Der kritische Punkt - Toni Innauer - E-Book

Der kritische Punkt E-Book

Toni Innauer

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  • Herausgeber: CSV
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

"Der Kritische Punkt" ist ein österreichischer Sportbuchklassiker. Die Autobiographie Toni Innauers - ursprünglich erschienen 1992 - wurde zum Bestseller und Kultbuch. Skisprunglegende Toni Innauer erzählt in diesem Buch von seinem Weg zum Erfolg. Die großen Siege, die bitteren Niederlagen, der Aufstieg des Bregenzerwälder Lausbuben zum strahlenden Star des österreichischen Skispringens. Leicht und witzig erzählt, stringent gedacht, elegant geschrieben. Die Neuauflage von Toni Innauers Kultbuch wurde erweitert um Navigationshilfen für eine bessere Bewältigung des Alltags: Ein umfangreiches Kompendium des gereiften Trainers und Sportmanagers für viele Lebenslagen. Wie lerne ich, mutig zu sein? Wie bewege ich mich richtig? Wie lerne ich mich besser kennen? So kommen zu der unterhaltsamen Lektüre der Autobiographie noch handfeste, für jeden Leser anwendbare Information und Lebenshilfe des großen Trainers und Denkers Toni Innauer.

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Seitenzahl: 379

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Über das Buch

„Der kritische Punkt“ ist ein österreichischer Sportbuchklassiker. Die Autobiografie Toni Innauers – ursprünglich 1992 erschienen – wurde zum Bestseller und Kultbuch. Skisprunglegende Toni Innauer erzählt in diesem Buch von seinem Weg zum Erfolg. Den großen Siegen, den bitteren Niederlagen, dem Aufstieg des Bregenzerwälder Lausbuben zum strahlenden Star des österreichischen Skispringens. Leicht und witzig erzählt, geradlinig gedacht, elegant geschrieben.

Diese überarbeitete Neuauflage des Klassikers enthält wurde um Toni Innauers Navigationshilfen für eine bessere Bewältigung des Alltags erweitert – erprobte Methoden und Tricks des gereiften Trainers und Sportmanagers für viele Lebenslagen: Wie lerne ich, mutig zu sein? Wie bewege ich mich richtig? Wie lerne ich mich besser kennen? So kommen zu der unterhaltsamen Lektüre der Autobiographie noch handfeste, für jede Leserin und jeden Leser anwendbare Informationen und Lebenshilfe des großen Trainers und Denkers Toni Innauer.

Über den Autor

Toni Innauer war der dominierende Skispringer seiner Zeit. Er gewann Silber und Gold bei Olympischen Spielen, trat bereits als 22-Jähriger vom aktiven Sport zurück und absolvierte ein Studium der Psychologie, Philosophie und Sportwissenschaften. Als Cheftrainer der österreichischen Skispringer erzielte er epochale Erfolge. Als Sportdirektor des ÖSV war er – mit Trainer Alex Pointner – für die unvergleichliche Erfolgsserie der österreichischen „Superadler“ verantwortlich. Neben Der kritische Punkt sind auch Am Puls des Erfolgs und sein Trainingsprogramm Die 12 Tiroler (alle Titel bei CSV erschienen) Bestseller.

Toni Innauer

Der kritische Punkt

Für meinen Vater, für Liss, Klaus, Franz und Erwin

Bei Erscheinen des „Kritischen Punktes“ 1992 bereicherte noch jeder von ihnen auf seine außergewöhnliche Art mein Leben.

CSV

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Neuauflage,VorwortInhaltsverzeichnis

1. Rotznase und zweimal Tränen

Silber und Gold bei Olympia

2. 30 Meter beim ersten Versuch

Der Weg zum Kinderstar

3. Aus welchem Holz bin ich geschnitzt

Das Aufwachsen im Bregenzerwald

4. Als ich allmächtig war

Die Saisonen 1975 und 1976

5. MINI COOPER mit PORSCHE-Motor

Die Geschichte meines Körpers

6. Glaube versetzt Autos

Die Lausbubengeschichten

7. Das Prinzip Leistung

Wie Erfolg, Leistung und Zufall zusammenhängen

8. Als alles ganz anders wurde

Ende der Karriere, Studium, Neubeginn (1977–1984)

9. Begegnungen und Bilanzen

Menschenbilder und Meinungen

10. Schön ist die Jugend

Der Einstieg in die Trainerarbeit (1985–1987)

11. Magie und Mystik

Die Grenzerfahrungen im Spitzensport

12. Der Tag nach dem 8. Februar

Olympia 1992 in Albertville

13. Kopf-Sprünge

Die Psychologie des Erfolgs

14. Das zweite Springerwunder

Drei Jahre als Weltklasse-Coach (1989–1992)

15. Gebrauchsanweisungen und Navigationshilfen

Gebrauchsanweisungen

Navigationshilfen

Vorwort zur Neuauflage

Als mein Buch „Der kritische Punkt“ 1992 erschien, war ich 33 Jahre alt. Ich hatte eine Karriere als aktiver Sportler hinter mir, Silber und Gold bei den Olympischen Spielen gewonnen, hatte studiert, war Cheftrainer der österreichischen Nationalmannschaft geworden und hatte mit dieser bei den Olympischen Spielen in Albertville fünf von sieben möglichen Medaillen geholt. Ich konnte am Ende der Saison 1991/92 erschöpft, aber getrost zurücktreten im Bewusstsein, meine Mission erfüllt zu haben.

In dieser Lebensphase schrieb ich mein erstes Buch. Es war die Erzählung meines abenteuerlichen Lebens. Eines Lebens, das in der Abgeschiedenheit des Bregenzerwaldes begonnen hatte, das mich mein Talent, besser Ski zu springen als die anderen, rechtzeitig erkennen ließ und mich zu einem bekannten Menschen machte. „Der kritische Punkt“ war das staunende Buch eines jungen Mannes, der sich selbst betrachtet und eine erste Zwischenbilanz zieht. Der die Schnelligkeit des eigenen Aufstiegs mit träumerischer Skepsis betrachtet und lächelnd vor der Fülle der eigenen Erlebnisse steht: Das alles ist mir wirklich passiert?

„Der kritische Punkt“ wurde ein Riesenerfolg. Nicht nur die Verkaufszahlen waren besser, als ich mir je hätte träumen lassen. Vor allem die Reaktionen des Publikums überraschten mich und taten mir gut. Wo immer ich auftauchte – sei es auf Lesereisen, bei Vorträgen oder bei anderen öffentlichen Auftritten –, kamen Menschen auf mich zu und wollten mit mir über den „Kritischen Punkt“ reden, oder sie hatten das Buch dabei und wollten eine Widmung oder auch nur eine Unterschrift. Viele Menschen schrieben mir Briefe oder Karten und teilten mir mit, dass das Buch sie bewegt habe, dass es Erinnerungen heraufbeschworen oder ihnen geholfen habe, die eigene Lebensgeschichte in einem neuen Licht zu sehen.

Im Frühjahr 2010 erschien mein zweites Buch „Am Puls des Erfolgs“. Zwischen den beiden Büchern lagen nicht nur 18 Jahre, sondern auch viele Stationen eines Lebens im Dienste des Österreichischen Skiverbands.Ein aufregender Lebensabschnitt im Management eines der besten Sportverbände der Welt, der vom Wunsch getragen war, wertvolle Sportkultur mitzugestalten. Wieder markierte das Buch das Ende einer erfüllten Epoche meines Lebens. Gleichzeitig mit dem Erscheinen von „Am Puls des Erfolgs“ gab ich meinen Rücktritt als Sportdirektor des ösv bekannt.

