Geschleift?”, fragte Grünwald. „Dann war es nur ein
Täter.”
„Wäre nicht ausgeschlossen. Allerdings müsste er dann sehr
kräftig gewesen sein, um die Leiche in den Müllcontainer zu heben.
Unmöglich ist das nicht.”
„Wurde ein Handy gefunden?”, fragte ich.
„Nein, kein Handy, aber eine Brieftasche. Deswegen wissen wir
auch, wer der Betreffende war.”
„Es ist Friedhelm Carstens, die mutmaßliche Nummer zwei bei
den Crazy Ones”, sagte Grünwald in meine Richtung. „Ich weiß nicht,
in wie fern er schon im Bilde ist.”
„Ich habe ihm das Wesentliche erklärt”, sagte Frank
Vogt.
Die Erkennungsdienstlerin deutete in eine Seitenstraße. Dort
stand ein Kollege und winkte, weil er dachte, dass er gemeint sei.
„Wir sollten in der Straße da vorne suchen”, sagte die
Erkennungsdienstlerin. „Da hinten, wo der Kollege steht, wurde auch
Blut gefunden.”
„Vielleicht hat der Täter auch was abbekommen”, meinte
Vogt.
„Und dann den Toten noch bis zum Container geschleift?”,
wandte ich ein. „Das sind dreißig Meter. Und wie schon richtig
bemerkt wurde, musste er ihn auch noch in den Container hieven,
wobei ich der Meinung bin, dass er dabei Hilfe gehabt haben muss.
Die gerichtsmedizinische Untersuchung wird das auch meines
Erachtens letztlich erweisen.”
Vogt sah mich an.
„Du bist anscheinend ein ganz Schlauer, was? Ich wusste gar
nicht, dass man Medizin studieren muss, wenn man in Bremen als
einfacher Kriminalkommissar auf der Straße Dienst machen will. Aber
das macht schon Sinn, dann spart man sich den Service eines
Krankenwagen zu rufen, wenn es mal bei einer Schießerei jemanden
erwischt hat.”
„Lass es gut sein, Frank”, meinte Kommissar Grünwald.
„Ist doch wahr!”
„Das waren nur konstruktive Mutmaßungen”, nahm Grünwald mich
in Schutz. „Und ob sich davon was bestätigt, werden wir ja
sehen.”
„Die Sache liegt doch klar auf der Hand”, meinte Frank
Vogt.
„So?”, fragte ich. „Tut mir leid, vielleicht war ich in meiner
Beurteilung zu voreilig. Aber ich bin auch heute den ersten Tag in
Berlin.”
„Wissen Sie schon, wo Sie wohnen werden, Mandelkow?”, fragte
Grünwald.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, aber ich nehme an, dass es in einer Stadt wie Berlin
immer ein freies Bett in irgendeinem Hotel gibt. Mein Gepäck ist
noch im Schließfach des Bahnhofs.”
„Wir haben ein paar schöne Wohnungen für die Unterbringung von
gefährdeten Zeugen, konspirative Treffen und so weiter. Sie kennen
das sicher aus Bremen.”
„Klar.”
Das BKA hatte für diese Zwecke immer irgendwo ein paar
bewohnbare Quadratmeter angemietet, damit man für den Fall der
Fälle bereit war.
„Wenn da was frei ist, können Sie da erst mal wohnen, bis Sie
was gefunden haben.”
„Das ist sehr freundlich, aber …”
„… nicht so ganz den Vorschriften entsprechend. Aber da machen
Sie sich mal keine Sorgen. Ich bespreche das mit Tanner.”
„Wer ist das?”
„Bernd Tanner, der zweite Mann bei uns im BKA-Büro. Er ist der
Stellvertreter des Kriminaldirektor.”
„Aja, …”
„Sie sind ihm noch nicht begegnet?”
„Nein.”
„Spätestens im nächsten Briefing lernen Sie ihn kennen. Ich
ruf ihn gleich mal an und dann sehen wir weiter. Wenn es klappt,
kriegen Sie eine Nachricht von mir.”
„Okay. Aber nur, wenn das wirklich in Ordnung ist.”
„Sind Sie einer, der es besonders genau nimmt, Mandelkow?”
Grünwald verzog das Gesicht. „Man sollte nicht päpstlicher sein,
als der Papst, was Vorschriften angeht. Oder Frank?” Kommissar
Grünwald sah in Frank Vogts Richtung und hob dabei die Augenbrauen.
„Eigentlich eher im Gegenteil. Es gab da in der Vergangenheit
ein paar Probleme, von denen ich gerne vermeiden möchte, dass sie
sich wiederholen. Deswegen bin ich etwas vorsichtig.”
„Okay, das akzeptiere ich”, sagte Grünwald. „Aber Ihre Sorgen
sind unbegründet, Kommissar Mandelkow.”
