Der korsische Aufstand - Wolfgang Cornelius - E-Book

Der korsische Aufstand E-Book

Wolfgang Cornelius

4,9

Beschreibung

Korsika, die Trauminsel im Mittelmeer, das Paradies für alle Naturliebhaber und Freunde unverfälschter Landschaften.... So beschreibt sie der Tourismusprospekt. Aber es ist auch eine Insel voller Blut, Leid und Tränen. Eine Insel der Vendetta, des Verrats, der Rache, einer Rache, die fortzeugend wieder Rache gebiert, neues Blut verströmt und neue Tränen vergießt. Dieses Buch beschreibt ein Drama, das abläuft vor dem Hintergrund der korsischen Freiheitskriege des 18. Jahrhunderts und der nationalistischen Revolten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts bis heute. Es ist ein Buch überfließender Leidenschaften und staatlicher Fehlreaktionen, die zu nichts anderem hinführen konnten als in die Tragödie. Es ist auch ein Buch über eine europäische Dekadenz. Und dennoch gibt es auch in diesem Roman Liebe, Schönheit und ein Stück Hoffnung. Das Buch beschreibt die Großartigkeit korsischer Landschaften und den Freiheitskampf des Menschen.

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Inhalt:

Prolog

Teil 1: Ein Haus auf Korsika und eine Liebesgeschichte

Gierige Blicke auf eine Schatztruhe

Ulrich Krangels Lebensgeschichte

Ulrich Krangel überfährt ein Kind

Der Blitz

Eine Soiree in Livorno

Eine Hausruine und eine glutvolle Liebesnacht

Hausbau und Lebenspläne

Liebesbriefe, Liebesbriefe?

Teil 2: Ein Kampf um Freiheit

Ein Abschiedsbrief

Das rasche Ende einer Liebschaft?

Sterben in innerer Emigration und Verzweiflung

Plastiques

Flammen über Europa

Baufortschritte und weitere Briefe

Im Weingut kommt ein Fass zum Überlaufen

Ein Streitgespräch

Pasquales Staat

Die Feuerlohe

Richtfest

Deutsche Zwischenspiele

La brise de mer

Der Mord

Teil 3: Gräber und Tränen

Hintergründe

Maquisards

Im Dornengeflicht

Ins neue Haus

Schneesturm

Polizeiverhöre

Tango d’amour

Treibjagd, Treibjagd?

Der Verrat

Chez Francis

Vendetta und Schweigen

Epilog

Anmerkungen und Quellen

Prolog

Die Nacht ist schwarz. Fast kein Stern. Breite Wolkenflöße ziehen lautlos und beinahe unsichtbar vor dem Universum vorbei.

Ich schließe meine Augen. Funkelnde Lichter. Wie blinkende Schellen an den Füßen meiner Unfreiheit. Unter meinem Rücken Sand und Steine. Das Meer rauscht mir eine Paghiella ins Ohr. Eine Paghiella voller Traurigkeit und Verzweiflung. Eine Zeitenwende. Das Alte hat die Zeit in den Klauen, wie ein Greif die geschlagene Taube.

Mehr Licht! Das Goethewort jagt Mondgespenster vorüber. Hinter den treibenden Wolkenfetzen. Oder vor dem bleichtoten Gesellen? Vorbei. Sterbendes Wort. Totes Licht. Kurz eine Sägezahnkurve vor der Stille. Die Berge überdauern die Stille, die Dunkelheit und den menschlichen Wahnsinn, sie.

Mondfetzen und Wolkengespenster jagen dahin. Jagen mein Schweigen. Spülen dahin und fort. Wie eine Lehmflut, die die Auen durchpflügt, über den Ufern mit Tosen. Ein Gesicht taucht aus den wallenden Fluten, goldhaarumlockt, das mich hält. Und Kinderlachen. Und das nicht beschreibbare Gefühl, dass ich liebe.

Die Gespenster ziehen dahin. Mit ihnen der Wahn. Die korsische Erde ist hart und die Steine. Und das Meer rauscht mir eine Paghiella ins Ohr. Voller Wehmut und Hoffnung.

Teil 1

Ein Haus auf Korsika und eine Liebesgeschichte

1. Kapitel

Gierige Blicke auf eine Schatztruhe

„Ich“, sagte ich. Der Maire, Guiseppe Simoni, beeilte sich mit kühler Stimme hinzuzufügen: „ich selbstverständlich auch“.

Im gedämpften Licht unterm Kellergewölbe aus uraltem Natursteinmauerwerk, grob behauenem grünlich grauem Granit, Schattengemäuer, vom offenen Eingang her Feuchteglitzern am Boden, durch die Eingangstüre verlor sich der Blick im Dunkelgelaub der Steineichen, in diesem schwachen Licht loh ein eigenartiges Glimmen in den Augentiefen der Anwesenden, funkelte wie das Leuchten in den Augen wilder Tiere in der Dämmerung, wilder Tiere, die Beute witterten.

Es vergingen einige Sekunden, dann sagte Alfonso, er erhebe Anspruch auf den ihm zustehenden Anteil. Der Notar Bagnol, amtsstubenfern leger gekleidet, graubrauner Leinensakko, krawattenfreies braunbeiges Cordhemd, der die Frage gestellt hatte, schaute ihn mit verblüffter Miene an. Signora Doretta Castigliani, Alfonsos Mutter, fragte „Wieso?“

Die Blicke aller Anwesenden, die wie Stricke, die etwas festbinden wollten, auf die Holzkiste fixiert gewesen waren, die auf dem schweren, groben Eichentisch in meinem Kellergewölbe stand, brannten sich jetzt auf Alfonso ein, wie glühende Kohlestücke, bohrende Fragen, ungläubige Fragen: wieso auch er?

Alfonso, mit seinem schmalen, blassen und immer gierig auf seinen Vorteil bedachten Geiergesicht blieb von den auf ihn eindringenden Blickfragen völlig unbeeindruckt. Ruhig sagte er, er möchte den beiden Herren nicht vorgreifen. Diese hätten sich zuerst erklärt, also möchte er ihnen auch Gelegenheit geben, zuerst ihre Ansprüche zu begründen. Er werde dann das Seinige ergänzen.

Das hatte er sich schlau ausgedacht, dieser Fuchs. Erst die anderen reden lassen, dann die eigenen Argumente an das Gehörte anpassen, möglichst so formuliert, dass dabei die vorgebrachten Begründungen gleich widerlegt werden. Am unangenehmste daran, dass sofort der bohrend fragende Blick Maitre Bagnols wie ein Stilett auf mich gerichtet wurde.

Ich musste reden. Und dabei war mein Inneres viel zu aufgewühlt von Dorettas heuchlerischem „wieso?“. Ihr distanziert kühles Verhältnis zu ihrem Geschäftemachersohn, alles nur Fassade, Verstellung, Heuchelei. Jetzt, wo es um etwas ging, wo es um die Kiste ging, die schwer und stumpf und mit Blei beschlagen auf den Eichenbohlentisch gewuchtet worden war, hatte sie mich kalt lächelnd verraten, hatte in ihrer weibischen Schwatzhaftigkeit die Entdeckung des Kellergewölbes kundgetan, in der schließlich die Kiste gefunden worden war, sie, meine Sonnenuntergangsgeliebte, hatte die Familieninteressen wie Zügel in die Hand genommen.