Als ich im Frühjahr auf Lesereise ging, traf ich in ganz Österreich Menschen, die sich für meine Erfahrungen und meine Gedanken zum Spitzensport interessierten. Oft saß ich lange an meinem Lesetischchen, während die Zuhörer des Abends geduldig in der Schlange standen und darauf warteten, eine Signatur für ihr Buch zu bekommen. Es war schön und oft auch berührend, mit meinen Leserinnen und Lesern zu sprechen, Begebenheiten aus ihrem Leben zu hören und an Situationen und Erlebnisse erinnert zu werden, wo sich die Biographien kurz berührt hatten, um schließlich wieder in die eigene Richtung weiterzudriften.

Immer wieder aber wurde ich auch auf den „Kritischen Punkt“ angesprochen. Das Buch war inzwischen längst nicht mehr auf dem Markt. Der Verlag, der es 1992 herausgebracht hatte, existierte schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr, und nur auf EBAY schwirrten noch einzelne Angebote herum, oft genug zu obszön hohen Preisen. „Eigentlich schade“, dachte ich mir, denn ich sah – und sehe – die beiden Bücher als kommunizierende Gefäße: erzählerisch und draufgängerisch das eine, analytisch und erwachsen das andere. Beide sind ohne einander nicht denkbar.

So keimte der Entschluss, den „Kritischen Punkt“ noch einmal aufzulegen. Er bekam einen kritischen Korrekturdurchgang verpasst, und im abschließenden Kapitel der „Gebrauchsanweisungen“ konnte ich nicht widerstehen, eine Reihe von Tipps, die ich mir selbst in den Jahren als Betreuer und Manager angeeignet hatte, zu den im Buch bereits versammelten hinzuzufügen.

So schließt sich für mich ein Kreis. „Der kritische Punkt“ kehrt in die Buchhandlungen zurück, unverhohlen ein Buch seiner Zeit – und meiner Zeit. Ich freue mich, dass mit der Neuauflage ein Stück Sportgeschichte wieder komplett ist.

Toni Innauer, Thaur, 4. Oktober 2010

PS: Als dieses Buch 1992 erschien, spielten Mädchen und Damen im Skispringen noch überhaupt keine Rolle. Fünf Jahre später stellte Eva Ganster in Bad Mitterndorf mit 167 Metern den ersten Weltrekord im Skifliegen auf. 2003 landete Daniela Iraschko am Kulm bei 200 Metern. Der Internationale Ski-Verband führte 2009 in Liberec die ersten offiziellen Weltmeisterschaften im Damenskispringen durch und beschloss kürzlich den Weltcupstatus für Damenbewerbe ab der Saison 2011/12. Hoffentlich werden bei den Olympischen Spielen 2014 auch Skispringerinnen am Start sein.

PPS: 1992 war die sprachliche Gleichstellung weder im Sport noch sonst üblich. Im Skispringen war sie auch praktisch noch nicht sinnvoll. Das hat sich geändert. An jenen Stellen dieses Buches, wo ohne persönlichen Bezug von Sportlern, Skispringern und Synonymen die Rede ist, sind aktuell und künftig mit dem gebotenen Respekt auch Sportlerinnen und Skispringerinnen gemeint.

Vorwort. Von Baldur Preiml

I. — Es war 1972, bei der österreichischen Schüler- und Jugendmeisterschaft der Nordischen in Velden. Ich hielt Ausschau nach hoffnungsvollen Talenten für die Zukunft, um sie ins Skigymnasium von Stams zu holen. Ich erwartete mir viel, weil ich einige junge Springer schon kannte. Doch ausgerechnet ein kleiner, schmächtiger Vorarlberger, der zudem als Einziger mit Alpinskiern die Sprungkonkurrenz bestritt, erregte meine besondere Aufmerksamkeit. Ich fühlte mich durch ihn in die Zeit meiner ersten eigenen Sprungbewerbe zurückversetzt.

Der Junge beeindruckte mich durch seine eleganten, weiten Sprünge, die er mit einem auffallenden Hüftknick hinuntersetzte. Trotz Alpinskiern verfehlte er als Zweiter nur knapp den Titel eines österreichischen Schülermeisters. Im zweiten Durchgang stand ich im Auslauf der Schanze. Mir fiel auf, wie sorgfältig der Bursch seine Skier zusammenlegte – und wie er im Stillen stolz auf sich und seine Leistung war. In diesem Moment war mir klar: Der wird einmal zu den ganz Großen zählen. Er muss schon bald die kleine Stamser Springergruppe mit Karl Schnabl, Willi Pürstl, Rupert Gürtler, Alfred Pungg und Alois Lipburger bereichern. Und ich konnte den Burschen tatsächlich für das Skigymnasium gewinnen. Sein Name war Toni Innauer.

II. — Professor Stefan Kruckenhauser, der Skipapst vom Arlberg, prägte einst das weise Wort vom „Segen der kleinen Schar“. Und wir waren eine kleine Schar, die zu Beginn der siebziger Jahre aufbrach, um an die fast hundertjährige Tradition des Skispringens in Österreich anzuschließen, die von einer Reihe hervorragender Einzelkönner geprägt worden war. Genannt seien Buwi Bradl, Otto Leodolter, Willi Egger, Walter Habersatter, Albin Plank, Sepp Lichtenegger, Max Golser, Baldur Preiml, Reinhold Bachler. Der legendäre Buwi Bradl legte mit seinen Mitarbeitern, u.a. Ing. Hugo Kassl und den Landestrainern, den Grundstein für die Arbeit, die 1970 im Skigymnasium Stams anlief und zur einzigartigen Absprungbasis für den Höhenflug unserer „Adler“ in den nächsten Jahrzehnten werden sollte. Mit dem Skigymnasium Stams war plötzlich für eine „kleine Schar“ die Chance gegeben, sich zu entfalten, und ich durfte ihr begeisterter Trainer sein.

III. — Meine Trainingsphilosophie beruhte auf der Erfolgsformel „Richtigmachen bedeutet Erfolg; Falschmachen führt zum Misserfolg“.

Nur: Was ist richtig? Und wie können wir das Richtige in die Praxis umsetzen? Wir warfen damals neidige Blicke auf die Springer-Weltmacht DDR, die diese Frage mit ungeheurem wissenschaftlichem und materiellem Aufwand zu beantworten suchte und fast unschlagbar schien. Aber in mir wuchs die Überzeugung: Es muss auch ein anderer Weg zum Erfolg führen. Gemeinsam suchten wir nach diesem Weg und fanden ihn. Er führte über unsere grenzenlose Begeisterung zu ständig neuen Ideen, die wir in freudvollem, täglichem Training auch verwirklichten.

Wir verbesserten uns auch laufend konditionell, sprungtechnisch und im Selbstvertrauen – und das „im stillen Kämmerlein Stams“ –, bis eines Tages ein unvorstellbarer Gedanke in uns keimte:

„Wir Stamser können auch Olympiasieger und Weltmeister werden!“

Und Toni Innauer half wesentlich dabei, diesen „geistigen Rahmen“ für spätere Erfolge zu schaffen. Er war ein Ausnahmetalent im Sternzeichen des Widders und lebte nach den Grundsätzen „Ich will!“ und „Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker!“. Er hielt sich selbstverständlich für wert, bei weiterem gutem Training nicht nur an die österreichische, sondern auch an die Weltspitze vorzustoßen, und trug diese wertvolle Haltung auch in die Nationalmannschaft hinein, die ich 1974 übernahm und in der wir „Stamser“ den Kern bildeten.

