Der Krieger - Christina Willemse - E-Book

Der Krieger E-Book

Christina Willemse

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von Geburt an war sie eine Außenseiterin. Als junges Mädchen wurde sie von den Nachtjägern gefangen genommen. Ihre Gabe machte sie zu einer wertvollen Ware, aber sie ergab sich ihrem neuen Schicksal nicht. Es folgten acht Jahre Gefangenschaft voller Qualen und Folter. Doch trotzdem ist sie nicht gebrochen. Der Prinz von Ciael befindet auf der verzweifelten Suche nach einem legendären Volk. Ein Hinweis führt ihn zu den Nachtjägern, die seine letzte Hoffnung sind. Zwei Lebenswege, die sich kreuzen. Eine dunkle Vision, die das Ende der Welt voraussagt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 352

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rhania

Tochter der drei Monde

Der Krieger

Ch. Willemse

1. Auflage 2019

ISBN 978-3-947706-06-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Luise Deckert - Magdeburg Umschlaggestaltung: Dream Design - Eitzweiler Konvertierung: sabine abels | www.e-book-erstellung.de

Nichts ist so kostbar wie die Freiheit und nichts so wertvoll wie Vertrauen (Verfasser unbekannt)

Zum Buch

Eine Frau, unwissend über ihre Abstammung.

Von Geburt an eine Außenseiterin. Gequält, gefoltert verraten und verkauft. Eine Frau die trotzdem nicht aufgibt und unbeugsam ist. Eine Frau mit einer mächtigen Gabe.

Ein Kommandant auf der verzweifelten Suche nach einer Sage, einem längst verschollenem Volk.

Zwei Lebenswege die sich kreuzen.

Eine Vision die das Ende der Welt voraussagt.

Prolog

»Geh niemals dorthin, weder bei Tag noch bei Nacht, wenn sich die drei Monde berühren.« Die Worte ihrer Mutter hallten wie ein Echo durch ihren Kopf. Seit sie denken konnte, hatte Mutter ihr dies immer wieder gesagt. »Sie werden deine Anwesenheit spüren, werden erkennen, was du bist und welche Gabe du hast. Werden dich mitnehmen und dich zu ihrer Sklavin machen. Gegen ihre Macht kannst du nicht ankommen. Mit ihrem und deinem Blut werden sie dich auf ewig binden. Hüte dich vor diesem Ort und zeige niemandem dein Gesicht, solange sich die drei Monde berühren.«

Immer und immer wieder … Mutter hatte sie jeden erdenklichen Schwur leisten lassen, damit sie sich an alles halten und es nie vergessen würde. Sie hatte sich daran gehalten. Hatte gedacht, dass sie nichts dazu bringen könnte, den Schwur zu brechen – bis heute …

Sie holte tief Luft, straffte die schmalen Schultern und betrat entschlossen den Steg. Nebel waberte in dichten Schwaden über den See, umschmeichelte den Steg und hüllte alles in eine weiche und doch kalte Umarmung. Die Planken waren nass und glitschig. Sie musste aufpassen, dass sie nicht ausglitt und hinfiel. Das wäre nicht gerade förderlich für ihr Vorhaben gewesen.

Das Licht der Lampe am Ende des Steges leuchtete trotz des Nebels hell. Es schien, als würde der Nebel respektvollen Abstand zum Licht halten. Ein irrwitziger Gedanke, aber irgendwie passte er zu all dem, was in den letzten Jahren geschehen war. Kurz hielt sie inne, versank in ihren Erinnerungen, riss sich dann aber wieder zusammen. Sie hatte jetzt nicht die Zeit, in alten Geschichten herumzuwühlen. Sie hatte eine Mission. Eine, von der ihre Mutter zum Glück nichts ahnte. Wüsste ihre Mutter Bescheid, würde sie alles tun, um ihre Tochter davon abzuhalten. Deswegen hatte sie so getan, als ob sie, wie so oft, alleine in den Wald gehen würde. Aus diesem Grund trug sie auch Bogen und Köcher bei sich. Am Hüftgürtel war rechts und links noch je ein langes, scharfes Messer befestigt. Auch in einem der Stiefelschäfte steckte, gut verborgen, ein Messer. In dem kleinen Rucksack waren einige Dinge wie Wechselkleidung, ein Feuerstein und noch einiges anderes verstaut. An der linken Seite trug das Mädchen ein Schwert. Bei jedem Schritt tippte es rhythmisch gegen ihren Oberschenkel. Das Gefühl war so vertraut, dass sie es kaum noch wahrnahm. Ihre gesamte Bewaffnung war für sie vollkommen normal. Jeder, der ohne Waffen draußen herumlief, war entweder lebensmüde oder aber einfach nur dumm.

Schon als sie noch ein kleines Kind gewesen war, hatte ihre Mutter ihr ein kleines Messer an den Gürtel geschnallt. »Pass gut auf dein Messer auf und trage es immer bei dir«, hatte sie mit ernstem Gesicht gesagt.

Das Knarzen einer Bohle unter ihren Füßen, holte sie wieder zurück in die Gegenwart. Sie war fast da. Nur noch wenige Schritte trennten sie vom Licht am Ende des Steges. Angst wollte hervorbrechen und sie daran hindern, die letzten Schritte zu gehen. Angespannt ballte sie ihre Hände zu Fäusten und schob das Gefühl der Angst zur Seite. Sie musste tun, was sie vorhatte, – ihr blieb nichts anderes übrig. Wenn sie es nicht täte, so hatte der große Hexer gesagt, würden alle sterben.

Er hatte ihr an ihrem vierzehnten Geburtstag, der Tag, an dem jedes Mädchen im Dorf offiziell als Frau galt, eine schreckliche Vision gezeigt. Noch immer konnte sie das Blut riechen, bildete sich ein, es sogar schmecken zu können … Sah immer noch die grausamen Bilder der zerfetzen Leichen vor sich. Hörte jede Nacht im Traum dieses wahnsinnige Lachen. Übelkeit stieg in ihr auf und sie musste mehrmals schlucken, um sie wieder loszuwerden. Es war nicht hilfreich, gerade jetzt diese Bilder vor Augen zu haben. Im Nachhinein verfluchte sie sich selbst, weil sie nicht misstrauisch geworden war, als der Hexenmeister in ihre kleine Hütte gekommen war. Seit sie denken konnte, waren sie und ihre Mutter mehr oder weniger geduldete Fremde. Dies hatte sie schon als kleines Kind zu spüren bekommen. Die Dorfbewohner hatten nur mit ihr gesprochen, wenn es sich nicht hatte verhindern lassen. Keines der Kinder hatte je mit ihr gespielt.

