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Normalerweise gehen Kontrabässe unter im Orchester, es gibt keine Soloparts, höchstens Duos. Im Leben des Musikers ist der Kontrabaß Geliebte, Freund, Feind und Verhinderer des eigenbestimmten Weges. Soziale Analyse, Slapstick und Milieukomik und ein fest gespannter Bogen, der monologisch und entschlossen den Schwingungen des menschlichen Zusammenspiel(en)s nachstreicht.
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Seitenzahl: 59
Patrick Süskind
Der Kontrabaß
Das Stück entstand 1980
und wurde am 22.September 1981
mit Nikolaus Paryla als Regisseur und
Darsteller des Kontrabassisten im
Cuvilliétheater in München uraufgeführt
Die Erstausgabe erschien 1984
im Diogenes Verlag
Alle Rechte vorbehalten,
insbesondere das der Aufführung
durch Berufs- und Laienbühnen
und das des öffentlichen Vortrags,
auch einzelner Abschnitte
Diese Rechte sind nur von der
Diogenes Verlag AG, Sprecherstraße 8,
CH-8032 Zürich, zu erwerben
Umschlagillustration von Jean-Jacques Sempé
Alle Rechte vorbehalten
Copyright ©2014
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23000 0 (13. Auflage)
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5]
[7]Zimmer. Eine Schallplatte wird gespielt, die Zweite Sinfonie von Brahms. Jemand summt mit. Schritte, die sich entfernen, wiederkommen. Eine Flasche wird geöffnet, der Jemand schenkt sich Bier ein.
Moment… gleich… – Jetzt! Hören Sie das? Da! Jetzt! Hören Sie's? Gleich kommt's nochmal, die gleiche Passage, Moment.
Jetzt! Jetzt hören Sie's! Die Bässe meine ich. Die Kontrabässe…
Er legt den Tonarm von der Platte. Ende der Musik.
…Das bin ich. Beziehungsweise wir. Die Kollegen und ich. Staatsorchester. Zweite [8]von Brahms, es ist schon beeindruckend. In dem Fall waren wir zu sechst. Eine mittelstarke Besetzung. Insgesamt sind wir acht. Manchmal werden wir verstärkt von außerhalb auf zehn. Auch zwölf ist schon vorgekommen, das ist stark, kann ich Ihnen sagen, sehr stark. Zwölf Kontrabässe, wenn die wollen – theoretisch jetzt–, die können Sie mit einem ganzen Orchester nicht in Schach halten. Schon rein physikalisch nicht. Da können die andern einpacken. Aber ohne uns geht erst recht nichts. Können Sie jeden fragen. Jeder Musiker wird Ihnen gern bestätigen, daß ein Orchester jederzeit auf den Dirigenten verzichten kann, aber nicht auf den Kontrabaß. Jahrhundertelang sind Orchester ohne Dirigenten ausgekommen. Der Dirigent ist ja auch musikentwicklungsgeschichtlich eine Erfindung allerjüngsten Datums. Neunzehntes Jahrhundert. Und auch ich kann Ihnen bestätigen, daß sogar wir im [9]Staatsorchester gelegentlich vollständig am Dirigenten vorbeispielen. Oder über ihn hinweg. Manchmal spielen wir sogar über den Dirigenten hinweg, ohne daß er es selber merkt. Lassen den da vorn hinpinseln, was er mag und rumpeln unsern Stiefel runter. Nicht beim GMD. Aber bei einem Gastkapellmeister jederzeit. Das sind geheimste Freuden. Kaum mitzuteilen. – Aber das am Rande.
Auf der andern Seite ist eines unvorstellbar, nämlich ein Orchester ohne Kontrabaß. Man kann sogar sagen, daß Orchester – Definition jetzt – überhaupt erst da anfängt, wo ein Baß dabei ist. Es gibt Orchester ohne erste Geige, ohne Bläser, ohne Pauken und Trompeten, ohne alles. Aber nicht ohne Baß.
Worauf ich hinauswill, ist die Feststellung, daß der Kontrabaß das mit Abstand wichtigste Orchesterinstrument schlechthin ist. Das sieht man ihm nicht an.