8
Der Tote war schon vor unserer Ankunft aus dem Container
geholt und in einen Zinksarg gelegt worden. Inzwischen war auch der
Gerichtsmediziner mit seiner Erstuntersuchung fertig. Grünwald
sprach mit ihm. Ich hätte gerne noch mitbekommen, was der
Gerichtsmediziner herausgefunden hatte. Dass es eine Schusswunde
gab und die auch mutmaßlich die Todesursache war, wusste ich ja
schon.
Aber auf die Einzelheiten musste ich verzichten, weil Frank
Vogt und mir eine andere Aufgabe zugeteilt worden war.
Ein Kollege hatte über eine Abfrage der über das Opfer zur
Verfügung stehenden Daten über Friedhelm Carstens herausgefunden,
dass ganz in der Nähe eine gewisse Lisa Reich wohnte. Lisa Reich
arbeitete in einem der Clubs, die unter der Kontrolle der Crazy
Ones standen als Tänzerin. Sie war wegen Prostitution und
Drogendelikten vorbestraft und hatte Friedhelm Carstens einmal ein
Alibi gegeben, als ihm die Beteiligung an einer Schießerei zur Last
gelegt worden war. Im Endeffekt hatte man Carstens dadurch nichts
nachweisen können.
Natürlich lag es nahe, dass Carstens bei Lisa Reich gewesen
war, bevor er erschossen wurde.
„Worauf wartest du, Ortwin?”, drang Frank Vogts Stimme in
meine Gedanken, während ich noch mit einem Ohr aufzuschnappen
versuchte, was der Gerichtsmediziner zu sagen hatte.
„Lisa Reich läuft uns nicht weg”, meinte ich.
Ich bekam gerade noch mit, dass der Gerichtsmediziner glaubte,
dass der Mord an Carstens in der letzten Nacht stattgefunden haben
musste. Das ergab auch Sinn.
„Ich nehme an, es wurde ein Schalldämpfer benutzt”, sagte ich
zu Frank Vogt, während wir uns auf den Weg machten. „Mitten in der
Nacht ist hier wahrscheinlich nichts los. Der Täter hat auf
Carstens gewartet und ihm eins verpasst und ihn anschließend zum
Container geschleift - vermutlich mit Unterstützung, da gehe ich
jede Wette ein.”
„Du denkst, dass du dich besonders ins Zeug legen müsstest,
was, Ortwin?”, meinte Vogt.
Ich runzelte die Stirn.
„Irgendwas verkehrt daran?”
„Nein, grundsätzlich nicht.”
„Ich dachte, es geht darum, die Gangster
kleinzukriegen.”
„Ja - und genau deswegen brauchen wir uns in einem Fall wie
diesem nicht unbedingt so viel Mühe geben.”
„Das musst du mir erklären.”
„Hör mal, Ortwin! Rede ich mit einem Anfänger? Hier erschießen
sich Gangster gegenseitig. Carstens war die Nummer zwei bei den
Crazy Ones. Und wer kommt da wohl als Verdächtiger in Frage? Wem
nützt sein Tod am meisten?”
Ich zuckte mit den Schultern.
„Der Konkurrenz?”
„Exakt, Ortwin. Und die Konkurrenz, das ist in diesem Fall
eine Gang, die „Die Liga“ genannt wird und genau dasselbe tut wie
die Crazy Ones. Ein gewisser Danilo Koslow führt „Die Liga“ an.
Diese Gruppierung buhlt ebenso um die Gunst von Ahmad Habeb und
seinem Clan, weil nur Habebs Leute haben die Möglichkeit, das ganze
Drogengeld auch wieder weiß zu waschen. Wenn du verstehst, was ich
meine. Was glaubst du, wie es Danilo Koslow und seinen Leuten
gestunken hat, dass die Crazy Ones in den letzten Jahren sich so
ausgebreitet haben. Also ich gehe jede Wette ein, dass es
irgendeiner von Danilo Koslows Leuten war, der sich gedacht hat:
Sorgen wir dafür, dass die Gegenseite eine wichtigen Mann verliert.
Vielleicht gab es auch irgendeinen Streit darum, wer an irgendeiner
Ecke Drogen verkaufen darf oder welche Dealer in Club X oder Y
hineingelassen werden. Keine Ahnung. Aber soll uns das wirklich
interessieren?”
„Ich finde, die Schuldigen gehören in den Knast”, sagte
ich.
„Und ich finde, wir sollten einfach zusehen, dass die
Schuldigen sich gegenseitig abknallen. Und wenn man lange genug
wartet, tun sie das auch.” Er hob die Schultern. „Aber auf mich
hört ja keiner. In der Zeit, die wir jetzt mit diesen Ermittlungen
verschwenden, könnten wir echten Opfern helfen.”
“Hm” sagte ich.
“Das ist einfach die Wahrheit!”
Ich sagte nochmal: “Hm.”