Grimmig sah sie vor sich auf den Steg. Versunken in den Erinnerungen, die sie ungewollt überrollten. Bilder und Worte aus ihrer Vergangenheit rasten durch ihren Kopf. Erinnerungen an ihre harte Kampfausbildung, die schon im Kleinkindalter begonnen hatte. Hörte den Hass und die Verachtung ihrer Ausbilder, so als wäre es erst gestern gewesen …

»Was soll das? Wieso lässt du dein Schwert sinken? Hast du etwa keine Kraft mehr?«

»Oh, muss das kleine Mädchen jetzt etwa weinen, weil es einen kleinen Kratzer am Bein hat?«

»Was ist los? Hast du etwa Angst?«

Solche Sätze waren täglich auf sie eingeprasselt. Bis heute hatte sie nicht verstanden, warum ihre Mutter sich nie, wirklich nie eingemischt hatte, wann immer sie blutverschmiert, mit blauen Flecken übersät nach Hause gekommen war.

Ihre Ausbilder hatten sie verachtet, genauso wie alle anderen Schüler es getan hatten.

Bitter lachte sie leise auf. Oh ja, die Ausbilder und Schüler hatten sie gehasst. Die Erinnerung an ihren ersten Tag der Ausbildung tauchte vor ihrem inneren Auge auf.

Voller Angst hatte sie auf dem großen Platz gestanden. Vor ihr hatte eines der älteren Kinder eine Angriffsposition eingenommen. Krampfhaft hatte sie das viel zu großes Schwert in der Hand gehalten.

»Los, greif ihn an. Sobald du es schaffst, ihn zu treffen, ist der Kampf vorbei, vorher nicht«, hatte der Ausbilder gerufen.

Wut sammelte sich in ihrem Bauch, als sie daran zurückdachte. Natürlich hatte sie gar keine Chance gegen den Jungen gehabt. Er hatte sie gnadenlos über den Platz gejagt. Hatte sie immer und immer wieder getroffen. Der Kampf war auch erst für beendet erklärt worden, als sie vollkommen erschöpft auf dem Boden gelegen hatte.

»Schwach und feige, wie ich es mir dachte. Das wirst du nun jeden Tag tun, bis du ihn triffst«, hatte der Ausbilder mit kalten Augen gesagt.

Dies war nur der Beginn einer wahren Tortur gewesen. Es war für sie schon zur Gewohnheit geworden, jeden Tag ums Überleben zu kämpfen. Es war normal geworden, abends blutverschmiert und verletzt zurück ins Dorf zu kommen.

Ihre Ausbildung war erst für abgeschlossen erklärt worden, als sie es geschafft hatte, mit verbundenen Augen und nur einer Hand einen der Ausbilder zu besiegen.

Ein böses Grinsen legte sich auf ihr jugendliches Gesicht. Ja, das war einer der wenigen Momente gewesen, in dem sie stolz auf sich gewesen war. Zu gut erinnerte sie sich noch daran, wie still es auf dem Platz geworden war, als sie über ihrem Ausbilder gebeugt gestanden hatte, mit dem Messer an seiner Kehle.

»Ich hätte ihn töten sollen«, dachte sie hasserfüllt. »Aber das hätte auch meinen eigenen Tod bedeutet.«

Heute, vier Jahre später, war sie kurz davor, etwas zu tun, das sie nie für möglich gehalten hatte. Sie hatte immerhin geschworen, es nie zu tun.

Sie war nur noch einen Schritt von dem Lichtkegel entfernt. Sie hielt inne. Sah sich bewusst um, prägte sich alles ein. Die Farbe des Wassers und der Berge, den Geruch nach Regen, das Gefühl des Nebels auf ihrer Haut. Das Knarren der Bohlen im Wind, das Plätschern der Wellen. Sie wusste nicht, was passieren würde, sobald sie sich an den Rand begab, aber sie ahnte, dass sie für lange, wirklich lange Zeit ihre Heimat nicht wiedersehen würde.

Dann tat sie den letzten Schritt …

Kapitel 1Cyren

Die Sonne brannte heiß auf die staubige Straße, die sich scheinbar endlos durch die karge Landschaft zog. Der Hufschlag der Pferde hörte sich hohl an.

Ein Schweißtropfen löste sich, rann langsam, fast in Zeitlupe, seinen Nacken hinunter und verschwand unter seinem Hemd. Der Tropfen hinterließ eine saubere Spur in all dem Staub, der sich unbarmherzig auf alles legte. Schon vor einer ganzen Weile hatte er sich ein Tuch vor den Mund gebunden. So konnte er wenigstens einigermaßen gut atmen.

Sein Pferd schnaubte kurz und schüttelte dann den Kopf. Auch auf sein schweißnasses Fell hatte sich der Staub gelegt und bildete dort einen schmierigen Belag.

Erschöpft hing er im Sattel, die Hitze schien ihm jegliche Energie nehmen zu wollen. Er blickte zurück und sah, dass es den Männern aus seinem Tross nicht anders erging.

Jedem war die Müdigkeit der langen Reise anzusehen. Die Erschöpfung ließ tiefe Furchen in ihren Gesichtern zurück. Waren sie am Anfang ihrer Reise noch zwanzig stolze Krieger gewesen, so hatte sich das im Laufe der Zeit geändert. Von den ursprünglich zwanzig kräftigen Männern waren nur noch zwölf erschöpfte Reiter übrig geblieben. Die Reise hatten ihren Tribut gefordert und acht Mann gekostet. Zwei waren von einem Erdrutsch mitgerissen worden, als sie an einem hohen Felsmassiv entlanggeritten waren. Ein anderer war ertrunken, als sie einen großen Fluss überquert hatten, und der Rest war einem Rudel Wölfe zum Opfer gefallen.

Cyren und seine Männer hatten gewusst, dass diese Reise gefährlich war. Trotzdem schmerzte der Verlust. Ließ Cyren in den stillen Stunden der Nacht, wenn er Wache hatte, an ihrem Vorhaben zweifeln. Dann hörte er wieder die Schreie und sah, wie einer der Männer von den Wölfen überwältigt wurde. Wie ihm die Kehle herausgerissen wurde und er gurgelnd starb. Roch den widerlichen Gestank der Tiere und sah ihr schwarzes Blut hervorspritzen, als er sie mit seinem Schwert traf.

Cyren jagte einem Gerücht nach. Einer Sage. Doch der letzte Hinweis war erschreckend vielversprechend gewesen.