[10]Aber er bildet das gesamte orchestrale Grundgefüge, auf dem das übrige Orchester überhaupt erst fußen kann, Dirigent eingeschlossen. Der Baß ist also das Fundament, auf dem sich dieses ganze herrliche Gebäude erhebt, bildlich. Nehmen Sie den Baß heraus, dann entsteht eine reinste babylonische Sprachverwirrung, Sodom, in dem niemand mehr weiß, warum er überhaupt Musik macht. Stellen Sie sich vor – Beispiel jetzt – Schubert h-Moll Sinfonie ohne Bässe. Eklatant. Sie können's vergessen. Sie können die gesamte Orchesterliteratur von A bis Z – und zwar was Sie wollen: Sinfonie, Oper, Solistenkonzerte–, Sie können es so wie es ist wegschmeißen, wenn Sie keine Kontrabässe haben, so wie es ist. Und fragen Sie einmal einen Orchestermusiker, wann er zum Schwimmen anfängt! Fragen Sie ihn! Wenn er den Kontrabaß nicht mehr hört. Ein Fiasko. In einer Jazzband ist das ja noch deutlicher. Eine [11]Jazzband fliegt explosionsartig auseinander – bildlich jetzt – wenn der Baß aussetzt. Den andern Musikern erscheint dann mit einem Schlag alles sinnlos. Im übrigen lehne ich Jazz ab, auch Rock und diese Dinge. Denn als ein im klassischen Sinne am Schönen, Guten und Wahren ausgerichteter Künstler hüte ich mich vor nichts so sehr wie vor der Anarchie der freien Improvisation. Aber das am Rande.–
Ich wollte nur einleitend feststellen, daß der Kontrabaß das zentrale Orchesterinstrument ist. Im Grunde weiß das auch jeder. Es gibt bloß keiner offen zu, weil der Orchestermusiker naturgemäß leicht eifersüchtig ist. Wie stünde unser Konzertmeister mit seiner Violine da, wenn er zugeben müßte, daß er ohne den Kontrabaß dastünde wie der Kaiser ohne Kleider – ein lächerliches Symbol der eigenen Unwichtigkeit und Eitelkeit? Nicht gut stünde er da. [12]Gar nicht gut. Ich darf einen Schluck trinken…
Er trinkt einen Schluck Bier.
…Ich bin ein bescheidener Mensch. Aber als Musiker weiß ich, was der Boden ist, auf dem ich stehe; die Muttererde, in die hinein wir alle verwurzelt sind; der Kraftquell, aus dem heraus sich jeder musikalische Gedanke speist; der eigentlich zeugende Pol, aus dessen Lenden – bildlich – der musikalische Same quillt… – das bin ich! – Ich meine der Baß ist das. Der Kontrabaß. Und alles andere ist Gegenpol. Alles andere wird erst durch den Baß zum Pol. Zum Beispiel Sopran. Oper jetzt. Sopran als – wie soll ich sagen… wissen Sie, wir haben da jetzt eine junge Sopranistin an der Oper, Mezzosopran, – ich habe eine Menge Stimmen gehört, aber das ist wirklich anrührend. Ich fühle mich zutiefst angerührt von dieser [13]Frau. Ein Mädchen beinahe noch, Mitte zwanzig. Ich selbst bin fünfunddreißig. Im August werde ich sechsunddreißig. Immer in den Orchesterferien. Eine herrliche Frau. Beflügelnd… das am Rande.–
Also: Sopran – jetzt Beispiel – als das entgegengesetzteste, was sich zum Kontrabaß denken läßt, menschlich und instrumentell-klanglich, wäre dann… wäre dann dieser Sopran… oder Mezzosopran… genau jener Gegenpol, von dem aus… oder besser: zu dem hin… oder mit dem vereint der Kontrabaß… ganz unwiderstehlich – quasi – den musikalischen Funken schlägt, von Pol zu Pol, von Baß zu Sopran – oder Mezzo hinaufzu, aufwärts – allegorisch die Lerche… göttlich, hoch da droben, in universaler Höhe, ewigkeitsnah, kosmisch, sexuell-erotisch-unendlich-triebhaft, gleichsam… und doch eingebunden in das Spannungsfeld des Magnetpols, der vom Sockel des erdnahen [14]Kontrabasses abstrahlt, archaisch, der Kontrabaß ist archaisch, wenn Sie verstehen, was ich meine… Und nur so ist Musik möglich. Denn in dieser Spannung von hier und dort, von hoch und tief, da spielt sich alles ab, was einen Sinn hat in der Musik, da zeugt sich musikalischer Sinn und Leben, ja Leben schlechthin. – Also ich sage Ihnen, diese Sängerin – das beiseite–, sie heißt übrigens Sarah, ich sage Ihnen, die kommt einmal ganz groß raus. Wenn ich was verstehe von Musik, und ich verstehe etwas davon, dann kommt die ganz groß raus. Und dazu tragen wir bei, wir vom Orchester, und jetzt speziell wir Kontrabassisten, also ich. Das ist schon eine befriedigende Sache. Gut. Also Rekapitulation jetzt: Der Kontrabaß ist das grundlegende Orchesterinstrument wegen seiner fundamentalen Tiefe. In einem Wort ist der Kontrabaß das tiefste Streichinstrument. Er geht hinunter bis zum Kontra-E. Ich darf [15]Ihnen das vielleicht einmal vorspielen… Moment…
Er nimmt noch einen Schluck Bier, steht auf, nimmt sein Instrument, spannt den Bogen.