Der Kuss des Usurpators - Isabel Poel - E-Book

Der Kuss des Usurpators E-Book

Isabel Poel

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Beschreibung

Rom, Frühjahr 68 - Kaiser Neros Thron wankt. Gegner streben nach der Herrschaft. Während sich die politische Lage gewaltsam aufheizt, soll die junge Julia Calpurnia, Witwe und Erbin eines mächtigen Handelshauses, nach Judäa reisen, um aus familiären Gründen einen ihr unbekannten Mann zu heiraten. In dieser hochbrisanten Situation gerät sie in Rom, Caesarea Maritima und Alexandria in Strudel aus Intrigen und Verrat, erlebt religiöse Gegensätze, politische Konflikte, Gewalt und Fanatismus, aber auch Magie und leidenschaftliche Liebe. Drei Kaiser ringen in zerstörerischen Bürgerkriegen um die Herrschaft im Römischen Reich. Schließlich geht es um nichts weniger als Julias eigenes Lebensglück - und den Fortbestand des Imperiums, als der Mann ihres Herzens, Legat Vespasian, als Usurpator selbst nach der Macht greift ... Der Roman "Der Kuss des Usurpators" beschreibt die historischen Ereignisse rund um das römische "Vierkaiserjahr" 69 n. Chr. Vor dem Hintergrund gewaltsamer Bürgerkriege nach dem Tod Kaiser Neros tobt um Julia Calpurnia und den historischen General Vespasian ein leidenschaftlicher Kampf um die Macht. Auf gesicherter Quellenbasis entfaltet sich die sinnenfrohe römisch-hellenistische Lebenswelt, geprägt von politischem Herrschaftswillen und militärischer Gewalt, Handelsgeist und Wirtschaftsinnovation sowie vielfältigen Kultur- und Glaubensformen. Die Erlebnisse der weiblichen Hauptfigur zeigen auch die gesellschaftlichen Perspektiven römischer Frauen in alltäglichen und außergewöhnlichen Lebenssituationen. An der Seite der vielschichtig angelegten Personen und im Wirbel sich rasant steigernder Ereignisse können sich Leserinnen und Leser (ab 16 Jahren) angenehm unterhalten fühlen; für sie werden lebendige, detailreiche und spannende "Geschichts-Geschichten" erzählt.

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Vor dem Hintergrund gewaltsamer Bürgerkriege nach dem Tod Kaiser Neros (68) tobt um Julia Calpurnia und den historischen General Vespasian ein leidenschaftlicher Kampf um die Macht. Auf gesicherter Quellenbasis entfaltet sich die sinnenfrohe römisch-hellenistische Lebenswelt, geprägt von politischem Herrschaftswillen und militärischer Gewalt, Handelsgeist und Wirtschaftsinnovation sowie vielfältigen Kultur- und Glaubensformen. Aus deren Widersprüchen gehen am Ende ein wieder gefestigtes Imperium und die Anfänge einer neuen Weltreligion hervor.

Isabel Poel, Italienenthusiastin und Romkennerin mit besonderer Leidenschaft für Kulturgeschichte, entführt ihre Leserinnen und Leser hautnah, fesselnd und detailreich in Zeiten schicksalhafter Umwälzungen. Die promovierte Historikerin lebt mit ihrer Familie in Berlin.

INHALT

I. Im Schutz der Laren

II. Schwanengesang eines Gott-Kaisers

III. Unter Neptuns Segeln

IV. Apollons Umarmung

V. Das Feuer des Vulkanus

VI. Die Weissagung der Cypria

VII. Jehovas Blick

VIII. In Plutos Reich

IX. Fortunas Spiel

X. Die Entfesselung des Mars

XI. Der Ring der Minerva

XII. Serapis’ Heil

XIII. Eine Nacht mit Aphrodite

XIV. Romas Trost

XV. Die Klugheit Merkurs

XVI. Jupiters Triumph

Anhang

1. Zeittafel

2. Personen

3. Begriffe

4. Zitierte Quellen

5. Karten

I. Im Schutz der Laren

Rom, im XIV. Jahr der Regierung Kaiser Neros (Frühjahr 68)

„Julia?“ Aurelia Calpurnia rauschte ins Atrium der Familienvilla auf dem Esquilin. Sie hatte es so eilig, dass sie sich fast in ihrer grünen Seidentunika verhedderte, wobei ihre kunstvoll arrangierte blonde Perücke bedenklich schwankte. Der perfekt abgestimmte Smaragdschmuck gab ein leises Klingeln von sich, als sie sich genervt auf eine der Ruhebänke gleiten ließ.

„Ist niemand hier?“, fauchte sie ungeduldig. „Wo ist Julia?“

„Deine Tochter wollte ausgehen, Domina“, antwortete Kreatos, der herbeigeeilte Haushofmeister, in beruhigendem Tonfall. Ihm war eine langjährige Erfahrung mit den unberechenbaren Launen seiner Herrin anzumerken.

„Und wohin, wenn ich fragen darf? Begleitet sie niemand?

Juba?“ Aurelia Calpurnia funkelte den athletischen Numider an, der gerade aus dem Garten ins Haus getreten war und den Kopf gesenkt hielt. „Sie ist dir entwischt, wieder einmal!“ Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. „Du weißt genau, dass sie das Haus nicht allein verlassen darf. Es schickt sich nicht und ist außerdem gefährlich.“ Erzürnt erhob sich Aurelia Calpurnia von ihrer Bank. „Eigentlich hast du Prügel verdient – faules Pack! Aber dein großzügiger Herr hat ja derlei Strafen untersagt.“

„Sie ist sicher bei ihrer Tante“, versuchte Juba beschwichtigend einzuwerfen.

„Wo sonst?!“ Aurelia Calpurnia zog eine Augenbraue hoch. „Gebt mir Bescheid, wenn sie eintrifft. Mit eurem Dominus rechne ich erst zum Abendessen. Es werden keine Gäste erwartet. Ein einfaches Mahl also. Ihr wisst, was ihr zu tun habt.“ Sie klatschte in die Hände, ein Zeichen, dass jeder zu seiner Arbeit zurückzukehren hatte.

Wer Ja sagt zu seinem Schicksal, den führt es. Versonnen ging Julia die Straße entlang. Was der Papyrusfetzen in ihrer Ledertasche wohl bedeutete? Sie hatte ihn zufällig vor dem Vesta-Tempel auf dem Forum gefunden. Julia liebte Orakel. Stets trug sie auch einen Zettel mit Schutzzauber bei sich. Er sollte Isis gnädig stimmen, die sie verehrte.

Gerade hatte sie das Argiletum verlassen. Die Straße hinter dem Augustus-Forum war bekannt für ihre Silberschmiede und Buchhändler. Leider blieb Julia keine Zeit zu stöbern. Zügig bog sie in den Vicus Suburbanus ein.

Die Hauptstraße der zwischen den Hügeln Esquilin und Viminal gelegenen Subura war am späten Nachmittag dieses sonnigen Märztages überfüllt. Menschen schoben sich aneinander vorbei. Kutscher versuchten fluchend ihre Maultiere durch die Menge voranzutreiben. Sänften waren kaum unterwegs. Diesen Teil der Stadt mieden die vornehmen Römer, besonders während der zweiten Tageshälfte, wenn der Pöbel seinen Geschäften nachging.

Die farbenfrohen mehrstöckigen Mietshäuser standen dichtgedrängt. Überall roch es nach abgestandenem Essen, Urin und Schweiß. Ein überdimensionierter Phallus prangte als Logo über einem Bordell, verbunden mit dem Spruch: Hier wohnt das Glück! Etwas weiter las man eingeritzt: Die Griechin Eutychis: II As; von nettem Wesen. Und Felix bläst für I As. Stark geschminkte Huren mit grellen Perücken drückten sich vor Kneipen herum, um frühe Gäste einzufangen.