Sie war es, die für diese Zusammenkunft Anlass gegeben und deren Sohn jetzt überraschend seinen Hut in den Ring geworfen hatte. Die Bande des Erwerbssinnes, sie waren stärker, als die Bande der Liebe, mit denen sie, die Verführerin und Zirze mich umwunden, umgürtet und umfesselt hatte.

„Wer erhebt Anspruch auf die hier auf dem Tisch stehende Kiste und ihren Inhalt?“. So hatte die Frage von Maitre Jean Bagnol gelautet, dem Notar aus Ajaccio. Und jetzt stachen alle Blickdolche auf mich ein, nicht nur Bagnols, auch der Bürgermeister Simoni starrte mich an, ebenso Alfonso Castigliani und Doretta.

Ich sagte, ich hätte dieses Grundstück von der Gemeinde erworben, samt der darauf befindlichen Ruine, die wieder aufzurichten, gemäß den behördlichen Auflagen und Bauvorschriften, ich im Begriffe sei, gemäß notariellem Kaufvertrag erworben, verfasst und mitunterschrieben von Maitre Bagnol und unterschrieben in Vertretung der Gemeinde, der Verkäuferin, und zwar als deren Vertreter vom Bürgermeister Signore Guiseppe Simoni sowie dem Schatzmeister der Commune, unterschrieben auch vom Makler, Signore Alfonso Castigliani, der den Verkauf vermittelt hatte und der darin ausdrücklich auf jegliche Maklerprovision verzichtet hatte, gekauft, wie besehen, so stünde es expressis verbis im Kaufvertrag und deshalb sei alles, was auf dem Grundstück und den darauf befindlichen Bauresten aufgefunden, mein Eigentum, das mir zustehe, das ich beanspruche, auch diese Holzkiste samt ihrem Inhalt.

Der Notar machte sich handschriftliche Notizen, dann hob er langsam Kopf und Blick in Richtung auf Signore Simoni.

Der hebt langsam den Kopf, dessen Blick an der Kiste gehaftet hatte, hebt ihn in Richtung des Notars, dann schwenkt er ruckartig zu mir, wie ein abgeschossener Pfeil. „Nicht alles“, so hebt er an, „was Herr Krangel hier vorgebracht hat, entspricht den Tatsachen. Der Kaufvertrag wurde abgeschlossen, aber unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass der Verkauf ohne Inventar und ohne Mobiliar stattfindet.“ Deshalb sei die Truhe, so argumentiert er weiter, die ja eindeutig dem Mobiliar zuzuschreiben sei, auch nicht verkauft worden, sondern nach wie vor im Besitz der Gemeinde, die ihre Ansprüche hiermit kundtäte.

Ich unterbrach ihn. Dieser Passus im Vertrag weise nur auf die Tatsache hin, dass es sich um eine Ruine handele, in der Mobiliar nicht zu erwarten wäre – und wenn doch irgendwelche Gegenstände dort aufgefunden würden, so gelte diesbezüglich der Satz „gekauft, wie besehen“. Weiterhin sei bei der Festlegung des Kaufpreises im Vertrag klar zum Ausdruck gekommen, dass damit alles, was auf dem Grundstück angetroffen werde, wie Baulichkeiten, Mineralien und Bewuchs abgegolten sei.

„Aber kein Mobiliar!“ unterbrach nun seinerseits der Bürgermeister mich. Der Notar sagte beschwichtigend, es könne sein, dass das eine Frage sei, die vielleicht nur von einem Gericht abschließend würde geklärt werden können. Hier gehe es darum, festzustellen, wer Ansprüche erhebe.

Er machte sich wieder einige Notizen, dann fuhr er fort und sagte, dass es noch einen Dritten gäbe, der Ansprüche angemeldet hätte und er möchte nun gerne hören, worauf Signore Alfonso Castigliani diese Ansprüche gründe.

Alfonso, mit seiner hohen, immer etwas mehlig verschleiert wirkenden Stimme, abwägend und seine Worte langsam setzend, die Formulierungen im Sprechen erst vollendend und auf eine Waagschale legend, sagte, er unterstütze voll die Ansprüche von Herrn Krangel, aber….

Dieses „Aber“ lag nun plötzlich wie ein Stein im Weg, betont und hervorgehoben durch eine lange, bewusste, nachfolgende Pause, die zum Bewusstsein bringen sollte, nachdrücklich zum Bewusstsein bringen sollte, dass diesem „Aber“ eine argumentative Einschränkung folgen würde, die die verbale volle Unterstützung meines Anspruches mehr als zweifelhaft erscheinen lassen müsste.

Alfonso wies darauf hin – ich hatte es erwartet, bedrückt erwartet, dass den Kaufvertrag noch ein gesonderter Maklervertrag ergänze, in dem klar festgelegt sei, dass der Verzicht auf eine Maklerprovision sich nur auf den Verkehrswert des Grundstückes zu den marktüblichen Preisen bezöge, nicht aber auf bei Vertragsabschluss nicht bekannte Werte, wie Bodenschätze, falls solche auf dem Grundstück angetroffen würden. Deshalb erhebe er Anspruch auf die gesetzlich festgelegte prozentuale Maklerprovision, bemessen an dem Wert dieser Schatztruhe und ihres Inhalts.

„Schatztruhe“, jetzt war dieses Wort gefallen, erstmalig in dieser Runde. Die Augen der Beteiligten wurden noch glühender. Die Gier funkelte. Und die Karten waren neu gemischt. Alfonso hatte mir offen ein Bündnisangebot gemacht. Blieb die Kiste im Besitz der Gemeinde, ging auch er leer aus. Also schlug er sich auf meine Seite, in der Hoffnung, eine satte Provision für sich abzweigen zu können. Ich dagegen war in einer Zwickmühle. Meine Hoffnungen, die ganze Kiste in meinem Besitz zu halten und als Eigentum zugesprochen zu erhalten, sah ich schwinden.

Ich versuchte noch den Einwand, dass die Kiste kein Bodenschatz sei, Alfonso konterte aber blitzschnell, dass sie einen bei Kaufabschluss nicht bekannten Wert darstelle. Simoni redete dazwischen, dass dies egal sei, die Kiste würde nicht verkauft werden, sie sei nach wie vor im Eigentum der Gemeinde, eine Maklerprovision stehe nicht zur Disposition.

Immer deutlicher wurde mir klar, dass ich Alfonsos Unterstützung benötigen würde, um wenigstens den größten Teil des in der Kiste vermuteten Schatzes für mich zu retten, aber auch, dass mich diese Unterstützung zu einer gehörigen Abgabe zwingen würde.

So war es schließlich von meiner Seite aus wie die Annahme des Bündnisangebots, als ich vorschlug, man solle doch am besten gemeinsam die Kiste öffnen, um festzustellen, worum man sich denn hier überhaupt streite.

Der Notar sagte, er habe beschlossen, die Kiste öffnen zu lassen, ein Protokoll über den gesamten Inhalt anzufertigen und, damit keine Unregelmäßigkeiten geschehen könnten, die Gendarmerie von Ajaccio in einem gepanzerten Fahrzeug hierher beordert, welcher er anschließend die Kiste samt Inhalt überantworten wolle, bis die Eigentumsverhältnisse an der Truhe abschließend geklärt seien.

Die Gendarmen wurden in das Kellergewölbe hereingerufen, dann forderte der Notar mich auf, die Kiste vorsichtig zu öffnen, da ich als der Hausherr mit geeigneten Werkzeugen ausgestattet sei.

