Commissaire Marquanteur
und der Todespreis: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Illegale Autorennen auf französischen Autobahnen zwischen
Marseille und Reims, bei denen auch Menschen sterben – und ein
gesuchter Mörder nimmt daran teil. Die Sonderabteilung FoPoCri
heftet sich an seine Spur. Die Kommissare Marquanteur und Leroc
fahren das Rennen mit und kommen zusätzlich einer großangelegten
Verschwörung auf die Spur…
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Jack Raymond,
Robert Gruber, Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet
Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Romain by Author
COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
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lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
»Bonjour!«, sagte ich, als ich mit dem Porsche die Werkstatt
erreichte und dort ausstieg.
»Bonjour«, sagte der Mann im Blaumann.
Der Mann im Blaumann hieß Michel Dornier. Auch bekannt als
Porsche-Michel, weil sich wirklich niemand in Marseille und
Umgebung besser mit Porsches auskennt als dieser Meister. Und er
ist ein Meister! Nicht nur, weil das auf dem Dokument steht, das er
in seinem Büro an der Wand hängen hat und das es ihm ermöglicht,
diese Werkstatt zu betreiben. Denn ohne Meisterbrief geht sowas in
Frankreich ja nicht.
Er kennt sich wirklich aus. Und wann immer mein Dienst-Porsche
mal irgendwelche Mucken hatte, hat Porsche-Michel Dornier
herausgefunden, was dem lieben Kleinen fehlt.
Jetzt sagen Sie nicht, ich hätte ein etwas zu persönliches
Verhältnis zu meinem Fahrzeug.
»Alles tipptopp«, meinte er. »Damit können Sie Rennen fahren,
wenn Sie wollen.«
»Eigentlich habe ich einen anderen Job.«
»Sie können ja noch umsatteln.«
»Ich glaube nicht.«
»Mehr Geld kann man auf jeden Fall verdienen, wenn man
irgendwo um einen Großen Preis fährt.«
Ich winkte ab. »Mehr Geld, als mir bezahlt wird, kann ich
sowieso nicht ausgeben.«
»Schön, wer das sagen kann!«
»Ich lebe bescheiden.«
»Ist das nicht manchmal schwer?«
»Was?«
»Na, Sie sind doch Polizist.«
»Commissaire.«
»Und Sie sind in einer Sondereinheit, wie Sie mir mal gesagt
haben.«
»Force spéciale de la police criminelle, kurz FoPoCri,
angesiedelt hier in Marseille«, nickte ich. »Wir beschäftigen uns
vor allem mit organisierter Kriminalität.«
»Das meine ich ja! Die Drogenbosse schwimmen im Geld, und Sie
kriegen nur Ihr ganz normales Gehalt. Haben Sie nie daran gedacht,
mal die Seiten zu wechseln?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nie«, sagte ich. »Und mein Kollege
François Leroc, den Sie ja auch kennen, denkt da genauso.«
»Aber das können Sie sicher nicht für alle Ihre Kollegen
garantieren, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, da haben Sie recht. Das kann
ich nicht.«
2
Der Fahrer des Sportwagens ließ den Motor aufheulen und kam
bis auf einen Abstand von maximal zwei Metern an den vor ihm
fahrenden Porsche heran. Die zweispurige Straße zog sich wie ein
Strich durch die Landschaft. Von vorne näherte sich eine Kolonne
von drei Trucks. Der Sportwagen beschleunigte, zog auf die linke
Spur, raste den Trucks frontal entgegen und beschleunigte. Der
Fahrer trat das Gaspedal offenbar voll durch.
Aber der Porsche beschleunigte ebenfalls.
Keiner der beiden Kontrahenten war bereit nachzugeben.
Der Sportwagen schob sich eine halbe Wagenlänge vor den
Porsche. Aber das war nicht genug, um einbiegen zu können.
Der erste der Trucks hupte und bremste bereits ab. Aber
zwanzig Tonnen ließen sich nicht so einfach stoppen, zumal die
nachfolgenden Fahrzeuge von der Gefahr nichts erkennen
konnten.
Noch Sekunden und es gab einen Frontal-Crash zwischen dem
Sportwagen und dem Truck, dessen Fahrer nun die Hand auf der Hupe
und Fuß auf dem Gaspedal hatte.
Der Sportwagen schaffte es kurz vor einer Kollision mit dem
Truck eine drei Viertel Wagenlänge Vorsprung vor seinen
Porsche-Kollegen zu bekommen. Um einen Crash mit den Trucks zu
vermeiden, zog er nach rechts.
Der Truckfahrer trat unterdessen voll in die Eisen. Die Reifen
blockierten. Der nachfolgende Truck konnte nicht rechtzeitig
bremsen und fuhr von hinten in das vordere Fahrzeug hinein und
schob es vorwärts.
Der Porsche bremste ebenfalls. Reifen quietschten.
Der Sportwagen hatte unterdessen den linken Kotflügel des
Porsche touchiert. Das genügte, um diesen aus der Bahn zu werfen.
Der Porsche brach nach rechts aus, drehte sich einmal komplett
herum, bekam dann noch einmal einen Stoß durch den heranrutschenden
Truck, der den Porsche dann endgültig von der Straße kegelte und
die seitliche Böschung hinunterrutschen ließ.
Der Sportwagen hingegen hatte gerade noch rechtzeitig auf die
rechte Spur wechseln können, um nicht von der Kolonne ineinander
geschobener Trucks erfasst und zermalmt zu werden.
Bei der Kolonne war inzwischen auch der dritte Truck von
hinten aufgefahren. Der erste begann zu schlingern, stellte sich
quer und die nachfolgenden schoben ihn von der Fahrbahn, wo er
schließlich auf der Seite landete.
Nur der Sportwagen war noch auf der Bahn. Er
beschleunigte.
Das Seitenfenster wurde heruntergelassen.
Der Fahrer hielt einen Stinkefinger hoch. Außerdem ließ er
seine Hupe erklingen.
Als Hupsignal hatte sich der Fahrer den Triumphmarsch von
Verdi einrichten lassen.
3
Monsieur Marteau, der Chef der Force spéciale de la police
criminelle, machte ein sehr ernstes Gesicht. Er drückte auf einen
Knopf an der Fernbedienung des Beamers, mit dem die Videosequenzen
seines Laptops an die Wand projiziert wurden und wandte sich uns
zu.
Das Bild des Sportwagens, dessen Fahrer in provozierender
Weise seinen Finger in die Höhe reckte, erstarrte. Die harmonisch
etwas vereinfachte Hupversion von Verdis Triumphmarsch brach
ab.
Außer François und mir hatten auch noch die Kollegen Stéphane
Caron und Boubou Ndonga sowie die Innendienstler Maxime Valois und
Norbért Navalle in dem schlichten Sitzmobiliar in Monsieur Marteaus
Büro Platz genommen.
Melanie kam herein und servierte ihren berühmten Kaffee.
»Da hat offenbar jemand denselben Autogeschmack wie du«,
raunte mir mein Kollege François Leroc zu, während Melanie das
Tablett absetzte und die Becher mit dem heißen Kaffee verteilte.
Monsieur Marteau wartete, bis seine Sekretärin den Raum wieder
verlassen hatte.
»Sie haben gerade eine Videosequenz gesehen, wie man sie sich
aus dem Internet herunterladen kann. Teilnehmer illegaler
Autorennen lassen sich bei ihren Heldentaten filmen und stellen die
Bilder dann auch noch ins Netz, um sich damit zu brüsten. Wie Sie
sehen konnten, sind diese Aufnahmen aus einem Helikopter gemacht
worden.«
Illegale, teils transkontinentale Rennen waren ein Problem,
mit dem sich die Kriminalpolizei immer wieder auseinanderzusetzen
hatte. Und auch unser Büro hatte sich in der Vergangenheit schon
häufig damit beschäftigen müssen. Jahr für Jahr versuchte die
Kriminalpolizei immer wieder in Zusammenarbeit mit lokalen
Polizeibehörden diese Rennen zu unterbinden. Aber das war wie beim
Rennen zwischen dem Hasen und dem Igel. Der Igel, das waren in
diesem Fall die Veranstalter dieser Rennen, waren immer schon da,
bevor wir eingreifen konnten.
Die sogenannten Frénétique-Rennen wurden auf normalen Straßen
durchgeführt und immer wieder kamen dabei völlig unbeteiligte
Verkehrsteilnehmer durch die waghalsigen Überholmanöver und die
völlig überhöhte Geschwindigkeit, mit der gefahren wurde, ums Leben
oder wurden schwer verletzt.
Insbesondere Besitzer von luxuriösen Sportwagen sahen hier die
Möglichkeit gekommen, ihre Rennschlitten endlich mal auszufahren.
Ein anderer wichtiger Faktor war das Geld. Allein die
Antrittsgelder betrugen mitunter 40 000 Euro und mehr. Für den
Sieger winkten astronomische Summen. Und noch mehr konnte durch
Wetten und Wettmanipulationen dabei verdient werden.
Und damit war auch schon die Hauptschnittstelle dieser Rennen
zum organisierten Verbrechen beschrieben.
»Ich hoffe, der Kerl im Sportwagen sitzt inzwischen im
Gefängnis und hat ein Führerscheinverbot auf Lebenszeit aufgebrummt
bekommen«, kommentierte unser Kollege Stéphane Caron die Szene, die
Monsieur Marteau uns soeben vorgeführt hatte. Caron war nach
Monsieur Marteau der zweite Mann in unserer Abteilung. Er
schüttelte nur mit dem Kopf.
»Der Mann, der den Sportwagen gefahren hat, sitzt tatsächlich
für einige Jahre in Haft«, berichtete Monsieur Marteau. »Er heißt
Roger Palmiere und bekam einige Jahre aufgebrummt, weil bei einem
weiteren Unfall zwei Menschen ums Leben kamen. Er geschah etwa
zwanzig Kilometer von der Stelle entfernt, an der die Aufnahmen
entstanden sind, die Sie gerade gesehen haben.«
»Wie kann man nur solche Aufnahmen ins Netz stellen und
glauben, dass man anschließend nicht erwischt wird«, meinte Boubou
verständnislos. Unser Kollege nahm einen Schluck Kaffee.
»Ich nehme an, dass die Eitelkeit wohl größer als die Angst
vor dem Knast ist«, glaubte François.