Die erst kürzlich neu errichteten Häuser zierten bereits wieder zahlreiche Grafitti. Wählt Vettius Firmus in die Stadtverwaltung. Er hat es verdient. Dieser Spruch war rot durchgestrichen und mit Nero stirb! und Weh euch, Nero und Poppea! übermalt.

Dem Bettler zu ihren Füßen warf Julia ein paar Kupfermünzen in die Schale. Seine trüben Augen zeigten jedoch keinerlei Regung über den unverhofften Geldsegen. Kinder spielten Fangen. Händler boten Waren feil. Hier gab es alles, von Gemüse über Schweinehälften bis zu Kleidung und Drogen. Aus Garküchen wehten herzhafte Fleischgerüche herüber. Betrunkene torkelten über die Straße. Aus den Schänken hörte man, trotz der frühen Stunde, bereits lautes Grölen.

An ihnen vorbei zog in feierlicher Prozession eine mit Blumen geschmückte Gruppe Matronen. Sie wollten zur nächsten Straßenecke, um die Schutzgeister im dort aufgestellten Lararium zu ehren. Die Lares Loci bewachten die Bewohner von Straßen oder Plätzen. Wegkreuzungen waren gefährlich und brauchten himmlischen Schutz, denn sie konnten das Schicksal ändern.

Julia machte sich Gedanken über ihr Schicksal, das vielen Römern als unerforschlich höhere Macht galt. Dieses Fatum ordnete die Ereignisse, die den Menschen widerfuhren, bestimmte die Weltgeschichte. Omen, Orakel und Sprüche deuteten die Zukunft.

Unerwartet heftig rempelte sie ein älterer Mann an. Er roch nach Wein und drohte zu stürzen. Dabei krallte er sich an Julia fest, riss die Kapuze ihres Umhangs herunter und übergab sich beinahe über ihre Schuhe. Fassungslos blickte sie nach unten. Der Betrunkene war bereits weitergetorkelt, als Julia neben sich einen riesenhaften Schatten wahrnahm. Sie zuckte zusammen. Ein grobschlächtig wirkender Mann mit Narbe im Gesicht versuchte sich an ihr vorbei schieben. Er spuckte aus, um dann unerwartet in einer Gasse zu verschwinden.

Julia verlor das Gleichgewicht und fiel nach vorn auf die Straße. Sie hörte laute Schreie, einen ohrenbetäubenden Knall und krachend Tonscherben springen. Der Geruch von Essig verbreitete sich unter ihr auf dem Pflaster. Über sich registrierte sie die Nüstern von Maultieren. Zwei Arme halfen ihr unerwartet beim Aufstehen.

„Danke!“ Julia blickte in das Gesicht ihrer neuen Sklavin Tia. Ihre aufgeschürften Handflächen begannen zu brennen.

Der Essighändler war vom Kutschbock gesprungen und hielt Julia am Arm fest. „Bei allen Furien, wer bezahlt mir jetzt den Schaden?“, fluchte er.

„Lasst die Domina los, sofort!“, rief Tia.

Benommen griff Julia nach ihrem Dolch, den sie sicherheitshalber bei sich trug.

„Straße frei machen!“, scholl es von hinten. Hörner dröhnten, Waffen klirrten, Stiefel stampften. Julia wurde unsanft zur Seite geschubst. Der Händler sprang auf seinen Kutschbock und lenkte den Karren in eine Seitenstraße.

Etwa 50 Prätorianer zogen im Gleichschritt vorbei. In Viererreihen marschierend, zertraten die Soldaten der kaiserlichen Garde alles, was auf der Straße lag. Von den Essigamphoren blieben nur kleine Scherben auf dem Pflaster zurück. Die muskulösen Männerkörper mit ihren blankgeputzten Brustpanzern und Schilden, auf denen ein Skorpion abgebildet war, boten einen eindrucksvollen Anblick. Pfiffe, zotige Bemerkungen und vereinzelter Jubel brandeten auf, als die Prätorianer eine Steigung zum Collis Viminalis passierten und Richtung Gardekaserne verschwanden.

Tia zog Julia am Arm. „Herrin, wir sollten hier verschwinden. Wo geht es zur Villa deiner Familie?“ Julia zog ihre Kapuze über den Kopf, der wirksamste Schutz in diesem Teil der Stadt. Dann setzten sie ihren Weg zu den vornehmeren Wohngebieten auf dem Esquilin fort. Julias Hand glitt in ihre Umhängetasche, um nach dem Papyrus zu fühlen. Ihre Geldbörse war weg – der Narbige.

„Du sagst nichts, absolut nichts!“

Raschen Schrittes eilte Julia durch den Garten und nutzte den Seiteneingang zur Küche, um in ihrer verschmutzten Tunika möglichst nicht gesehen zu werden.

„Wo hast du dich wieder rumgetrieben, meine Kleine? Wie du aussiehst!“ Ihre Gesellschafterin Rhea kam ihr entgegen. Befremdet betrachtete sie Julias aufgeschlagene Handflächen. „Lass das nicht deine Mutter sehen. Ein streunender Köter ist nichts gegen dich.“ Julia wehrte ihre Umarmung ab. „Und wer ist das, bitte schön?“ Rhea hielt Julia einen Becher Zitronenwasser hin und zeigte auf die eher unscheinbare Frau mittleren Alters mit dunklen Haaren, die Julia ins Haus gefolgt war.

„Das ist Tia. Sie wird mir ab heute zur Hand gehen.“

„Bei was?“ Rhea streifte die Frau mit einem scharfen Blick. Diese senkte die Augen, wie es sich geziemte. „Vielleicht können wir sie irgendwo einsetzen. Komm mit! Griechin?“

Die Angesprochene nickte, verneigte sich und folgte Rhea. „Deine Mutter sucht dich.“

Julia stöhnte. „Es reicht, wenn ich ihr beim Abendessen begegne. Haben wir Gäste?“

„Soweit ich weiß, nicht.“

Julia blickte Rhea erstaunt an. Es kam selten vor, dass einflussreiche römische Familien den Abend allein verbrachten. In der Regel erwartete man Verwandte, Freunde oder Klienten. Bei einem mehrgängigen Mahl wurden geschäftliche, politische oder familiäre Themen besprochen, manchmal auch philosophiert. Gelegentlich hielt man Dichterlesungen, Gesangs- oder Tanzdarbietungen ab, je nach Anlass, Jahreszeit oder Feiertag. So präsentierte man den familiären Status. Für ihren Vater waren es in der Regel Geschäftsessen und ihre Mutter sonnte sich im Glanz ihres Schmucks und ihrer Garderobe. Mit anderen Matronen sprach sie über Tagesklatsch, angesagte Händler oder die neueste Mode im Palast. Julia interessierte sich nicht übermäßig für diese Treffen. Oft saß sie etwas abseits mit ihrem Hauslehrer, einem freigelassenen Griechen. Sie sprachen über Philosophie oder Religion. Diese Themen lagen Julia mehr als die oberflächlichen Plaudereien der meisten weiblichen Gäste.

Nach ihrem Bad trat Julia in einer schlichten Wolltunika auf einen Balkon und genoss die bereits wärmende Frühlingssonne. Ihr ovales Gesicht, die ebenmäßigen Züge, ausdrucksstarken Augenbrauen und blauen Augen passten genauso wenig zum klassischen Bild einer römischen Patrizierin wie die zierliche Nase und vollen Lippen. Aurelia Calpurnia wurde nicht müde, ihre Tochter auf ihre Makel hinzuweisen. Nur mit mehr Aufmachung könne sie ihren Marktwert bei Männern erhöhen, war Aurelia überzeugt. Julia versuchte die permanenten Zurechtweisungen ihrer Mutter an sich abprallen zu lassen, was ihr nur schlecht gelang.