Ich schälte nun mit einem breiten Messer die Wachshülle ab, mit der die ganze Kiste rundum abgedichtet worden war, trennte mit einem Meißel und mit vorsichtigen Hammerschlägen die beiden Bleibänder durch, die die Kiste umspannten. Darunter kamen eiserne Verschlusslaschen zum Vorschein. Sie waren ohne Sicherung durch ein Schloss über einen eisernen Kloben gesteckt. Mit einem simplen Schraubenzieher ließen sie sich abspreizen und der hölzerne Deckel sprang auf.

Sofort fuhren alle Köpfe zusammen. Die habgierigen Blicke suchten den Inhalt aufzusaugen. Aber es befand sich eine zweite Kiste im Innern. Diese erschien wie aus grauem Metall. Sie war so passgenau gefertigt, dass kaum eine Lücke zwischen äußerer und innerer Kiste frei geblieben war.

Mit der Hilfe von zwei Schraubendrehern konnte ich die innere Kiste ein Stückchen in die Höhe hebeln, aber dann rutschte sie wieder mit einem dumpfen Plubb zurück. Erst, als ich die Außenkiste um 90 Grad kippte und deren Deckel von Maitre Bagnol hoch halten ließ, gelang es mir, Stück für Stück, die innere Kiste herauszuhebeln.

Sie war aus Blei gefertigt und die Fuge zwischen Deckel und Kistenkörper war wie bei der Außenkiste mit einer dicken Wachsschicht abgedichtet. Es bereitete mir eine diebische Freude, die angespannten Gemüter der Beteiligten auf die Folter zu spannen und mit Umstand und Sorgfalt die Wachsschicht abzuschälen.

Dann ließen sich die Verschlussbänder, die ähnlich angefertigt waren, wie bei der Außentruhe, abhebeln und auch der graue schwere Deckel der Innentruhe klappte zurück.

2. Kapitel

Ulrich Krangels Lebensgeschichte

Ich, Ulrich Krangel, bin ohne Vater aufgewachsen aber das hat mich selten gestört. Ich kenne weder seinen Namen, weiß nicht, wie er aussieht, noch, ob er überhaupt noch lebte, während ich eine unbeschwerte Kindheit an der Seite meiner Mama durchlebte. Unbeschwert, wenn man von den Kriegsereignissen dieser Jahre absah.

Meine Mutter redete nicht über meinen Vater. Als ich, in einige Jahre gekommen, anfing, Fragen zu stellen, wich sie immer aus, so dass ich das Fragen bald wieder einstellte.

Dass ich den gleichen Familiennamen trug, wie Mama und Großmama, unterschied mich nicht von anderen Kindern. Roseau hatte er geheißen, der Name meiner Kindheit, Ulrich Roseau. Deutschsprachige Kinder nannten mich Halm. Mama nannte mich Röhrchen. Auch sie war deutschsprachig, wie die Großmutter. Der Name kam vom Großvater, Franzose. Aber der war schon tot, als ich anfing, das Leben bewusst wahrzunehmen.

Als es vorbei war mit der Deutschsprachigkeit im Elsass, zog Mama ins Badische. Nicht gleich. Großmama hielt sie noch ein Jahr in Kaysersberg. Dann ließen wir ein Grab zurück und nahmen Erinnerungen mit über den Rhein.

Freiburg, Sautierstraße. Unverputztes Haus, aus Bauschuttziegeln wieder aufgemauert. Sozialer Wohnungsbau, kleine Wohnung. Die Wenigsten sprachen die Straße französisch. Für die meisten war sie ein Schweinevieh.

Aber dort trat Krangel in mein Leben, der mir einen neuen Namen gab.

Erstes Kino nach dem Kriege. Ich weiß nicht mehr, wie der Kinderfilm hieß, in den mich Mama mit gönnerhafter Miene mitnahm. Wo ich doch jetzt bald in die Schule kommen würde, sagte sie. Danach Eisdiele. Am Nachbartisch ein sommersprossiges Mädelchen mit langen Zöpfen und hellblauen Schleifen. Blonde, ins rötliche schimmernde Haare. Sie spielte mit einer Puppe. Und über die Puppe krabbelte ein Käfer. Ein länglicher Käfer mit grünlich und golden schimmerndem Panzer und drahtdünnen gewinkelten Beinchen, mehr als körperlangen Fühlern. Ich griff nach dem Käfer. Aber das Mädele zerrte meine geschlossene Faust auseinander und nahm den Käfer an sich.

Dann krabbelte der Käfer von ihrer Hand auf meine Hand und wieder zurück. Von ihr wieder zu mir. Da lachte das Mädelchen. Ich weiß nicht mehr, wie lange der Käfer über unsere Hände gekrabbelt war. Aber plötzlich bemerkte ich, dass dem Käfer ein Bein fehlte. Es steckte zwischen Zeige- und Mittelfinger meiner Hand. Ich nahm mit spitzen Fingern der anderen Hand das Beinchen auf und hielt es in die Höhe. Da schrie das Mädele auf und schubste mich weg.

Auf meinem Stuhl am anderen Tisch aber saß ein Mann. Ein Mann mit Schnurrbart, kariertem Hemd, brauner Wolljacke und grauer Hose. Überbleibsel einer Wehrmachtsuniform. Es war Krangel. Mama war sichtlich verlegen und nestelte immer an einem mit Spitzen eingefassten Taschentuch.

Die Geschichte entwickelte sich so, dass wir umzogen. Mama und ich. Und Krangel. In eine gemeinsame Wohnung. Es gab eine Hochzeit und den ersten Gänsebraten in meinem jungen Leben. Ich weiß noch, dass mir ganz schlecht wurde von dem Fett in diesem dürren Reichsmarkjahr im Breisgau. Und das, obwohl Mama sorgfältig mit dem Löffel alles Fett abgeschöpft und in einer Schüssel gesammelt hatte, um wochenlang noch damit zu kochen und ungewohnte Schmackhaftigkeit ans Essen zu bringen.

Als ich den neuen Namen verliehen bekam, war das erste Schuljahr fast zu Ende. In den Ferien zog die neue Familie nach Bayern und dort kannte keiner den alten. Es gab keine dummen Fragen zu beantworten.

Dass Krangel ein so genannter „Organisierer“, ein „Schwarzhändler“ war, merkte ich erst nach und nach und in der vollen Bedeutung erst, als es längst vorbei war. Wie sollte ich auch, ich war ja damals noch ein Kind.

In der Freiburger ehelichen Wohnung stapelten sich, meist im Flur offen, manchmal versteckt hinterm Vorhang merkwürdige Dinge: Schlafsäcke, Zeltbahnen, Essgeschirre, Soldatenstiefel aus US-Army- oder Wehrmachtsbeständen. Silberbestecke von WMF, Geigenkästen mit Violinen drin (hinterm Vorhang, weil „organisiert“), Armbanduhren, elektrische Heizsonnen, Kaffeedosen, Waffeleisen, Flakons mit verführerischen Düften und Puppen mit Käthe-Kruse-Köpfen aus Keramik, richtige Mädchenpuppen. Die Sachen kamen und verschwanden wieder.