»Tatsache ist, dass sich im Netz Tausende solcher
Videosequenzen finden lassen«, berichtete unser Innendienstler
Maxime Valois aus der Fahndungsabteilung. »Soweit sich Rückschlüsse
auf strafbare Handlungen ziehen und die Täter identifizieren
lassen, werden sie auch vor Gericht gestellt. Aber das ist nicht so
leicht, wie man glauben könnte. Erstens sorgen die Täter meistens
dafür, dass sie selbst nicht erkennbar sind, und außerdem werden
häufig auch falsche Nummernschilder benutzt. Im Fall von Monsieur
Palmiere hat er sich jedoch durch seinen Drang zur
Selbstdarstellung selbst überführt.« Maxime stand auf und streckte
die Hand aus. »Wenn Sie mir mal eben den Beamer geben würden,
Monsieur Marteau.«
»Bitte!«, sagte unser Chef und gab Maxime das Gerät.
Maxime zoomte die Hand mit dem obszön emporgereckten Finger
heran.
»Auf der Handaußenfläche ist eine Verbrennungsnarbe zu sehen,
die so charakteristisch und individuell ist, dass Monsieur Palmiere
dadurch identifiziert werden konnte. Er ist nämlich bereits
einschlägig vorbestraft, so dass seine Daten – darunter auch
besondere Kennzeichen – gespeichert waren. Der Unfall, den wir hier
sahen, ging recht glimpflich für die Beteiligten aus, aber der
zweite Vorfall, bei dem eine Mutter und ihr zehnjähriger Sohn in
einem Ford mit Palmiere kollidierten, fand – wie gesagt – zwanzig
Minuten später statt.«
»Ich hoffe, er sitzt noch lange!«, meinte François.
»Da muss ich Sie leider enttäuschen, François«, erwiderte
Monsieur Marteau. »Er wurde durch einen Deal mit der
Staatsanwaltschaft auf Bewährung entlassen und versorgt uns seitdem
mit wichtigen Informationen aus der Szene der Frénétique-Fahrer.
Ich muss niemandem etwas darüber sagen, wie schwierig es ist, da
einzudringen. Die sind natürlich extrem misstrauisch. Nicht umsonst
ist es so gut wie nie gelungen, ein derartiges Rennen zu
verhindern.«
Da hatte unser Chef leider recht. Die Teilnehmer fanden immer
wieder eine Möglichkeit, sich zu treffen, irgendwo einen Startpunkt
auszumachen, um dann quer durch Europa zu fahren.
Jeder auf eigene Faust – aber nicht nur auf eigene Gefahr, wie
jedes Mal eine Serie schrecklicher Unfälle zeigte.
Maxime drückte auf den Knopf des Beamers.
Eine Großaufnahme von Roger Palmiere wurde gezeigt.
»Palmiere wandte sich an die Kollegen des Polizeipräsidiums in
Paris und berichtete als Erster darüber, dass es offenbar dieses
Jahr in Konkurrenz zum traditionellen Frénétique von Marseille nach
Reims auch einen sogenannten Großen France-Frénétique geben soll.
Der Sieger bekommt sage und schreibe zwei Millionen Euro.
Ausgangspunkt soll in Marseille sein, Zwischenziel Dijon, Endziel
wieder Marseille. Die Gerüchte haben sich inzwischen auch aus
anderen Quellen bestätigt und es gibt Anzeichen dafür, dass sich
das organisierte Verbrechen mit immens hohen Wetteinsätzen
engagiert. Über Palmiere bekamen wir einen Kontaktmann hier in
Marseille genannt, der bereit ist, mit der Kriminalpolizei
zusammenzuarbeiten. Sein Name ist Alexandre Clermont. Er betreibt
einen Club hier in Marseille, der immer mit illegalem Glücksspiel
in Verbindung stand. Daher ist er auf das Wohlwollen der Justiz
angewiesen und bereit, mit uns zusammenzuarbeiten. Außerdem hat er
wohl irgendeine Rechnung mit einem der Organisatoren offen. Aber
das ist Spekulation.«
»Mit anderen Worten – ein gut motivierter Informant«, stellte
ich fest.
»In diesem Fall scheint er aber wirklich glaubwürdig zu sein,
Pierre«, gab Maxime zurück. »Er hat sich gestern Abend hier im Büro
gemeldet und möchte unbedingt ein Treffen arrangiert haben.«
»Ich übernehme das gerne«, sagte Stéphane.
»Dabei gibt es nur einen Haken, Stéphane«, erklärte Monsieur
Marteau. »Clermont hat ausdrücklich um Pierre als Gesprächspartner
gebeten.«
Ich war perplex.
»Ich kenne diesen Monsieur Clermont nicht«, war ich mir
sicher.
Monsieur Marteau wandte sich mir zu.
»Aber er kennt offensichtlich Sie, Pierre, und hat sich
genauestens über Sie informiert. Über Sie und den Wagen, den Sie
fahren.« Unser Chef zuckte mit den Schultern. »Clermont scheint
sehr misstrauisch zu sein, aber es ist vermutlich so, dass er den
Fahrer eines Sportwagens, der theoretisch an einem solchen Rennen
teilnehmen könnte, einfach für vertrauenswürdiger hält. Mehr kann
ich dazu nicht sagen. Aber ich denke, es ist kein Problem, wenn wir
Monsieur Clermont in diesem Punkt entgegenkommen. Wenn wir Glück
haben, könnte es nämlich sein, dass sich zum ersten Mal überhaupt
die Chance ergibt, so ein Rennen bereits zu stoppen, bevor es
richtig begonnen hat. Das könnte mehrere Dutzend Menschenleben
retten – von all den Verletzten mal ganz abgesehen, von denen
einige ihr Leben als Invaliden beenden werden.«
»Dazu bräuchte man die Teilnehmerdaten«, stellte François
glasklar fest.
Monsieur Marteau nickte.
»Und genau die hat Clermont uns versprochen. Also behandeln
Sie ihn wie ein rohes Ei!«
4
Gegen Mittag desselben Tages rief Alexandre Clermont noch
einmal im Polizeipräsidium an. Das Gespräch wurde an mich
weitergeleitet.
»Es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen, Monsieur
Marquanteur«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Jemand,
der einen solchen Sportwagen fährt, muss das Herz auf dem rechten
Fleck haben!«
Wir vereinbarten ein Treffen in einem chinesischen Restaurant
auf Pointe-Rouge für den frühen Abend. Es hieß »I Ging».
Den Sportwagen stellte ich in der dazugehörigen Tiefgarage ab.
Das »I Ging« lag im oberen Stock und wurde von Sammy Lee Kuan
betrieben, einem Taiwan-Chinesen, der allerdings in die Kategorie
Haute Cuisine – hohe Kochkunst – einzuordnen war. Die ursprüngliche
chinesische Küche suchte man hier vergeblich. Vielmehr bekam man
eine verfeinerte und für Franzosen genießbare Version.
Wir bekamen einen Tisch zugewiesen, von dem aus man einen
hervorragenden Ausblick auf das bunte Treiben der Stadt hatte.
»Monsieur Clermont wird sich etwas verspäten«, sagte uns der
Kellner, ein junger Mann mit blauschwarzem Haar und asiatischen
Gesichtszügen. »Darf ich Ihnen in der Zwischenzeit schon mal etwas
bringen?«
Er bot uns einen Pflaumenwein an, aber wir lehnten beide
ab.
»Ich kann mir schon denken, worauf das Ganze hinausläuft und
warum der Kerl unbedingt dich sprechen will!«, meinte
François.
»Ach, ja?«
»Dein Sportwagen wäre doch ideal, um sich bei diesem Rennen
als Teilnehmer einzuschmuggeln. Vielleicht denkt Clermont an so
etwas.«
»Dann ist er aber schief gewickelt – selbst wenn Monsieur
Marteau so etwas vorschweben sollte!«
»Komm schon, du hast so etwas Ähnliches schon mal
gemacht!«
»Ja, aber der Sportwagen, den ich damals fuhr, gehörte der
Fahrbereitschaft der Kriminalpolizei!«
»Dann ist dir dein Wagen also wichtiger als die Bekämpfung von
Verbrechern?«, stichelte François.
»Ach, François, du weiß schon, wie ich das meine!«
»Den Organisatoren dieses Rennens, das mit Sicherheit einige
Todesopfer und Schwerverletzte fordern wird, gehört das Handwerk
gelegt. Der Große France-Frénétique ist eine extreme
Verkehrsgefährdung auf einer Strecke von über tausend
Kilometern!«
»Da bin ich deiner Meinung.«
»Aber mal Hand aufs Herz, Pierre. Würde es dich nicht reizen
würde, die dreihundert Stundenkilometer deines Sportwagens mal
ausfahren zu können?«
»Warten wir doch einfach mal ab, was Monsieur Clermont uns zu
sagen hat, François!«
5
Clermont traf eine Viertelstunde später ein. Er war ein
hochgewachsener, dunkelhaariger Mann mit einem exakt gestutzten
Knebelbart.
»Ich bin Pierre Marquanteur und dies ist mein Kollege François
Leroc«, stellte ich uns vor.
Er nickte.
»Ich weiß. Ich habe ein Bild von Ihnen gesehen, Monsieur
Marquanteur.«
»Ach, ja?«
»War – glaube ich – im Lokalteil des Marseiller Abendblatts.
Sie standen neben Staatsanwalt Romain Thorn und ich nehme an, dass
Sie auch eher zufällig im Bild waren.«
»Sie scheinen sich immer genauestens über Ihre
Gesprächspartner zu informieren«, stellte ich fest.
»Allerdings. Ich habe alles gesammelt, was man über Sie auf
legalem oder illegalem Weg an Informationen zusammentragen kann.
Zum Beispiel weiß ich, dass die Beschleunigungswerte Ihres Wagens
an die eines Kampfjets heranreichen …«
Ich war perplex. Der Mann hatte sich wirklich eingehend
informiert. Aber letztlich war es theoretisch sogar möglich, dass
jemand mit entsprechenden Hackerkenntnissen sogar an die
Personaldaten der Kriminalpolizei herankam. Schließlich waren
Hacker auch schon mehrfach ins System des Verteidigungsministeriums
und des Élysée Palastes eingedrungen. Dass vor ein paar Jahren eine
Handvoll Spaßvögel es mal geschafft hatten, die Fahndungsfotos der
Kriminellen auf den Internetseiten der Sûreté gegen die Köpfe von
Micky Maus und Donald Duck auszutauschen, war dagegen schon fast
harmlos.