Ich versuchte, mir nicht allzu viel anmerken zu lassen. Dass
jemand mit so einer Einstellung als Polizist tätig war und das
Gesetz vertrat, ging mir ziemlich gegen den Strich. Aber
wahrscheinlich hatten diejenigen, die sich als selbsternannte
Wahrer der Gerechtigkeit aufspielten und eine Todesschwadron
gegründet hatten, eine ganz ähnliche Einstellung. Möglicherweise
führte mich Frank Vogt irgendwann zu ihnen.
„Weißt du Ortwin, das ist jetzt etwas, was ich offiziell nie
wiederholen würde, aber ich scheiß drauf, wenn du es irgendwo
weitererzählst. Es ist nämlich die Wahrheit!”
„Welche Wahrheit meinst du?”
„Unsere Justiz ist zu lasch mit den Typen wie Carstens oder
Danilo Koslow oder Ahmad Habeb. Die lachen doch über uns und die
Gerichte. Die Kleinen kriegen wir und die kommen dann für lange in
den Bau. Aber die eigentlichen Drahtzieher gehen meistens ziemlich
unbeschadet aus der Sache heraus.”
„Ich habe gehört, hier in Berlin soll es ein paar Leute geben,
die das ändern wollen.”
Frank Vogt stutzte. Er sah mich auf eine Weise an, die in mir
unwillkürlich die Frage aufwarf, ob ich nicht vielleicht zu früh zu
weit gegangen war. Gut möglich, dass ich in dieser Sekunde alles
verdorben hatte. Aber so ist das nun mal bei einem verdeckten
Einsatz. Garantieren kann man dafür gar nichts. Und im Zweifelsfall
ist man immer auf die Gabe zur Improvisation angewiesen.
„Wie meinst du das?”, fragte Vogt.
„Na ja, wie ich es gesagt habe. Es soll hier ein paar
Polizisten und Kollegen geben, die die Sache selbst in die Hand
nehmen.”
„Gerechtigkeitskämpfer”, murmelte Vogt.
„Ja, so könnte man sie nennen.”
„Klingt besser als Todesschwadron.”
„Läuft aber wohl auf dasselbe hinaus.” Ich zuckte mit den
Schultern. „Ich habe gehört, es sollen ein paar Leute umgekommen
sein, die es wirklich verdient hatten.”
„Ich wusste gar nicht, dass man sogar schon in Bremen davon
spricht”, meinte Vogt.
„Tut man. Und als ein Kollege meinte, es wäre doch nicht
schlecht, wenn auch in Bremen mal jemand auf eigene Faust aufräumt,
da gab’s ein Riesen-Donnerwetter und Versetzungen auf mehreren
Hierarchiestufen.”
Frank Vogt grinste.
„Ja, das kann ich mir gut vorstellen.”
„Wenn schon in Bremen darüber geredet wird, dann kannst du mir
allerdings nicht erzählen, dass du noch gar nichts davon gehört
hast, Frank. Ich meine, du bist von hier!”
Frank Vogt schwieg und blieb stehen, obwohl wir noch ein paar
Schritte bis zu dem Haus zu laufen hatten, in dem Lisa Reich
wohnte. Er sah mich an. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er im
Moment gerade abzuschätzen versuchte, wie weit er mir trauen
konnte. Er entschied sich dafür, erstmal vorsichtig zu sein. Aus
seiner Perspektive konnte ich das auch gut nachvollziehen.
„Wie ich schon mal sagte: Mir persönlich ist es lieber, die
Gangster bringen sich gegenseitig um und keiner von uns muss sich
die Finger schmutzig machen. Aber wenn du mich jetzt fragst, ob ich
wirklich genau wissen möchte, wer zum Beispiel jetzt genau diesen
Carstens auf dem Gewissen hat, dann muss ich dir sagen: Falls es
ein Kollege gewesen sein sollte, will ich es gar nicht
wissen!”
9
Lisa Reich bewohnte ein Apartment im fünften Stock eines
Mietshauses.
Ich klingelte. Es machte aber niemand auf. Ich versuchte es
noch einmal.
„Scheint nicht zu Hause zu sein”, sagte ich.
„Natürlich ist die zu Hause, darauf kannst du wetten!”, meinte
Frank Vogt.
„Kannst du durch Türen sehen? Alle Achtung!”
„Nein, aber ich kann hindurchgehen!”, erwiderte Vogt. Er riss
die Waffe heraus. Mit einem wuchtigen Tritt hatte er die Tür
geöffnet. „Der Gasgeruch war doch deutlich wahrzunehmen!”, meinte
er und rief dann: „BKA! Keine Bewegung!” Mit der Waffe in der Faust
stürmte er in die Wohnung.
Ich folgte ihm durch einen kurzen Flur. Im nächsten Moment
standen wir im Wohnzimmer. In einem breiten Sessel hing der
erschlaffte, leblose Körper einer jungen Frau. Das blonde Haar war
zerzaust. Die Augen weit aufgerissen und starr. Und die Pupillen so
groß, wie das nur nach einer erheblichen Dosis Drogen sein kann.