Die Bettlerin war zwar eindeutig nicht mehr ganz bei Sinnen gewesen, doch wann immer er sie nach den Mondblütigen gefragt hatte, war der Wahnsinn aus ihren Augen verschwunden. Dann war sie plötzlich ganz ruhig und ernst geworden. »Ein Mondblut? Es gibt eines. Habe es gesehen. Silbern das Haar und silbern die Augen. Männer haben sie mitgenommen.«

»Was für Männer?«, hatte Cyren gefragt.

Die Frau hatte ihn mit vor Angst geweiteten Augen angesehen und dann geflüstert: »Böse Männer. Greifen nur nachts an. Verstecken sich in der Dunkelheit. Jagen nur in der Dunkelheit.«

Es gab nur ein Volk, das dies tat, und das waren die Nachtjäger. Als er näher darauf eingegangen war, hatte sie ihn nur leise kichernd angesehen, aber nichts Sinnvolles von sich gegeben. Ob es stimmte, was sie erzählt hatte, war fraglich. Ihr Geist war verwirrt gewesen und daher konnte Cyren nicht sicher sein, ob ihre Informationen tatsächlich richtig waren. Trotzdem konnte er diesen Hinweis nicht einfach ignorieren. Zu wichtig war es, die Mondblütigen zu finden. Das Volk, das angeblich vor langer Zeit verschwunden war.

In den Sagen und Geschichten hieß es, man könne sie nur finden, wenn sich die drei Monde berührten. Es hatte immer Gerüchte gegeben, dass einige der Mondblütigen noch auf der Welt waren. Dass nicht alle gegangen waren. Er hatte es immer als Schwachsinn abgetan, aber seitdem die Sonnenkrieger ebenfalls der Meinung waren, dass es noch Mondblütige gab, hatte sich seine Einstellung geändert. Er war jeder Spur, und war sie noch so klein, gefolgt. Doch so sehr er auch gesucht hatte, niemand hatte je einen gesehen. Bis zu dem Tag, als er bei einem von seiner Heimat weit entfernten Dorf der Bettlerin über den Weg gelaufen war. Cyren hatte dort nur haltgemacht, um die Vorräte wieder aufzufüllen.

Der große Hexenmeister des Dorfes war alles andere als ein freundlicher Mann gewesen. Er hatte wahrscheinlich nur aufgrund der gut ausgerüsteten Krieger des Trosses mit ihnen gehandelt, ohne einen Angriff zu wagen. »Was wollt Ihr hier?«, hatte er voller Misstrauen gefragt.

»Wir sind nur auf der Durchreise und wollen unsere Vorräte auffüllen«, hatte Cyren geantwortet. »Meine Männer und ich werden gleich wieder fort sein.«

Mit kalten Augen hatte der Hexer sie gemustert und dann mit deutlichem Widerstreben genickt. »Wir haben nicht viel, aber wenn Ihr bereit seid, einen ordentlichen Preis zu zahlen, werden meine Leute sicher mit Euch handeln.«

Cyren hatte mit Schrecken gesehen, dass selbst kleine Kinder bewaffnet durch den Ort gelaufen waren. Es war ein sehr ungewöhnlicher Anblick gewesen. Sogar die Bettlerin hatte links und rechts an ihrem Gürtel je ein Messer gehabt. Er hatte zwar bezweifelt, dass sie damit noch groß etwas anfangen konnte, hatten ihre Hände doch ständig gezittert, aber er hatte nichts dazu gesagt. Er hatte die Bettlerin mitnehmen wollen, in der Hoffnung, dass sie noch mehr sagen konnte, wenn es ihr etwas besser ging. Aber als er am nächsten Tag wieder in den Ort geritten war, war sie tot gewesen.

»Sie ist ertrunken. War ja nie ganz bei Sinnen. Muss wohl zu weit in den See gegangen sein«, hatte ihm einer der Männer gesagt.

»Was wollte sie denn nachts am See?«, hatte Cyren verwundert gefragt.

Der Mann hatte mit den Schultern gezuckt. »Wie gesagt, sie war nicht mehr ganz bei Sinnen. Hat immer irgendwelches Zeug vor sich hin gebrabbelt. Wer weiß, vielleicht hatte sie das Verlangen nach einem Bad.«

Es hatte nicht so gewirkt, als wären der Mann oder sonst irgendwer in dem Dorf besonders traurig über ihr Ende gewesen.

So war Cyren unverrichteter Dinge wieder gegangen und musste nun mit dem bisschen, was er an Informationen hatte, weitersuchen.

Das Schnauben seines Pferdes riss ihn aus den Gedanken. Es hatte den Kopf erhoben und starrte mit gespitzten Ohren in die Ferne. Cyren brauchte durch das gleißende Sonnenlicht einen Moment, bis etwas erkennen konnte. Dann sah er es. Große, schwarze Rauchschwaden, die weit vor ihnen gen Himmel zogen. Abrupt riss er seine Hand hoch und gab somit das Zeichen zum Anhalten.

Sein zweiter Mann und gleichzeitig bester Freund schloss zu ihm auf und starrte ebenfalls auf die Rauchschwaden. »Das sieht nicht gut aus«, brummte er.

»Was meinst du, was da brennt?«, fragte Cyren, ohne den Blick abzuwenden.

Arne drehte den Kopf in seine Richtung. »Bin kein Hellseher.«

Cyren warf seinem besten Freund einen verärgerten Blick zu.

Dieser zuckte mit den breiten Schultern und ließ sich dann zu einer Vermutung herab. »Könnte eines der kleinen Dörfer sein, an denen wir hier ab und an vorbeikommen.«

Nachdenklich blickte Cyren wieder nach vorn. So wie es aussah, käme dort jede Hilfe zu spät. Trotzdem wollte er nicht einfach weiterreiten. Vielleicht gab es doch Überlebende, denen sie helfen konnten. »Wir sollten nachsehen«, sagte er daher.

Arne brummte nur und so ritten sie weiter. Je näher sie dem Rauch kamen, desto mehr konnten sie das Ausmaß der Zerstörung sehen. Nach und nach tauchten die Reste des Dorfes vor ihren Augen auf. Wegen der Hitze, die die Schwelbrände ausströmten, blieb der Tross gesammelt am Rand des Dorfes stehen.

Das Dorf war nicht groß. Es bestand nur aus ein paar Hütten, die im Kreis um einen großen Platz standen. Auf diesem sah man einen Berg aus verkohlten Leichen. Waffen waren nirgends zu sehen und die Menschen, die gefoltert worden waren, trugen verschlissene Kleidung und sahen nicht wie Krieger aus. Jemand hatte die Hütten angezündet, die Dorfbewohner umgebracht und dann ebenfalls angezündet. Aber nicht alle Toten waren dort aufgeschichtet. Einige lagen auf dem Platz. Diese waren eindeutig gefoltert worden. Einer hatte zum Beispiel keine Finger mehr. Einem anderen fehlte gleich die ganze Hand. Schnell wurde klar, dass in diesem Dorf niemand mehr lebte. Die Angreifer hatten weder vor Frauen noch vor Kindern haltgemacht. Es roch nach verbranntem Fleisch, nach Blut und Tod.