Absolute Datensicherheit gab es wohl nicht, wie ich immer
wieder feststellen musste. Das Prinzip, nach dem Hacker vorgingen,
war immer dasselbe. Bei einem Verbund von mehreren tausend Rechnern
in Behörden oder großen Firmen, war es statistisch immer so, dass
die Sicherheitseinstellungen von einigen wenigen Rechnern auf
Werkseinstellung blieben und ein leichtes Eindringen ermöglichen.
Je größer der Verbund, desto leichter kam man gewissermaßen durch
die Hintertür herein.
»Bevor Sie nachfragen, Monsieur Marquanteur: Ich werde Ihnen
meine Informationsquellen nicht nennen. Und wenn Sie sich auf den
Kopf stellen! Andererseits sollte Sie die Tatsache, dass ich ein
paar Dinge mehr über Sie und Ihren Wagen weiß, Sie auch nicht
weiter beunruhigen. Ich weiß auf diese Weise, dass ich mit jemandem
spreche, den ich einzuschätzen vermag und dem ich trauen
kann.«
»Was macht Sie da so sicher?«
Clermont grinste.
»Sie haben eine beachtliche Liste von Verhaftungen
vorzuweisen, und sicher haben Sie dabei jeden Trick angewendet, der
nötig war, um Ihre Gegner zur Strecke zu bringen. Aber nach allem,
was ich über Sie weiß, dürfte eins feststehen: Sie sind einfach ein
zu aufrechter Charakter, um sich von den Bluthunden kaufen zu
lassen, die hinter diesen Frénétique-Rennen stecken und damit das
große Geld machen.«
»Und mit denen haben Sie Ärger?«
»Sagen wir so: Ich bin aufs Kreuz gelegt worden und habe bei
einer Wette sehr viel Geld verloren. Jetzt hätte ich nichts
dagegen, wenn der ganze Laden hochgeht und ein paar Leute, die mich
übel gelinkt haben, dabei mit hochgehen.«
»Sie sind ehrlich, was Ihre Motivation für Ihre Kooperation
als Informant angeht«, stellte ich fest.
Clermont verzog das Gesicht.
»Sie haben doch nicht etwa gedacht, dass es die lächerlichen
Beträge sind, die die FoPoCri für ihre Spitzel bezahlt?«
»Nein, ehrlich gesagt, habe ich niemals geglaubt, dass unsere
Sätze ausreichen, um jemanden aus Ihrer Liga zur Mitarbeit zu
bewegen. Aber jetzt sollten Sie uns langsam mal darlegen, was Sie
eigentlich anzubieten haben.«
Die Formulierung jemand aus Ihrer Liga war reine Schmeichelei.
Schließlich wussten wir noch gar nicht, ob dieser Kerl überhaupt in
irgendeiner Liga spielte oder uns nur etwas vormachte. Er wäre
nicht der erste Wichtigtuer gewesen, der unsere Zeit verschwendete,
in dem er uns vorspielte, dass wir einzig und allein mit seiner
Hilfe den Sumpf des organisierten Verbrechens endlich trockenlegen
könnten.
François ergänzte: »Es ist davon die Rede, dass Sie uns eine
Teilnehmerliste des Großen France-Frénétique verschaffen
könnten.«
»Kann ich. Das wird sich allerdings noch etwas hinziehen.
Schließlich ist die Anmeldefrist für dieses Rennen noch nicht
abgelaufen. Außerdem könnte ich Ihnen vielleicht die Möglichkeit
verschaffen, einen Fahrer einzuschleusen. Normalerweise kommt
niemand ins Fahrerfeld, der keine persönliche Empfehlung hat. Aber
da könnte ich herankommen. So weit reichen meine
Verbindungen.«
»Unser Ziel ist es, dieses Rennen möglichst im Keim zu
ersticken«, sagte François. »Wenn wir also den Startpunkt und die
genaue Zeit wüssten …«
»Nein, beim Großen France-Frénétique ist das alles anders,
Monsieur Leroc. Wenn Sie denken, dass Sie einfach die beteiligten
Fahrer nach dem Start einsammeln können, sind Sie schief gewickelt.
Die Organisatoren haben durch die Fehler gelernt, die die
Organisatoren vergleichbarer illegaler Rennen schon gemacht haben.
Es geht nämlich einfach um viel zu viel Geld.«
Ich wechselte einen kurzen Blick mit François, der die Augen
etwas verengte. Mein Kollege war bisher noch skeptisch, ob wir es
vielleicht doch mit jemandem zu tun hatten, der am Ende nicht
halten konnte, was er versprach. Ich teilte seine Skepsis.
Andererseits wollte ich dieser Frage wirklich gründlich auf den
Grund gehen.
»Hören Sie, ich will ganz offen sein«, sagte ich. »Bisher habe
ich den Eindruck, dass Sie gar nichts haben, was uns wirklich
interessiert, sondern nur viel Lärm um Nichts machen. An den
Fahrern wären wir wirklich interessiert, aber damit halten Sie uns
hin. Und ich nehme an, was Startpunkt und den genauen Starttermin
angeht, sieht das genauso aus.«
»Ich kann Ihnen tatsächlich diese Daten nicht geben, aber wenn
Sie mir einen Moment zuhören, dann werden Sie auch verstehen,
warum.«
»Da bin ich aber doch mal gespannt«, sage ich und lehnte mich
zurück.
»Die Sache funktioniert so: Jeder beteiligte Fahrer bekommt
über einen Mittelsmann einen GPS-Sender, den er an seinem Wagen
befestigen muss. Per Email bekommen Sie ein Datum und eine Uhrzeit
mitgeteilt. Vor diesem Zeitpunkt müssen Sie sich östlich des 5.
Längengrades befinden.«
»Egal wo?«
»Suchen Sie sich einen strategisch günstigen Punkt aus, um
einen guten Start auf dem Weg nach Marseille zu haben, Monsieur
Marquanteur. Aber wer den 5. Längengrad vorzeitig überschreitet,
ist draußen. Definitiv. Anhand des GPS-Signals ist das eindeutig zu
sehen. Ziellinie ist der 5. Längengrad und 47. Breitengrad bei
Dijon.«
»Wohin gehen die Signale?«
»In ein Hotel irgendwo in Frankreich oder sonst wo in Europa.
Dort sitzen einige superreiche Motorsportfreaks oder Leute, die
Wetten mit dem besonderen Kick lieben. Sie können im Gegensatz zu
den Teilnehmern mitverfolgen, wer an welcher Position steht und
ihre Wetten entsprechend gestalten. Auch während des Rennens
noch.«
»Ich nehme an, dass es da nicht unbedingt sauber
zugeht.«
»Angeblich sollen Drogensyndikate diese Wetten zur Geldwäsche
nutzen. Selbst wenn sie auf den Falschen setzen und für einen
Schwarzgeld-Euro nur zehn Cent wiederbekommen, ist das noch ein
Gewinn, weil das Geld über so viele Kanäle geleitet wird, dass es
am Ende praktisch blütenweiß ist. Noch was: Es gibt ausdrücklich
keine Regeln bei diesem Rennen – abgesehen von den
Startmodalitäten, die ich Ihnen gerade berichtet habe.« Ein
überlegenes Lächeln erschien auf Clermonts Gesicht. »Wenn Sie Lust
haben, Ihrem Konkurrenten die Reifen zu zerstechen, dürfen Sie das!
Das macht die Sache für das Publikum besonders reizvoll – und vor
allem unberechenbar, was die Wetteinsätze angeht.«
»Sie gehen offenbar davon aus, dass ich mitfahre. Aber das
sehe ich – ehrlich gesagt – nicht.«
»Abwarten, Monsieur Marquanteur.«
»Woher weiß der einzelne Fahrer, wer sein Konkurrent
ist?«
Clermont lachte.
»Gar nicht! Das ist ja der Clou dabei! Jeder Fahrer eines
Sportwagens, der einigermaßen PS unter der Haube hat, ist natürlich
verdächtig, ein anderer Teilnehmer zu sein. Das exquisite
Wettpublikum will natürlich auch sehen, wie sich exquisite Wagen
messen. Ansonsten haben Sie keinen Anhaltspunkt. Die Leute, die für
die Organisation dieses Rennens verantwortlich sind, haben diesen
Modus in kleinerem Rahmen bei einem illegalen Rennen in den
Niederlanden getestet und es hat sich gezeigt, dass durch diese
Konstellation der Ungewissheit immer wieder interessante Dinge
passieren. Ein Fahrer zersticht einem vermeintlichen Kontrahenten
die Reifen, landet im Knast und verliert, obwohl er haushoher
Favorit ist und so weiter.«
Ich nickte und begann langsam die Dimensionen des Spiels zu
begreifen, das hier ablief.
»Ja, oder die Organisatoren schicken jemanden, der die Reifen
zersticht oder sorgen auf andere Weise dafür, dass ein bestimmter
Wagen nicht das Ziel erreicht – um Wetten zu manipulieren«,
vermutete ich.
»Durch das GPS-Signal ist die Rennleitung jederzeit über die
jeweilige Position der einzelnen Wagen informiert, das ist
richtig«, bestätigte Clermont.
Den Manipulationsmöglichkeiten waren damit natürlich Tür und
Tor geöffnet.
»Ich würde Ihren Wagen wirklich gerne mit den anderen
Teilnehmern in Wettbewerb treten sehen.«
»Ich glaube, da haben Sie falsch gepokert.«
»Glaube ich kaum!«, sagte er und der Ausdruck absoluter
Gewissheit, der jetzt in seine Züge trat, missfiel mir. »Ich habe
hier den Köder, der Sie Ihre Bedenken vielleicht noch über Bord
werfen lässt. Nein – ganz sicher sogar!«
»So?«
»Sagt Ihnen der Name Robert Molvare etwas?«
François und ich sahen uns an.
»Wenn wir denselben Robert Molvare meinen«, meinte François
zögernd.
Clermont grinste.