Eine Kanüle hing ihr noch in der Vene des linken Arms.
Vogt nahm die Waffe herunter. Ich steckte meine ebenfalls
wieder ein.
„Sieht nach einer Überdosis aus”, stellte ich fest.
Vogt griff zum Smartphone.
„Ich rufe die Kollegen.”
„Friedhelm Carstens war ja als Mitglied der Crazy Ones
vermutlich ein schlimmer Finger - aber wem hat sie was getan?”,
fragte ihn.
„Wieso gehst du davon aus, dass ihr jemand was getan hat?”,
fragte er. „Ich denke, sie selbst hat sich das angetan. Ist ja
schließlich keine Seltenheit bei Junkies.”
Ich deutete auf die blauen Flecken an den Armen.
„Und das da?”
„Du stellst auch alles in Frage, was?”
„Ich dachte immer, das sei unser Job.”
„Ich habe schon Arme von Junkies gesehen, die sahen so
kunterbunt und zerstochen aus, dagegen sind die hier richtig
jungfräulich.”
„Vielleicht hast du recht. Was Drogensüchtige angeht, fehlt
mir vielleicht ein bisschen die Erfahrung.”
„Ich habe fünf Jahre Drogendezernat hinter mir. Da sieht man
so einiges, was einen hinterher in die Träume verfolgt.”
„Kann ich mir vorstellen.”
Ich nahm mein Smartphone und begann ein paar Fotos zu machen.
„Dokumentieren möchte ich es trotzdem gerne, was wir hier
vorgefunden haben.”
„Nichts dagegen einzuwenden”, meinte Vogt. Er telefonierte mit
den Kollegen. Und wenig später kam der Gerichtsmediziner, den ich
schon beim Müllcontainer gesehen hatte und bestätigte das, was
offensichtlich zu sein schien: Tod durch Überdosis. Wir fanden noch
einen ganz erheblichen Vorrat an Heroin und jede Menge
Amphetamine.
Ansonsten war der Wohnung anzusehen, dass sie sehr gründlich
durchsucht worden war. Es war kein Smartphone auffindbar. Einen
Festnetzanschluss gab es nicht.
„Ich denke, unser Job ist hier getan”, meinte Frank
Vogt.
Ich hatte allerdings keine Eile, die Wohnung von Lisa Reich zu
verlassen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass hier etwas nicht
stimmte und man hier vielleicht noch etwas mehr erfahren konnte,
als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Instinkt eben. Ich
konnte es nicht konkret an irgendetwas festmachen. Es war nur ein
Gefühl.
„So schnell sieht man sich wieder”, meinte der Pathologe. Er
wandte sich an mich.
„Ich bin übrigens Dr. Johannes Strom.”
„Kriminalkommissar Ortwin Mandelkow.”
„Ich kann mich nicht erinnern, dass wir schon mal
zusammengearbeitet haben”, sagte Dr. Strom.
„Haben wir auch nicht.”
„Ortwin ist heute den ersten Tag in Berlin”, erklärte Frank
Vogt. „Und er ist gerade dabei, die besonderen Verhältnisse zu
verstehen, die hier herrschen.”
„Ah ja”, murmelte Dr. Strom.
Der vorläufige Befund des Gerichtsmediziners unterschied sich
nicht von dem ersten Eindruck, den Vogt und ich gewonnen hatten:
Lisa Reich war durch eine Überdosis gestorben. Nach den Hämatomen
fragte ich nicht. Nicht jetzt, das konnte ich immer noch tun - und
notfalls würde mir Dr. Wildenbacher die Auskünfte geben, die ich
brauchte. Jedenfalls bekam ich von Dr. Strom eine Karte.
„Ich habe leider noch keine Visitenkarten”, meinte ich. „Wie
gesagt, es ist mein erster Tag. Irgendwann wird man die wohl auch
für mich drucken.”
„Sie erreichen mich immer im gerichtsmedizinischen Institut”,
sagte Strom. „Mich zu Hause anzutreffen ist hingegen gelinde gesagt
unwahrscheinlich.”
„Wenn Sie mir Ihre Handynummer verraten, schicke ich Ihnen
eine Nachricht und Sie haben dann die Möglichkeit, mich ebenfalls
jederzeit zur erreichen. Ich meine, für den Fall, dass sich doch
noch irgendetwas Ungewöhnliches herausstellen sollte.”
10
Wir verließen die Wohnung von Lisa Reich. Darüber, dass keiner
der Nachbarn befragt wurde, ob er irgendetwas bemerkt hatte,
wunderte ich mich schon gar nicht mehr. Man schien der Ansicht zu
sein, dass der Fall gelöst war und es sich nicht lohnte.
Zumindest glaubte ich das in diesem Moment.
Aber da sollte ich mich täuschen.
„Was hältst du davon, wenn wir jetzt deine Sachen aus dem
Schließfach vom Bahnhof holen und zu deiner Wohnung bringen”,
meinte Frank.