Wehmütig blickte sie auf die Stadt, die unter ihr lag. Der Dunst der Feuerstellen und Garküchen, der sonst über den Stadtvierteln schwebte, hatte sich durch einen lauen Frühlingswind verzogen. Rom, das Herz des Imperiums, schlug in einem so vielfältigen Rhythmus.

Eine Million Menschen lebte hier zwischen Prunk und Schmutz. Auf dem gegenüberliegenden Hügel erstreckte sich der Palatin. Dort lagen der kaiserliche Palast sowie einige Villen der vornehmsten römischen Familien. Früher hatte auch sie mit ihren Eltern dort gelebt.

Im Südosten erhoben sich riesige Kräne vor dem Licht der untergehenden Sonne. Seit dem großen Brand, im Juli vor vier Jahren, war ein Teil der Stadt noch immer ein rauchgeschwärztes Ruinenfeld. Lediglich vier der vierzehn Bezirke blieben damals vom Feuer verschont. Alles andere wurde ein Raub der Flammen, eine große Tragödie für alle Römer.

Rom hatte schon oft gebrannt, aber noch nie so zerstörerisch. Neun Tage wütete das Feuer. Die Hitze des Sommers und der starke Wind hatten die Flammen immer wieder neu entfacht und sogar die große Brandmauer zwischen Forum und Subura überwunden. Die Löschversuche der städtischen Feuerwehren kamen rasch an ihre Grenzen. Erst nach sechs langen Tagen gelang es, am äußersten Rande des Esquilin eine Brandschneise zu schlagen. Tausende starben oder wurden obdachlos. Viele hatten Schutz auf dem Marsfeld im Norden der Stadt gesucht. Notfallmaßnahmen von Kaiser und Senat verhinderten schlimmeres Elend.

Vergeblich versuchte Julia einen Blick auf das Forum zu erhaschen, das in einer Senke lag. Die Ansicht wurde durch eine Wasserleitung gestört, die Rom mit ihren Aquädukten durchzog. Diese Wahrzeichen römischer Ingenieurskunst bescherten der Stadt die Schönheit öffentlicher Brunnen, sowie die Bequemlichkeit von Latrinen und Thermen. In ihrem Schatten wurde es jedoch nie richtig hell.

Julia ließ ihren Blick weiter gleiten. Linker Hand zeichneten sich schemenhaft die Umrisse der Domus Aurea ab, jener neuen Residenz, die Kaiser Nero in Rekordtempo errichten ließ.

„Komm herein, Julia. Du weißt, deine Mutter möchte keine Sommersprossen an dir sehen.“ Rhea war hinter sie getreten.

Widerspruchslos ließ sich Julia in ihr Zimmer führen und für das bevorstehende Abendessen umkleiden.

Auf dem Bett lag eine malvenfarbene, weichfließende Tunika aus leichtem Wollstoff. Die langen Ärmel waren der kühleren Jahreszeit angemessen. Dazu passten die schlichten Perlenohrringe, eine perlenbesetzte Silberfibel sowie eine violette Stola. Julia liebte es schlichter als ihre Mutter.

Rhea kämmte Julia das Haar und versuchte ihre kurzen roten Locken hochzustecken. „Es hat einfach keinen Sinn“, schimpfte sie vor sich hin. „Warum musstest du dir die Haare rasieren, nur um auszuprobieren wie es sich in einem Isis-Tempel lebt? Ja, ich weiß, dieser Kult ist im Augenblick sehr angesagt. Aber man kann ihn auch praktizieren, ohne gleich alle Extreme mitzumachen.“

Julia schwieg. Sie konnte nichts dagegen einwenden. Aber ihre Haare fühlten sich so wunderbar leicht an, obwohl sie natürlich sehr auffiel.

„Darf ich es versuchen?“ Unbemerkt war Tia hinzugetreten.

Auf Julias fragenden Blick hin schürzte Rhea die Lippen.

„Ich dachte, Tia könnte mir etwas zur Hand gehen, da sie ja bisher keine eigenen Aufgaben hat.“

Julia schmunzelte. Offenbar hatte Rhea Tia bereits zu ihrer Assistentin ernannt. Sie trug eine neue, saubere Tunika und ihr dunkles Haar wirkte frisch frisiert. Julia war das recht, da sie nicht wusste, was sie mit ihrer neuen Sklavin anfangen sollte.

Tia nahm einen dünnen weißen Seidenschal und drapierte ihn um Julias Kopf. Anschließend zog sie einige Locken heraus. Rhea schaute verblüfft und Julia betrachtete sich im polierten Bronzespiegel.

„Du siehst aus wie eine der griechischen Göttinnen auf den Vasen deiner Mutter. Gut gemacht!“ Tia erntete einen anerkennenden Blick.

„Ich war Ornatrix bei meinen letzten Herrinnen“, antwortete sie bescheiden. Julia blickte sie neugierig an. „Ich habe den Kaiserinnen die Haare frisiert.“ Tia schlug die Augen nieder. „Bei der erhabenen Poppea Sabina und bei Statilia Messalina. Poppea war eine Schönheit mit rotem Haar und hellem Teint, so wie du, Domina.“

„Bei den Kaiserinnen? Im Palast?“, staunte Julia.

„Hier im Hause bekommt man ja manch edlen Vogel zu Gesicht, aber das …“ Als Tia schwieg, plapperte Rhea weiter. „Bei Poppea Sabina, dieser Schl…“, sie schnalzte mit der Zunge, „die Nero das nötige Selbstbewusstsein einhauchte, um seine boshafte Mutter zu töten?“

„Rhea!“, tadelte sie Julia. „Dein loses Mundwerk ist manchmal nicht auszuhalten.“ Tia bewegte sich nicht. Ausdruckslos starrte sie vor sich hin.

Daher leitete Rhea das Gespräch weiter. „Perfekt! Dann kannst du ja demnächst mehr Hübsches aus unserem Vögelchen zaubern. Julia, pass aber auf, dass deine Mutter nichts von Tias Künsten erfährt, sonst bist du sie los.“

Aurelia Calpurnia war für ihre Extravaganz bezüglich Frisuren berüchtigt, ebenso wie für ihre Wutausbrüche. Ihre jetzige Ornatrix wusste ein Lied davon zu singen. Auch Rhea hatte ihre Perückenleidenschaft bereits zu spüren bekommen. Als junger Sklavin ließ Aurelia Calpurnia ihr die blonden langen Haare abschneiden, um daraus Haarteile anfertigen zu lassen.

„Rote und blonde Haare sind derzeit sehr angesagt. Der Kaiser nimmt nur hellhaarige stattliche Recken in seine germanische Leibwache auf. Und die Damen bei Hofe sind verrückt nach ihnen. Sie sollen sehr potent sein“, berichtete Tia.

„Sag das mal meiner Mutter. Sie meint, ich sei hässlich.“ Julia rang mit ihren Gefühlen.

„Du wirst doch nicht auf die Launen deiner Mutter hereinfallen“, ereiferte sich Rhea. „In Wahrheit ist sie neidisch. Du kommst nach deiner Großmutter väterlicherseits. Livia Calpurnia war eine Schönheit. Ich habe sie noch gekannt. Selbst in hohem Alter konnte sie sich vor Verehrern kaum retten.“

„Menschen mit vollen Lippen sind verständnisvoll, sinnlich und impulsiv, haben die kaiserlichen Magier verkündet“, wagte Tia einzuwerfen.

Offenbar vertrauten Nero und seine Frau Sterndeutern und Wahrsagern, wie ihre Mutter und viele der römischen Oberschicht, schmunzelte Julia versöhnt.

„Siehst du!“ Lachend klatschte Rhea in die Hände. „Abendessen! Ich habe den Gong gehört.“

Im Atrium trafen sie auf Julias Eltern, Aurelia und Julius Calpurnius. Im Hintergrund hielt sich Hauslehrer Philippos auf.