»Wir meinen denselben. Den, der auf den Internetseiten der
Sûreté als einer der zehn meistgesuchten Straftäter Frankreichs
aufgeführt und seit Jahren vergeblich gesucht wird. Den Lohnkiller
der Clans und Syndikate und jeden anderen, der bereit ist, seine
horrenden Honorarvorstellungen zu erfüllen. Angeblich gehen sogar
die Morde an mehreren Staatschefs in der dritten Welt auf sein
Konto. Aber das sind Gerüchte, von denen ich nicht weiß, ob Robert
Molvare sie vielleicht nur deshalb streut, damit seine potentielle
Kundschaft beeindruckt ist und ihn trotz seiner Super-Honorare noch
engagiert, anstatt die Dreckjobs von irgendeinem Straßenköter
erledigen zu lassen.«
Der Name Robert Molvare war jedem Commissaire seit Jahren
geläufig.
Es gab mindestens zwanzig Morde im Umkreis des organisierten
Verbrechens, die ziemlich eindeutig mit ihm in Verbindung gebracht
werden konnten, und bei mindestens noch einmal so vielen Taten war
eine Beteiligung dieses Killers nicht ausgeschlossen.
Robert Molvare lebte irgendwo inner- oder außerhalb
Frankreichs unter falschem Namen und falscher Identität. Er machte
sich im Gegensatz zu vielen anderen aus der Zunft der Hitmen
überhaupt nicht die Mühe, seine Handschrift zu verbergen. Häufig
hinterließ er am Tatort mit voller Absicht Spuren, die auf ihn als
Täter hinwiesen oder er benutzte eine Waffe, die er bereits bei
früheren Verbrechen verwendet hatte. Aus seiner Sicht der Dinge
vergrößerte das wohl seinen Nimbus. Jeder unaufgeklärte Mafia-Mord,
der mit ihm in Verbindung gebracht wurde, war inzwischen Werbung
für sein zynisches Geschäft. Wer Robert Molvare engagierte, konnte
sicher sein, dass die Sache diskret erledigt wurde und der Killer
clever genug war, um nicht der Polizei in die Arme zu laufen, so
lautete die unterschwellige Botschaften dieser Taten. Denn
Letzteres war der Albtraum jedes Auftraggebers, da Lohnkiller
natürlich in Gefangenschaft dazu neigten, die Schuld nicht allein
zu übernehmen, sondern in einem Deal mit der Staatsanwaltschaft
ihre Auftraggeber zu nennen.
»Was hat Robert Molvare mit diesem Rennen zu tun?«, fragte
François.
»Er ist einer der Teilnehmer«, erklärte Clermont. »Das weiß
ich ganz sicher. Und ich weiß, dass er einen Porsche fährt. Sie
hätten die einmalige Chance, diesen Killer zu schnappen, wenn Sie
es einigermaßen clever anstellen!«
6
»Robert Molvare ist der Köder, der nötig war, um dich
umzustimmen«, stellte François fest, als wir im Wagen saßen und aus
der Tiefgarage des Gebäudes, in dem sich das Restaurant befand,
fuhren, um uns wieder in den Verkehr einzufädeln. »Und gib es zu!
Irgendwo tief in deinem Herzen findest du es doch auch bedauerlich,
dass du die 510 PS, die unter der Haube deines Wagens schlummern,
im Stadtverkehr von Marseille nicht einmal annähernd ausfahren
kannst!«
»Quatsch!«, sagte ich, aber viel zu schnell, um überzeugend
wirken zu können.
Und tatsächlich hatte François mich da an einem wunden Punkt
erwischt. Die Durchschnittsgeschwindigkeit in Marseille lag weit
unter den erlaubten Höchstgeschwindigkeiten, so dass man nicht
einmal die Möglichkeit hatte, so schnell zu fahren, wie es erlaubt
war – geschweige denn, dass man die Kraft der über 500 PS auch nur
annähernd spüren konnte.
»Warten wir erst mal ab, was Monsieur Marteau dazu
sagt!«
7
Obwohl unsere Dienstzeit längst zu Ende war, fuhren wir am
Abend noch zurück zur Dienststelle. Monsieur Marteau war wie üblich
noch dort. Er war meistens morgens der Erste und abends der Letzte
im Büro.
Ich übergab ihm den Umschlag, den Clermont mir überreicht
hatte. Er enthielt die Fahrzeugdaten eines Porsche 911 Turbo,
Höchstgeschwindigkeit 310 Kilometer.
»Nach Clermonts Angaben ist der Wagen für das Rennen gemeldet
und wird von Robert Molvare gefahren – dem Rennsport-Narren unter
den Lohnkillern.«
Monsieur Marteau hob die Augenbrauen.
»Dass Robert Molvare ein Autonarr ist, wissen wir ja seit
Langem, weshalb sich unsere Innendienstler aus der
Fahndungsabteilung auch immer wieder an Händler von
Luxus-Sportwagen gewandt haben. Schließlich ist nicht anzunehmen,
dass er seine Vorlieben plötzlich aufgegeben hat.«
»Der wird sich seine Luxus-Schlitten über irgendeinen
Strohmann besorgen«, meinte François. »In diesem Fall meinte unser
Informant zu wissen, dass es einen Sponsor gibt, der ihm den
Porsche 911 Turbo für die Teilnahme am Rennen spendiert. An den
Unterlagen sieht man ja auch, dass ein paar kleinere Extras
eingebaut sind.«
»Aber nichts, was anzeigepflichtig ist!«, erwiderte Monsieur
Marteau nach kurzer Durchsicht der Unterlagen. »Wir werden den
Killer nicht einfach dadurch in die Finger bekommen, dass wir
sämtliche Besitzer dieses Wagentyps kontrollieren.«
»Der Wagen kostet neu um die 120 000 Euro«, sagte François.
»Damit ist er nicht so super-exklusiv, dass die geringe Zahl der
Besitzer den Wagen leicht identifizierbar macht.«
»Es ist noch nicht einmal gesagt, dass es der einzige 911er
ist, der an dem Rennen teilnimmt«, gab ich zu bedenken. »Die
Teilnehmerliste ist uns dieser Clermont ja bislang schuldig
geblieben.«
»Wir stehen jetzt vor der Frage, ob wir das Rennen schon beim
Start abwürgen oder den Start zulassen sollen, um diesen Killer zu
fassen«, brachte Monsieur Marteau seinen inneren Zwiespalt auf den
Punkt. »Das will wohl abgewogen sein!«
»Wir können den Start nicht verhindern«, erklärte ich unserem
Chef und erläuterte ihm die Startmodalitäten. »Andernfalls ginge es
vielleicht darum, abzuwägen, was wichtiger ist: Die Allgemeinheit
vor einem unkalkulierbaren Risiko durch dieses Rennen zu schützen
oder diesen Killer und mit etwas Glück sogar die betrügerischen
Hintermänner des Rennens dingfest machen zu können. Aber das ist
hier nicht die Alternative. Das Rennen findet auf jeden Fall statt.
Wir können schließlich nicht alle Sportwagen, die sich innerhalb
der nächsten Zeit in der Nähe des 5. Längengrades aufhalten,
stoppen und die Fahrer festnehmen. Dazu fehlt jede rechtliche
Handhabe. Davon abgesehen wäre das auch gar nicht
durchführbar.«
»Und die Veranstalter des Rennens sähen darin nur eine weitere
Schikane, die die Fahrer zu nehmen hätten, so dass der Wetteinsatz
etwas spannender würde«, ergänzte François. Er wandte sich an mich.
»Ich fürchte, es gibt keine andere Möglichkeit, als dass wir
Clermonts Vorschlag folgen und einen Fahrer einschleusen.«
Ich nickte.
»Wenn wir das geschickt anstellen, dann gelingt es uns
vielleicht, unterwegs diesen Robert Molvare zu stellen.«
Die Ergreifung eines Killers wie Robert Molvare war es ganz
sicher wert, auch den Sportwagen aufs Spiel zu setzen. Und
vielleicht kam man ja auch an die Hintermänner des Großen
France-Frénétique heran, für die das Ganze einfach nur ein
mörderisch gutes Geschäft war…
»Das Risiko ist erheblich, Pierre«, gab Monsieur Marteau zu
bedenken. »Dass dieser Robert Molvare – oder wie immer er sich im
Moment auch nennen mag, sofort schießt, wenn er glaubt, dass ihm
jemand auf den Fersen ist, brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu
sagen! Aber es gibt noch eine andere Gefahr, die Sie nicht
unterschätzen sollten! Die Organisatoren des Rennens sind durch den
GPS-Sender jederzeit über Ihre Position unterrichtet. Wenn unser
Informant ein doppeltes Spiel spielt oder von seinen Leuten einfach
nur mal richtig in die Mangel genommen wird und seine
Zusammenarbeit mit uns gesteht, dann sind Sie in akuter Gefahr. Die
können in aller Ruhe einen Lohnkiller auf Sie lauern lassen!«
»Andererseits ist es vielleicht möglich, über einen dieser
GPS-Empfänger an die Hintermänner heranzukommen«, erwiderte
ich.
Monsieur Marteau hob die Schultern.
»Ob es technisch möglich ist, die Signale zu verfolgen, kann
sich erst erweisen, wenn wir eines dieser Geräte in den Fingern
haben und untersuchen können.«
»Aber diese Sender bekommen nur die Fahrer!«, sagte ich. »Also
bin ich dafür, es zu wagen.«
Monsieur Marteau kratzte sich am Kinn. »Ich habe heute Abend
noch einen Termin mit einem Staatsanwalt. Bevor man so eine Aktion
in Angriff nimmt, müssen wir uns absichern. Ich hoffe, dass ich
Ihnen morgen früh näheres sagen kann.«
8
Monsieur Marteau sorgte dafür, dass die Operation auf allen
Ebenen grünes Licht bekam. Wir brauchten neben dem Okay der Justiz
vor allem auch die Unterstützung der örtlichen Polizeibehörden, mit
denen wir über unser Büro in ständigem Kontakt bleiben würden. Vor
allem musste genehmigt werden, dass das Bundeskriminalamt das
fällige Startgeld vorstreckte.
Zwei Tage nach dem ersten Treffen mit Clermont kam es zu einer
weiteren Verabredung mit unserem Informanten. Diesmal trafen wir
uns in der Nähe vom Landhaus Waltiere im Parc de la Ville.
»Was ist mit der Liste der Teilnehmer?«, fragte ich.
»Da werden Sie sich noch etwas gedulden müssen.«
»Langsam weiß ich nicht, was diese Hinhalterei soll und ob das
Ganze nicht vielleicht nur eine große Luftblase ist, die Sie uns da
präsentieren«, konnte ich meine Enttäuschung nicht verbergen.