Cyren war froh, ein Tuch vor dem Mund zu tragen. Dies minderte etwas den Gestank und der feine Staub des Rauches konnte nicht in seine Lungen geraten.

Die Pferde tänzelten nervös und schlugen immer wieder mit den Köpfen. Ihr Instinkt riet ihnen, nicht zu nah an diesen Ort zu gehen.

»Verdammt«, fluchte Cyren. Warum sollte jemand den harmlosen Bauern so etwas antun? Warum die Folter, das Feuer, der Tod, die Vernichtung?

»Da war wohl jemand sehr wütend«, kam es grimmig von Arne. Er besah sich kopfschüttelnd das Chaos vor ihnen.

»Stellt sich nur die Frage, warum«, sagte Cyren mit erstarrter Miene.

Arne kratzte sich nachdenklich an der Brust. »Wer weiß, vielleicht haben sie ihre Steuern nicht bezahlt?«

Cyren schüttelte den Kopf. »Aber sie dann alle umzubringen, ergibt keinen Sinn. Dadurch entfällt auf jeden Fall die Steuer.«

»Bin kein Hellseher«, kam es daraufhin nur schulterzuckend von Arne.

Der Kommandant hörte seine Männer leise tuscheln. Sah, wie auch diese kopfschüttelnd auf das Bild vor ihnen blickten.

»Kommandant, wisst Ihr, welches Dorf das hier ist?«, fragte einer der Krieger. Er war der Jüngste. Der junge Mann war blass im Gesicht und schien große Mühe zu haben, sich nicht zu übergeben.

Bedauernd schüttelte Cyren erneut den Kopf. »Nein, Josua, das weiß ich nicht. Ich war schon sehr lange nicht mehr hier. Aber es ist auch egal, wir können hier wirklich nichts mehr tun.«

»Aber … sollten wir diese Menschen nicht begraben?«, fragte Josua zögernd.

»Es ehrt dich, dass du das fragst, aber das können wir nicht. Bei dem trockenen Boden würden wir sehr lange brauchen und die Hitze, die noch von allem ausgeht, würde uns gar nicht an die Leichen heranlassen.« Cyren sah den jungen Krieger ernst an.

Daraufhin schwiegen alle. Kurz blieben sie noch vor dem zerstörten Dorf stehen. Dann gab Cyren das Zeichen zum Weiterreiten. Nach und nach verschwand das Dorf und jedem war die Erleichterung anzumerken. Die Männer begannen wieder Gespräche zu führen und der eine oder andere lachte sogar leise auf. Sie waren zwar Krieger und hatten schon einige Schlachten geführt, aber das hier war doch etwas anderes. Das hier war sinnlos gewesen. Unschuldige waren gestorben. Kinder waren getötet worden. Etwas, das niemand mit Ehre im Leib jemals tun würde.

Als sie am Ende des Tages ihr Lager aufschlugen, herrschte eine angespannte Stille über allem. Es war zu spüren, dass viele der Krieger mit unterdrückter Wut kämpften. Dies und die beschwerliche Reise waren keine gute Mischung.

Eine Weile betrachtete Cyren seine Männer. Sah ihnen beim Aufbauen der Zelte und dem Versorgen der Pferde zu. Als seine Männer damit fertig waren, hatte er einen Entschluss gefasst. »Arne!«, rief er.

Dieser hatte sich gerade erst an einen Baum gelehnt hingesetzt und seine Pfeife angezündet. Etwas unwillig wuchtete er sich wieder hoch und kam auf Cyren zu. »Cyren«, brummte er.

»Spürst du die Anspannung unter unseren Männern?«, fragte Cyren und beobachtete dabei weiter die Krieger.

Arne folgte seinem Blick und stimmte ihm zu.

»Was sollen wir dagegen tun? Schlag du was vor, du bist doch mein zweiter Mann.« Nun sah Cyren ihn interessiert an.

»Normalerweise würde ich sagen, gib ihnen einen Tag frei und lass sie zu den Huren gehen. Das hat bis jetzt immer geholfen.«

Cyren sagte nichts, sondern wartete geduldig ab. Er kannte seinen besten Freund, wusste, dass man ihn nicht drängen konnte.

Demonstrativ sah sich dieser um und sagte dann: »Aber hier sind weit und breit keine Huren, also würde ich vorschlagen, wir lassen sie auf andere Art und Weise ihre Anspannung loswerden.«

Cyren nickte.

»Lassen wir sie kämpfen. So kommen sie nicht aus der Übung. Will nicht, dass unsere Männer zu faulen, fetten Säcken werden.« Arne grinste böse.

Zufrieden mit Arnes Antwort sagte Cyren: »Sehr gute Idee. Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen. Also, dann mal los. Ruf sie zusammen und teil sie in Paare ein. Der Gewinner darf am Ende gegen mich kämpfen. Dann kann er noch etwas lernen. Und den anderen kann ich dabei auch etwas beibringen, indem ich ihnen neue Techniken zeige und erkläre.«

Arne löste seinen Blick von den Kriegern und sah Cyren mit einem schadenfrohen Glitzern in den Augen an. »Das sollte ihnen Anreiz genug geben.«

Cyren grinste, er wusste, was Arne meinte. Keiner der Männer hatte es je geschafft, ihn zu besiegen. Es war nicht so, dass sie es nicht immer wieder versuchten. Aber der Einzige, der ihm ernsthaft gefährlich werden konnte, war Arne. Er war nicht ohne Grund seine zweite Hand. Was Arne an Finesse fehlte, machte er durch die schiere Masse und Wucht seines Körpers wieder wett. Ein Schlag von ihm konnte jeden Ochsen sofort zum Umkippen bringen. Da konnte Cyren nicht mithalten. Dafür war er schnell, sehr schnell, um genau zu sein. Daher gelang es Arne nur selten, ihn zu treffen. Außerdem war Arne einfach zu reizen. Cyren musste ihn nur ein bisschen provozieren, ein bisschen piesacken und schon verlor sein Freund die Geduld. Dadurch waren Arnes Angriffe nicht weniger gefährlich, aber wesentlich unkoordinierter, und somit war es leichter, auszuweichen. Jedenfalls für Cyren.