Das wichtigste aber waren die Pakete mit der „Stangenwährung“, wie Krangel sich ausdrückte. Die waren im Schlafzimmer im Kleiderschrank versteckt. Krangel zeigte mir mal seine „Stangen“. Am meisten interessierte mich das rotgoldene Kamel auf den Stangen. Auf anderen entzifferte ich, orthografisch nicht ganz korrekt, mit meinen noch im Stadium des Entstehens befindlichen Lesekenntnissen den Schriftzug „Luken Stricke“ (Luky Strike). Dafür könne man heutzutage alles bekommen, was man brauche, erklärte mir Krangel.

Mama hatte, es war noch in der Sautierstraße, auf einer alten Nähmaschine mit Fußpedalantrieb Büstenhalter genäht. Französischer Chic hatte sie gesagt und wurde ganz seltsam verlegen dabei. Damit zog sie auf die Dörfer und tauschte sie gegen Viktualien. Offiziell war das verboten, aber sie passte immer auf und wurde nie erwischt von der französischen Militärpolizei. Obst, Gemüse, Eier, seltener gab es ein Stück Geräuchertes dafür. Krangel tauschte dann die „Pariser Dessous“ gegen Wein. Nur beste Lagen des Markgräfler Landes. Als Krangel in unser Leben getreten war, hatte die Not ein Ende. Denn er verschaffte uns zusätzliche Lebensmittelkarten auf Schleichwegen in den Amtsstuben der einschlägigen Behörden.

Mit dem Umzug nach Bayern war dann alles vorbei, das „Organisieren“ und „Abstauben“, das vorsichtige um sich blicken auf den Bahnhöfen, das umsichtige Entwickeln und Pflegen von Beziehungen in Amtsstuben, die die verbreitete Not ein wenig zu lindern wussten. Der Umzug kam überraschend, fast würde ich sagen überstürzt, in Eile, fluchtartig. Es musste vorher etwas schief gelaufen sein, beim „Organisieren“.

Mit der D-Mark aber waren die Läden voll, über Nacht, gab es plötzlich alles zu kaufen – offiziell. Der Schwarzmarkt war zusammengebrochen. Krangel warf kartonweise seine Ware in die Mülltonnen und nahm ehrliche Arbeit an.

Krangel hatte Arbeit in einer Schlosserwerkstatt in Augsburg. Er zeigte mir einmal schmiedeeiserne Fenstergitter, die er angefertigt hatte.

Deutschland erhob sich wie ein Phönix aus der Asche, in die es sich selbstverschuldet geworfen hatte, erhob sich aus dem Dreck.

Die Ehe zwischen Krangel und Mama floss so in die Jahre, hatte weder Höhen noch Tiefen noch Kinder. Vielleicht war es mein Glück, dass Krangel keine eigenen Kinder bekam, so wandten sich alle seine väterlichen Gefühle mir zu. Er zeigte mir, wie man Eisen schmiedet, welche Bohrer man für welches Material benötigt, wie man schweißt.

Am Wochenende machten wir von unserer Wohnung in Haunstetten aus lange Spaziergänge in die Lechauen oder über den Hochablass hinüber, oder in den Siebentischwald, an den Lechkanälen entlang.

Als ich die Volksschule abgeschlossen hatte, gab es wieder einen Umzug. Nach München. Ich begann eine Lehre als Kraftfahrzeugmechaniker bei der Mahag in der Schleibingerstraße, Stadtteil Giesing.

Dreizimmerneubauwohnung am Rande eines Ruinenfeldes. Krangel, der ja eigentlich gelernter Schlosser war. traute sich plötzlich zu, Autos zu reparieren. Nicht bei der Mahag, aber gleich nebenan. Auf dem Ruinenfeld, an dessen Rand unsere Wohnung lag. „Unfallinstandsetzung“ stand auf dem Schild an einer Ruinenwand. Uns kleiner darunter „J. Krangel, alle Marken“.

Die Ruine hatte keine Decke und auch kein eigentliches Dach. Aber auf halber Höhe des Obergeschoßes war ein Behelfsdach eingezogen worden. Aus alten Balken, die den Bombenkrieg unverbrannt überstanden hatten und einer Blechabdeckung. So entstand eine kleine Werkhalle von anderthalbfacher Zimmerhöhe- Ein quietschendes grün gestrichenes Eisentor, mit einem Vorhängeschloss abschließbar, verschaffte Zutritt und Zufahrt, auch für höhere Fahrzeuge. Krangel hatte eigenhändig, obwohl nur im Mieterstand, unterm Fußboden des nicht unterkellerten Hauses eine Grube ausgehoben. So kam er auch von unten an die Havarieautos heran.

Krangel war geschickt. Das erlaubte ihm, billig zu arbeiten. So bekam er rasch Zulauf und Aufträge und nach einem guten Jahr konnte er sogar einen Gehilfen einstellen. Ich verbrachte meine Feierabende gerne in Krangels Werkstätte und erlernte bei ihm fast mehr an handwerklichen Fähigkeiten als bei meiner eigentlichen Lehre.

Dann passierte das Unglück. Als in Krangels Werkstatt eine Gasflasche explodierte und Krangel dabei ums Leben kam, sah ich meine Mama zum ersten Mal weinen.

Ich war im dritten Lehrjahr und verdiente ein paar Kröten. Krangel hinterließ ein bisschen Erspartes und eine Witwenrente. Wir schlugen uns so durch. Mama hatte gerade die Mitte Dreißig erreicht.

Sie blieb nicht lange ohne Mann. Roseau, mein Großvater war Lehrer gewesen. Professeur war er ehrfürchtig von allen genannt worden. Jetzt, da Krangel tot war, erzählte Mama häufig von ihrem Vater. Und in der Erinnerung mauserte sie sich von der Arbeiterwitwe zur Professorentochter mit höherer Schulbildung.

Und sie eroberte einen schon älteren Kurarzt mit Villa in Solln und mehreren Eigentumswohnungen in Bad Tölz. Mir wurde sie dabei erstmals fremd. Ich hatte meine Lehre beendet und als Kraftfahrzeugmechaniker gearbeitet. Bis ich volljährig wurde und mit Stolz in der Brust meinen Führerschein entgegennahm. Klasse III zuerst und ein paar Jahre danach Klasse II.

Ich wurde Lastwagenfahrer. Jetzt floss der Zaster. Denn Räder rollen nicht nur 8 Stunden am Tag.

Milch nach Italien. Obst aus Spanien. Maschinenteile zum Einschiffen nach Rotterdam. Käse zurück. Papiere vom Bayerwald nach Frankfurt. Autotransporte hinter den eisernen Vorhang. Dort gab es lange Wartezeiten und schikanöse Grenzkontrollen. Aber auch Weiber. Ungarinnen mit Paprika im Blut. Rumäninnen mit dicken Zöpfen. Das war etwas anderes, als Käte, die eine zeitlang mein Bett teilte. Wenn ich zuhause war. Es war ihr zu wenig. Eines Tages fand ich ein Blatt beschriebenes Papier, als ich, von der Normandie kommend, den heimischen Herd ansteuerte. Sie hätte es satt, immer nur warten zu müssen und ich würde sie niemals wieder sehen. Ich sah sie niemals wieder.

Auch mit Elke dauerte es nur ein Jahr. Dann kamen eine schwarzlockige Heidelore und die rote Lotti. Die rote Lotti hatte mich drei Jahre gefesselt. Seitdem stehe ich auf Rothaarige. Am liebsten mit Sommersprossen. Der Goldkäfer, dem ein Bein fehlte, kam mir wieder in die Erinnerung.