»Hören Sie, Monsieur Marquanteur, ich muss extrem vorsichtig
sein!«
»Konnten Sie wenigstens noch etwas mehr über Robert Molvare
erfahren?«
»Nein. Ich fürchte, mit den Angaben, die ich Ihnen gegeben
habe, werden Sie auskommen müssen. Aber ich habe inzwischen mit ein
paar Leuten über Ihre Teilnahme an dem Rennen geredet. Ich nehme
an, Ihr Partner ist als Beifahrer dabei?«
Ich nickte.
»Ja, so hatten wir uns das gedacht.«
»Sie werden unter Ihrem richtigen Namen an dem Rennen
teilnehmen. Die entscheidenden Personen wissen, dass Sie Polizist
sind. Sie sehen darin einen zusätzlichen Reiz für das
Publikum.«
Ich starrte Clermont an wie einen Geist.
Wollte der Kerl die ganze Operation schon zum Scheitern
bringen, noch ehe sie begonnen hatte? Ich glaubte mich verhört zu
haben.
»Das kann unmöglich Ihr Ernst sein!«, stieß ich hervor.
»Irrtum, Monsieur Marquanteur! Das musste sein. Ihr Wagen ist
so individuell, dass die Leute, mit denen ich zu tun habe, Ihre
Identität ohnehin im Handumdrehen ermitteln könnten. Ich deutete ja
bereits an, wie weit deren Arm reicht. Nein, Sie treten dort als
Pierre Marquanteur an, ein Polizeibeamter, der neben seinem
langweiligen Beamten-Job im Dienst der Gerechtigkeit noch ein paar
verborgene dunkle Leidenschaften hat, die mit Benzin und PS zu tun
haben. Außerdem habe ich erzählt, dass die Anschaffung des
Sportwagens Sie hoch verschuldet hat und Sie dringend Geld
brauchen. Die Story passt zu Ihnen und Ihrem Wagen. Sehen Sie nur
zu, dass Ihre Dienststelle nicht irgendwelche groß angelegten und
möglicherweise auffälligen Begleitaktionen veranstaltet, so dass
man auf die Idee kommt, Sie wären im dienstlichen Auftrag dabei!
Außerdem brauche ich Ihre private Handynummer.«
Ich gab ihm meine Karte.
»Wie geht es dann weiter?«
»Sie überweisen das Startgeld auf ein Schweizer Bankkonto.
Sind die vierzigtausend Euro ein Problem für Sie?«
»Nein.«
»Gut. Bevor das nicht überwiesen ist, läuft nämlich
nichts.«
»Verstehe!«
»Sie werden dann in den nächsten Tagen einen Anruf erhalten.
Ein Mittelsmann wird ein Treffen mit Ihnen vereinbaren, auf dem Sie
den GPS-Sender und die Start-Daten des Rennens bekommen. Das war es
dann.«
Er drehte sich um, beobachtete einige Augenblicke lang ein
Pärchen am Seeufer, das aus irgendeinem Grund sein Misstrauen
erweckt hatte und wirkte insgesamt ziemlich hektisch.
»Wann bekommen wir die Teilnehmer-Liste?«, hakte François
nach. »Sie hatten sie uns versprochen.«
»Was brauchen Sie noch die Liste?«, fragte er. »Sie können das
Rennen nicht mehr stoppen, weil Sie doch Robert Molvare einfangen
wollen.«
»Also war alles nur Gerede!«, stellte ich fest. »Die Liste ist
für uns auch ein Zeichen dafür, ob wir Ihnen trauen können oder
nicht. Im Übrigen brauchen wir sie, um gegen die Teilnehmer
juristisch vorgehen zu können, sobald wir Molvare haben.«
Er verzog das Gesicht.
»Sie sind ein Optimist, Monsieur Marquanteur!« Er lachte kurz
auf. Ȇbermorgen. Versprochen! Aber so lange brauche ich
noch.«
»Und was ist mit den Namen von Hintermännern?«, ließ ich ihn
gar nicht erst zur Ruhe kommen.
»Die 'Ndrangheta will hundert Millionen waschen, wie ich
gehört habe.« Er warf uns einen Brocken hin, ohne uns wirklich
etwas Substanzielles mitzuteilen, begriff ich.
»Was ist mit dem Hotel, in dem die große Wettparty
stattfindet? Können Sie uns darüber inzwischen etwas mehr sagen?«,
mischte sich François ein.
Er seufzte hörbar.
»Ich weiß inzwischen, dass es sich innerhalb Frankreichs
befindet. Mehr kann ich Ihnen vielleicht übermorgen sagen. Und
jetzt entschuldigen Sie mich bitte.«
Er hatte es ziemlich eilig, uns zu verlassen. Ich sah ihm noch
eine Weile nach. Er lief einem Skateboardfahrer in den Weg und
sprang im letzten Moment zur Seite.
»Was spielt der Mann für ein Spiel?«, fragte François.
»Keine Ahnung. Aber allein die Chance, einen Killer wie Robert
Molvare aus dem Verkehr zu ziehen, ist es schon wert, sich darauf
einzulassen.«
9
Der Anruf erfolgte mitten in der Nacht. Es war zwei Uhr, als
das Handy klingelte. Ich nahm den Apparat ans Ohr und fragte »Ja?«,
während ich mich verzweifelt bemühte, schnell genug wach zu werden,
um alles zu verstehen, was mir der Gesprächspartner an der anderen
Seite der Verbindung zu sagen hatte.
»Pierre Marquanteur?«
»Am Apparat.«
»Kommen Sie in die CHAUD ET PIQUANT Filiale in Allauch.«
»Wann?«
»Jetzt sofort! Fahren Sie jetzt los, rufen Sie niemanden an,
kommen Sie allein!«
»Was ist mit meinem Beifahrer?«
»Den brauchen wir dabei nicht.«
Es machte klick. Das Gespräch war beendet.
Ich zog mich schnell an und setzte mich in den Wagen. Dann
fuhr ich Richtung Norden. Marseille nennt man zu Recht die Stadt,
die stets aktiv ist. Aber morgens um zwei Uhr ist der Verkehr
wenigstens erträglich, und sofern nicht irgendwo eine Großbaustelle
ist, muss man um diese Uhrzeit auch nicht mit einem der
gefürchteten Staus rechnen.
Zwanzig Minuten später erreichte ich Allauch, ein Stadtteil
Marseilles.
CHAUD ET PIQUANT war eine Kette von Fast Food Läden.
Die Filiale von Allauch lag in einem etwas heruntergekommenen
Ende des Stadtteils, der gerade einer gründlichen Sanierung
unterzogen wurde. Die Eröffnung des CHAUD ET PIQUANT war somit
sicherlich eine Investition in die Zukunft.
Ich stellte den Wagen in einer Nebenstraße ab und aktivierte
dann den Rechner auf der Mittelkonsole. Der TFT-Bildschirm
leuchtete auf. Ich bekam eine Verbindung ins Netz und sandte eine
kurze Mail an François und an unser Büro, in dem ich meinen
Aufenthaltsort mitteilte. Sicherheitshalber!
Dann stieg ich aus.
Soweit ich das mitbekommen hatte, war ich nicht verfolgt
worden.
Die letzten fünf Minuten bis zur CHAUD ET PIQUANT Filiale ging
ich zu Fuß.
Das Schnellrestaurant hatte rund um die Uhr geöffnet.
Vierundzwanzig Stunden Nonstop. Aber als ich eintrat, waren kaum
Gäste dort, und ich fragte mich, ob sich das für den
Franchise-Nehmer eigentlich rechnete.
Hinter dem Tresen stand ein stämmiger Mann mit dunklem
Oberlippenbart und Halbglatze.
Ich ging an ihm vorbei bis in die hinterste Ecke des CHAUD ET
PIQUANT. Das Mobiliar war weiß und leicht zu reinigen. Es erinnerte
mich immer ein bisschen an die Einrichtung einer Klinik.
An einem Tisch saß ein Mann, der ganz sicher nicht zur
typischen Stammkundschaft eines CHAUD ET PIQUANT Restaurants
gehörte. Er trug einen grauen Dreiteiler, war Mitte fünfzig und
hatte ein Gesicht, das wie aus Stein gemeißelt wirkte. Harte
Linien, von denen mindestens drei Viertel nach unten ausgerichtet
waren.
Er sah mich auf eine Weise an, die mir sofort klar machte,
dass er auf mich wartete.
»Haben wir gerade telefoniert?«, fragte ich.
»Sie sind Marquanteur«, stellte er fest.
»Ja.«
»Setzen Sie sich!«
Ich ließ mich ihm gegenüber nieder. Er schob mir einen
Umschlag über den Tisch.
»Ich nehme an, das ist der GPS-Empfänger«, vermutete ich. »Sie
sollen mich einweisen, wie er benutzt wird.«
»Das ist nicht nötig. Das Gerät ist aktiviert. Sie können
daran nicht herummanipulieren. Von nun an werden Sie es ständig in
Ihrem Wagen aufbewahren.«
»Was ist mit dem Starttermin?«
»Die Daten – auch zwischenzeitliche Änderungen – werden Ihnen
auf das GPS-Gerät überspielt und angezeigt – exakt vierundzwanzig
Stunden vor dem Zeitpunkt, an dem Sie den 5. Längengrad östlich und
dann in Richtung Norden überschreiten dürfen!«
Der Mann im grauen Dreiteiler erhob sich.
»Leben Sie wohl und viel Glück beim Rennen, Monsieur
Marquanteur! Ach ja, ich hoffe, Sie wissen, dass Sie sich durch die
Überweisung des Startgeldes strafbar gemacht haben und dass Ihre
Karriere bei der Kriminalpolizei ein jähes Ende findet, wenn Ihre
Teilnahme bekannt wird.«
»Ich bin nicht so eitel, dass ich einen Hubschrauberpiloten
engagiere, der mich filmt und anschließend die Bilder ins Internet
setze.«
Der Mann im grauen Dreiteiler lächelte flüchtig.
»Das können Sie ruhig tun, Monsieur Marquanteur. Allerdings
auf eigene Gefahr! Im Endeffekt vergrößert das nur den Nimbus, den
der Große France-Frénétique bekommt.«
»Mag sein.«
»Klüger ist es allerdings, einen Helikopter-Piloten zu
engagieren, der die Strecke abfliegt und einen vor der
Autobahnpolizei warnt. Ich kenne da ein paar Leute, die so etwas
für 500 Euro die Stunde aufwärts anbieten.«
»Nein danke, ich komme schon klar.«
»Wie Sie meinen, Monsieur Marquanteur.«
Mit diesen Worten ließ er mich sitzen, ging zur Tür und
verließ das CHAUD ET PIQUANT.