Das Atrium war ein in Grün und Rot gehaltener länglich offener Raum, von dem sich die aufgestellten Marmorstatuen zwischen den schlanken dorischen Marmorsäulen des Umgangs harmonisch abhoben. Das säulengestützte Ziegeldach fiel zu einer Öffnung hin ab. Regenwasser sammelte sich in einem Wasserbecken, um das üppige Pflanzen in glasierten Tontöpfen gruppiert waren.

An der rechten Wand des Atriums befand sich in einer Nische der Hausaltar. Er enthielt Laren, kleine Statuen aus Bronze. Diese Schutzgeister bewahrten Haus und Familie.

Davor stand ein verzierter Holztisch mit frischen Blumen und Früchten als Opfergaben. Julia zündete in einem Gefäß Weihrauch an. Ihr Vater sprach als Hausherr die Gebete. Die den Altar umgebenden Totenmasken der Familie schimmerten bleich im flackernden Licht der Alabasterlampen. Milde lächelte ihre Großmutter Livia auf ihre Familie herab und Julia fühlte ihren Schutz.

Nach der Zeremonie wandte sich die Gruppe Richtung Triclinium. Der in Grüntönen gestrichene Speisesaal war stilvoll möbliert, mit farblich abgestimmten Liegesofas und Tischen in der Mitte. Alabasterlampen warfen auch hier angenehmes Licht. Es duftete verlockend nach gebratenem Huhn und warmem Apfelkuchen.

Aurelia trug ein Kleid aus einem neuen kostbaren koischen Stoff. Die Seide wirkte leicht, weich und war so gut wie durchsichtig. Auch zum einfachen familiären Abendessen drapierte die Hausherrin ihre Haare kunstvoll und zeigte ihren üppigen Goldschmuck. Mit ihrer Frisur überragte sie sogar ihren Gatten. Julius Calpurnius hingegen machte mit seiner einfachen Haustunika wenig Aufhebens. Sein offenes, rundliches Gesicht, die gebogene Nase und lachenden braunen Augen strahlten Ruhe und Freundlichkeit aus. Er war nach römischer Sitte glattrasiert und sein grauer Haarkranz kurz geschnitten.

„Was sagt ihr zu meinem Kleid? Die neueste Mode!“ Aurelia blickte ganz begeistert an sich herunter. Julius nickte anerkennend. Gern verzieh er seiner Frau ihre Extravaganzen, zumal sie es bestens verstand Reichtum und Stellung der Familie zu repräsentieren.

„Wer ist die Frau hinter dir?“ Aurelia Calpurnia mochte keinerlei Überraschungen in ihrem Haushalt.

Julia stellte den Eltern ihre neue Sklavin vor, die sie aus dem Tempel der Vesta mitgebracht hatte. „Tia wurde dort abgegeben. Tante Honoria hat sie mir überlassen“, versuchte Julia zu beschwichtigen.

Ihre Mutter stöhnte vernehmlich. „Noch ein letztes Mal, Julia. Du wirst nicht mehr allein aus dem Haus gehen.“ Es entstand eine unangenehme Pause.

„Demnächst wird unser Haus noch vollgestopft sein mit streunenden Hunden“, seufzte Calpurnius. „Nun gut, wenn du sie behalten willst.“ Er konnte seinem einzigen Kind wenig abschlagen. „Offenbar besitzt sie reiche Gönner, sonst wäre sie wohl kaum im Tempel gelandet. Kreatos wird sie schon irgendwo einsetzen. Rhea, sorge dafür.“ Die Angesprochene verneigte sich.

„Und ziehe bei Honoria Erkundigungen ein. Ich dulde keine Probleme in meinem Haus.“ Aurelia Calpurnia Stimme klang eisig.

„Vielleicht wird sie in den kommenden Wochen ganz nützlich sein. Julia braucht sowieso eigenes Personal. Lasst uns essen“, versuchte Julius Calpurnius zu vermitteln.

Damit war Tia entlassen. Rhea nahm sie beim Arm und führte sie Richtung Küche.

Das Essen verlief zunächst ohne weitere Gespräche. Erst als der Apfelkuchen gereicht wurde und ihre Mutter, entgegen ihrer sonstigen Vorliebe, kein Stück davon nahm, wusste Julia, dass jetzt eine Grundsatzdebatte anstand und wappnete sich innerlich.

„Wegen der Sklavin…“, versuchte sie die Initiative zu ergreifen.

„Das kommt davon, wenn du ständig zu meiner bigotten Schwester rennst. Aber, weil heute ein besonderer Tag ist, kannst du die Sklavin vorerst behalten.“ Aurelia Calpurnia machte eine bedeutungsschwangere Pause. „Julia, stell dir vor, dein Vater hat wunderbare Neuigkeiten.“ Sie platzte fast vor Mitteilungsbedürfnis. „Der Kaiser hat Grundstücke am Mons Caelius zur Bebauung freigegeben.“

Dieses Stadtviertel war beim großen Brand gänzlich ein Raub der Flammen geworden. Nero hatte die Besitzer größtenteils enteignen lassen, um seine Domus Aurea zu bauen. Nun stand der goldene Palast in Verlängerung des Palatins am Fuße des Caelius. Da der Kaiser dringend Geld brauchte, hatte er die übrigen Grundstücke meistbietend versteigern lassen.

„Dein Vater bekam den Zuschlag für ein Grundstück ganz in der Nähe des Forums.“ Aurelia Calpurnia klatschte in die Hände. „Seitdem Nero an der Macht ist, wohnen ja keine Patrizierfamilien mehr auf dem Palatin.“ Sie seufzte hörbar.

„Aber immerhin haben wir mit dem neuen Grundstück die zweitbeste Lage erwischt.“

„Hat mich eine Stange Geld gekostet.“ Julius Calpurnius biss genüsslich in ein Stück Apfelkuchen.

„Wir können luxuriös bauen, nach der neuesten Mode.“ Im Geiste war seine Frau bereits bei der Einrichtung.

„Wir wollen dankbar sein, dass wir diese Villa haben.“ Calpurnius hatte sie von einem entfernten Verwandten geerbt und war nach dem Brand froh, seiner Familie in Rom ein Heim bieten zu können. „Aber hier auf dem Esqulin sind wir durch Neros Palast wie abgeschnitten. Ich möchte euch nicht länger zumuten, durch die Subura zu müssen, wenn ihr das Haus verlassen wollt. Und auch mein Weg nach Ostia wird um Einiges kürzer sein.“

„Gibt es irgendwelche politischen Neuigkeiten?“, versuchte Julia das Thema zu wechseln.

Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Derzeit nicht, aber irgendetwas tut sich. Seit der Imperator von seiner Kunsttournee aus Griechenland zurück ist, brodelt es im Senat.“

„In der Subura gab es fiese Schmierereien an den Hauswänden“, warf Julia ein, hielt aber sofort inne, da ihre Eltern ihre Ausflüge missbilligten.

„Nicht dass es wieder Probleme gibt wie vor drei Jahren.“

Aurelias Stimme glich einem Flüstern. Julia wunderte sich, dass ihre Mutter sie nicht erneut zurechtwies.

„Vielleicht sollten wir uns noch etwa in den Garten setzen.“

Calpurnius’ Worte waren für Erzieher Philippos das Zeichen sich zu entfernen.

Trotz der abendlichen Kühle zog sich die Familie in den Garten zurück. Größere Anlagen waren innerhalb der Stadt kaum zu finden. Jeder begrünte Raum außerhalb der öffentlichen Gärten galt als Statussymbol. Nach dem Brand begannen sich die meisten Grünanlagen erst langsam wieder zu erholen. Zwischen frisch gepflanzten Buchsbaumhecken, Oleander- und Lorbeerbüschen nahmen sie auf zwei Marmorbänken Platz, die mit Kissen ausgelegt waren. Es wurde ein kleiner Tisch gebracht mit einer Obstschale darauf. Die Weinkelche hatten sie mitgenommen.