So vergingen die Jahre. Einhunderttausend Kilometer. Manchmal mehr, seltener weniger. Griechenland. Über den jugoslawischen Autoput. Portugal an der Algarve. Oder Stockholm mit nackten Schwedenmädels in den Schären. One night stunts in der Schlafkabine des Lastzugs. Das Leben eines Fernfahrers ist wild und zügellos.

Dann spezialisierte ich mich auf Frankreich und das wallonische Belgien. Sprachkurs auf Kosten der Speditionsfirma. Schnellkurs. Aber ich frischte die Sprachkenntnisse meiner Kindheitsjahre wieder auf. Vertiefte sie.

Deutsche Autos nach Frankreich. Französische Autos nach Deutschland. Im langen doppelstöckigen PKW- Transporter. Dann der Schock.

Als Mama und ihr Fangopackungsdoktor von einem Kollegen überrollt wurden, von einem Kollegen, den ich zu allem Unglück auch noch kannte, war es zu Ende mit meiner Wildheit, mit meinen roaring fourties.

Mama überlebte den Kurarzt um ein paar Stunden, so erbte zunächst sie und mittelbar ich die Villa in Solln und die Eigentumswohnungen in Bad Tölz. Und ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Der Kurarzt musste satt verdient haben mit seinen Moorbädern.

Ich, der Vagabund der Straßen war nun frei von der Notwendigkeit, mein Geld mit knechthafter Arbeit herbeimalochen zu müssen. Nein, meine Herren, Schluss ist es mit den Direktiven: fahr da hin oder dort hin. Ich fahre jetzt da hin, wo ich hin will, meine Herren. Ich fahre jetzt, wann ich will, meine Herren. Ich fahre jetzt so lange ich will. Bleibe, wo ich will und so lange, wie ich will, meine Herren!

Ich gab die Lasterschlüssel ab, wurde Privatier, zog in eine der Tölzer Wohnungen und vermietete die anderen Immobilien. Aber den Straßen blieb ich treu, tauschte die Lastzüge gegen ein kleines aber schickes Reisemobil. Ein Wolf der Straßen blieb ich, ein schweifender Wolf. Hierhin, dorthin. Blieb aber auch manchmal länger an einem Fleck. Zuletzt einen ganzen Monat bei Gina in San Gimignano.

3. Kapitel

Ulrich Krangel überfährt ein Kind

Der Verkehr verdichtete sich erneut auf der Via Leonardo da Vinci. Ich hatte keine Fähre gebucht, weil ich vor der Saison und mitten in der Woche keinen großen Andrang erwartete. Aber dann gab es Stau auf der Autostrada zwischen Pisa und Livorno. 1) Und dann machte ich einen Fehler, wie er mir in dreißig Jahren auf Europas Straßen noch nie passiert war: ich fuhr den Wegweisern zum Hafen nach, obwohl ich genau in Erinnerung hatte, dass ich vor drei Jahren anders gefahren war.

Ich, Ulrich Krangel, habe ein Superhirn. Wenigstens, was das optische Gedächtnis anbelangt. Wo immer ich einmal gewesen war, wenn ich erneut an die Stätte kam, erkannte ich sie wieder. Auch, wenn Jahre dazwischen lagen. Die Bilder waren fast unauslöschbar gespeichert in meinem Gehirn und abrufbar. Auch wenn zwischenzeitlich manches gebaut und verändert wurde. Ein paar alte erhalten gebliebene Häuser genügten. Ich kannte meine Wege. Fast dreißig Jahre lang kreuz und quer durchs alte Europa hatten mich geprägt.

Natürlich wusste ich, dass ich vor drei Jahren vom Ende der Autostrada in die Stadt gekommen war. Über die Variante Aurelia zur Statione Centrale und über die Viale Carducci und einige Einbahnstrassen zur Piazza della Repubblica und von da über enge Gässchen abkürzend zur Statione Marittima und zur Einschiffung auf die Insel Korsika.

Nun aber zeigte der Wegweiser zum Hafen in eine enge Schleife nach rechts, wo ich damals nach links gefahren war. Ich dachte, da haben die eine neue Trassierung angelegt und ich kann mir die engen und vielleicht verstopften Gässchen sparen.

Nun aber führte mich eine schier endlose Straße wieder nach Norden. Mehrmals wechselte ich über eng gekrümmte Kleeblätter die über Kanäle und Wasserläufe geführte Hochstraße, kam schließlich auf einer autobahnähnlichen Schnellstraße näher an die Küste. Schließlich wieder ein Wegweiser „Porto Mediceo“. Wieder nach rechts, doch dann schwenkte die breite aber unebene Straße nach Süden.

Hafengleise wurden rumpelnd überquert. Ich las den Straßennamen: Leonardo da Vinci. Ich musste mich beeilen, wenn ich die Fähre noch erreichen wollte. Ich hatte ja auch noch kein Ticket.

Der Verkehr verdichtete sich erneut. Vorne ein roter, hoher Lieferwagen auf der rechten Spur, geparkt in zweiter Reihe. Von der höheren Sitzposition im Reisemobil sah ich das. Ein paar Mopedguys quetschten sich dicht vor meinem Wagen in die enge Lücke. Mich quetscht ihr hier nicht ein! Ich trat aufs Gaspedal und schwenkte in die Lücke auf die linke Spur.

Viele sprechen vom sechsten Sinn der Autofahrer. Ich meine, es war einfach nur die Erfahrung. Dreißig Jahre auf Europas Straßen. Dreißig Jahre im Verkehrsgewühl von Europas Städten. Dreißig Jahre am Steuer schwerfälliger Lastzüge. Dreißig Jahre ohne Unfall.

Einmal geht jede Serie zu Ende. Ein schreckhaft hochgerissener Frauenarm rechts neben dem Hochdachlieferwagen, dann verdeckte der rote Wagen den Blick auf die Dame. Ich trat auf die jaulende Bremse. Hart und mit kurzen Unterbrechungen um ein Blockieren der Räder zu vermeiden. Hartes Kreischen von Bremsen auch hinter meinem Wagen.

Der Knabe rannte direkt vor meinen Kühler. Ich stupste ihn um. Dann drückte die Federung den Vorderteil meines Wagens wieder nach oben. Er stand.

Noch bevor ich auf der Straße war, war die Rothaarige von links kommend bei dem Kind. Ein LKW- Fahrer stoppte auf der Gegenfahrbahn, verließ seinen Wagen. Eine blonde, auffällig modisch gekleidete Dame schimpfte böse auf den Knaben ein. Der rappelte sich unter der Stoßstange hervor und flüchtete in die offenen Arme der Rothaarigen.

Der LKW- Fahrer schimpfte auf die Blonde ein, dann deutete er auf mich und sein Tonfall klang anerkennend. Ich verstand zwar nicht, was er wortreich sagte, aber anscheinend lobte er meine schnelle Reaktion.

Die Rothaarige fiel mir um den Hals und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Küssen unter Tränen. Vor meinem Auge ihre Nasenwurzel, übersät von Sommersprossen. Ihr Auge strich vorbei. Eben war es noch schreckhaft und voller Entsetzen aufgerissen, jetzt quollen die Tränen der Freude. Salz spürte ich auf meinen Lippen. Oder waren das ihre Lippen, die ich spürte? Ihre Hände, mit denen sie meinen Kopf umfasste, waren warm und sanft. Es mussten zärtliche Hände sein in einer Liebesstunde. In ihrem Redeschwall ein einziges mir bekanntes Wort: grazie, grazie, Signore! Mein eigener Schrecken wich einer wonnigen Erregung.