Der „kleinen Schar“ wurden großartige Funktionäre und Betreuer geschenkt, wie Hans Stattmann, der nordische Sportwart, Otto Horngacher, unser Sprunglaufreferent, und „die Seele“ der Mannschaft, Max Golser, der Co-Trainer, Dr. Peter Baumgartl, der Teamarzt, und Willi Dungl, unser Masseur und Tausendsassa. In diesem Team waren Pioniergeist, Mut zu Neuem und Freude auch an härtester Arbeit vereint, was Trainingsmethoden und Material revolutionierte. Und wie Phönix aus der Asche stiegen im Winter 1974/75 österreichische Skispringer plötzlich zur Weltspitze auf. Es mutete wie ein Wunder an: Karl Schnabl, wie Innauer ein Ausnahmekönner, gewann drei Tourneekonkurrenzen, Willi Pürstl siegte zum Auftakt und holte sich als zweiter Österreicher, 20 Jahre nach Buwi Bradl, die Gesamtwertung der INTERSPORT-Springertournee. Toni Innauer, der sich bei der ersten Tournee-Konkurrenz in Oberstdorf verletzt hatte, gewann zu Saisonschluss als erster Österreicher überlegen im Mekka des Nordischen Skisports, auf dem Holmenkollen bei Oslo.

Wir mussten uns daran gewöhnen, plötzlich auch als Favoriten für die Olympischen Winterspiele in Innsbruck 1976 angesehen zu werden. Ich verstärkte das Training im Bereich der Persönlichkeits- und Charakterschulung, brachte die Mannschaft in Kontakt mit der Lehre Oscar Schellbachs und seinen Grundsätzen einer bewussten Lebensführung. Wir erkannten, dass nur eine starke Sportlerpersönlichkeit mit menschlichen Qualitäten alle äußeren Erfolgsbausteine zu einer Einheit zusammenfassen kann und zu Höchstleistungen befähigt.

IV. — Der junge, ehrgeizige und stark auf sich selbst bezogene Innauer stellte sich anfangs gegen diese Art des mentalen Trainings, obwohl er unbewusst ohnehin viel davon praktizierte. In dieser Phase spürte ich eher Distanz zu Toni. Trotzdem hatte ich auf gewisse Art Respekt vor ihm, denn er konnte so viel, er faszinierte mich. Wenn ich zum Beispiel sah, wie selbstverständlich er Bewegungsabläufe lernte, empfand ich fast so etwas wie Ehrfurcht. Seine Einstellung änderte sich, als er nach der Saison 1975/76 immer wieder von Verletzungen zurückgeworfen wurde. Jetzt konnte Toni keine Stärke und Größe mehr ausspielen. Er fühlte sich als der vom Schicksal bestrafte, arme Bub, der mit feuchten Augen zusehen musste, wie seine Kollegen mit Freude trainierten und Siege feierten. Damals merkte ich, dass er Hilfe brauchte, und so kamen wir uns Schritt für Schritt näher. Toni lernte, an ein Sprichwort zu glauben:

„Durch Leiden bildet Gott seine Experten aus.“

Der lange Leidensweg von Toni Innauer läuterte auch die Mannschaft und den Trainer. Wir holten uns wesentliche Erkenntnisse aus Tonis Schicksal: Vieles ist machbar, das Wesentliche aber geschieht durch höhere Fügung.

Auch ich als Trainer veränderte mich. Ich begriff, dass die Hauptaufgabe des Trainers nicht darin bestand, Sportler zur Spitze zu führen, um auf diesem Umweg selbst Olympiasieger zu werden, sondern (im wörtlichen Sinne) „Therapeut“ zu sein: Begleiter des Sportlers auf dem Weg zu sich selbst.

V. — Toni war bei den Olympischen Spielen in Innsbruck noch nicht reif für die Goldmedaille. Sie passte noch nicht in seine Entwicklung. Erst vier Jahre später, 1980 in Lake Placid, war er so weit. Tonis Einstellung hatte sich grundlegend geändert. Er hatte begriffen, dass der Geist die Materie bewegt und höchste sportliche Erfolge auch durch eine positive Persönlichkeitsentwicklung mitbegründet werden. Der Olympiabewerb wurde für mich zu einem Schlüsselerlebnis meines Lebens, das mich tief bewegte. Alle Konkurrenten vor Innauer hatten Rückenwind. Toni aber bekam Aufwind und legte einen vollendeten Sprung hin, mehr als zehn Meter weiter als seine Konkurrenz. Genau wie vier Jahre zuvor griff er nach der Goldmedaille, und diesmal konnte oder durfte er im zweiten Durchgang souverän die größte Chance seiner Sportlerkarriere nützen. Diesen Olympiasieg verstand ich als Geschenk des Himmels und gleichsam als Belohnung für die Jahre sportlicher Niederlagen und menschlicher Enttäuschungen. Er zeigte uns allen, wie wellenförmig das Leben verläuft: Je mehr Hochs der Mensch erlebt, desto mehr Tiefs muss er erleben und aushalten lernen. Und umgekehrt.

VI. — Innauer musste seine Karriere wegen einer Verletzung früher beenden, als ihm lieb war. Sein Weg führte ihn weg von seiner aktiven Laufbahn zum Studium und weiter zum Trainerjob. Er konnte warten, bis seine Zeit als Trainer reif war. Denn wer als Betreuer etwas geben will, muss zuerst fachlich – und vor allem als Mensch – etwas haben. Als Spitzensportler sind wir egoistische „Nehmer“. Als Trainer und Betreuer müssen wir geben lernen, und das erfordert oft einen jahrelangen inneren Entwicklungsprozess.

Wie ich einst in Stams machte auch Toni wichtige Erfahrungen in der Nachwuchsbetreuung. 1989 war für ihn der Weg an die Spitze der Nationalmannschaft frei. Vom ersten Moment an beherrschte er die Kunst, neue Wege zu gehen. Er war eben geeignet: Neue Ideen fliegen uns zu, wenn wir uns mit Freude und Begeisterung einer Aufgabe widmen können. Wie einst als genialer Springer entwickelte sich Innauer auch zu einem außergewöhnlichen Trainer, der es verstand, mit seinen menschlichen Qualitäten den Wesenskern im Inneren der Sportler anzusprechen, um so gemeinsam die Puzzlesteine des Erfolgs zu einem harmonischen Ganzen zusammenzufügen. Nach dem Motto „Angriffspunkt ist der Körper, aber Ziel der ganze Mensch!“.

Der Spitzensport ist vordergründig nicht gesund. Umso mehr müssen alle Betreuer dafür sorgen, dass die ihnen anvertrauten Sportler nicht krank werden. Skispringen und der Spitzensport im Allgemeinen können bei verantwortungsbewussten Trainern und Betreuern zu einem exzellenten Medium der Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung werden. So gesehen können Spitzensport und Leistungskultur auch gesund sein, selbst wenn so manche Schrammen am Ende einer aktiven Laufbahn zurückbleiben sollten. Voraussetzung allerdings ist, dass ein Betreuer seine Athleten früh zu einem verantwortungsvollen Leben und Sporttreiben erzieht und selbst begreift:

„Die menschliche Reife ist das oberste Ziel. Die Spitzenleistung ist die reife Frucht davon!“

VII. — Dieses eindrucksvolle Buch von Toni Innauer soll viele junge Menschen anspornen, ihren besonderen Weg im Leben, im Sport, auch im Spitzensport zu finden und konsequent zu gehen, so wie mir in meiner Jugend das Buch von Buwi Bradl „Mein Weg zum Weltmeister“, das ich gut zwanzigmal gelesen habe, viel Kraft gegeben hat. Es möge viele motivieren, den höchsten Einsatz von sich zu fordern, um große Ziele zu erreichen. Auch vielen Führungskräften soll dieses Buch Beispiele geben, wie sportliche und berufliche Leistungen/Erfolge davon abhängen, wieweit es gelingt, selbst ein Erfolg zu werden.