Während er Arne dabei beobachtete, wie dieser die zehn Männer zusammenrief und in Gruppen einteilte, holte er seinen Tabak hervor und begann sich eine Pfeife zu stopfen. Genüsslich zündete er sie an, nahm einen tiefen Zug und genoss den Geschmack des würzigen Tabaks auf der Zunge. Er war genauso müde und angespannt wie seine Männer. Diese Reise war eine Strapaze für alle. Ständig mussten sie auf der Hut sein und mit Angriffen rechnen. Schon lange hatten er oder seine Männer keine Nacht mehr durchgeschlafen. Das zerrte an ihren Nerven und sie alle waren immer gereizter geworden. Nicht selten brach wegen einer Kleinigkeit Streit aus, sodass Arne und er schlichtend eingreifen mussten. Doch bald würde die Reise zu Ende sein. Es durfte nicht mehr allzu weit bis zu den Nachtjägern sein.

»Ihr wollt zu den Nachtjägern?«, hatte der Hexenmeister an dem Tag gefragt, an dem die Truppe wiedergekommen war, um die Bettlerin mitzunehmen.

»Ja«, hatte Cyren nur gesagt.

»Wisst Ihr, wie Ihr dahin kommt?« Ein seltsam angespannter Ausdruck hatte auf dem Gesicht des Hexers gelegen.

Etwas irritiert hatte Cyren geantwortet: »Ja, es ist zwar lange her, dass ich dort gewesen bin, aber ich müsste den Weg noch finden.«

»Dann wünsche ich Euch viel Glück. Die Nachtjäger sind kein freundliches Volk.« Die Stimme des Hexers hatte unheilvoll geklungen. Cyren hatte das Gefühl gehabt, dass ihm nicht gefallen hatte, wohin sie reiten wollten.

Cyren wusste, dass die Nachtjäger kein freundliches Volk waren, bei dem er sich gerne aufhielt. Zwar bestand zwischen seinem Reich und den Nachtjägern ein Friedenspakt, aber der war brüchig. Es war fraglich, ob sich die Nachtjäger an ihre vor vielen Jahren getroffene Vereinbarung halten würden. Ihr Anführer war ein feiger, aber gefährlicher Mann. Man sagte, viele Attentate würden auf sein Konto und das seines Volkes gehen. Da all diese Attentate immer in der Nacht geschahen, war diese Vermutung naheliegend. Wie ihr Name schon sagte, jagten diese Menschen nur bei Nacht. All ihre wichtigen Rituale und Entscheidungen wurden nachts getroffen. Sie waren der Meinung, dass die Anonymität der Nacht es leichter machte, Entscheidungen zu treffen.

Cyren selbst hielt nichts davon. Er bevorzugte es, seinem Verhandlungspartner bei Tageslicht ins Gesicht sehen zu können. So war es schwerer für sein Gegenüber, eine Lüge zu verstecken. Aber wenn die Informationen der Bettlerin stimmten, dann befand sich unter den Nachtjägern ein Mondblütiger. Cyren hoffte so sehr, dass dem so war. Hoffte, endlich am Ende der Suche angelangt zu sein. Er betete, dass dieser Mondblütige bereit war, ihnen zu helfen. Egal, was er für seine Hilfe verlangen würde, Cyren war bereit, es ihm zu geben. Sein Vater hatte ihm völlig freie Hand gelassen. Deswegen war er zuversichtlich, dass er den Mondblütigen dazu überreden könnte, zu kooperieren.

Kapitel 2 Rhania

Sie stand blind und mit dem Schwert in der linken Hand auf dem Übungsplatz. Angst ließ ihr Herz rasen. Sie wusste, was gleich passieren würde.

»Heute wirst du gegen mich kämpfen. Mal sehen, ob du es schaffen wirst, mich zu besiegen«, sagte der Ausbilder. Sie konnte sein gehässiges Grinsen praktisch hören.

Sie wartete auf seinen Angriff, hörte jedoch nicht das Sausen der Klinge, sondern eine andere Stimme. »Habt ihr gesehen, wie die Augen dieser hässlichen Hure anfangen zu glühen, wenn ihre Gabe erwacht?«, flüsterte jemand. Es war einer der Nachtjäger. Oft hörte sie die Männer tuscheln, nicht selten über sie.

Sie stand plötzlich nicht mehr auf dem Übungsplatz, sondern lag als Häufchen Elend in ihrer Zelle. Die Nachtjäger hatten sie hier reingeschmissen, nachdem sie erneut gefoltert worden war. Sie war bis auf das Eisenhalsband und die Eisenmanschetten um ihre Hand- und Fußgelenke nackt. Usga hatte ihr schon sehr früh jede Kleidung abgenommen. Mittlerweile war sie so daran gewöhnt, dass sie nackt war, dass sie es nur noch selten bewusst wahrnahm. Der kalte Steinboden drückte sich hart in ihren geschundenen Körper. Plötzlich begann sie zu zittern und ein unsäglicher Schmerz zog sich über ihren Rücken. Ihr war heiß, so unendlich heiß.

Verschwommen sah sie jemanden über sich gebeugt dastehen. »Die Wunden haben sich entzündet. Wenn wir nichts tun, wird sie Wundbrand bekommen.«

Usga tauchte vor ihrem Gesicht auf und sah sie wutentbrannt an. »Sie darf nicht sterben. Tut, was immer ihr tun müsst, damit das Miststück nicht stirbt, aber mehr auch nicht.« Nach einem erneuten Blick in ihr Gesicht fügte er noch hinzu: »Und seht zu, dass ihr auch die ausgeschlagenen Zähne wieder erneuert. Ich will nicht, dass sie verhungert, nur weil sie nichts kauen kann.«

»Ja, Herr«, antwortete der Heiler. Sie kannte ihn, er wurde immer dann gerufen, wenn Gefahr bestand, dass sie sterben würde. Er hatte sie unzählige Male behandelt, teils mit Magie, teils mit einfacher Heilkunst. Jetzt schob er den Fetzen Stoff, den sie als Kleidung trug, nach oben und begann damit, ihre Verletzungen am Rücken zu behandeln.

»Wieso bin ich nicht mehr nackt?«, dachte sie verwirrt.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Kopf. Sterne explodierten vor ihren Augen und sie wusste, dass ihre Nase gebrochen war. Sie war nicht mehr in der Zelle mit dem Heiler. Blut schoss aus ihrer Nase, doch sie ignorierte es und schlug mit ihrem Schwert blitzschnell nach dem Angreifer. Die Männer waren wie aus dem Nichts aufgetaucht. Hatten sie gepackt und zurückgerissen, kurz bevor sie die Grenze hatte überschreiten können. Die Angreifer versuchten sie zu fesseln, doch sie riss sich los, indem sie mit ihrem Messer einem der Männer die Kehle aufschlitzte. Da bekam sie einen heftigen Faustschlag gegen den Kopf und ihr wurde bewusst, dass sie keine Chance gegen diese Kerle hatte. Trotzdem wehrte sie sich bis aufs Blut, aber die Angreifer wurden immer brutaler.