10
Am nächsten Morgen machte mich Melanies Kaffee wieder
einigermaßen wach. Der GPS-Sender, den ich bekommen hatte, war eine
Sonderanfertigung ohne jegliche Tastatur. Das Gerät war aktiviert.
Auf einem Display wurde jeweils die genaue Position angegeben, so
dass man sich dem 5. Längengrad bis auf ein paar Meter nähern
konnte, wenn man das wollte. Unseren Spezialisten war es leider
unmöglich, das Gerät zu öffnen und einer genauen Analyse
zuzuführen. Das hätte wahrscheinlich das Ende meiner Teilnahme am
Rennen bedeutet und wäre von den Organisatoren sofort bemerkt
worden.
Nachdem ich François morgens an der bekannten Ecke abgeholt
hatte und zur Dienststelle gefahren war, hatte ich den Wagen in der
zum Präsidium gehörenden Tiefgarage abgestellt. Ich war zwar
überzeugt davon, dass die Organisatoren des Rennens jede meiner
Fahrten von nun an genauestens verfolgten, aber ich entschied, dass
alles, was von meinen bisherigen Gewohnheiten abwich, gefährlich
werden konnte und ihnen vielleicht auffiel. In der Tiefgarage
hatten unsere Spezialisten zumindest die Gelegenheit, ein paar
Untersuchungen an dem Gerät durchzuführen, es zu durchleuchten und
die elektromagnetische Signatur aufzuzeichnen.
Ob sich das von dem Gerät ausgehende Signal tatsächlich
zurückverfolgen ließ, stand noch nicht fest.
Etwa um zehn Uhr morgens meldete sich Clermont bei mir.
»Ich habe jetzt die Liste der Teilnehmer«, behauptete er.
»Außerdem eine Liste von Marseiller Unterweltgrößen, die in den mit
dem Rennen zusammenhängenden Wettbetrug mit drin hängen.«
»Großartig. Darauf warten wir ja auch schon eine ganze Weile.
Vielleicht wäre es besser, wenn Kollegen sich mit Ihnen treffen –
ich meine in Anbetracht der Tatsache, dass ich jederzeit damit
rechnen muss, beim France-Frénétique zu starten …«
»Nein, ich will, dass Sie zum Treffpunkt kommen, Marquanteur.
Ich will kein Risiko eingehen!«
Das Risiko soll dann wohl lieber ich tragen, ging es mir etwas
ärgerlich durch den Kopf. Andererseits war die Liste der Teilnehmer
des France-Frénétique so wichtig, dass man dafür schon einiges
riskieren konnte.
»Wo und wann?«, fragte ich.
»Parc de la Ville, am Parkplatz zum Imbiss, heute zwei Uhr am
Nachmittag. Seien Sie pünktlich! Ich werde nicht warten.«
Das Gespräch wurde unterbrochen.
11
Alexandre Clermont bewohnte ein Penthouse am Ende der Rue
Elizabeth. Das Gebäude war eines der wenigen Apartmenthäuser in
dieser Gegend, hatte zwanzig Stockwerke und eine Tiefgarage, die
allen Bewohnern einen Parkplatz garantierte. Das »Rolling Bones«,
der Club, den Clermont betrieb, war nur gut hundert Meter entfernt.
Er nahm den Lift in die Tiefgarage und blickte nervös auf die
Uhr.
Er lag in der Zeit.
Unter dem linken Arm klemmte eine dünne Aktentasche.
Clermont lockerte seine Krawatte. Ihm war plötzlich warm
geworden. Das Innere von Liftkabinen erweckte in ihm immer leichte
Gefühle von Klaustrophobie. Aber Treppen zu steigen war keine
Alternative, die er ernsthaft erwog. Dazu war sein Terminkalender
schlicht und ergreifend zu voll – und seine Kondition zu
schlecht.
Clermont erreichte das Parkdeck, war froh, die Liftkabine
verlassen zu können und ging mit weiten, raumgreifenden Schritten
auf seinen Wagen zu. Einen Mercedes.
Er öffnete und setzte sich ans Steuer. Ein Mann trat hinter
einem der Betonpfeiler hervor. Er musste dort gewartet haben. Er
trug einen grauen Dreiteiler sowie einen dünnen Regenmantel. Und
schwarze Lederhandschuhe. Er riss die Tür auf und setzte sich neben
Clermont auf den Beifahrersitz.
Clermont saß wie erstarrt hinter dem Lenkrad.
»Hi, Charles!«, murmelte er. »Um ehrlich zu sein …«
»… hattest du mit mir nicht gerechnet«, sagte der Mann im
grauen Anzug. Er verzog das Gesicht, das wie aus Stein gemeißelt
wirkte und durch zahllose harte Linien gezeichnet wurde.
»Ich habe einen dringenden Termin, Charles.«
»Den du leider nicht wahrnehmen kannst!«
Charles‘ Hand steckte in der rechten Tasche des dünnen
Regenmantels. Er hob sie leicht an. Etwas wölbte sich unter dem
dünnen Mantelstoff hervor.
»Ich habe hier eine Waffe mit Schalldämpfer«, stellte Charles
fest. Seine Stimme klang wie klirrendes Eis. »Mach den Motor an,
fahr los und tu genau, was ich dir sage!«
Clermont schluckte.
»Hör mal, Charles, ich weiß nicht, was das jetzt soll …«
»Los jetzt!«
Clermont startete den Wagen und fuhr aus dem Parkhaus.
Anschließend folgte er dem Einbahnverkehr auf der Rue Elizabeth,
ehe es schließlich Richtung Osten ging.
Etwa eine halbe Stunde später durchquerten sie Marseille und
erreichten schließlich einen östlich gelegenen Stadtteil.
Charles befahl Clermont auf ein brachliegendes
Industriegelände am Rande des Ortes zu fahren. Mehrere Werkshallen
standen hier nebeneinander, aber produziert wurde dort schon lange
nichts mehr. Ein Zulieferer der chemischen Industrie, der
Werkstoffe zum Korrosionsschutz gefertigt hatte, war bankrott
gegangen und jetzt stritten die Rechtsnachfolger und die Behörden
der Stadt darüber, wer für die Kosten der Altlastensanierung
aufzukommen hatte. Bis das nicht geklärt war, würde sich hier
nichts mehr bewegen.
Hinweisschilder untersagten das Betreten des Grundstücks und
wiesen jeden, der es doch tat, auf die Gefahren hin.
Charles ließ Clermont vor die dritte Halle fahren und
aussteigen. Clermont gehorchte zögernd. Charles nahm unterdessen
die Aktentasche mit, die Clermont auf den Rücksitz geworfen hatte,
als er eingestiegen war.
Charles öffnete die Tasche. Er zog einen Computerausdruck
heraus. Ein Datenträger fand sich auch.
»Wirklich sehr interessant«, sagte Charles. »Wer hätte
gedacht, dass du ein Verräter bist?«
»Charles, das sieht nur so aus, aber ich kann das alles
erklären!«
»Weißt du was? Wir beobachten dich schon eine ganze Weile. Und
eigentlich interessiert es niemanden in der Organisation noch,
welche Gründe du vielleicht vorbringst. Das Problem ist einfach,
dass mit dir niemand mehr Geschäfte machen will, weil du einfach
allen zu sehr auf die Nerven gehst und sie es sich nicht leisten
können, sich selbst in Gefahr zu bringen.«
Clermont schluckte. Er wich einen Schritt zurück. Einen
Augenblick lang erwog er, einfach wegzulaufen. Aber er sah ein,
dass er keine Chance hatte. Sein Gegenüber war zu dicht an ihm
dran. Es war kaum denkbar, dass Charles daneben schoss.
»Welche Chance habe ich noch?«
»Hängt von den Antworten ab, die ich von dir kriege«, sagte
Charles.
»Ich sag dir alles, was du willst.«
»Zunächst mal möchte ich wissen, wer die Liste der
Rennteilnehmer bekommen sollte?«
»Niemand! Keine Ahnung, ich …« Er stammelte vor sich hin und
bekam nicht einen einzigen verständlichen Satz auf die Reihe.
»War es dieser Marquanteur?«, fragte Charles.
»Charles, du kennst mich!«
Charles zog die Waffe aus der Manteltasche, richtete sie auf
Clermont und feuerte. Das Geräusch glich einem kräftigen Niesen.
Clermonts Schrei war wesentlich lauter – aber auch den würde hier
niemand hören. Clermont griff sich an den Arm. Charles‘
Pistolenlauf mit dem aufgesetzten Schalldämpfer glitt tiefer. Ein
weiterer Schuss folgte und traf Clermont im Oberschenkel. Das
Hosenbein verfärbte sich blutrot. Clermont versuchte, die Blutung
zu stillen und taumelte rückwärts. Er strauchelte zu Boden und
blickte Charles mit Angst geweiteten Augen an.
»Ich bin gespannt, wie viel Blei du brauchst, um mir
vernünftige Antworten zu geben!« Charles trat näher und achtete
peinlich genau darauf, nicht in die Blutflecken zu treten, die sich
am Boden bereits gebildet hatten. Clermont kroch vor seinem
Peiniger ein paar Meter davon. Charles folgte ihm und richtete
erneut die Waffe auf den am Boden Liegenden. »Ich will jetzt
wissen, ob dieser Marquanteur gegen uns ermittelt, und was er
weiß!«
»Er weiß nichts!«, zeterte Clermont.
»Aber es stimmt, dass er sich nicht einfach so aus Freude an
seinem Wagen für das Rennen gemeldet hat.«
»Ja«, keuchte Clermont. »Was willst du machen? Das Rennen
vielleicht absagen?«
»Nein. Das ist eines von den Dingen, die unter keinen
Umständen passieren werden«, erklärte Charles. »Wir regeln das auf
unsere Weise.« Charles atmete tief durch. Sein Mund verzog sich
dabei. Er richtete die Waffe jetzt auf Clermont Kopf und feuerte
zweimal kurz hintereinander. Wie rote Drachenzungen leckte das
Mündungsfeuer aus der vorderen Öffnung des Schalldämpfers heraus.