„Also, was gibt es Neues?“, fragte Julia gespannt und nahm ein paar Trauben.

„Du wirst wieder heiraten“, verkündete Aurelia Calpurnia.

Julia starrte sie entgeistert an. „Das wollt ihr mir doch nicht ernsthaft erneut antun?!“

„Mein Kind, du weißt, dass du als Witwe binnen zwei Jahren wieder heiraten musst. Das verlangt das Gesetz des Augustus. Diese Zeit ist bereits seit längerem überschritten und hat mich genug Bußgelder gekostet“, versuchte Calpurnius eine Diskussion zu unterbinden.

Julia verschränkte wütend die Arme.

„Ja, deine letzte Ehe endete zugegebener Maßen sehr bedauerlich.“ Ihr Vater nahm ihre Hand.

„Ihr habt ja keine Ahnung wie man sich vorkommt mit einem alten Mann“, gab Julia echauffiert von sich.

„Er war 30!“ Aurelia zog die Augenbrauen hoch. „Viele Frauen haben so ihr Glück gemacht. Rom wird nun einmal von einigen einflussreichen Familien regiert. Ihre Mitglieder besetzen die bedeutenden Ämter im Senat. Wir gehören dazu und wir heiraten untereinander, um unsere Bande zu festigen und uns von den Aufsteigern aus dem Ritterstand abzugrenzen.“

Julias Mutter betonte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass sie eine Aurelia war und sich einer Verwandtschaft mit Gaius Julius Caesar rühmen konnte.

„Ich schätze die Ritter. Sie verfügen über die Energie, die wir verloren haben“, sinnierte Julius Calpurnius.

„Vater! Du versuchst abzulenken.“ Julias Wut steigerte sich.

„Ihr habt mich damals nicht einmal gefragt, wie es mir ging!“

„Aber Marcus war der Erstgeborene des Gaius Calpurnius Piso, des elegantesten Mannes von Rom, ein Verwandter und wieder frei; die ideale Partie“, begeisterte sich Aurelia.

„Vielleicht für dich, Mutter?!“

Aurelia Calpurnia konnte Julias Widerstand nicht verstehen.

„Calpurnius verfügte über ein beachtliches Vermögen und war mit der gesamten römischen Aristokratie verwandt. Die Menge liebte ihn als Politiker und Kunstmäzen, genauso wie seinen Vater. Du hättest es schlechter treffen können.“

„Wir haben das doch bereits so oft besprochen, Julia. Ehen werden nicht aus Neigung geschlossen. Wo wäre Rom, wenn wir diese Angelegenheit den Trieben überließen.“ Julius Calpurnius streichelte die Hand seiner Tochter. „Es war für uns ein Segen, als Piso nach dem Tod seiner Frau wieder heiraten wollte und dich wählte. Wer konnte ahnen, dass er und sein Vater die Hochzeit als Auftakt zu einem Umsturz nutzen würden.“

Julia wollte sich nicht erinnern.

„Mit 15 interessiert man sich nicht für Politik.“ Der Händedruck ihres Vaters verstärkte sich, während er fortfuhr.

„Nach dem Brand wollte der Kaiser Rom wiederaufbauen, in der üppigen Weise, wie du es jetzt siehst. Zudem musste die Plebs bei Laune gehalten werden. Hundertausende vegetierten ohne Wohnung auf dem Marsfeld. Aber die Staatskassen waren leer. Also holte sich Nero das Geld überall, wo es welches gab.“

„Dieser Tigellinus, Neros rechte Hand, ging nicht zimperlich vor.“ Aurelia Calpurnia war immer noch schockiert über die Brutalität des Prätorianerpräfekten.

„Du hast recht, meine Liebe.“ Julius nahm auch ihre Hand.

„Nero dezimierte Roms Elite. Er zwang viele zum Selbstmord und bereicherte sich an ihren Vermögen. Niemand war sicher.“ Traurig schüttelte er den Kopf. „Der Senat musste machtlos zusehen und Piso als Konsul hat schließlich gehandelt und sich zu einem Staatsstreich entschlossen.“

Es fiel Calpurnius nicht leicht zu sprechen. „Piso war bereits als Nachfolger für Nero im Gespräch, falls dieser keinen Erben haben würde. Immerhin war einer seiner Vorfahren der Schwiegervater Caesars. Dann wurde Kaiserin Poppea schwanger und die Zeit drängte.“

Verunsichert blickte Julia ihre Eltern an.

„Viele waren an der Verschwörung beteiligt.“ Calpurnius musste schlucken. „Sie wurden verraten. Piso und dein Mann konnten sich nur noch selbst töten, um einer Hinrichtung zu entgehen. Sie teilten ihr Schicksal mit zahlreichen anderen.“

Julia war entsetzt. „Und ihr habt mir nichts gesagt? Bei allen Göttern!“

„Wir mussten dich schützen, Liebes.“ Aurelia Calpurnia zeigte sich bewegt. „Es lief alles so chaotisch ab damals. Wir haben erst nach und nach von den Ereignissen erfahren. Es war schon schwer genug, dass du deinen Mann nach drei Wochen Ehe bereits wieder verloren hattest. Wir wollten dich nicht zusätzlich belasten.“

„Ihr habt mich behandelt wie ein Kind, mir einfach mitzuteilen, mein Mann sei tot und fertig.“ Julia entzog ihrem Vater ihre Hand.

„Du warst ein Kind!“, entgegnete Aurelia Calpurnia scharf.

„Aber alt genug zum Heiraten?!“

Ihre Mutter blickte sie erstaunt an. „Das ist eine Statusfrage.“

Julia konnte es einfach nicht fassen. In den letzten drei Jahren hatte es niemand für nötig befunden sie einzuweihen. Es schien, als hätte es diesen Vorfall nie gegeben. Menschen starben und verschwanden aus dem öffentlichen Leben, einfach so.

„Das ist Rom.“ – Julius Calpurnius schüttelte den Kopf, als wenn dies alles erklärte.

Korruption und organisiertes Verbrechen bis in den Senat hatten die römische Republik zugrunde gerichtet. Offenbar ging es unter Nero nicht weniger grausam zu.

„Als trauernde Witwe durftest du sowieso keine öffentlichen Einladungen wahrnehmen.“

Der Pragmatismus ihrer Mutter machte Julia wütend. „Was habt ihr eigentlich geglaubt, was passiert, wenn ich es erfahre?“

„Das Gespräch ist beendet.“ Aurelia Calpurnia erhob sich und rauschte ins Haus.

Wortlos verließ auch Julia den Garten. Sie würde das Thema Heirat sicher nicht von sich aus ansprechen.

Rhea bereitete Julia auf die Nacht vor. Sie reichte ihr eine hellgrüne Wolltunika, die bis zu den Knöcheln reichte. Das Bett hatte sie vorwärmen lassen, denn die Nacht war noch kühl. „Du musst müde sein. Gestern Nacht hast du schließlich das Frühlingsritual der Isis gefeiert.“

Julia liebte die Isismysterien, besonders das Fest von der Ausfahrt der Isis. Am 5. März wurde so der Beginn der Schifffahrtssaison begangen. In feierlicher Lichterprozession trug man das Standbild der Göttin, Mutter allen Lebens, vom Isis-Heiligtum auf dem Marsfeld zum Tiber. Dort wurde ein extra für diesen Anlass gebautes Segelboot mit heiligem Nilwasser gereinigt und mit Opfergaben beladen. Unter Gebeten und Jubel trat es seine Reise zum Meer an. So wurde der Göttin der Schutz für alle Schiffe anvertraut. Dann sprach der Oberpriester den Segen für Kaiser, Senat und Volk von Rom und das Bildnis der Göttin kehrte mit der Prozession in ihren Tempel zurück.