»Sie werden mich töten«, dachte sie, als sie zusammengekrümmt auf dem Boden lag. »Ich muss etwas tun, sonst bin ich gleich tot.«

Schläge und Tritte prasselten auf sie ein. Die Wut der Männer war zügellos, nachdem sie einen der ihren getötet hatte.

Ein roter Schleier legte sich über ihre Augen und sie hörte die Männer schreien. Spürte, wie Knochen unter ihren Händen zerbrachen. Sah, wie Blut aus aufgerissenen Kehlen spritzte, und schmeckte es auf ihrer Zunge. Sie war nicht mehr sie selbst. Ihre Gabe war erwacht, richtete ein Blutbad an.

Dann war es vorbei. Sie stand blutverschmiert und zitternd inmitten eines Haufens von Leichenteilen. Benommen starrte sie darauf. Übelkeit stieg in ihr auf und Schwäche breitete sich in ihrem Körper aus.

»Kind, wo bist du gewesen?«, hörte sie da ihre Mutter rufen.

Verwirrt drehte sie sich um. Sie war zu Hause. Schwer verletzt, aber sie war zu Hause.

Ihre Mutter stand in der Haustür und breitete die Arme aus. Freudestrahlend ging sie auf sie zu. Sie musste ihr erzählen, was passiert war. Musste ihr von der Gabe erzählen, von den Männern. »Mutter«, flüsterte sie, kurz bevor sich die vertrauten, warmen Arme um ihren schmächtigen Körper schlangen.

»Wo bist du nur gewesen? Was ist mit dir passiert? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Du bist so viele Jahre fort gewesen«, schimpfte ihre Mutter mit ihr.

Verwirrt blickte sie ihre Mutter an. Jahrelang fort gewesen? Was redete ihre Mutter da nur? »Mama, ich …« Doch weiter kam sie nicht, da sie plötzlich zu weinen anfing.

»Schh, mein Schatz, alles wird wieder gut«, murmelte ihre Mutter beruhigend und wiegte sie sanft im Arm. »Komm erst mal rein. Du hast Besuch, er wartet schon sehnsüchtig auf dich.«

Immer noch schluchzend folgte sie ihrer Mutter ins Haus. Doch das, was sie dort sah, ließ sie panisch aufschreien. Sie waren hier, in ihrem Zuhause. Die Bastarde, die sie gerade getötet hatte!

Das schrille Quietschen der Zellentür ließ sie schmerzhaft das Gesicht verziehen. Sie würde sich nie, wirklich nie, an dieses Geräusch gewöhnen. Sie blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit an und starrte wachsam zur Tür.

Es war eine Weile her, dass man sie während des Tages –oder war es schon wieder Nacht? – besuchen gekommen war. In den letzten Wochen hatte man ihre Tür nur noch geöffnet, um ihr die Mahlzeiten zu bringen. Gelegentlich, denn auch das war wie die Besuche immer seltener geworden, durfte sie sich waschen. Hierfür bekam sie einen Eimer mit ekligem, abgestandenem Wasser. Mehr nicht. Durch die mangelnde Hygiene hatte sie mehrere dunkle Stellen auf der Haut, die bei jeder Bewegung schmerzten. Das Jucken ihrer Kopfhaut machte sie beinahe verrückt und ihre zahlreichen Verletzungen verheilten nur langsam und notdürftig.

Dass jetzt die Tür geöffnet wurde, war ungewöhnlich. Ungewöhnlich hieß für sie seit Beginn ihrer Gefangenschaft, gefährlich. Somit war es kein Wunder, dass sich all ihre Muskeln instinktiv anspannten und sie misstrauisch auf das wartete, was nun kommen würde. Wollten die Nachtjäger sie abermals verhören? Sie erneut foltern? Oder musste sie wieder bei einem der blutigen Rituale zu den Füßen des Anführers wie ein Hund neben ihm sitzen? Sich an der Kette herumführen lassen, sich dabei mit Müll und allem möglichen bewerfen lassen? Sollten sie nur machen. Ihr war alles egal. Es gab nichts, was man ihr hier nicht schon angetan hatte. Das Einzige, was diese Bastarde nicht mehr taten, war, sie zu berühren. Jedenfalls nicht mehr mit ihren Händen. Ein böses Lächeln huschte bei dem Gedanken daran, warum die Männer sie nicht mehr berührten, über ihr vor Dreck starrendes Gesicht. Nein, das taten sie nicht mehr. Die Nachtjäger hingen an ihrem Leben, diese feigen, hässlichen Hunde. Sobald nur einer ihre Haut berührte, war er – dank ihrer Gabe – wenige Sekunden später tot. Es hatte nicht lange gedauert, bis die Männer das begriffen hatten. Nur wenn man sie komplett mit dicken Eisenfesseln wie ein Paket verschnürt und unter Drogen gesetzt hatte, war es ungefährlich, sie zu berühren. Als sie zum ersten Mal ihrer Gabe freien Lauf gelassen hatte, waren innerhalb von wenigen Minuten zehn Männer tot gewesen. Die Gabe in Verbindung mit ihrer harten Ausbildung in ihrem Heimatdorf war eine so tödliche und gewaltige Mischung, dass sie selbst erschrocken darüber gewesen war. Leider kostete es immense Kraft, ihre Gabe einzusetzen, und noch mehr, sie danach wieder einzusperren. Deswegen war sie nach dem ersten Angriff bewusstlos zusammengebrochen. Eisen dämpfte die Gabe. Das hatte der Anführer gewusst, sie leider nicht. Woher er es wusste? Das hatte der Anführer ihr nie verraten, sondern ihr nur ein Halsband aus Eisen angelegt, das ihre Gabe schwächte. Trotzdem war es tödlich, sie ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen zu besuchen.

Es war daher nicht verwunderlich, als nun vier Männer in die Zelle traten. In ihren Händen trugen sie sowohl dicke Eisenketten als auch zwei lange Eisenstangen.

Wieder huschte ein bösartiges Lächeln über ihr Gesicht und verächtlich dachte sie: »Feiglinge! Alle miteinander.« Der Hass auf sie war etwas, das ihr all die Jahre die Kraft gegeben hatte, bei Verstand zu bleiben.