Toni Innauer ist als Sportler, Trainer und Mensch ein Vorbild, das weit über Österreichs Grenzen hinaus bekannt geworden ist. Wir alle brauchen solche Vorbilder, um am eigenen Leib zu erfahren, dass es möglich ist, ja sinnerfüllend wird, wenn wir beginnen, uns den täglich neuen Aufgaben und Herausforderungen des Lebens offen, mutig und begeistert zu stellen.

Baldur Preiml, Jahrgang 1939, gewann 1968 bei den Olympischen Spielen in Grenoble die Bronzemedaille auf der Normalschanze. Als Trainer der österreichischen Skisprungnationalmannschaft revolutionierte er Trainingsmethoden und Material und sorgte mit seinem Team für das österreichische „Springerwunder“. Er war lange Toni Innauers Trainer. Die beiden sind noch heute freundschaftlich verbunden.

1. Kapitel

Rotznase und zweimal Tränen

Silber und Gold bei Olympia. Heimspiele in Innsbruck 1976 – Große Erwartungen des Publikums – Duell mit Karl Schnabl – Kleinholz im Stadel – Zweite Chance in Lake Placid – Das Glück mit den Schuhen – Gold zur Versöhnung – Baldurs Tränen

„Though there’s one motorgone, we can still carry on.

Comin’in on a wing and a prayer“

Ry Cooder, „Boomer’s Story“

Ich kam gut vom Schanzentisch weg. Es machte einen Ruck, und ich flog. Das alte Gefühl stellte sich ein. Mein Körper-Ski-System funktionierte perfekt. Stabil und leicht schwebte ich über den Vorbau, sah aus dem Augenwinkel die Weitenrichter, die für die kurzen Sprünge zuständig waren. Der rote Strich, der den kritischen Punkt der Bergisel-Schanze anzeigte, kam näher, und ich merkte, dass ich ihn überspringen würde.

Aaaah!

Noch bevor ich bei 102,5 Metern aufsetzte, wusste ich: Niemand springt in diesem Durchgang so weit wie ich. Ich landete mit einem perfekten Telemark. Das Klatschen meiner Ski wurde vom Aufschrei der 60 000 Besucher geschluckt, die am Schlusstag der Olympischen Spiele 1976 auf den Bergisel gekommen waren, um die österreichischen Adler im zweiten Anlauf siegen zu sehen.

Gut, dachte ich mir, als ich den Gegenhang hinauffuhr, das erledigen wir.

Ich kriegte wie gewohnt gute Noten. Zufrieden betrachtete ich das olympische Feuer, das aus einer Schale über dem Schanzenauslauf loderte. Dann packte ich meine Ski zusammen und stapfte zu unserem Mannschaftscontainer. Eingepackt in eine warme Decke, beobachtete ich, wie ein Springer nach dem anderen an der Weite scheiterte, die ich vorgelegt hatte.

Nummer 41 Steiner. Nummer 44 Danneberg. Nummer 49 Schnabl. Keiner der Co-Favoriten kam auch nur annähernd an meine 102,5 Meter heran. Nach dem ersten Durchgang des Olympiaspringens von Innsbruck führte ich mit 7,7 Punkten Vorsprung auf den DDRler Jochen Danneberg. Das war mehr als ein Vorsprung. Im Match Innauer gegen den Rest der Welt stand es zur Halbzeit mindestens 3:0.

Man hat nicht viel Platz auf dem Bergisel. Hinter der Schanze geht es steil in einen Graben hinunter, vorne stehen die Zuschauer, die Autogramme wollen oder dir – toi, toi, toi! – über die Schulter spucken. Ich machte ein paar Schritte in den Wald, der die Schanze umgibt, um allein zu sein.

Auch wenn meine Temperatur normal war, hatte ich Fieber. In meinen Augen wanderten kleine Schlieren, und eine Spannung, die ich nicht kannte, machte mich frösteln. Ich platzte vor Ungeduld. Ich wollte nicht mehr warten. Die Goldmedaille sollte schon jetzt mir gehören. Wozu ein zweiter Durchgang? Ich hatte der Welt doch längst gezeigt, dass es niemand anderem zustand, auf dieser Schanze Olympiasieger zu werden.

Ich wollte mich ablenken, aber mir hockten zu viele Gedanken auf der Schulter. Wie viel Geld würde ich verdienen? Wie viele Mädels würden mich besuchen? Was würden die Zeitungen schreiben? Ich machte die Augen zu und sah die Schlagzeilen: „Danke, Gold-Toni!“ Ich buchstabierte: Toni Innauer. Siebzehn. Olympiasieger. Ich hörte den Applaus des Publikums bei der Siegerehrung. Ich schmeckte Champagner auf der Zunge. Er prickelte verführerisch. Mir fiel eine Szene von 1972 ein: Mein Freund Alois Lipburger saß auf einer Bank am Bahnhof von Bischofshofen und träumte laut.

„Weltrekord möchte ich einmal fliegen“, sagte er, der dunkelhäutige, muskelbepackte Knirps, der genau wie ich gerade in den österreichischen C-Kader aufgerückt war. Aber ich, noch keine 15 Jahre alt, schüttelte altklug den Kopf: „Schon recht, Liss, aber wirklich zählen tut nur, wenn du Olympiasieger wirst.“

Ich musste lachen. Unser Gespräch von damals war die Unterhaltung von zwei Rotzlöffeln gewesen, die sich einbildeten, ohne Sauerstoffmaske auf den Mond fliegen zu können. Österreichs Skisprungsport war so tief im Keller, dass ein 20. Platz bei einem größeren Springen schon als Riesenerfolg galt.

Tja, so schmeckt eben die Erfüllung, Liss. Ich betrachtete meine Autogrammkarte und musterte ehrfürchtig mein Gesicht. Also Olympiasieger. Sollte ich auf das i von Toni statt eines i-Punkts die olympischen Ringe drucken lassen?

Im Mannschaftsquartier sah ich nur vorfreudig gespannte Gesichter. Endlich hatten die Adler gezeigt, dass sie tatsächlich die Lüfte beherrschten. Ich führte im Olympiaspringen auf der Großschanze, Charly Schnabl war Dritter, Reinhold Bachler Vierter. Wenn ich auf die Uhr schaute, wünschte ich mir, es wäre schon eine Stunde später. Als mir Rudi Wanner auf die Schulter klopfte und „Mach’s gut“ wünschte, war ich fast verwirrt.

„Mach’s gut“?

Ach ja, der zweite Durchgang.

Ich war nicht bei mir, als ich meine leuchtroten Ski packte und die Treppen im Anlaufturm hinauf zum Start stieg. Ich sah einen jungen, schlaksigen Mann mit langen, strähnigen Haaren, der mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte und sich nur eines wünschte: „Hoffentlich ist bald alles vorbei.“

Ich verfolgte von außen, wie irgendetwas in mir den zweiten Sprung machte, geistig erschöpft, ohne Energie. Ich war weder konzentriert noch dynamisch. Es spielte keine Rolle mehr, dass auch der Wind nicht perfekt war. Es war meine geistige Verfassung, die keine Leistung mehr zuließ, mit der man Olympiasieger werden konnte.

Ich sprang 91 Meter weit, und im Auslauf kehrten meine Lebensgeister sofort zurück. Ich hatte einen derartigen Zorn, dass ich meine Ski am liebsten zu Streichhölzern verarbeitet hätte. Mit diesem Scheißsprung hatte ich nicht einmal mehr eine Chance auf eine Medaille! Oben standen noch mehr als 20 Springer, jeder einzelne motiviert bis unter die Schädeldecke.