Als die schrille Pfeife eines Verkehrspolizisten ertönte, ließ sie von mir ab. Der wandte sich barsch an mich. Nach einem Blick auf das Kennzeichen meines Wagens forderte er streng auf Deutsch: „Ihre Papiere!“

Nun redeten die Rothaarige und der LKW- Fahrer gestenreich auf den Polizisten ein. Arme schwenken hin und her. Auf die Blonde, auf die Rothaarige, auf mich, auf das rote Lieferauto.

Der Verkehr war durch das Ereignis in beiden Richtungen zum Erliegen gekommen. Der Carabiniere bemühte sich nun, die Fahrzeuge wieder zum Rollen zu bringen. Name und Kennzeichen des LKW- Fahrers wurden notiert, dann wurde er gestenreich aufgefordert, die Gegenfahrbahn frei zu machen.

Da setzte sich plötzlich der rote Lieferwagen, dessen Falschparken Auslöser der ganzen Situation gewesen war, in Bewegung. Niemand hatte das Einsteigen des Fahrers bemerkt. Der Polizist pfiff hinter ihm her, doch der Wagen setzte seine Fahrt fort und verschwand nach rechts von der Bildfläche. Der Polizist stoppte nun die anrollende rechte Spur und forderte mich mit agilen Gesten auf, meinen Wagen in eine Parklücke zu fahren. Ich tat’s.

Mit wilden Armbewegungen wurde der Verkehr in Schwung gebracht. Um mich kümmerte sich der Carabiniere nicht weiter. Offenbar war der Fall durch die Aussage des LKW- Fahrers erledigt.

Die rotlockige Dame, sie war elegant gekleidet, jedoch nicht so auffallend modisch wie die Blonde, stellte sich vor. Entschuldigt sich, dass sie italienisch gesprochen hatte. Sie hätte da noch nicht erkannt gehabt, dass ich Deutscher sei. Ihr Deutsch hatte kehligen tirolerischen Tonfall.

Signora Doretta Castigliani war die Großmutter des Knaben, die Blonde die Mutter. Diese bemühte sich, den Knaben aus den Armen der Großmutter zu entwinden, dieser aber schlang seine Ärmchen nur noch fester um deren Hals.

Eleonora Castigliani war die Schwiegertochter von Signora Doretta. Es schien kein spannungsfreies Verhältnis zwischen den beiden Damen zu herrschen. Der Knabe hatte sich in diesem Spannungsfeld offenbar auf die Seite der Großmutter geschlagen. Ich dachte an die Küsse, die mein Gesicht bedeckt hatten und schlug mich in meinen inneren Gefühlen auch auf die Seite der Großmutter. Sie war ja auch keineswegs in dem Alter, in dem man sich eine Oma vorstellt. Bestimmt ein paar Jährchen jünger, als ich selbst.

Der Knabe, dessen Gesichtsblässe langsam wieder einer rosa Färbung wich, wurde beruhigt und auf den Boden gestellt. Er konnte alle Gliedmaßen frei bewegen, klagte aber über Schmerzen an der Hüfte. Die Hose wurde ihm herunter gezogen. Am Hüftbein, offenbar hatte ihn dort meine Stoßstange getroffen, befand sich ein rötlicher Druckfleck. Ich sagte: „Ca va devenir bleu“ (das wird blau werden).

Warum ich französisch sprach, war mir nicht erklärlich. Vielleicht war es der Knabe, der mich an meine Kindheitsjahre im Elsass erinnerte und meine Sprache aus jenen Jahren wieder an die Oberfläche spülte. Vielleicht war es aber auch nur Eitelkeit gegenüber den offenbar gebildeten und wohl situierten Damen und der Wunsch, meine mangelhaften Italienischkenntnisse zu kaschieren.

Signora Doretta sah mich erstaunt an. Dann sagte sie und wählte ebenfalls die französische Sprache: „Monsieur“, sagte sie, „ich kenne Ihre Reisepläne nicht, aber wenn es Ihre Zeit erlaubt, möchte ich Sie bitten, heute Abend unser Gast zu sein. Auch mein Sohn wird gerne dabei die Gelegenheit ergreifen, Ihnen unsere Dankbarkeit persönlich auszudrücken.“ Und nach einer kleinen Pause ergänzte sie auf Deutsch: „Jeder andere hätte Andrea totgefahren!“

Ich hatte die Hoffnung, meine Fähre noch zu erreichen, aufgegeben, also sagte ich zu.

Signora Doretta übergab mir ihre Visitenkarte mit der Adresse, erklärte, wie ich dorthin gelangen würde. Es sei nicht schwer zu finden. Ich fragte noch die Damen, ob ich ihnen mit meinem Fahrzeug behilflich sein könnte, ich würde sie auch nach hause fahren, wenn sie es wünschten. Aber Signora Eleonora lehnte ab. Schnell und strikt.

Also verabschiedete ich mich, setzte mich in den Wagen und fuhr zum Hafen. Ich hatte das Gefühl, dass Signora Eleonora nicht zufrieden sei mit der abendlichen Einladung.

4. Kapitel

Der Blitz

Ich kaufte mir im Hafenbüro der Fährgesellschaft eine Überfahrt nach Korsika, für den nächsten Morgen.

Dann saß ich etwas gelangweilt bei weit offenen Fenstern und Türen im Auto auf dem Parkplatz des Fährhafens und wusste nicht so recht, was mit der Zeit anzufangen.

Ich dachte an den Urlaub auf der Insel und da fiel mir Jocelynn ein. Sie war der gleiche Frauentyp wie Signora Doretta. Vielleicht zwanzig Jahre jünger. Und lebenshungrig.

Natürlich hatte ich mich damals auf den Urlaub vorbereitet und Reiseführer studiert. Durch Zufall war mir ein alter Schmöker in die Hände gefallen. Ein Antiquariat hatte ihn auf einem Tisch vor seinem Laden stehen. Ich nahm ihn mit, obwohl er seinen Preis hatte. Er war von einem Deutschen geschrieben. Gregorovius nannte er sich. Hatte Mitte des 19. Jahrhunderts Korsika bereist und das Buch darüber geschrieben. Nicht, dass mir seine altmodische Sprache gefallen hätte. Hab’ nicht alles darin gelesen. Aber eine Passage hatte mich gefesselt. Es war die Schilderung der Besteigung des Monte Rotondo, der von dem Gregorovius für den höchsten Berg der Insel gehalten wurde. 2)

Er sprach von einer gewaltigen Fernsicht. Nicht nur über die Berge und Küsten der Insel! Er sah bis zu den Seealpen bei Nizza, er sah über den Apennin und den ganzen italienischen Küstenbogen über Genua bis Livorno und nach Sardinien, sah über die ganzen Inseln des Toskanischen Archipels. Er sprach von einem Zauberring und von einem Lichtozean.

Es war mir klar: dort musste ich hinauf. Ich redete mit meinem Begleiter, dem Bauer Alois aus Lenggries und wir starteten mit Rucksack, Schlafsack, Bergsteigerzelt und einigen Lebensmitteln zu einer mehrtägigen Bergwanderung im Rotondogebiet.