„Was hältst du davon, wenn wir auf dem Weg vielleicht auch was
essen. Oder knurrt dir nicht der Magen?”
„Und wie. Ich kenne eine gute Pizzeria. Man sagt zwar, dass
sie zum Geldwäsche-Imperium von Ahmad Habeb gehört, aber was
soll‘s? Wahrscheinlich sind deswegen die Preise so günstig und die
Portionen so groß. Irgendwoher muss das ja kommen.”
„Nichts dagegen einzuwenden”, gab ich zurück.
„Und für den Abend haben wir noch ein anderes Programm.”
„So?”
„Es gibt hier einen Club namens Galaxylight. Der wird von
Danilo Koslow und ,Die Liga‘ kontrolliert. Und da ich annehme, dass
wir dort nach den Mördern von Friedhelm Carstens suchen müssen,
sollten wir uns da mal umhören.”
„Vielleicht keine schlechte Idee”, gab ich zu.
„Vor allen Dingen sollten wir das tun, bevor Mirko Talaman und
seine Crazy Ones zum Gegenschlag ausgeholt haben. Denn das werden
sie tun. Schließlich war Friedhelm Carstens der zweite Mann der
Crazy Ones. Das können die nicht auf sich sitzen lassen. Ohne das
Gesicht zu verlieren. Es ist also keine Frage, ob das geschieht,
sondern wann.”
„Ich dachte, du stehst darauf, wenn Gangster sich gegenseitig
abknallen”, wandte ich ein.
“Wie?”
“Hast du gesagt.”
“Ach!”
“Hast du das doch nicht so gemeint, oder was?”
“Doch, ich stehe dazu: Ich finde es gut, wenn Gangster sich
gegenseitig abknallen.”
“Na, also!”
„Aber nicht, wenn ich sie noch befragen soll”, meinte Frank
Vogt. Er grinste. „Und abgesehen davon sitze ich im Allgemeinen
ganz gerne in der ersten Reihe, wenn du verstehst, was ich
meine.”
„Glaubst du, Danilo Koslow wird jetzt so unvorsichtig sein,
sich in seinem Club aufzuhalten?”, frage ich. „Ich meine, da ist er
doch quasi eine Zielscheibe für die Crazy Ones.”
„Das muss er”, sagte Frank Vogt.
„Wieso muss er das?”
„Zumindest wenn er seine Position wahren will. Dann ist er
gezwungen zu zeigen, dass er keine Angst hat und sein Business wie
gewohnt weiterläuft. Sonst hätte das weitreichende Konsequenzen.
Was glaubst du, wie schnell der Markt für ihn eingebrochen ist und
sich die Dealer in seinem Club nicht mehr die Hand geben mögen,
weil sie Angst haben!”
„Welche Rolle spielt dieser Ahmad Habeb und sein Clan in
diesem Spiel?”, fragte ich.
„Du willst es aber ganz genau wissen, Ortwin.”
„Wieso auch nicht!”
„Zurzeit arbeiten beide Gangs mit Habeb zusammen, sowohl die
Crazy Ones als auch The League. Aber langfristig wird es nur eine
sein - und die andere wird in der Versenkung verschwinden. Das ist
allen klar. Ahmad Habeb ist in diesem Spiel sowas wie der
Schiedsrichter. Wenn sein Daumen für eine Seite nach unten geht,
dann war es das.”
„Ich nehme an, an Habeb wird man nicht so einfach
herankommen.”
„Das ist aussichtslos, Ortwin.”
„Wäre das nicht ein Kandidat für diese Todesschwadron?”
„Zu schön um wahr zu sein. Ich bin ehrlich: Wenn Ahmad Habeb
eine Kugel in den Kopf bekäme, wäre ich der erste, der damit
einverstanden wäre, wenn die Ermittlungen gleich eingestellt
würden.”
Wir kehrten zu dem Müllcontainer zurück, in dem man Friedhelm
Carstens gefunden hatte. Kommissar Grünwald sah ich zusammen mit
zwei Personen sprechen. Sie hörten auf zu reden, als wir näher
kamen.
„Wer sind die beiden?”, fragte ich.
Dass es Polizisten waren, war mir schon klar. Die Marken
trugen beide am Revers.
„Bernd Tanner, unser Stellvertreter des Kriminaldirektors und
Polizeiobermeister Jörn Paul.”
„Der stellvertretende Kriminaldirektor kommt an einen
Tatort?”, wunderte ich mich.
„Wenn es ein besonders wichtiger Fall ist - warum denn
nicht?”
Wir näherten uns der Gruppe. Frank Vogt stellte mich vor.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, in einen Kreis von Eingeweihten
geraten zu sein, in dem alle etwas vor mir geheim hielten. Sie
kannten sich alle gut, das war mir schnell klar. Und das galt nicht
nur für Vogt und Tanner, sondern auch für Polizeiobermeister
Paul.
Der Empfang für mich war freundlich, aber reserviert.