„Ich gehe gern zum Isis-Tempel. Unsere Götter hingegen bedeuten mir nicht so viel.“ Julia seufzte. „Die Matronalien am 1. März, zu Ehren von Juno, die ich mit Mutter besucht habe, waren wieder ganz schrecklich. Diese Opferungen! Mir wird immer schlecht.“ Julia schüttelte sich, während Rhea sie zudeckte.

„Isis mag ich, sie ist eine Gottheit mit großer Kraft und die Zeremonien sind etwas Besonderes. Aber ich bin doch froh, dass mein Vögelchen keine Isis-Priesterin geworden ist.“

Rhea umarmte Julia. „Wie war das Essen mit deinen Eltern?“

„Habt ihr es auch gewusst?“ Julia blickte Rhea fragend an.

„Was denn?“

„Die Verschwörung gegen den Kaiser vor drei Jahren, der Selbstmord meines Mannes Marcus.“

Rhea schwieg.

„Du hast es gewusst! Ihr habt es alle gewusst!“ Julia fühlte sich erneut hintergangen.

„Nun ja, in den Sklavenquartieren wird natürlich geredet.

Die Familie hatte entschieden es dir nicht zu sagen. Sie wollten dich schützen. Du warst noch so unerfahren. Niemand wusste Genaues über die Umsturzpläne oder wer daran beteiligt war.“

„Kann man so etwas geheim halten?“ Julia konnte es einfach nicht glauben.

„Ich weiß nicht. Solche Kommentare stehen mir nicht zu.

Aber ich denke, der Imperator selbst hat kein Interesse an einer öffentlichen Debatte. Er scheint immer unberechenbarer zu werden. Und das bedeutet neue Gefahr für alle bedeutenden Familien.“

„Also meinst du auch, ich sollte wieder heiraten?“

„Ja! Und bevor du mich fragst, deine Mutter hat mit mir gesprochen.“

„Für den Fall, dass ich durchdrehe? Na danke!“ Julia schnaubte. Sie konnte nicht verstehen, was plötzlich los war.

Die letzten Jahre waren für sie eine schöne Zeit gewesen. Sie perfektionierte ihre Studien. Philippos nährte ihren Wissensdurst. Auf den Gebieten Philosophie, Staatskunst und Rhetorik hatte sie die meisten griechischen und römischen Autoren gelesen. Auch die klassischen Werke der Dichtkunst waren ihr vertraut. Sie sprach fließend Griechisch sowie einen germanischen Dialekt, den sie nutzte, um Geheimnisse mit Rhea auszutauschen.

Julia fühlte sich als Jüngerin der Intellektuellen Leontion, die vor 400 Jahren in Athen große Achtung genoss. Durch Schönheit, Geist und hohe Bildung ausgezeichnet, wurde sie die Geliebte des griechischen Philosophen Epikur. Ihre Mutter mochte diese Wünsche nach Selbstverwirklichung jedoch gar nicht.

„Es ist nun einmal eine gesetzliche Tatsache, dass eine junge Frau der römischen Oberschicht verheiratet sein sollte. Aber das muss ich dir eigentlich nicht sagen“, stellte Rhea fest.

„Mir gefiel es als Witwe. Man hat mehr Freiheiten.“

„Um was zu tun? In den Tempel zu gehen?“, lachte Rhea etwas spöttisch.

„Rhea, ich bin entsetzt“, gab Julia halb erbost zurück „Ich dachte, wenigstens du verstehst mich.“

„Ich habe nicht so viel übrig für Priester und Enthaltsamkeit“, gestand Rhea.

„Das sagst du, weil du mit Kreatos zusammen bist.“

„Es ist nicht das Schlechteste, meine Kleine. In deinem Alter sollte man jede Nacht einen Mann zwischen den Schenkeln spüren, sonst wird man krank.“ Rhea begann die Lampen zu löschen.

Julia funkelte sie an. „Eigentlich bin ich auch nicht mehr als eine Sklavin, über die verfügt wird.“

„Du bist sehr ungerecht! Dein Vater liebt dich. Er ist mehr als großzügig und ein guter Herr, der das Beste für uns alle arrangiert. Für mich war es immer eine Ehre zu dieser Familie zu gehören.“

„Weißt du, wer es ist?“ Rhea blickte Julia verständnislos an.

„Der Mann, den ich heiraten soll.“

„Sie haben es dir nicht gesagt?“ Rhea wirkte erstaunt. „Nein, ich weiß nichts. Und ich bin genauso gespannt wie du.“

„Ich nicht“, schmollte Julia.

Als Julia das Arbeitszimmer betrat, ordnete ihr Vater seine Unterlagen. Sie hatte in der letzten Nacht lange wachgelegen.

Immer wieder gingen ihr die gleichen Fragen durch den Kopf. Wie konnte sie in der Hauptstadt des römischen Imperiums leben und absolut nicht wissen, welch grausame Ereignisse sich um sie herum ereigneten? Sie kam sich sehr naiv vor, als ihr klar wurde, dass sie unwissentlich Teil eines weltpolitischen Machtspiels geworden war. Was würde als Nächstes kommen?

Julius Calpurnius blickte auf. „Danke, Philippos, wir unterbrechen das hier. Finde dich später wieder ein und lass die Klienten im Atrium warten.“

Mit einer Verbeugung verließ Philippos, der auch als Sekretär unentbehrlich war, das Tablinum Richtung Schreibstube, wo seine Gehilfen auf Aufträge warteten.

„Vater, ich ertrage es nicht, wenn ihr mich wie ein Kind behandelt.“

„Komm, Julia. Genau deshalb wollte ich mit dir sprechen.“

Sie setzten sich auf das Sofa neben dem Schreibtisch. „Ich gebe zu, wir hätten dir längst alles sagen müssen. Aber du weißt ja, wie deine Mutter ist. Leider hängt sie der altrömischen Vorstellung an, eine Matrone sollte sich vor allem um die Belange des Hauses kümmern. Das ist längst nicht mehr zeitgemäß. Mir wäre es lieber, wenn ihr beide mehr von unseren Geschäften verstehen würdet.“

Erstaunt blickte Julia ihren Vater an. „Du willst mich in deine Geschäfte einführen?“

„Ich bin oft allein mit meinen Sorgen und Entscheidungen.

Gern würde ich diese Last teilen. Aurelia werde ich nicht mehr ändern. Aber du hast eine exzellente Erziehung genossen. Es könnte von Vorteil sein, jetzt wo du wieder heiraten wirst.“

„Vater, muss das wirklich sein? Die Heirat meine ich.“

„Ja! Dir ist gar nicht bewusst, wie viele Privilegien und Freiheiten du genießt. Aber du bist nicht allein auf der Welt. Ich brauche jemand, der meine Geschäfte weiterführt. Einen Verwandten zu adoptieren, ist derzeit keine Option.“

Julia wurde klar, dass es sie nie interessiert hatte, woher ihre privilegierte Stellung kam. Ihre Familie hatte bereits in republikanischer Zeit wichtige Ämter besetzt. Damit konnten sich die Calpurnier zur Aristokratie zählen, verwandt mit den Großen Pompeius und Caesar, befreundet mit Kaiser Augustus. Für ihre Mutter war es selbstverständlich in diesen Kreisen zu verkehren. Ihr Vater hatte sich jedoch nie für ein öffentliches Amt beworben und seinen Reichtum aus Privilegien in den Provinzen gezogen, wie es bei Senatorenfamilien üblich war. Julius Calpurnius machte Geschäfte. Welcher Art, wusste Julia nicht genau. Seiner Familie gegenüber war er stets großzügig. Julias Mutter besaß mehr Schmuck, als sie in einem Monat tragen konnte. Und auch den Sklaven ging es weitaus besser, als bei den meisten Familien.