Ich verkroch mich in dem Holzstadel, auf dessen Dach die Haltungsnoten der Sprungrichter gezeigt wurden. Drinnen war es dunkel und muffig, Pickel, Schaufeln und Steigeisen lagen herum, alte Weitenanzeigetafeln und Werkzeuge für die Schanzenpräparierung. Ich schlug die Tür hinter mir zu und verriegelte sie. Ich wollte allein sein, den falschen Trost der Menschen nicht hören, die mir draußen mitleidig auf die Schulter klopften und erklären wollten, es sei eh alles nicht so schlimm.

Jochen Danneberg sprang. Kürzer als ich. Sepp Schwinghammer, Jouko Törmänen, Walter Steiner blieben hinter mir. Plötzlich war das Springen fast zu Ende, und ich war im Zwischenklassement noch immer Erster.

War mein Sprung doch gut genug gewesen?

Bang kehrten meine Hoffnungen zurück, dann sprang Karl Schnabl 97 Meter weit, übernahm die Führung, und während sich eine Flutwelle nationaler Euphorie ins Bergisel-Stadion ergoss, zertrümmerte ich in meinem Stadel nach allen Regeln von Bruce Lee ein acht Zentimeter dickes Holzbrett.

Ich saß auf den Schultern fremder Menschen und schaute ins Narrenkastl. Neben mir jubelte Karl Schnabl über seinen Olympiasieg. Meine dafür zuständigen Drüsen schütteten einen so bizarren Cocktail von Stress- und Dämpfungshormonen aus, dass jeder Drogenfresser mich um das exquisite Rezept beneidet hätte. Euphorie, Angst und Hoffnung, Zorn und Enttäuschung machten mich zu einem gefühllosen Zombie, der sich darüber freuen sollte, bei Olympischen Winterspielen eine Silbermedaille errungen zu haben.

Aber ich freute mich nicht. Das Einzige, was ich empfand, war die tiefe Überzeugung, dass mir der Olympiasieg gestohlen worden war. Die Weitenrichter waren schuld. Sie hatten Schnabls Weite nach oben korrigiert. Die Punkterichter waren schuld. Hatten sie seine gebeugten Knie nicht gesehen? War ihnen nicht aufgefallen, wie rasch er den Telemark-Aufsprung in ein Kacherl korrigiert hatte? Ganz klar: Ich war ein Opfer des rot-weiß-roten Überschwangs. Den Weitenrichtern war doch egal, welcher Österreicher ganz oben auf dem Stockerl stand. Sie hatten Schnabl zwei Meter draufgelegt. Sicher ist sicher! Ist doch egal, welcher Österreicher …

Nein, dachte ich mir, o nein, oh nein, oohooh nein. Es ist nicht egal. Es ist das Gegenteil von egal. Ich fand das richtige Wort nicht. Irgendwer rief mir zu, ich solle mich doch freuen. Mechanisch hob ich eine Hand und winkte ins Leere.

Die Siegerehrung fand abends im Innsbrucker Eisstadion statt. Unser Sportwart sagte, wir müssten bei der Nationalhymne mitsingen, das sei gut für die Sponsoren. Ich kannte den Text nicht und bewegte, als die Flaggen hochgezogen wurden, nur die Lippen. Im Anschluss an die Hymne wurde der Film des österreichischen Skisprung-Triumphes auf einer Großleinwand ins Stadion eingespielt.

Mir wurde fast schlecht. Man sah Bilder von Zuschauern, Springern und Funktionären nach dem Sprung von Karl Schnabl. Alle jubelten. Alle lachten und umarmten sich. Manchen kullerten die Freudentränen über die Wangen. Was die Kameras dokumentierten, war eine pulsierende patriotische Ekstase.

Ich fühlte mich verraten und verkauft. Mein Magen rebellierte. Diese Ekstase war gegen mich gerichtet. Sie war gegen mich gerichtet wie das überlegene Grinsen des Charly Schnabl, als ich bei der Dopingkontrolle neben ihm gehockt und er seinen ganzen Triumph in die stoische Ruhe gepackt hatte, mit der er darauf wartete, pinkeln zu können.

Ich war das Opfer einer Verschwörung. Mein Absturz passte vielen Leuten blendend ins Konzept. Ich war das Wunderkind, das goscherte, smarte, leichtfüßige Ausnahmetalent, dem alles so leichtfiel. Das konnten die Mittelmäßigen nicht ertragen. Jetzt nahmen sie Rache.

Ich hatte körperliche Schmerzen, als ich auf dem Siegerpodest stand. Während der folgenden Monate, fast ein Jahr lang, krampfte sich mein Magen zusammen, wenn ich nur an den Bergisel, das Innsbrucker Eisstadion oder die Olympischen Spiele dachte. Auch wenn mir Jahre später der italienische Springer Lido Tomasi versicherte, dass die Weitenrichter Charly zwei satte Meter draufgeschlagen hätten, ahnte ich tief drinnen, dass allein ich selbst die Chance verspielt hatte, Olympiasieger zu werden. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich brauchte einen anderen Schuldigen. Ich mochte mich nicht über Silber freuen. Ich fühlte mich als einziges Opfer in einer wogenden Masse von Tätern.

Innsbruck 1976: die Heimspiele. Franz Klammer und wir Skispringer waren die absoluten Stars einer sportnarrischen Nation. Ich hatte in der Vorbereitung drei Wettkämpfe der Vierschanzentournee gewonnen und galt als heißer Favorit auf eine oder zwei Goldmedaillen. Die BUNTE hatte mein Gesicht formatfüllend aufs Titelblatt gedruckt und daruntergeschrieben: „Das ist Gold für Österreich“.

Unsere Mannschaft zog ins Hotel Marthe nach Seefeld, zehn Gehminuten von der 70-Meter-Schanze, wo am Samstag, dem 7. Februar, das erste Olympiaspringen ausgetragen werden würde. Einige Witzbolde hatten per Telefon angekündigt, sie wollten Ingemar Stenmark und mich kidnappen, also wurden wir durch eine Einheit von Anti-Terror-Spezialisten schwer bewacht. Ganz Österreich nahm Anteil am zu erwartenden Erfolg des Springerteams. Wir waren jahrelang leistungsmäßig im Keller gewesen, nun hatte uns Baldur Preiml ruck, zuck zur absoluten Weltspitze geführt. Es herrschte Aufbruchsstimmung, eine regelrechte Euphorie. Wir waren wieder wer, und das war ein Versprechen, das wir bei diesen Olympischen Spielen einlösen mussten.

Ausgerechnet jetzt hatte ich ein kurzzeitiges Formtief. Beim Training auf der kleinen Schanze gelang mir praktisch kein einziger fehlerfreier Sprung. Mein Gefühl hatte sich verschoben, ich kriegte am Schanzentisch nicht die notwendige Drehung nach vorne. Ich blieb um Meter hinter den größten Weiten zurück. Aber das Publikum ignorierte die Realität: Trotz unserer mäßigen Leistungen zählten wir Österreicher am Wettkampftag zu den absoluten Favoriten, und als uns die beiden DDRler Hans-Georg Aschenbach und Jochen Danneberg ordentlich abgehängt hatten, war die Enttäuschung fast greifbar, auch wenn Karl Schnabl die Bronzemedaille gewonnen hatte.

Als die Abendzeitungen mit den Berichten vom Sprunglauf hinauf nach Seefeld kamen, flippte Buwi Bradl, unser ehemaliger Mannschaftsbetreuer, aus. Die KRONEN ZEITUNG hatte getitelt: „Nur Bronze!“

„Seids ihr mit nix mehr zufrieden?“, brüllte Bradl die unschuldigen Zeitungsverkäufer an, die ihn zu Tode erschrocken anstarrten. Dann kaufte er ihnen sämtliche verfügbaren KRONEN ZEITUNGEN ab, türmte sie zu einem Haufen und steckte sie rituell in Brand. Ich bin sicher, wenn Bradl gewusst hätte, dass die beiden DDRler, die uns geschlagen hatten, bis in den kleinen Zeh gedopt gewesen waren, hätte er seinerzeit ein Blutbad angerichtet.