Am zweiten Tag holten wir die Irinen ein. Dass es zwei Frauen waren, merkten wir erst, als wir zu ihnen aufgeschlossen waren.

Wir hatten bei einer Schäferei im Zelt übernachtet, waren an einem malerischen Bergsee vorbei gestiegen, immer einen Fuß vor den anderen setzend, langsam und schnaufend, die vollgepackten Rucksäcke drückten. Wir näherten uns einer schmalen Felsscharte, über die links der mächtige Gipfelstock hinausragte. Dort oben musste er also gestanden sein, als er seine traumhafte Fernsicht hatte. Hätte dieser „Gregor“ geahnt, dachte ich unter Keuchen, dass der Rotondo nicht der höchste Berg der Insel ist, wäre sein Bericht wahrscheinlich weniger schwärmerisch ausgefallen.

Etwas seitlich von uns polterten ein paar Steine herunter. Wir blickten hinauf und gewahrten zwei Gestalten seitlich über uns. Wir gewahrten auch weißgrau über den Grat herüberquellende Wolkentürme. Alois, erfahrener Berggeher, im Gegensatz zu mir, warnte: „Auf der Seite hinauf“, rief er, „die schmeißen uns noch mehr Steine herunter, muss nicht sein, dass wir hier erschlagen werden!“

Nach einer halben Stunde waren wir zu den Gestalten aufgeschlossen. Es waren die Irinen. Ich war sofort entzückt von der Rothaarigen mit den Sommersprossen und der fröhlichen Stupsnase. Nicht nur vom anstrengenden Steigen klopfte mein Herz. Aber der Atem keuchte und mehr als ein „Hello“ brachte ich nicht heraus.

Inzwischen hatte sich die Sonne verfinstert. Letzte Strahlen hatten Jocelynns Haare zum Leuchten gebracht. Natürlich wusste ich da noch nicht, dass sie Jocelynn hieß.

Immer dichtere Wolken quollen über den Grat. Als wir in der Scharte waren, umhüllte uns dichter Nebel. „Wir können nicht weiter, sonst stürzen wir ab“, sagte der Alois. Aber nochmals riss der Himmel auf. Wir erkannten ein paar Steinmännchen, die als Wegmarkierungen angehäuft worden waren und querten über riesige Felsblöcke und durch enge Spalten auf die andere Seite des Grates, erreichten dort etwas flacheres Gelände. Wie schön, als mir der Rotschopf bei so einem Felsklotz direkt in die Arme rutschte und dabei lachte. Schwarz, hinter grau im Wind vorbeijagenden Nebelschwaden, drohte links von uns der mächtige Gipfelstock des Rotondo.

Da fuhr mit giftigem Getöse ein Blitz ins Gestein, dicht über uns. „Runter vom Grat“ schrie der Alois. Wir sahen nur wenige Meter weit. Fanden einen Felsvorsprung, der uns etwas vor dem Wind schützte. Schlagartig war es kalt geworden. Und es prasselte der Regen, plötzlich, wie wenn man einen Wasserhahn aufgedreht hätte.

„Pack das Zelt aus“ rief der Alois. „Wie willst Du denn hier ein Zelt aufstellen?“ „Nicht aufstellen“, schrie der Alois, „Zeltboden nach oben, da hält er die Schlafsäcke trocken!“

Ich tat, wie er geheißen. Alois, der seinen Schlafsack mit seinem Körper vor dem Regen zu schützen suchte, war als Erster unter der Plane, zog die Braune zu sich hin. Ich stopfte meinen Schlafsack unter die im Wind schlagende Plane. Dann zwängte ich mich mit der Roten neben die beiden anderen ins flach liegende Zelt. Die Frauen hatten nur Tagesgepäck. Hatten geglaubt, bis zum Abend wieder im Tal zu sein. Es wurde eng und beide Paare rumorten, stießen sich mit den Ellenbogen, arbeiteten, um aus den Stiefeln und in die wärmenden zwei Schlafsäcke zu kommen. Dann wurde es still.

Draußen zuckten Blitze und splitternder Donner verjagte die Stille. Im grellen Schein unter den Schlägen des Donners erkannte man durch die Zeltplane hindurch, dass Schneeflocken um uns tanzten.

„What’s your name?“ fragte ich. „Jocelynn“. „I’m Ulrich“. Als das Gewitter abflaute, als in der Enge des Schlafsackes die aneinander gedrängten Körper warm geworden waren, kam es zur Vögelei. Alois und die Braune, von der ich nicht mehr weiß, wie sie hieß, stöhnten zuerst. Jocelynn, die inzwischen nicht nur warm, sondern heiß geworden war, öffnete mir die Hose.

Als es am nächsten Morgen hell wurde, waren wir eingeschneit. Nur noch wenige Wolken am Himmel. Unter uns der Bergsee mit dem Namen Bellebone. Umgeben von einer Rotunde steil aufragender Felsschrofen.

Der See und einige Tümpel zu unseren Füßen in einer Farbpalette aus blauem Spiegel, gelbem Schutt, schwarzen Felsspitzen oder weißen Plattenfeldern mit grün hinein gestrichenem Bewuchs, unter uns. Darüber Wolkenfetzen und dazwischen das Azur des mediterranen Himmels. Zwischen den schwarzen Felstürmen schwebten Nebelschwaden wie graue Gespenster.

Als die Sonne bereits steil am Himmel stand und der Schnee der Nacht weitgehend abgetaut war, krochen wir aus unserer Notunterkunft.

In den steilen schattigen Scharten, die zum Gipfel führten, aber war so viel Schnee hineingeweht worden, dass wir auf den Gipfel verzichteten. Die Aussicht war ohnehin nicht die, die Gregorovius geschildert hatte, sondern erstickte in Dunst und Wolkenfeldern.

Wir stiegen in südlicher Richtung am Grat entlang, gelangten zu einem wie eine Lanzenspitze steil in den Himmel ragenden Felsen und stiegen von da über steile Geröllfelder zum Bellebone hinunter und erreichten über Wiesenmatten und weiteren Fels- und Geröllzonen schließlich eine Berghütte, wo wir gesittet neben anderen Bergsteigern auf Matratzenlagern die nächste Nacht verbrachten.

Noch ein Tagesmarsch über Matten und steile Bergflanken zu einem weiteren Bergsee und ins enge Tal hinunter, wo unser zweites Auto stand. Wir fuhren die Irinen noch bis zu ihrer Unterkunft in der nächsten Stadt, wo es auch eine Bahnstation gab. Dort verabschiedeten sie sich von uns und wir haben sie nie wieder gesehen. 3)

5. Kapitel

Eine Soiree in Livorno

Ich hatte plötzlich das Gefühl, nach Schweiß zu stinken, denn die Maientage waren heiß im sonnigen Italien.

Ich fuhr an der Seeseite der Stadt entlang nach Süden. Suchte dann die Zufahrt zur Viale del Tirreno, an der sich, oben am Berg, nach einigen engen Kehren der Wohnsitz der Castiglianis befinden sollte, stellte fest, dass es, wie erwartet, eine vornehme Wohngegend war, von der man einen großartigen Überblick über die südliche Stadt hatte, fuhr dann zurück und an der steil werdenden Küste entlang, bis ich einen kleinen Badestrand fand. Musste einen Obolus hinlegen für Parken und Strandbenutzung.