Ein Geräusch, das wie zwei kurz hintereinander ausgeführte Schläge
mit einer zusammengerollten Zeitung klang, ertönte. Auf Clermonts
Stirn bildeten sich zwei kleine rote Löcher dicht nebeneinander. Er
sackte in sich zusammen, und eine Blutlache begann sich auf den
Asphalt vor der dritten Werkshalle zu ergießen.
12
Um zum Parc de la Ville zu fahren, benutzten François und ich
einen unscheinbaren Renault aus den Beständen unserer
Fahrbereitschaft. Schließlich hätte die Gegenseite den Weg des
Wagens mit Hilfe des GPS-Gerätes jederzeit verfolgen können, und
außerdem wollten wir unseren Spezialisten noch die Gelegenheit
geben, vielleicht doch noch das eine oder andere über das
Innenleben des Apparates herauszufinden.
Wir waren pünktlich am angegebenen Treffpunkt.
Es war ein freundlicher, sonniger Tag. Es wehte ein kräftiger,
kühler Wind.
Es wurde zwei Uhr, aber Clermont tauchte nicht auf.
Wir warteten eine halbe Stunde, ohne dass er eintraf. Ich rief
die Nummer des Prepaid-Handys zurück, mit dem er mich immer
angerufen hatte. Es meldete sich lediglich eine lapidare Ansage.
Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.
»Wenn du mich fragst, ist das kein gutes Zeichen, Pierre«,
lautete François‘ Kommentar.
Auch am folgenden Tag hörten wir nichts von Clermont. Offen
ermitteln konnten wir in der Sache nicht. Dann wäre die ganze
Operation, durch die wir Robert Molvare fassen wollten, in Gefahr
geraten. Es wäre einfach aufgefallen, wenn sich plötzlich
Polizeibeamte in seinem Club Rolling Bones getummelt hätten.
»Möglich, dass diesem Clermont der Boden einfach zu heiß wurde
und er sich aus dem Staub gemacht hat«, lautete Stéphanes
Vermutung, als wir uns später in Monsieur Marteaus Büro zur
Besprechung trafen.
»Jedenfalls war der Club Rolling Bones gestern Abend
geschlossen«, stellte Boubou fest. »Und ich bin gespannt, ob er je
wieder aufmacht.«
»Die Frage ist einfach, ob wir die ganze Aktion jetzt
abbrechen«, meinte Monsieur Marteau.
»Und uns damit die Chance entgehen lassen, Robert Molvare
endlich das Handwerk zu legen?«, fragte ich und schüttelte den
Kopf. »Ich bin für das Rennen als Fahrer gemeldet, jetzt ziehen wir
das Ganze auch durch.«
»Je nachdem, was unserem Informanten zugestoßen ist, könnte
sich Ihr Risiko dadurch sehr erhöhen, Pierre«, gab Monsieur Marteau
zu bedenken. »Angenommen, jemand hat aus Clermont alles über seine
Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei herausgequetscht. Dann ist
dabei auch Ihr Name gefallen.«
»Aber das Risiko nehme ich auf mich«, entschied ich und wandte
mich an François. »Es sei denn, mein Beifahrer ist nicht mehr
dabei.«
Am Abend bekam ich die Startzeit auf den GPS-Empfänger. Ab 12
Uhr mittags am Tag darauf durfte ich mit dem Sportwagen den 5.
Längengrad überfahren.
Dieser Längengrad durchschnitt Marseille Innenstadt. François
und ich hatten uns natürlich längst mit Hilfe des im Wagen
installierten Navigationssystems eine Route nach Dijon angeben
lassen.
Wir fuhren aber zunächst über die Brücke auf der A 5 und
folgten der Autobahn. Von dort musste es später in Richtung Norden
gehen.
So dachten wir.
Da man auf einer Autobahn nicht einfach stehenbleiben darf,
verbrachten wir die letzten anderthalb Stunden auf einem Parkplatz,
der sich etwa einen Kilometer südlich von Marseille befand.
Wir stiegen aus, um uns noch mal kurz die Beine zu
vertreten.
Gleich mehrere Sportwagen, die von ihren technischen Daten her
für eine Teilnahme am France-Frénétique geeignet gewesen wären,
befanden sich auf dem Parkplatz. Zwei Ferraris – einer in rot und
einer in gelb –, ein Lamborghini, ein Maserati und ein Porsche 911
Turbo.
Allerdings sah der Fahrer von Letzterem vollkommen anders aus
als die Fahndungsfotos, die von Robert Molvare existierten. Da die
letzten Fotos, die wir von dem Killer hatten, von einer Verhaftung
stammten, die ihn in einem Alter von zweiundzwanzig erwischt hatte,
besaßen wir Aufnahmen, die unser Zeichner Commissaire Perouche
künstlich hatte altern lassen.
Robert Molvare war jetzt dreiundvierzig Jahre alt.
Der Kerl im Porsche allerdings nicht. Selbst eine Theatermaske
hätte ihn so nicht verändern können. Er hatte rotes Haar,
Sommersprossen, war keine dreißig und vor allem einen ganzen Kopf
kleiner, als die Unterlagen es von Robert Molvare
behaupteten.
»Jetzt sag nur noch einer, dass dieses Sportwagentreffen
unweit des 5. Längengrades reiner Zufall ist, Pierre!«, meldete
sich François zu Wort.
Ich grinste.
»Wahrscheinlich sieht es an einem guten Dutzend anderen
Autobahn-Parkplätzen in der Nähe der Startlinie ebenso aus.«
Da ja nicht an einem bestimmten Ort, sondern an einem
besonderen Punkt des Längengrades gestartet wurde, gab es auch
andere Routen, die ebenso günstig sein konnten. Aber später würden
wohl alle Teilnehmer dieselbe Autobahn benutzen, denn von da an war
es ziemlich eindeutig, woher man fahren musste. Die A 51 zog sich
fast gerade durch Frankreich. Und das Netz der ausgebauten
Autobahnen war so dünn, dass sich der Weg von selbst ergab und es
eigentliche keine Alternativen gab. Wir hatten einen Weg vor uns,
der nach Berechnungen unseres Navigationssystems mehr als 500
Kilometer bis nach Dijon betrug, wozu man eine reine Fahrzeit von
circa sechs Stunden benötigte.
Dass es viel mehr werden würde, ahnten wir zu dieser Zeit noch
nicht.
Ich sah auf die Uhr.
»Wetten, wenn der Erste in den Wagen springt und losrast,
werden ihm die anderen sofort folgen?«, fragte ich.
François zuckte mit den Schultern.
»Soll mir gleichgültig sein.«
»Vielleicht disqualifizieren sich ja gleich ein paar von
ihnen, weil sie übereifrig sind und die Startlinie vor der Zeit
überschreiten.«
»Glaube ich – ehrlich gesagt – nicht, Pierre.«
»Ach nein?«
»Die sehen alle ziemlich abgebrüht aus. Auch der Kerl mit dem
Porsche – obwohl er noch so jung ist.«
Der Fahrer des gelben Ferrari kam auf François und mich zu. Er
grüßte leger und deutete auf den Sportwagen.
»Ein feiner Wagen!«
»Danke!«
»Aber für so was wie den France-Frénétique vollkommen
ungeeignet. Ich habe schon den Gumball 3000 mitgemacht. Außerdem
den Australian Gumball und den Classic Frénétique von Marseille
nach Reims, und ich sage euch, mit dieser Karre kommt ihr nicht
weit.« Er trat gegen den hinteren linken Reifen. »Muss ein
Schweinegeld gekostet haben …«
»Lass uns einfach abwarten, wer von allen als Erster in Dijon
und danach wieder in Marseille ist«, sagte ich.
Ich war nämlich nicht auf Streit aus, und dieser Kerl schien
einfach nur seine innere Anspannung irgendwie loswerden zu müssen.
»Nichts für ungut«, erwiderte er und ging zu seinem Partner
zurück, mit dem er noch ein paar abfällige Bemerkungen über die
Wagen der anderen austauschte.
Dann ging es endlich los.
Der gelbe Lamborghini machte den Anfang. Wir fuhren auch los.
Es war schon eigenartig zu sehen, wie sich eine auffällige
Ansammlung hochwertiger Sportwagen mit der Mindestgeschwindigkeit
fortbewegte, obwohl die Autobahn gut ausgebaut und zu dieser
Tageszeit und an diesem Abschnitt wenig frequentiert war. Aber
natürlich wollte niemand den 5. Längengrad überschreiten, bevor es
an der Zeit war.
Das GPS-Gerät, das wir bekommen hatten, zeigte uns jeweils im
Takt von einer halben Minute unsere gegenwärtige Position an. Wir
näherten uns der fraglichen Linie.
Der rote Ferrari überholte uns, war aber anschließend
gezwungen, dafür umso langsamer zu fahren, um nicht disqualifiziert
zu werden.
Ich ertappte mich selbst dabei, wie ich immer wieder auf die
Uhr schaute.
»Es ist zwölf Uhr, Pierre!«, stellte François schließlich
fest. »Und hier etwa muss die Startlinie verlaufen.«
Die Fahrer des roten und des gelben Ferrari schienen das
genauso zu beurteilen, denn sie traten plötzlich in die Eisen und
brausten los.
Die einzigen Fahrtunterbrechungen, mit denen wir rechnen
mussten, waren die Stopps zum Tanken.
»Na los, Pierre, jetzt versuch mal mit der Konkurrenz Schritt
zu halten!«, stichelte François.
Ich beschleunigte und blieb an der Gruppe dran. Der Porsche
mit dem auffallend jungen Fahrerteam brauste an uns vorbei. Der
Beifahrer machte ein paar provozierende Gesten in unsere Richtung.
Da die Straße ziemlich frei war, beschleunigte er auf
Höchstgeschwindigkeit. Wie ein Geschoss raste der Porsche Richtung
Norden und verschwand bald hinter dem Horizont.
»Haben wir da einen der Favoriten gesehen?«, fragte François.
»Abwarten, François!«
»Dass das schöne Wort, dass die Ersten die Letzten sein
werden, hier gilt, glaube ich nicht.«
Wir brauchten allerdings nur bis zur ersten Raststätte zu
warten, um es doch bestätigt zu finden. Das junge Porsche-Team war
von Beamten der Autobahnpolizei herausgefischt worden. Jetzt
standen sie auf dem Seitenstreifen und führten eine gestenreiche,
aber völlig sinnlose Diskussion mit den Ordnungshütern, während wir
weiterfahren konnten.