„Ich hoffen, Sie haben einen guten Start hier in Berlin”,
sagte Bernd Tanner.
„Ich habe schon mitgekriegt, dass manche Dinge hier … etwas
anders laufen, als man es so erwartet”, meinte ich. „Aber ich werde
damit sicher klarkommen.”
„Berlin hat in den letzten Jahren eine bedenkliche Entwicklung
hinter sich”, meinte Bernd Tanner. „Es wird immer schlimmer mit den
Clans und Gangs.“
„Es geht also in die unerwünschte Richtung?”, gab ich
zurück.
Bernd Tanner nickte.
„Egal welche Statistik Sie nehmen, die Daten sehen
katastrophal aus. Neue Clans drängen sich mit brutaler Gewalt in
den Markt für illegale Drogen, die Zahl der Morde hat ein
Rekordniveau erreicht und ich könnte jetzt ein langes Klagelied
anstimmen. Das hat alles vielfältige Ursachen. Während zum Beispiel
in Hamburg oder Frankfurt sich die Kriminalität drastisch
verringert hat, ist hier in Berlin das glatte Gegenteil der
Fall.”
„Ich werde mein Bestes tun, um daran etwas zu ändern”, sagte
ich.
Bernd Tanner nickte leicht. Er wechselte einen Blick mit
Polizeiobermeister Paul, bevor er weitersprach. „Ich mag Leute, die
nicht nur herumjammern, sondern auch etwas tun, damit etwas
geschieht”, sagte er. „Anscheinend kann man auf Sie zählen,
Kommissar Mandelkow.”
„Das kann man”, versicherte ich.
11
Inzwischen war auch mein Kollege Ludwig Härtl in Berlin
eingetroffen. Als Kriminaloberkommissar wurde er natürlich sehr
viel zuvorkommender behandelt, als mir das vergönnt war.
Kommissarin Kirsten Brasch holte ihn vom Bahnhof mit dem Wagen
ab.
Kommissarin Brasch war Anfang dreißig, trug eine strenge
Knotenfrisur und hatte brünettes Haar.
„Der Kriminaldirektor erwartet Sie schon. Aber ich wäre
trotzdem dafür, dass wir erst Ihre Sachen ins Hotel bringen.”
„Ganz wie Sie wollen.”
„Es liegt auf dem Weg.”
„Woher wissen Sie, in welchem Hotel ich wohnen werde?”
„Die Sekretärin Ihres Chefs war so freundlich, es mir zu
sagen. Ich habe den Weg bereits mit dem Routenplaner
überprüft.”
„Sie überlassen anscheinend nichts dem Zufall.”
„Da ich noch nicht lange hier in Berlin bin, bin ich immer
noch auf solche Hilfsmittel angewiesen, wenn ich in der Stadt
herumfahre. Und so klein ist Berlin ja auch auch nicht.” Ihr
Gesichtsausdruck entspannte sich ganz leicht. Aber es war wirklich
nur eine Nuance. „Aber ich werde jeden Tag besser.”
„Man hat Sie schließlich auch nicht als Taxifahrer engagiert”,
meinte Ludwig.
Es hatte eine witzige Bemerkung sein sollen. Aber Kommissarin
Kirsten Brasch schien eine andere Art von Humor zu
bevorzugen.
Sie gingen zum Wagen.
„Seit wann sind Sie hier in Berlin?”, fragte Ludwig.
„Seit einem halben Jahr. Vorher war ich auf Sylt.”
„Klingt nicht unbedingt nach einem guten Tausch.”
„Wenn man nach dem Wetter geht, nicht. Aber mein Wechsel hatte
private Gründe. Ich habe mich in jemanden aus Berlin verliebt und
mich deswegen hierher versetzen lassen.”
Kurz bevor sie losfuhr, sah sie Ludwig einen Moment lang mit
einem Gesichtsausdruck an, der noch ernster wirkte, als das bei ihr
ohnehin schon der Fall war. „Ich hoffe, es gelingt Ihnen, diese
sogenannten ,Justice Warriors‘ aus dem Verkehr zu ziehen.”
„Justice Warriors?”
„So nennen die sich selber. In Wahrheit sind es einfach nur
Mörder, würde ich sagen.”
„Woher kennen Sie diesen Begriff - Justice Warriors?”
„Man bekommt so einiges mit. Auf den Fluren, aus Gesprächen …
Warum fragen Sie?”
„Weil dieser Begriff zwar in den Akten steht, aber offiziell
nicht dafür benutzt wird.”
„Ich bin hier nahe genug dran, um darauf zu pfeifen, was in
den Akten steht. Und was ich Ihnen gerade gesagt habe, werde ich
auch in Anwesenheit dritter nicht wiederholen.”
Ludwig atmete tief durch.
„Das heißt: Sie sind auf meiner Seite, aber nur im Geheimen,
weil Sie Schwierigkeiten mit Ihren Kollegen befürchten”, fasste
Ludwig die Worte von Kommissarin Kirsten Brasch in ziemlich
undiplomatischer Deutlichkeit zusammen.