Am Tag nach dem Abschluss der Spiele nahm mich Baldur Preiml auf die Seite und sagte: „Es ist gut so. Es ist besser für dich, wenn du noch nicht Olympiasieger bist.“

Hörte ich recht? Besser für mich? Ich war doch in dieser verflixten Saison der beste Springer weit und breit, warum sollte ich also nicht Olympiasieger sein?

„Du bist noch nicht reif“, antwortete Baldur.

Am liebsten hätte ich ihn in den Arm gebissen. Er kannte mich doch. Er hatte höchstpersönlich miterlebt, wie ich mich nach dem miesen siebenten Platz auf der kleinen Schanze kontinuierlich aus dem Formtief gehievt hatte; wie ich in mein Trainingsbuch mindestens fünfzigmal die Suggestivformel „Meine Form steigert sich von Tag zu Tag“ gekritzelt hatte; wie ich im Training auf der großen Schanze tatsächlich wieder vorn dabei gewesen war, die weitesten Sprünge hinlegte und dann, im Wettkampf, diesen unwiderstehlichen ersten Durchgang …

Aber es sollte noch mindestens zwei Jahre dauern, bis ich merkte, was mir Baldur damals eigentlich sagen wollte.

Ich kannte die Schanze von Lake Placid nicht, und mein Ski lief schlecht. Ich war auf nicht sonderlich überzeugende Art ins Olympia-Aufgebot gerutscht. Die Konkurrenz in der eigenen Mannschaft war äußerst stark: Hubert Neuper, Armin Kogler, Fredi Groyer und Claus Tuchscherer hatten bei der Vierschanzentournee deutlich bessere Ergebnisse gebracht als ich, und mir fehlte zu allem Überfluss jede Routine. Ich hatte praktisch die ganze vorolympische Saison 1978/79 pausieren müssen, weil ich verletzt gewesen war. Aber ich wusste, dass Baldur auf mich zählte. Er war überzeugt davon, dass ich Olympiasieger werden könnte, wenn ich rechtzeitig in Form käme. Das tat mir gut, aber davon sprang ich im Moment auch nicht weiter.

Ich brachte mit dem 2,70 Meter langen Flossenski nichts zusammen. Bei jedem Sprung wartete ich vergeblich auf das vertraute Fluggefühl. Ich ruderte in der Luft, kämpfte und verkrampfte mich. Ich wollte schon den Ski hinten abschneiden, um nicht immer bei 75 Metern schon den Aufsprunghang zu streifen. Die Laune war mir verdorben, und ich zweifelte ernstlich daran, dass ich überhaupt für das Springen auf der kleinen Schanze aufgestellt würde.

Claus Tuchscherer hatte zum Testen Sprungschuhe von DACHSTEIN dabei, aber sie passten ihm nicht. Mir fehlte mit meinen ADIDAS das optimale Verbindungsstück zwischen Ski und Fuß, also borgte ich mir von Claus den DACHSTEIN aus. Der Schuh war mir zu groß, ich musste zwei Paar Socken über einer Einlegesohle anziehen, um hineinzupassen. Aber schon beim ersten Sprung mit dem neuen Schuh merkte ich: Hoppla! Ein ganz anderes Gefühl! Größere Sensibilität! Ich fühlte mich plötzlich pudelwohl in der Luft, und da bereits der vorletzte Trainingstag angebrochen war, konnte ich das neue Wohlbefinden im Nachmittagstraining gut gebrauchen, um das interne Qualifikationsspringen für den Olympiawettkampf zu gewinnen. Ich stand also in der Mannschaft und hatte plötzlich die Chance, die Scharte meines Innsbrucker Absturzes doch noch auszuwetzen.

FISCHER hatte nie zugegeben, dass meine Ski schlecht waren. Die FISCHER-Techniker konnten zwar seit Jahren in jeder Trainingsliste nachlesen, dass ich beim Absprung um ein bis zwei Stundenkilometer langsamer war als die KNEISSL-Konkurrenz, aber sie fanden dafür immer eine Ausrede: Die Zeitnehmung sei ungenau, ich stünde schlecht auf dem Ski, ich sei zu leicht, könne bei meinem Gewicht gar nicht geschwinder sein.

Zwei Stundenkilometer, die du beim Absprung langsamer bist, drücken sich beim Sprung in fünf bis sieben verlorenen Weitenmetern aus. Du springst also mit einem Gewicht um den Hals, statt Flügel zu kriegen. Ehrlich, auf den Laufflächen meiner Ski habe ich damals viel Selbstvertrauen liegen gelassen, denn langsame Ski nehmen dir die Möglichkeit, deutlich besser zu sein, ohne dich mehr anstrengen zu müssen. Ich wusste: Wollte ich ein Springen gewinnen, durfte ich nicht den allergeringsten Fehler machen. Dieses Bewusstsein macht den Zwölfer-Ring, den du treffen musst, um einiges kleiner als für den Schützen, der neben dir steht; und jede zusätzliche psychische Belastung für dich beruhigt bekanntlich die Hand des Gegners.

Am Abend vor dem Olympiaspringen gab FISCHER zu, dass seine Ski zu langsam waren. FISCHER stellte mir sogar frei, beim Wettkampf einen KNEISSL zu springen. Kurt Matz von KNEISSL hatte bereits einen Ski mit meinem Namen bereitgestellt und präparieren lassen. Er war heilfroh über meinen Krieg mit FISCHER, schließlich war ich als einer von zwei FISCHER-Springern der Einzige, der KNEISSL den Olympiasieg streitig machen konnte: Alle anderen Athleten waren von KNEISSL ausgerüstet. Jetzt versuchte Matz alles, um das Restrisiko zu minimieren.

„Heute hat mich FISCHER freigestellt. Bin aber nicht zu KNEISSL übergewechselt. Die Gründe für meine Entscheidung:

1. FISCHER hätte sich dann aus dem Sprungsport zurückgezogen.

2. Linientreue.

3. Es war heute schon sehr spät für einen Wechsel.

4. Springe ich mit KNEISSL nicht gut, bin ich der Lackierte.

5. Ich hatte einfach das Gefühl, das Richtige zu tun.“

Tagebucheintragung, 16.2.1980

Am nächsten Morgen hatte das Wetter umgeschlagen. Es war deutlich wärmer. Zur Wettkampfzeit um 13 Uhr hatte es minus 14 Grad, und der Westwind wehte mit 16 Stundenkilometern. Es herrschten die einzigen Wetterbedingungen, bei denen der FISCHER-Ski nicht hoffnungslos hinterherfuhr.

Wir wohnten nicht im olympischen Dorf. Das Olympische Komitee hatte ein schmuckes Holzhaus für uns angemietet, in dem wir unter uns sein konnten. Aber das Haus war nicht groß genug, dass jeder sein eigenes Zimmer hatte. Also schlief ich in der Küche, auf einer Matratze, die wir auf den Boden gelegt hatten.

In der ersten Nacht wurde ich munter. Ich war benommen und hatte Kopfweh. Es stank nach Gas. Die Gasleitung war leck. Der Klempner kam, reparierte die Leitung und klopfte mir zähnebleckend auf die Schulter:

„Glück gehabt, Junge“, sagte er kopfschüttelnd, „wenn das Leck um einen Millimeter größer gewesen wäre, wärst du jetzt tot.“

Meine Auferstehung machte mich stark. Ich war 21, abgebrüht und voll mentaler Stärke. Ich hatte mit dem rotzigen Siebzehnjährigen, der in Innsbruck hysterische Tobsuchtsanfälle gehabt hatte, nichts mehr zu tun. Gut ein Jahr lang hatte ich die Innsbrucker Neurose behandeln müssen, die Einsicht reifen lassen, dass ich nicht Opfer eines Komplotts geworden war, sondern am eigenen Unvermögen gescheitert war.