„Aber ich hege nicht den geringsten Wunsch meinen Status zu ändern.“ Julia wunderte sich selbst über ihre freimütige Äußerung.

Calpurnius seufzte. „Du verbringst einfach zu viel Zeit im Isis-Tempel und bei Honoria auf dem Forum. Gut und schön, dass meine Schwägerin in ihrer Rolle als oberste Vestalin aufgeht, aber diese kultischen Flausen müssen wirklich nicht sein, Julia.“

„Gott dienen ist Freiheit“, trumpfte diese auf. „Das sagt selbst dein Seneca.“

„Er hat nicht immer recht. Den Göttern ist es egal, glaub mir.“ Julius Calpurnius strich über Julias kurze Locken. Sie schmiegte sich an ihn.

Dann richtete sie sich auf. „Nun gut Vater, ich werde also heiraten. Wer soll es sein?“

„Dein neuer Ehemann heißt Marcus Servilius Saturnius. Er entstammt einer sehr alten Familie, deren Wurzeln bis in die Königszeit zurückreicht. Ihm wird eine große politische Karriere vorhergesagt. Derzeit dient er als Tribun in Judäa.“

„Judäa, gut.“ Julia wirkte erleichtert. „Dann hat es mit der Heirat ja noch Zeit, bis er in ein oder zwei Jahren nach Rom zurückkehrt.“

„Nein, mein Kind. Du wirst dorthin reisen und in Caesarea leben. Das ist bei Offizieren und Beamten nicht unüblich, wie du weißt.“

„Aber dort herrscht Krieg!“ Julia konnte nicht glauben, was ihr Vater sagte.

„Titus Flavius Vespasianus hat mit seinen Truppen für Ruhe gesorgt.“

„Judäa, das liegt am anderen Ende der Welt.“

„Nicht wirklich, mein Kind. Regelmäßig verkehren Schiffe zwischen Rom und dem östlichen Mittelmeer, auch unsere Delphinsegler. Und Caesarea Maritima ist eine äußerst kultivierte Provinzmetropole, in der du nichts entbehren wirst.

Der Statthalter von Judäa residiert dort. Ich habe die Gegend oft bereist. In Caesarea unterhalten wir ein Handelskontor.

Ich gedenke es wieder einmal zu inspizieren. Also werde ich dich selbst zu deinem neuen Ehemann bringen. Falls er nicht gutaussehend und charmant ist, lasse ich vielleicht mit mir reden.“

Sie schwiegen eine Weile. „Reicht dir das, Julia?“

„Ich muss darüber nachdenken, was das alles für mich bedeutet.“

„Tu das, mein Kind. Auf der Reise haben wir viel Zeit, um über Politik und Geschäfte zu sprechen. Es wird dir gefallen, da bin ich mir sicher.“

An der Tür prallte Julia mit Philippos zusammen, der ein zusammengedrücktes durchbohrtes Bleitäfelchen in einem Körbchen hielt. Sein angewidertes Gesicht sprach Bände.

„Herr, es ist schon wieder eine gekommen“, verkündete er ängstlich. „Die alte Flora hat sie beim Fegen in einer Treppenritze gefunden. Ich hasse Fluchtafeln.“

„Ach, das sind doch nur irgendwelche Konkurrenten, die glauben, uns so zu schaden. Du musst das nicht so ernst nehmen. Die Götter haben besseres zu tun, als sich um solchen Kram zu kümmern“, wiegelte Calpurnius ab.

„Herr, Magie muss man ernst nehmen, besonders in diesen gefährlichen Zeiten.“ Philippos wirkte besorgt. „Wir sollten sie verklagen! Immerhin haben wir einen eigenen Gerichtshof dafür. Schadenszauber ist ein Kapitalverbrechen wie Brandstiftung und Meuchelmord.“

„Aber wir wissen doch nicht, wer uns schaden will. Außerdem, bist du ein Philosoph oder ein altes Weib? Schließlich hängt unser Atrium voll von Schutztafeln. Dass meine Frau abergläubisch ist, nehme ich hin. Aber du, Philippos?“ Julius Calpurnius schüttelte den Kopf.

„Ich werde sie ins Feuer werfen.“ Philippos eilte Richtung Küche davon.

Die Aprilsonne schien. Das Forum bot wie immer ein beeindruckendes Bild mit seinen öffentlichen Bauten und dem pulsierenden Leben. Vom Comitium, wo sonst die Volksversammlung tagte, schallten Buhrufe herüber. Augenscheinlich waren die zahlreichen Zuhörer unterhalb der Rostra nicht damit einverstanden, was ihnen der grauhaarige Sprecher von der öffentlichen Rednerplattform zurief.

Julia stand mit Rhea vor der Kurie. Juba und zwei Sklaven begleiten sie. Der Senat hatte offenbar gerade getagt, denn zahlreiche Senatoren mit ihren purpurgesäumten Togen verließen laut diskutierend das tempelartige Gebäude.

Davor lag der Lapis Niger. Niemand kannte die genaue Bedeutung der schwarzen Marmorplatte aus mythischer Vorzeit. Als Kind hatte Julia den Stein gern berührt, wenn sie mit ihrem Vater das Forum besuchte. Das sollte Glück bringen. Auch jetzt drängten sich dort Menschen, um der Vorsehung auf die Sprünge zu helfen. Julia hingegen wollte derzeit das Schicksal lieber nicht herausfordern und ging rasch weiter.

Seitlich hinter der Rostra befand sich ein kleiner, runder Tempel, der trotz seiner Unscheinbarkeit zu den wichtigeren Monumenten des Forums zählte. Der Umbilicus Urbis, der Nabel der Stadt, galt als Mittelpunkt des Imperium Romanum. Alle Entfernungen und die Meilen römischer Heerstraßen wurden von hier aus gemessen. Zugleich galt er als Mundus, die Stelle, an der sich Ober- und Unterwelt berührten. Daher wurden den Göttern der Unterwelt hier Opfer dargebracht, um sie zu besänftigen. Ganz in der Nähe, vor dem Saturn-Tempel, stand seit Augustus’ Zeiten das Milliarium Aureum. Die vergoldete Bronzesäule fungierte als riesiger Meilenstein. Hier waren alle Entfernungen zu den wichtigsten Städten des Reiches angegeben. Jedem Besucher wurde so die Größe des Imperiums vor Augen geführt, in dem sprichwörtlich alle Wege nach Rom führten. Julia blickte auf die Säule und stellte fest, dass Caesarea Maritima fast 2.700 römische Meilen entfernt war.

Juba und seine Numider pflügten durch die Menge und bahnte ihnen den Weg. Sie steuerten auf das Tabularium zu.

Der Archivbau auf dem Kapitol war ein eindrucksvolles, an den Hügel gesetztes Gebäude mit zahlreichen Stockwerken.

Das Staatsarchiv des römischen Reiches galt als Gedächtnis des Imperiums.

„Halt, warte doch! Du bist so schnell, mein Kind.“ Rhea versuchte Schritt zu halten, wobei ihr großer Busen hin- und herwogte.

Julia wartete am Tempel der Concordia, unterhalb des Tabulariums, auf ihre Gesellschafterin. Sicherheitshalber warf sie der Göttin der Eintracht einen Kuss der Ehrfurcht zu. Man konnte ja nicht wissen. Die meisten Passanten taten es ihr gleich oder spuckten vor sich aus, um ihren Weg zu schützen.

„Am besten, ihr wartet hier auf mich. Ich muss für Vater ein paar Unterlagen bei Onkel Pollo vorbeibringen.“

Archivar Gaius Pollo Aquila, Leiter des Tabulariums, galt als begnadeter Jurist und Freund der Familie. Im Range eines Präfekten für Sonderangelegenheiten sorgte er dafür, dass kein Schriftgut der römischen Behörden wie Gesetze, Edikte oder Verträge römischer Magistrate verlorenging.