„Klingt feige, oder?”
„Nun …”
„Aber wie gesagt: Ich bin erst ein halbes Jahr dabei, und um
mir eine Extra-Tour leisten zu können, weiß ich noch nicht gut
genug, wo der Hase herläuft.”
„Das heißt, es gibt tatsächlich so viele Kollegen, die die
Morde an Kriminellen gutheißen?”
„Ich glaube nicht, dass es wirklich viele sind. Aber genug, um
das allgemeine Klima zu bestimmen.”
„Verstehe.”
„Wenn Sie mich fragen: Da ist etwas im BKA aus dem Ruder
gelaufen.”
„Und woran liegt das?”
„Der Fisch stinkt immer vom Kopf her.”
„Was soll das heißen?”
„So etwa passiert doch nur, wenn die Führung zu schwach ist,
um es zu verhindern.”
„Sie meinen Kriminaldirektor Max Heide.”
„Auch das habe ich offiziell nie gesagt und werde es auch
niemals wiederholen. Aber ich denke mir, ein starker Vorgesetzter
sorgt dafür, dass sich so eine Krankheit nicht so sehr
ausbreitet.”
„Und Kriminaldirektor Heide hatte da nicht immer eine
glückliche Hand?”
„Es steht mir nicht zu, das letztlich zu beurteilen. Aber
meine private Ansicht lautete: Ja.”
Die Offenheit, mit der Kirsten Brasch mit Ludwig sprach,
erstaunte meinen Kollegen im ersten Moment. Aber auf den zweiten
Blick betrachtet, war sie vielleicht gar nicht so erstaunlich.
Dieser Moment war vielleicht die einzige Gelegenheit für sie, offen
ihre Meinung zu sagen. Die einzige Chance, die sie vielleicht sah,
um etwas zu verändern. Ansonsten fühlte sie sich dazu offenbar
nicht in der Lage.
„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Kommissarin Brasch”,
sagte Ludwig.
„Wird vermutlich nicht wieder vorkommen”, gab sie
zurück.
„Gestatten Sie, mir noch eine letzte Frage.”
„Bitte!”
„Kriminaloberkommissar Elmer Weber und Polizeioberkommissar
Hecker ja waren Kollegen - keine Kriminellen.”
„Ja, und ich gehe davon aus, dass diese Tatsache den einen
oder anderen zum Nachdenken bringt, der jetzt vielleicht noch mit
diesen Killern mehr oder weniger heimlich sympathisiert. Mich
jedenfalls hat es zum Nachdenken gebracht. Ich würde sonst kaum
hier und jetzt so mit Ihnen sprechen. Und ich finde: Ihr Tod sollte
nicht umsonst gewesen sein.”
„Das finde ich auch”, sagte Ludwig.
„Diejenigen, die fest dazu gehören, wird das natürlich nicht
berühren.”
„Warum nicht?”
„Für die sind Leute wie Weber doch sowieso Verräter.”
„Und Hecker?”
„Ich weiß nicht, warum er umgekommen ist. Aber wenn ich Sie
wäre, Herr Härtl, dann würde ich nicht ohne Schutzweste
herumlaufen.“
11
Dann ging es ins Hotel und schließlich zum Sitz des BKA, wo
Ludwig natürlich zuerst das Büro des Kriminaldirektors
aufsuchte.
„Freut mich, dass Sie hier sind, Kriminaloberkommissar Härtl”,
sagte er. „Ich denke, Ihre Mithilfe wird hoffentlich einen
entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass wir das Problem in den
Griff bekommen.”
Max Heide hatte gezögert, bevor er die Worte das Problem über
die Lippen brachte. Es klang fast so, als suchte er nach dem
richtigen Begriff, der die Situation treffend beschrieb.
„Ich glaube, das ist mehr als nur ein Problem”, erklärte
Ludwig in sehr ernstem Ton. „Um ehrlich zu sein, ich denke, dass
das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei auf dem Spiel steht.
Um nicht mehr, aber auch nicht weniger geht es hier.”
„Wir wollen nicht übertreiben”, meinte Heide.
Beide Männer sahen sich kurz an. Ludwig konnte für einen
Augenblick seine Gesichtszüge wohl nicht ausreichend unter
Kontrolle halten, sodass man ihm ansah, wie befremdet er über diese
Aussage seines Gegenübers war.
„Mein Vorgänger ist umgebracht worden. Die Sache zieht
inzwischen Kreise, die keiner von uns noch zu kontrollieren
vermag”, meinte Ludwig. „Da von Übertreibung zu sprechen finde ich
gelinde gesagt seltsam.”
Heide beugte sich vor. Es war ihm anzusehen, dass die
Belastungen der letzten Zeit ihn irgendwie gezeichnet hatten. Und
das konnte Ludwig auch gut verstehen.
„Ich möchte nur nicht, dass wir übertreiben”, sagte
Heide.