13
Eric Patisse blickte auf die große Halle mit der
überdimensionalen Großleinwand, auf dem eine riesige Karte von
Frankreich zu sehen war. Außerdem waren deutlich die beiden
Längengrade markiert, die die Start- und Ziellinien in diesem
Rennen der Superlative darstellten.
Dreihundert handverlesene Teilnehmer nahmen an diesem Rennen
teil. Eine gewisse Hürde, um die Spreu vom Weizen zu trennen,
stellte natürlich das Startgeld dar, aber es hatte weitaus mehr
Bewerber gegeben, als zugelassen werden konnten. Das
Auswahlkriterium war in erster Linie der Wagen. Eric Patisse
wusste, was sein exklusives und in jeder Hinsicht verwöhntes
Publikum wollte. Gerade die zahlungskräftigen Gäste aus den
Vereinigten Arabischen Emiraten oder Saudi-Arabien waren Autonarren
und hatten ein Faible für leistungsstarke und stilechte Wagen. Sie
wollten Duelle zwischen interessanten Fahrzeugen sehen – und kein
Teilnehmerfeld, das aus einem Einheitsbrei von immer denselben
Fahrzeugtypen bestand.
Das Salz in der Suppe waren für Patisse getunte Fahrzeuge,
über deren Eigenschaften es letztlich keine verlässlichen Daten
gab. Jeder dieser Wagen verfügte über vollkommen individuelle
Stärken und Schwächen, die sich erst im Verlauf des Rennens
wirklich erweisen konnten. Also war Patisse immer darauf aus, dass
immer ein Teil der teilnehmenden Fahrzeuge aus dieser Gruppe
rekrutiert wurde – was nicht ganz einfach war.
Die Ferrari- oder Porsche-Gemeinde war viel zahlreicher, und
so gab es für manche Fahrzeugtypen bereits eine Warteliste.
Denn dass dieser France-Frénétique nicht der letzte seiner Art
sein würde, das hatte für Eric Patisse schon im Lauf der
Vorarbeiten bei der Organisation des Rennens festgestanden. Das
Wettinteresse war so immens, dass man einfach weitermachen musste.
Diese Geldquelle schien so schnell nicht zu versiegen, und Patisse
sah sich bereits im Besitz eines gigantischen Vermögens.
Ein stilles Lächeln erschien um die dünnen Lippen des hageren
Mannes, der die Vierzig gerade überschritten hatte. Die hohe Stirn,
die graue Haut und das sehr knochige Gesicht ließen ihn allerdings
zehn Jahre älter erscheinen. Dazu kam ein harter Gesichtsausdruck,
der kompromisslose Entschlossenheit verriet. Wenn Eric Patisse sich
etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann führte er dies auch
durch.
Für nur zwei Tage war die Dauer dieser Veranstaltung
angesetzt. Eine Nonstop-Party, für die die Jet Set-Gäste aus aller
Welt eingeflogen wurden.
Wer wollte, konnte sich zwischendurch auf eines der Zimmer
begeben, um zu schlafen. Wenn man sich an die Verkehrsregeln hielt,
konnte man die Strecke an einem Tag Nonstop-Fahrt inklusive den
nötigen Stopps zum Tanken schaffen. Aber für den France-Frénétique
rechnete Patisse mit einer Zeit, die weit darunter lag.
Alles, was wesentlich über zehn Stunden lag, kam einer
Rufschädigung des Rennens gleich!
Vor allem die ersten vierhundert Kilometer waren schwierig.
Eine hohe Polizeidichte verhinderte, dass es richtig zur Sache
gehen konnte. Aber dafür war es später möglich, dass die Fahrzeuge
so richtig zeigen konnten, was unter ihren Motorhauben
steckte.
Patisse zündete sich eine Zigarre an.
Mit der Havanna zwischen den Lippen stützte er sich auf den
Handlauf der Balustrade und blickte hinab in den Saal. Alle
schienen sich gut bei Kaviar und Champagner zu amüsieren. Noch
bildeten die Markierungen für die teilnehmenden Fahrzeuge auf der
Leinwand kleine Knotenpunkte, die immer dort entstanden, wo eine
Autobahn den 5. Längengrad schnitt. Jeder dieser Punkte war mit
einer Startnummer versehen, so dass alle im Saal mitverfolgen
konnten, an welcher Position sich ihr Geheimfavorit gerade befand.
Außerdem wurde natürlich eine regelmäßig aktualisierte Rangfolge
eingeblendet. Unten an den Tischen gab es Computerterminals, auf
denen weitere Einzelheiten abrufbar waren.
Wer sich noch im letzten Moment dazu entschließen wollte, eine
Wette einzugehen, konnte das online erledigen. Die Quoten wurden
auf einem Leuchtband eingeblendet.
Aber es würde nicht lange dauern, bis sich das Feld ein wenig
auseinander dividierte und sich die ersten Favoriten
herauskristallisierten.
»Hallo, wie geht’s?«, rief hinter ihm jemand.
Patisse drehte sich um.
Zwei Männer, die sich wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich
sahen, kamen auf ihn zu. Sie trugen Smoking, waren etwa dreißig
Jahre alt, hatten dunkles, leicht gelocktes Haar und dunkle Augen.
Ihre Gestik war sehr ausgeprägt.
Bei ihnen war noch ein dritter Mann, mindestens zwanzig Jahre
älter und grauhaarig – aber die charakteristischen Einzelheiten des
Gesichts verrieten die Verwandtschaft.
Patisse runzelte die Stirn. Einer der Zwillinge schlug ihm auf
die Schulter.
»Was ist? Erinnern Sie sich nicht mehr an uns? Marseille …
Toni und Maurizio Gennaro! Na, klingelt es wieder? So viele
Zwillinge gibt es in der Welt des Big Business nun auch nicht,
oder?«
»Ich erinnere mich noch sehr gut an Sie«, sagte Patisse leicht
überrumpelt. »Auch wenn ich jetzt beim besten Willen nicht mehr
sagen könnte, wer von Ihnen nun Maurizio und wer Toni ist.«
»Ich bin Maurizio und er ist Toni! Ist doch ganz einfach.
Jedenfalls für mich, weil ich weiß, dass ich Toni bin!« Er lachte
laut und ordinär. »Unser Vater hatte auch immer Schwierigkeiten,
uns auseinander zu halten. Leider wurde er nicht alt genug, um das
noch hinzubekommen.«
»Bedauerlich.« Patisse musste sich immer ein bisschen Mühe
geben, um nicht zu sehr deutlich werden zu lassen, wie sehr er sich
den beiden Brüdern überlegen fühlte, die von ihrem früh
verstorbenem Vater ein riesiges Mafia-Imperium geerbt hatten und
jetzt bemüht waren, die von ihren Vorfahren ergaunerten Millionen
reinzuwaschen. Immerhin gehörten die Gennaros zu den wichtigsten
Investoren bei diesem Rennen. Ohne ihr Geld wäre es gar nicht
zustande gekommen, und das durfte Patisse nicht vergessen.
»Wir möchten Ihnen jemanden vorstellen, Eric. Unseren Onkel
Enrico aus Sizilien. Wir haben da zufällig über ein paar
Investitionsmodelle gesprochen, und da habe ich mir gedacht, dass
ich Onkel Enrico unbedingt mit Ihnen zusammenbringen müsste.«
»Buon Giorno«, sagte Enrico Gennaro höflich.
Patisses Eindruck nach verstand der Sizilianer kaum
Französisch und hatte von der bisherigen Unterhaltung so gut wie
nichts mitbekommen.
Der Organisator des Rennens deutete zur Leinwand. »Ich glaube,
jetzt wird es gerade spannend. Ich schlage vor, Ihr Onkel Enrico
und ich unterhalten uns später. Wir werden hier sicher noch
Gelegenheit dazu finden.«
Maurizio Gennaro wandte sich seinem Onkel zu und sagte:
»Siehst du, ich habe dir ja gesagt, dass mein Freund Eric dir
helfen wird, Onkel Enrico!«
»Si, si!«, sagte Enrico, der wohl nicht viel verstanden hatte,
da Maurizio Gennaro Französisch gesprochen hatte.
Eric Patisses Handy klingelte.
»Sie entschuldigen mich«, wandte er sich kurz an die drei
Gennaros und ging ein paar Schritte weiter, eher er an den Apparat
ging und sich meldete.
»Hier ist Charles in Marseille«, hörte er eine Stimme.
»Was gibt es?«
»Die Sache mit Clermont ist erledigt. Der wird uns nicht mehr
schaden können.«
»Gut.«
»Was machen wir jetzt mit diesem Bullen?«
»Marquanteur, nicht wahr?«
»Ja. Soll ich veranlassen, dass er aus dem Feld geräumt wird?
Man könnte das so arrangieren, dass es wie ein Unfall aussieht. Ich
habe schon mit jemandem gesprochen, der das übernehmen
würde.«
»Und ich habe mir die Wetten angesehen. Ich will, dass er erst
einmal bleibt.«
»Wie bitte?«
»Er kann maximal das wissen, was Clermont wusste – und das ist
nichts, was uns wirklich gefährlich werden könnte.«
»Er wollte die Teilnehmerliste übergeben«, ereiferte sich
Charles.
»Und wenn schon, dazu ist es doch nicht mehr gekommen,
oder?«
»Nein.«
»Na, also! Ich will, dass Marquanteur bleibt. Es steht eine
Menge Geld auf dem Spiel. Sag deinem Mann, dass er sich
bereithalten soll! Es könnte ja eine Situation eintreten, in der
wir ihn doch noch brauchen.«
»Gut.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
14
Es war Nachmittag, als wir gerade das Autobahnkreuz Gap
passierten, uns ein Anruf aus dem Polizeipräsidium erreichte.
Unser Kollege Maxime Valois aus dem Innendienst der
Fahndungsabteilung war am Apparat. Da wir die Freisprechanlage
eingeschaltet hatten, konnten wir beide mithören.
»Clermont wurde tot aufgefunden«, berichtete Maxime. »Man hat
ihn in einem leeren Müllcontainer auf dem Firmengelände eines
stillgelegten Chemieunternehmens gefunden. Glück für uns, dass sich
gerade heute eine Entsorgungsfirma daran machte, die Abfälle
einzusammeln und abzutransportieren, sonst hätte es noch ein Jahr
dauern können, bis die Leiche gefunden worden wäre.«
»Dann ist Clermont aufgeflogen«, stellte ich fest.