Wie hatte es Baldur formuliert?

„Du bist noch nicht reif“?

Er hatte recht gehabt, und plötzlich wusste ich es. Das Leben mit dem Misserfolg hatte mich alt gemacht. Ich war es nicht gewohnt, allein gegen die Mafia kämpfen zu müssen, und ich war diesem Kampf nicht gewachsen. Ich revidierte mein Ziel. Ich wollte nicht mehr der ganzen Welt beweisen müssen, dass ich der beste Springer war. Ich wollte nicht um jeden Preis Olympiasieger werden.

Aber ich musste mit mir selbst eine Rechnung begleichen: Ich wollte nach dem ersten Wertungsdurchgang dieses Olympiaspringens in der Position sein, gewinnen zu können. Wie damals in Innsbruck. Ich wollte noch einmal einen Matchball haben und ihn spielen, ohne mir nachher etwas vorwerfen zu müssen. Ich wollte die Chance, die ich in Innsbruck leichtfertig vergeben hatte, diesmal wahrnehmen.

„Ich sehe dieser Prüfungssituation mit freudiger Erwartung entgegen.

Heute kann ich weiter nichts unternehmen, als gut zu schlafen.

Die Entscheidung wird nur in indirekter Abhängigkeit von allem Vorangehenden morgen auf der Schanze fallen.“

Tagebucheintragung, 16. 2. 1980

Baldur Preiml stand auf dem Vorbau der großen Schanze und gab mir mit seinen roten Fäustlingen das Startzeichen: Jetzt!

Das Wetter war gut, aber die Windverhältnisse waren, wie immer in Lake Placid, unberechenbar. Claus Tuchscherer und Hans Millonig standen als Windposten im Auslauf. Sie beobachteten genau, wann sich eine Handvoll Aufwind auf den Weg machte, und schickten ihre Signale in einer Stafette den Turm hinauf.

Ich wusste Bescheid. Wegen der Windverhältnisse durfte ich meinen Sprung nicht ansetzen wie gewohnt. Ich musste mich anpassen, hoch und kräftig vom Schanzentisch wegkommen, im ersten Teil des Flugs nicht zu dynamisch sein und unten beten, dass der Wind stimmt.

Jetzt! Ich glitt in die Spur.

Ich fühlte mich sauwohl, locker und happy. Es machte mir Spaß, hier zu sein. Diesen Moment hatte ich déjà-vu-mäßig schon x-mal auf Vorrat erlebt. So hatte ich mir’s vorgestellt, jahrelang.

Der Sprung war gut. Der Wind passte …

„Plötzlich merkte ich, wie es mich anfing zu tragen, und ich habe bis zum letzten Meter gezogen und hineingesetzt. Dieses wunderbare Gefühl, das man nach so einem guten Sprung in einer so wichtigen Konkurrenz durch seine Adern rinnen spürt, ist unbeschreiblich.“

Tagebucheintragung, 17. 2. 1980

… der Telemark war perfekt. Ich fuhr aus dem Auslauf und lag in Führung, drei Punkte vor dem Japaner Hirokazu Yagi. Aber ich konnte nicht jubeln. Das war der Nachteil. Ein Sieg ist erst dann richtig schön, wenn du landest und weißt: Es reicht!, und schreien kannst:

UUUAAAAHH, das war’s!

Aber das war es nicht.

Ich war in der Pause zwischen den Durchgängen in unserem Wohnmobil gesessen, als Armin Kogler reinkam.

„Koxi“, sagte ich, „jetzt bin ich so weit. Das wollt ich noch einmal erleben, die Halbzeitführung. Wie 1976 in Innsbruck. Und ich sag dir eins: Ich mach’s hundertprozentig besser.“

„Klar“, sagte Koxi.

Aber er dachte: „Der Innauer ist ein wilder Hund, wenn er ausgerechnet jetzt an Innsbruck denkt.“

Doch es bestand kein Risiko, dass ich meinen Fehler wiederholen würde. Ich konnte selbst mit dem Fernsehen scherzen und freute mich im Übrigen, dass ich kein Blackout hatte und keine Panik.

„Ich spürte einfach, dass alles richtig läuft und dass ich gar nicht in diesen Mechanismus eingreifen darf mit viel Denken und Vorausplanen.“

Tagebucheintragung, 17. 2. 1980

Ich wusste: Ich mache, was ich machen kann. Ich fühlte mich stark. Als ich losfuhr, hatte ich den Sprung schon im Kopf bewältigt.

Der zweite Sprung war genauso gut wie der erste. Geist, Wille und Körper passten zusammen. Der Absprung war perfekt:

„In der Luft freute ich mich schon, als ich den roten Strich unter mir sah.

Ich bin dann sogar etwas früh zurückgegangen, doch sehr gut aufgesprungen. 90 Meter standen auf der Tafel, ich hatte das Gefühl, vor Freude zerspringen zu wollen, und gleichzeitig riesige Angst, dass sie verkürzen werden.“

Tagebucheintragung, 17. 2. 1980

Ich wagte keine Jubelgeste. Oben standen noch 40 Springer, und wenn der Wind irgendeinen unbekannten Amerikaner auf 93 Meter hinunterwehte, müsste die Jury den Durchgang annullieren und wiederholen lassen. Ich dachte: Wenn du jubelst, verschreist du’s!

Also zitterte ich, stand im Auslauf und fantasierte. Der Groyer putzt dich noch, der ist auch ein Kärntner wie der Schnabl. Oder der Deckert. Oder der Japaner. Nein. Ich war nicht mehr cool. Gar nicht cool. Ich hatte einen höheren Puls als in der zweiten Runde eines scharfen Zirkeltrainings, und dann kam erst die dritte Runde und die vierte, samt Bleiweste, und dann war es plötzlich ganz ruhig, auch wenn es schepperte und die Leute brüllten und mich umarmten und in der Luft herumschupften, aber ich war ganz still und dankbar und demütig, weil ich wusste: Du bist irgendwo angelangt. Ich hatte keine trotzige Jubelgeste in meinem Repertoire.

„Olympiasieger bin ich jetzt! Ich habe heute die Entschädigung für meinen Trainingseinsatz und vieles mehr bekommen.

Heute hat bei mir alles zusammengestimmt. Ich habe zudem auch noch etwas gehabt, was mir oft fehlte, nämlich Glück!“

Tagebucheintragung, 17. 2. 1980

Ich wollte an den vorderen Bühnenrand gehen, mich verbeugen und sagen: Danke. Ihr wart ein großartiges Publikum.

Als sich das Knäuel von Journalisten und Fotografen um mich aufgelöst hatte, stieg ich den Auslauf hinauf. Oben stand ganz verloren Baldur Preiml mit seinen roten Fäustlingen. Ich winkte ihm zu. Er blieb unbewegt stehen und schaute mich an. Ich wollte ihm in die Arme fallen, dann sah ich erst, dass er weinte. Es war das erste Mal, dass ich diesen großartigen Mann weinen sah.

2. Kapitel

30 Meter beim ersten Versuch

Der Weg zum Kinderstar. Schanzenrekord: 34 Meter – Schülermeister auf dem Pfänder – Schanzenspringen mit Alpinski – Erster Versuch mit Sprunglatten – Begegnung mit Baldur Preiml – Tourneequalifikation und erste Weltmeisterschaft

„Man muss nur berühmt sein, dann reißt sich jeder um einen.“

Donald Duck, „Der Weg zum Ruhm“

„Der Ruhm und die Ruhe sind Dinge, die nicht im selben Hause wohnen können.“

Montaigne, „Essais“

Ich kam aus Bregenz zurück nach Bezau. Unter meiner Jacke steckten zwei kleine Pokale. Meine Eltern wollten wissen, wie es beim Skispringen auf dem Pfänder gelaufen war.