„Und ich möchte nicht, dass irgendetwas verharmlost wird”,
entgegnete Ludwig.
Max Heide blickte auf die Uhr an meinem Handgelenk.
„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Herr Härtl, aber ich habe
Hunger. Und eigentlich hatte ich mir gedacht, dass wir unsere
Unterhaltung im Chez Pierre fortführen. Das liegt schräg gegenüber
von unserem Gebäudekomplex. Wenn Sie darauf geachtet haben, konnten
Sie es sehen, als Kommissarin Brasch Sie hierher gefahren
hat.”
„Französische Küche?”, fragte Ludwig.
„Pierre Dettmer ist Franco-Deutscher und besitzt Restaurants
in Hamburg, Frankfurt, München und hier in Berlin.”
„Nichts dagegen. Ich habe tatsächlich Hunger.”
„Wir können dann etwas über die allgemeine Situation hier in
Berlin sprechen. Vor allem, was die Struktur des organisierten
Verbrechens betrifft.”
12
Ludwig Härtl und Kriminaldirektor Heide trafen ungefähr zehn
Minuten später im Chez Pierre ein. Es war dort ein Tisch für sie
reserviert.
„Ich hoffe, dass das nicht den Spesenrahmen sprengt”, sagte
Ludwig.
„Nein, tut es nicht. Es ist nicht so teuer, wie Sie
glauben.”
„Na, dann bin ich ja beruhigt.”
Nachdem sie bestellt hatten, berichtete Heide von den harten
Machtkämpfen, die derzeit zwischen ,Die Liga‘ und den Crazy Ones
stattfanden. Und er ließ auch nicht aus, welche Rolle das der Clan
von Ahmad Habeb darin spielte. „Jetzt ist die Nummer zwei der
Crazy Ones umgebracht worden: Friedhelm Carstens. Sie können sich
denken, was das bedeutet.”
„Krieg.”
„So ist es.”
„Angenommen, hinter dem Mord an Carstens stecken auch
Angehörige dieser Todesschwadron …”
„Wofür es bis jetzt noch keinen Beweis gibt”, stellte Heide
klar.
„Ich sagte angenommen”, erwiderte Ludwig.
„Okay”, murmelte Heide. Die Heftigkeit seiner Reaktion war für
Ludwig etwas überraschend gekommen. Vielleicht geht ihm das Ansehen
und der Ruf seiner Abteilung des BKA über alles, ging es Ludwig
durch den Kopf. Und möglicherweise war genau das der Punkt, der ihn
in dieser ganzen Angelegenheit so schwach erscheinen ließ, wie
Kommissarin Kirsten Brasch es bereits angemerkt hatte. Er wollte
nicht, dass etwas ans Licht kam, was nicht sein durfte.
Aber Ludwig war entschlossen, auf die Empfindlichkeiten keine
Rücksicht zu nehmen. Denn wenn dieser Sumpf aus Selbstgerechtigkeit
und Selbstjustiz trocken gelegt werden sollte, dann ging das nur,
in dem die Wahrheit restlos ans Tageslicht gezerrt wurde. Ohne
Vorbehalte. Und nur so ließ sich letztlich auch das Vertrauen der
Bevölkerung wiederherstellen.
„Falls diese Todesschwadron dahintersteckt, könnte es doch
sein, dass diese Leute genau das beabsichtigen, was nun passiert”,
sagte Ludwig.
„Sie meinen, dass Gangster andere Gangster ermorden.”
„Aus ihrer Sicht erleichtert Ihnen das die Arbeit.”
„Ja, das könnte durchaus sein.”
„Lassen Sie uns über Kommissar Weber reden”, schlug Ludwig
vor.
„Bitte! Ich habe nichts dagegen. Er war nicht gerade das, was
man kommunikativ nennen könnte. Und vielleicht hat er auch einige
im BKA vor den Kopf gestoßen.”
„Bei der Mission, die er zu erledigen hatte, wundert mich das
ehrlich gesagt nicht”, sagte Ludwig. „Könnte sein, dass es mir
ebenso ergehen wird.”
„Er wäre vielleicht noch am Leben, wenn er mich in seine Pläne
früher mit einbezogen hätte.”
„Von was für Plänen sprechen Sie?”, fragte Ludwig, denn ihm
war nicht gleich klar, worauf genau Kriminaldirektor Heide nun
eigentlich im Moment hinauswollte. „Er wurde auf einem alten
Industriegelände im Süden von Berlin gefunden”, fuhr Ludwig fort.
„Die Frage ist, was er dort wollte.”
„Er wollte sich mit jemandem treffen.”
„Mit wem?”
„Hat er nie gesagt.”
„Und welche Rolle spielt der Kollege Hecker in der
Sache?”
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Herr Härtl.”
„Hecker war nicht zufällig die Person, mit der er sich treffen
wollte?”
„Diese Gedanken habe ich mir auch gemacht,
Polizeioberkommissar.”
„Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?”