»Lach du nur, hässliche Hure. Das wird dir gleich noch schnell genug vergehen«, knurrte einer der Männer voller Verachtung. »Und wer weiß, vielleicht ist heute wieder einer unserer Glückstage und wir dürfen uns am Ende noch ein bisschen mit dir amüsieren. Du bist zwar hässlich und stinkst schlimmer als unsere Nachttöpfe, aber Loch ist Loch, denk ich mir immer. Meinem Schwanz ist das auch egal, wie wir beide ja wissen.« Dabei packte er sich provokant in seinen Schritt und schaute auf ihre Scham.

Sie war nur spärlich gekleidet. Ihre sogenannte Kleidung bedeckte nur gerade so alles Nötige.

»Was ist, Hure? Steh schon auf! Los jetzt, der Chef will dich sehen«, schnauzte sie der Wächter an, als sie nicht sofort reagierte.

Langsam und weiterhin wachsam stand sie auf. Ihr Körper protestierte mit Schmerzen gegen jede Bewegung. Aber das Gefühl war ihr mittlerweile so vertraut, dass sie es kaum noch wahrnahm Als sie stand, trat ein Mann mit einer Eisenkette hinter sie. Unbehagen rieselte ihren Rücken herunter. Sie hasste es, wenn sie ihre Feinde nicht direkt vor sich sehen konnte.

Als der Mann, der eine der Eisenstangen in der Hand hielt, einen Schritt auf sie zu machte, fletschte sie die Zähne und schnappte nach ihm. Hastig sprang er wieder zurück und hielt schützend die Stange vor sich.

»Pah! Feiglinge«, dachte sie verächtlich.

Ein harter, brutaler Schlag von hinten auf ihren Rücken ließ sie beinahe in die Knie gehen. Verfluchte Eisenketten. Wie sie diese mittlerweile hasste. Sie hatte am ganzen Körper diverse Narben, die alle die Form der einzelnen Glieder besaßen. Man hatte sie während einer besonders harten Folter mit glühenden Eisenketten geschlagen, immer und immer wieder. Sie hatte geschrien, bis sie keine Stimme mehr gehabt hatte. Bis sie das Gefühl gehabt hatte, ihre Stimmbänder würden reißen. Es gefiel den Nachtjägern, wenn sie schrie, bettelte und flehte. Das hatte sie an diesem Tag gelernt. Seitdem hatte sie keinen Laut mehr von sich gegeben. Sehr zum Bedauern der Männer.

»Hör auf mit diesen Spielchen, Miststück. Und du – Mann, reiß dich mal zusammen, sonst kannst du die nächsten Wochen die Latrinen reinigen«, fauchte ein anderer Nachtjäger den mit der Eisenstange an.

Da sie keine Lust hatte, wieder mit der verdammten Eisenkette geschlagen zu werden, ließ sie ohne weitere Regungen zu, dass sie die Eisenstangen rechts und links in das Halsband einklinkten. Ihre Hände und Füße waren sowieso immer gefesselt. Zum Schluss wurden deshalb nur noch mit einer der Eisenketten die Fußfesseln mit den Handfesseln und diese wiederum mit dem Halsband verbunden. Kaum war das geschehen, wurde alles festgezogen. Dabei achteten die Männer peinlich genau darauf, sie nicht zu berühren. So gefesselt konnte die junge Frau nur in kleinen Schritten laufen. Jeder Zug an der Kette wirkte sich sofort auf das Halsband aus. Das hätte dann zur Folge, dass ihr Kopf schmerzhaft nach hinten gezogen werden würde.

Offensichtlich zufrieden grinste der Wachmann sie hämisch an. »Immer wieder eine Freude, dich so zu sehen, Hure. Da wird mir gleich meine Hose zu eng.«

Abscheu und Ekel krochen ihren Rücken hoch. Doch das versteckte sie sorgsam hinter einem erneuten Zähnefletschen.

»Mir machst du keine Angst, Missgeburt. Ich hatte dich schon mehrmals unter mir. Am Ende seid ihr Weiber doch alle gleich. Mit einem Schwanz in euch und einem in eurem Mund seid ihr sofort handzahm.« Der Wachmann lachte schmierig. Kurz schien es so, als wollte er ihr mit seinen dreckigen Fingern über die Wange streichen, doch der Ausdruck in ihren Augen hielt ihn dann doch davon ab. Stattdessen spuckte er ihr ins Gesicht und drehte sich um. Ein Zeichen mit seiner Hand und sie verließen die Zelle.

Außerhalb der Zelle war es, durch die zahlreichen Gaslampen, beinahe taghell. Geblendet kniff sie die Augen zu und ertrug schweigend den Schmerz, der durch ihren Kopf schoss. Mühsam blinzelte sie die Tränen weg. In ihrer Zelle herrschte fast absolute Dunkelheit. Deswegen war es jedes Mal aufs Neue ein kleiner Schock für ihre Augen, wenn man sie hinausließ. Nicht, dass man sie jemals tatsächlich nach draußen ließ. Nein, seitdem sie in Gefangenschaft war, hatte sie nicht mehr den Himmel über sich gesehen. Früher war sie von morgens bis abends draußen gewesen. Heute wusste sie nicht einmal mehr, wie Waldluft roch. Kannte nicht mehr das Gefühl des Windes im Haar. Das Geräusch, das ihre Füße machten, wenn sie über den Waldboden rannte. Nur manchmal, in ihren Träumen, da erinnerte sie sich. Doch am nächsten Morgen war all das wieder verschwunden. Nur die Tränen, die ihr während dieser Träume über das Gesicht liefen, waren Zeugen von ihnen.

Die kleine Gruppe hatte mittlerweile eine Tür erreicht. Nach einem Klopfzeichen wurde das kleine Sichtfenster geöffnet. Als der Wachmann dahinter sah, wer vor ihm stand, wurde auch die Tür geöffnet. Kaum hatten sie den Durchgang passiert, wurde diese wieder verschlossen. So passierten sie insgesamt drei Türen, bis sie nach der dritten in einem etwas größeren Raum ankamen. Von diesem zweigten mehrere Gänge ab. Die junge Frau hatte nie herausgefunden, wohin alle führten. Ihr war nur der bekannt, der zum Hauptraum des Höhlenkomplexes führte, und auf diesen hielten sie nun zu.

Je näher die Gruppe der großen Halle kam, desto kälter wurde es in ihr. Ihr Gesicht war erstarrt und sie fühlte sich innerlich beinahe tot. Die Unnahbarkeit und die innerliche Abschottung waren ihr Schutz vor all dem, was kommen mochte. Ein Mechanismus, den sie sich sehr schnell angeeignet hatte. Sie versteckte sich tief in ihrem Kopf, an einem Ort, wo keiner hinkam. Nur so konnte sie all die Qualen, die Folter, die Schmerzen ertragen, ohne auch nur zu zucken.