„Lasst mich in Ruhe“, sagte ich. „Ich will nichts erzählen.“

Dann verschwand ich in meinem Zimmer. Meine Eltern mussten am nächsten Tag in der Zeitung nachlesen, dass ihr Bub Vorarlberger Skisprung-Meister in der Schüler- und der Jugendklasse geworden war.

Schon als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich ein Problem mit dem Erfolg. Zwar war ich ehrgeizig und gierig nach Anerkennung, aber ich konnte diese Anerkennung nicht genießen. In meinem Empfindungsprogramm war das Gefühl, bescheiden sein zu müssen, einprogrammiert. Ich wollte Bewunderung und Ruhe. Damals, 1971, wusste ich noch nicht, dass sich die beiden nicht vertragen.

Wir wohnten im hintersten Winkel Österreichs. Bezau im Bregenzerwald liegt auf halber Strecke zwischen Bodensee und Arlberg. Der Ort ist keine Metropole, aber gegen das Sonderdach, wo unser Haus stand, wirkte Bezau wie New York. Das Sonderdach ist ein Vorsäß auf 1240 Meter Höhe. Es besteht aus neun Almhütten, zwei Wirtshäusern und einer Seilbahnstation. Wir bewirtschafteten dort oben ein Gasthaus, das man nur zu Fuß oder mit der Gondel erreichen konnte. Tagsüber kehrten die Wanderer oder Skifahrer ein, abends saßen die Pensionsgäste in der Stube. Meine Eltern hatten sehr oft zu viel zu tun. Sie konnten sich nur selten um uns Kinder kümmern. Meine drei Schwestern mussten im Wirtshaus helfen. Mein Bruder und ich wurden an die frische Luft geschickt, um nicht im Weg zu stehen. So lernte ich Skifahren, Gewichtheben und wie man sich vom größeren Bruder die Hand nicht auf den Rücken drehen lässt.

Unten in Bezau stand eine kleine Sprungschanze. Der Schanzenrekord belief sich auf 34 Meter. Martin Flatz, Gustl Greussing und ein paar Schulkollegen probierten das Springen. Sie fuhren sogar auf einen Landescup-Wettkampf und kamen mit beachtlichen Erfolgen zurück. Du bist doch der viel bessere Skifahrer als die, dachte ich mir, wenn wir irgendwo gesprungen sind, warst du doch viel weiter.

Die Sache begann mich zu reizen. Ich wollte das Skispringen ausprobieren. Für mich war das Springen beim Skifahren sowieso das Größte. Bei einem Landescup-Slalom in Dalaas war ich mit meinem Gesinnungsgenossen Wernfried Feurstein absichtlich ausgeschieden, um den Zuschauern zu zeigen, wie akrobatisch wir über einen Luftbock springen konnten.

Als meine Kollegen das nächste Mal Skispringen trainierten, stand ich am Rand der Schanze und schaute zu. Das Rauschen in der Luft, das Flattern der Skihosen und das Klatschen beim Aufsprung bannten mich. Als die besten Springer bei 26 oder 27 Metern landeten, spürte ich plötzlich eine unbekannte Aufregung und Kraft in mir.

„Und ich hupf beim ersten Sprung 30 Meter weit!“

Das Gelächter war noch kaum verklungen, da war ich schon über dem Schanzentisch und setzte, zack, einen Sprung von exakt 30 Metern in die Landschaft. Das war relativ weit, zumal ich auf ganz normalen Riesenslalomski stand und noch nie über eine genormte Schanze gesprungen war.

Alle schauten blöd. Für mich waren diese 30 Meter eine Bestätigung, die mir selbst etwas unheimlich schien. Ich hatte sogar das Gefühl, dass es noch viel weiter ginge. Peter, der große Bruder meines Schulkollegen Gustl Greussing, riet mir, in der Luft die Arme ruhig zu halten. Ich hielt die Arme ruhig und übte das Gleiten in der Luft. Innerhalb weniger Tage verbesserte ich mich ständig, bis ich schließlich den Schanzenrekord von 34 Metern einstellte.

Am 18. Jänner 1971 standen also die Vorarlberger Schülermeisterschaften auf dem Pfänder bei Bregenz auf dem Programm. Ich war vom VVS-Trainer nicht für die Österreichischen Schülermeisterschaften im Slalom berücksichtigt worden und suchte zornig einen Ersatz. Jemand fragte mich, ob ich nicht am Springen teilnehmen wolle.

Das kam mir gerade recht.

„Klar“, sagte ich.

Neben der großen Schanze hatte man für uns Zwerge aus Apfelkisten und Schnee ein Miniformat von Sprunghügel aufgebaut. Meine Ski waren gut gewachst und wendiger als die sperrigen Sprungski meiner Gegner, und ich wurde, ohne jemals Skispringen gelernt zu haben, Vorarlberger Landesmeister in der Schülerklasse. Ich war bei jedem Sprung um gut sechs Meter weiter als der Zweitbeste und stellte mit 21 Metern meinen ersten offiziellen Schanzenrekord auf. Am Schluss belief sich mein Vorsprung auf fast 60 Punkte.

Zur Belohnung durfte ich eine Stunde später auch in der Jugendklasse starten, diesmal auf der großen Schanze. Der große Star der Jugendlichen hieß Alois Lipburger. Ich kannte seinen Namen. Lipburger stammte wie ich aus dem Bregenzerwald, aus Andelsbuch, zehn Kilometer von Bezau entfernt. Er galt als Riesentalent. „Wenn’s einer aus dem Wald zu was bringt, dann der Lipburger“, hieß es auf den Schulhöfen ehrfürchtig.

Aber mein Respekt hielt sich in Grenzen. Ich sprang, natürlich wieder auf Alpinski, 36 und 34 Meter weit und gewann auch meinen zweiten Wettkampf, diesmal vor dem sagenumwobenen Alois Lipburger. Dem taugte das gar nicht. Er war ein sieggewohnter, drahtiger Wuschelkopf, der einen zwei Jahre jüngeren Quereinsteiger nicht gern an sich vorbeiziehen ließ.

Ein paar Wochen später, bei den Österreichischen Meisterschaften in Velden am Wörthersee, bedurfte es eines Tricks, damit ich überhaupt an den Start gehen durfte.

„Nur mit Sprungski“, postulierte die Wettkampfleitung. Der Vorarlberger Sportwart Otto Mayer bluffte: „Der Innauer bringt mit Alpinski und Fersenautomatik doch eh nichts zusammen. Lasst ihn doch springen.“

„Einverstanden“, antwortete der Schülertrainer des ÖSV, Ferdl Wallner, augenzwinkernd, denn er hatte mich schon springen gesehen. „Aber ich wette mit dir, Otto, dass der Saukerl unter die ersten fünf kommt.“

„Niemals“, sagte Otto Mayer grinsend und schlug ein. Die fünf Liter Wein, die fällig waren, nachdem ich Zweiter geworden war, zahlte er gern.

Nach dem Wettkampf sprach mich ein Mann an, dessen Gesicht ich schon einmal gesehen hatte. Er hatte dunkle Augen und einen so starken Bartwuchs, dass er schon zu Mittag unrasiert aussah.

„Hast du Lust“, fragte er mich freundlich, „zu uns nach Stams zu kommen?“

Der Mann hieß Baldur Preiml und unterrichtete an der Internatsschule für Skisportler in Stams. Neuerdings war eine Gruppe von Skispringern aufgenommen worden. Er sagte: „Burschen wie dich können wir brauchen.“