Schwamm ein Stück ins Meer hinaus, lag in der Sonne, schwamm wieder hinaus. Als gegen Abend die Luft frischer wurde, nutzte ich die Stranddusche und Seife, öffnete am Reisemobil alle Türen und Fenster, damit die schon abflauende Seebrise die Hitze aus dem Wageninneren hinauswehen konnte und kleidete mich so gut, wie es die auf Urlaub ausgerichteten Kleiderfächer hergaben.

Dann fuhr ich die Serpentinen der Bergstraße hinauf und fand das auf der Visitenkarte bezeichnete Haus. Eine Villa im italienischen Stil, was sonst! Zypressen, Bougainvillea, Zitrusbäumchen, Blumenrabatten, eine große Zeder, Bogenarkaden im oberen Geschoß unterm flachen gewalmten Dach. Mönch und Nonnen.

Eine Hausangestellte öffnete auf mein Läuten. Ich überreichte ihr eine Karte der Speditionsfirma, bei der ich zuletzt gearbeitet hatte. Sie warf einen Blick auf meinen Namen und bat mich gleich ins Haus. Offensichtlich war ihr mein Kommen angekündigt worden.

Signora Eleonora begrüßte mich. Höflich, aber ein bisschen unterkühlt. Ich wurde ihrem Gatten vorgestellt, Signore Alfonso Castigliani, Immobilienmakler mit Büros in Livorno und Pisa.

Eine krächzende Stimme ertönte aus dem Salon, schrill, laut und alt und wie von einem Raben: „Dore, qui est-ce?“ (wer ist das?). Signora Doretta erschien. Ich wurde Madame Sophie Castigliani vorgestellt, Dorettas Schwiegermutter. Mit ihren Runzeln und Falten kam sie mir vor wie eine Hundertjährige. Sie sagte, wieder auf Französisch, sie sei schon fast eine Achtzigerin und alle würden so undeutlich sprechen, dass sie manchmal nicht verstehen würde, was gesagt wird. Ich sagte mit erhöhter Lautstärke: „Avec presque quatre-vingt ans vous avez bel air, Madame“ (für fast 80 sehen Sie gut aus). Die Rabenstimme krächzte: „Qu’est-ce qu’il a dit?“ (was hat er gesagt?). Signora Doretta schrie der alten Mumie ins Ohr: „Il a dit, que vous avez un air jeune“ (er hat gesagt, dass Sie jugendlich aussehen).

Ich durfte ein Lächeln in Empfang nehmen. Ja, Doretta hatte ihre Schwiegermutter tatsächlich mit „Sie“ angesprochen. Das passt zu der französischen Vornehmtuerei, dachte ich mir. Und weiter, dass ich wohl Glück hätte, im Elsass aufgewachsen zu sein und dass ich mir dadurch ein bisschen von der Sprache hatte bewahren können

Ein richtiger Wirbelwind flatterte plötzlich durchs Entree. Simonetta Castigliani, eine Nichte von Signore Alfonso und deren Freund Emanuele Ceccaldi, ein Korse. Simonetta machte ihrem Namen alle Ehre, sie sah aus, wie die von Botticelli gemalte Vespucci.

Der Knabe Andrea wurde hereingebracht, der mit dem Hausmädchen bereits in der Küche gegessen hatte und jetzt ins Bett gebracht werden sollte. Er gab mir artig, aber scheu die Hand. Das schreckhafte Erlebnis von heute morgen hatte er sichtbar noch nicht verdaut.

Als der Knabe nach oben gebracht wurde, ergoss man sich in den Garten hinterm Haus unter eine mit Weinreben überrankte Pergola, gestützt auf alten Steinsäulen. Die jungen zarten Blätter der Rebe leuchteten frisch in der Abendsonne, deren letzte noch wärmende Strahlen als angenehm empfunden wurden.

Ich bewunderte eine aus Muschelkalk gehauene Statue einer nackten Venus. Man erklärte mir, dass es die Nachbildung einer etruskischen Götterdarstellung sei. Dann versank die rotorangefarbene Sonnenscheibe im Meer und die Felsinsel Gorgona war ein schwarzer Diamant vor einem glühenden Himmel. Es wurde kühler, man zog sich ins Haus zurück. Dort war in der Halle bereits der Abendessenstisch gedeckt.

Ich wurde auf einen Stuhl zwischen Signore Alfonso und Signora Eleonora komplimentiert, ein Ehrenplatz sicherlich, aber als angenehmer empfand ich, dass Signora Doretta mir direkt gegenüber saß. Dieses herrliche Sonnenuntergangsbild von eben setzte sich fort in ihrem schönen Gesicht mit der rotblonden Umrahmung ihrer Locken. Sie saß zwischen der alten Dame und einem Herrn zu ihrer Rechten. Der war mir auf der Terrasse vorgestellt worden, aber seinen Namen hatte ich schon vergessen. Castigliani hieß er nicht. Dieser Gentleman, etwas blass, graumeliert und nobel aussehend, war das ihr Liebhaber? Nachdem ich den Eindruck hatte, dass sie sich des Französischen bedienten, versuchte ich mit spitzen Ohren etwas von ihrer Unterhaltung zu erhaschen. Aber im allgemeinen Stimmengemurmel war der Wortflug matt, ich verstand nur ein wechselseitiges „vous“. Dass sie sich also siezten, war mir Genugtuung, die aber beim Gedanken, dass Frau Doretta auch ihre Schwiegermutter siezte, wieder gedämpft wurde. Aber auch ihren Liebhaber? Wohl kaum!

Außer den genannten Personen waren noch einige weitere Gäste anwesend. Da sie in der weiteren Erzählung keine Rolle spielen werden, lasse ich sie hier unvorgestellt. Ein Gemahl von Frau Doretta Castigliani befand sich nicht unter den Anwesenden. Die Tischgespräche schleppten sich dahin. Das war der alten schwerhörigen Dame zuzuschreiben, die nichts verstand, aber alles genauestens wissen wollte, was gesprochen wurde. Signora Doretta musste ihr jedes Wort wiederholen, auch wenn es gar nicht an Madame Sophie gerichtet war. Ich wunderte mich, dass sie von allen mit Madame angeredet wurde und schob das einem gewissen Bildungsdünkel zu. Auch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Madame mit ihrem penetranten „Qu’est-ce qu’on a dit“ auch darauf ankam, im Mittelpunkt zu stehen.

Als Frau Doretta bei der dritten Wiederholung einer an sich belanglosen Aussage etwas zu laut war, krächzte die Rabenstimme: „Ne me rudoyez pas si bruyant, je ne suis pas dur d’oreille!“ (schreien Sie mich nicht so an, ich bin doch nicht schwerhörig).

Signore Alfonso redete – und sein Deutsch war nahezu akzentfrei - von seiner Dankbarkeit dafür, dass ich durch meine geistesgegenwärtige Reaktion seinen Sohn vor Schlimmem bewahrt hätte. Ich wiegelte ab, sagte, ich sei professioneller Kraftfahrer und würde eine kritische Situation früher erkennen, als andere, das sei alles. Er musterte mich von der Seite, so als wolle er mich taxieren. Schaut der jetzt von oben auf dich herab, weil du „nur“ Kraftfahrer bist, dachte ich – ein ehrbarerer Beruf ist ein Immobilienmakler auch nicht!