Als die Männer sie bei ihrer Gefangennahme endlich überwältigt hatten, waren sie über den Tod ihrer Kameraden voller Wut gewesen. Sie hatten sie zusammengeschlagen, ihr mehrere Rippen und einige andere Knochen gebrochen. Hatten sie bespuckt, auf sie drauf gepinkelt, um ihr dann ihre Schwänze in den Mund zu stoßen. Dem Ersten hatte sie noch fast den kompletten Schwanz abgebissen. Danach hatten die Männer sie verprügelt und ihr mehrere Zähne ausgeschlagen. Sie würde den Gestank der ungewaschenen Schwänze nie vergessen. Den Geschmack von Blut, der Schwänze und den des Spermas. Noch heute wurde ihr bei dem Gedanken daran übel. Seit dieser lang zurückliegenden Nacht konnte sie keine Berührungen mehr ertragen. Egal, wo und zu welchem Zweck einer der Männer sie berührte, ihre Gabe entriss sich sofort ihrer Kontrolle.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte die Gruppe endlich das große Tor zur Halle. Vier Wachen standen davor. Der Anführer der kleinen Truppe trat vor und forderte die Wachen auf, das Tor zu öffnen. Die vier Männer öffneten langsam und von lautem Rumpeln begleitet das Tor.

Die kleine Gruppe betrat die große Halle. Diese war so groß, dass dort bequem das ganze Dorf, in dem die junge Frau aufgewachsen war, hineingepasst hätte. Die Decke war so hoch, dass man sie nur erahnen konnte. Am Ende der Halle befand sich auf einer Empore ein Thron, der mit zahlreichen Fellen bedeckt war. Auf diesem saß, wie immer, Usga, der unumstrittene Anführer der Nachtjäger.

Hasste sie schon die Wächter, so hasste sie Usga mit einer Inbrunst, die ihr manchmal fast Angst machte. Usga selbst schien das zu spüren. Er ließ sie nur nah an sich heran, wenn man sie vorher mit Drogen, Eisen und Gewalt so weit gezähmt hatte, dass sie keine Gefahr mehr für ihn darstellte. Dass er sie heute ohne all diese Vorkehrungen zu sich holen ließ, war ungewöhnlich.

»Das ist meine Chance, vielleicht … vielleicht ist heute der Tag, an dem ich ihn endlich töten kann. Auch wenn das wahrscheinlich meinen eigenen Tod bedeuten wird, habe ich der Welt wenigstens einen Gefallen getan«, dachte sie, während sie ihn hasserfüllt anstarrte.

Usga erwiderte mit einem schmierigen Grinsen ihren Blick. Wie immer schien er sich ihr absolut überlegen zu fühlen.

»Dabei würde er keinen Wimpernschlag lange überleben, sollte er sich wirklich einmal mit mir messen.«

Es schien, als wäre er gerade mit dem Essen fertig geworden. Es hingen noch einige Reste in seinem Bart. Auch sein Hemd, das sich über dem dicken Wanst spannte, war voller frischer Flecken. Die junge Frau wusste, dass er immer mit beiden Händen wie ein Schwein aß. Dabei rülpste und furzte er, sooft er konnte.

Er widerte sie an, alles an ihm war verabscheuungswürdig. Und trotzdem war er der Anführer der Nachtjäger und wurde von allen mit unterwürfigem Respekt behandelt. Ein bisschen konnte sie das sogar verstehen. Sie hatte mehrmals das zweifelhafte Vergnügen gehabt, zu sehen, was passierte, wenn er wütend wurde. Unter all dem Fett verbargen sich gewaltige Muskeln und hinter seinen kleinen, hässlichen Augen blitzte eine gefährlich hinterlistige Intelligenz. Hinzu kam sein unberechenbares Temperament. Sie war einmal Zeuge davon geworden, wie er urplötzlich voller Wut aufgesprungen war und einem seiner Diener mit bloßen Händen den Kopf abgerissen hatte. Und das nur, weil dieser aus Versehen etwas Wein verschüttet hatte. Ja, er war stark und gefährlich, aber trotzdem hätte er keine Chance gegen sie, dessen war sie sich sicher. Auch wenn sie durch die jahrelange Gefangenschaft geschwächt war, würde allein ihr unbändiger Hass das hundertmal wieder wettmachen.

Ungefähr fünf Meter vom Thron entfernt blieben sie stehen. Mit einem brutalen Schlag einer der Eisenketten in ihre Kniekehlen sorgte der Wachmann hinter ihr dafür, dass sie auf die Knie fiel. Ein Ruck an der Kette und sie war gezwungen, ihren Kopf in den Nacken zu legen, so weit es ging. In dieser unterwürfigen Pose würde sie so lang verweilen müssen, wie es Usga beliebte. Trotz ihrer Pose war sie wachsam. Alle Sinne waren geschärft, ihren verletzlichen Geist hatte sie gut in ihrem Kopf versteckt.

»Wie ich sehe, bist du heute etwas friedlicher gelaunt«, sagte Usga nach einer Weile.

Rhania fand, dass es fast schon enttäuscht klang.

»Das ist bedauerlich«, bestätigte er ihr diese Vermutung auch gleich. »Habe ich dich doch angepriesen wie das beste Pferd in meinem Stall.« Daraufhin lachte er dreckig, zog seine Nase hoch und spuckte in ihre Richtung. »Na ja, wir werden dich sicherlich noch dazu bekommen, zu zeigen, was du kannst«, sprach er weiter. »Wir wollen unsere Gäste ja nicht enttäuschen, nicht wahr?« Kurz hielt er inne, als würde er erwarten, dass sie etwas sagte.

Aber wie immer schwieg sie eisern. Manchmal überlegte sie, ob sie überhaupt noch sprechen konnte, so lange hatte sie schon kein Wort mehr gesagt.

Ein erneutes Rumpeln zerriss die Stille und kündete davon, dass das große Tor wieder geöffnet wurde. Schritte erklangen, viele Schritte. Dazu das leise Klirren und Scheppern von Metall.

Da sie den Kopf weit im Nacken hatte, konnte sie nicht viel sehen. Doch sie schätzte, dass mindestens zehn Männer die Halle betreten hatten. Bewaffnete Männer, wenn sie die Geräusche richtig deutete. Etwas, was sie noch nie zuvor während ihrer Gefangenschaft erlebt hatte. Bewaffnete Männer in der großen Halle, von wo aus Usga herrschte? Nein, das war so surreal, dass ihr fast die Kontrolle entglitten wäre und man ihrem Gesicht die Überraschung angesehen hätte.