Rhea schüttelte den Kopf. „Du weißt, deine Mutter missbilligt diese Alleingänge.“

„Ich gehe mit“, entschied Juba und wies die anderen Sklaven an, bei Rhea zu bleiben.

„Also gut, ich suche eine Latrine auf und warte dann hier“, seufzte diese.

Julia eilte mit Juba die Treppe neben dem Tempel hinauf, wo sich der Haupteingang befand. Der große, öffentliche Raum im ersten Stock des Tabulariums, den sie betraten, war voller Menschen, die wild durcheinanderschrien. Julia und Juba konnten sich nur mühsam den Weg zum Tresen bahnen, wo der Kundenverkehr abgewickelt wurde. Sie entdeckte den Freund ihres Vaters und schob sich zu ihm durch.

„Warum ist es denn hier so voll?“

Gaius Pollos Augen leuchteten, als er Julia entdeckte. „Tja, alle wollen sich irgendwie absichern, Dokumente hinterlegen. Keiner weiß ja derzeit, wie sich die politische Lage entwickelt.“

Julia überreichte ihm die Unterlagen ihres Vaters, die sie in einer Ledertasche mit sich trug.

„Komm, wir gehen in mein Büro. Dort können wir ungestört sprechen.“ Pollo führte Julia in den hinteren Teil des mächtigen Gebäudes.

„Das Forum ist voll von Menschen. Man kommt kaum durch.“

„Alle wollen Informationen, doch niemand weiß etwas. Die schlimmsten Gerüchte sind im Umlauf“, wusste Pollo. „Die Griechen haben den Kaiser mit ihren Gesangswettbewerben und Spielen eingelullt. Zur Belohnung befreite er die Provinz von jeder Steuerpflicht. Damit hat er den Senat brüskiert. Es gibt deutlich weniger Steuereinnahmen. Und dann dieser Kanalbau an der Meerenge von Korinth. Diese unsinnige Unternehmung verschlingt Unsummen. Viele sind empört und der Kaiser ist immer noch nicht in Rom eingetroffen.

Außerdem sind die Getreidelieferungen ins Stocken geraten.

In der Unterschicht brodelt es.“ Pollo wirkte besorgt.

„So eine Unruhe wie auf dem Forum habe ich noch nie erlebt, auch nicht in der Subura.“

„Du gehst durch die Subura?“ Anerkennend schnalzte Gaius Pollo mit der Zunge.

„Sehr zum Missfallen der Eltern. Aber es ist der kürzeste Weg“, stellte Julia fest. „Caesar lebte dort.“

„Als er noch jung und unbedeutend war“, lächelte Pollo.

Dann sah er die Dokumente ihres Vaters durch und nickte.

Anschließend legte er eine mehrfach versiegelte Wachstafel vor sich auf den Tisch. „Diese Tafel ist für deinen Vater. Er muss sie heute noch erhalten.“

Julia nahm sie an sich und verstaute sie in ihrer Ledertasche.

„Natürlich, Onkel Pollo.“

„Sie darf nicht verloren gehen, unter keinen Umständen!“

„Ich bin kein kleines Mädchen mehr!“ Es ärgerte sie, dass alle in ihr immer noch ein unmündiges Kind sahen.

„Aber ich erinnere mich so gern an deine roten Zöpfe und die Sommersprossen“, feixte Pollo.

Julia konnte ihm nicht böse sein. „Ich soll dich von den Eltern grüßen und sie bitten dich zum Abendessen.“

„Natürlich, ich komme gern. Sehr schade, dass du Rom verlässt.“

Gab es irgendjemand aus ihrem Bekanntenkreis, der nichts von ihrer bevorstehenden Vermählung wusste? Ihre Mutter hatte wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Julia seufzte vernehmlich, was bei Gaius Pollo ein erneutes Grinsen auslöste.

Dann klopfte es an die Tür und ein junger Beamter streckte den Kopf herein.

„Präfekt, würdest du bitte kommen? Es gibt Probleme.“

„Wann gibt es mal keine Probleme“, stöhnte Pollo.

„In der Halle schreien zwei Männer das gesamte Tabularium zusammen. Es geht um den Kaufvertrag für ein öffentliches Grundstück an der Straße nach Ostia. Irgendetwas soll nicht rechtens sein und nun können wir die Unterlagen nicht finden.“ Der junge Beamte senkte den Blick, denn er wusste, dass der Präfekt verlegte Akten zutiefst missbilligte. „Und dann wartet der oberste Pontifex. Er möchte die Annalen des letzten Jahres abgeben.“

„Einen Monat zu spät, wie immer. Der Einzige, der in den letzten Jahren den Jahreskalender pünktlich abgegeben hat, war Vespasian.“ Pollo scheuchte den Angestellten mit einem Wink nach draußen.

„Entschuldigung, aber der Senat wartet auf die Unterlagen aus den Provinzen.“

„Ich kümmere mich darum.“ Erleichtert schloss der Beamte die Tür.

„Wenn man nicht alles selber macht. Leider sind immer noch nicht alle Jahresberichte der Provinzstatthalter eingetroffen.

Ich sammele sie und bereite sie für die Senatssitzungen vor, was den Quästoren viel Arbeit erspart. Sie sind ja immer nur kurz im Amt“, entschuldigte Pollo seine Verwaltungskollegen. „Der Osten ist komplett. Aber es fehlen Gallien, Hispanien und Germanien. Irgendwas braut sich dort zusammen.“

Er zuckte mit den Schultern. „So ist das in unruhigen Zeiten.

Dann müssen die Herren im Senat eben mit dem vorliebnehmen, was da ist. Wir treffen uns dann bei deinen Eltern zum Essen.“

Sie verabschiedeten sich und Gaius Pollo brachte Julia zum Ausgang des Tabulariums. Dort stieß sie mit Titus Flavius Sabinus zusammen, der durch die Tür fegte und Julia dabei fast umriss, weil sie an seiner Toga hängenblieb. Ohne Entschuldigung stürmte er auf Pollo zu. Julia schüttelte den Kopf. Sie kannte Sabinus. Als Stadtpräfekt von Rom war er eine öffentliche Person. Es schien, als wären wirklich alle verrückt geworden.

Julia lief die Treppen hinunter und winkte Rhea, die auf den Stufen vor dem Tempel ausharrte und die Leute beobachtete. Erleichtert winkte Rhea zurück, denn die Menschenmenge auf dem Forum hatte noch zugenommen.

„Wohin gehen wir jetzt?“

„Zu Tante Honoria.“

An ein gemütliches Schlendern war nicht zu denken. Mühsam schoben sie sich durch die Massen, vorbei an grandiosen Marmorbauwerken. Die Zerstörungen des Brandes waren hier kaum noch sichtbar. Kaiser und Senat hatten alles getan, um das Zentrum des Imperiums in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.

Rammsporne von eroberten Schiffen ragten an der Rostra hochaufgerichtet aus dem Boden. Sie wirkten wie bizarre Kunstwerke. An Feiertagen wurden bunte Bänder an ihnen befestigt. Sie stammten noch aus den Bürgerkriegen und symbolisierten die Macht Roms. Überall patrouillierten Soldaten der Cohortes urbanae. Sie versuchten die Menge auseinanderzutreiben und Schlägereien zu verhindern. Stadtpräfekt Sabinus ging offenbar kein Risiko ein.

Sie kamen am Saturn-Tempel vorbei. Von hier führte eine Prozessionsstraße zum Jupiter-Tempel auf dem Kapitol. Als Aufbewahrungsort des Staatsschatzes kam dem Tempel eine besondere Bedeutung zu. Früher diente er auch als Archiv und Pollo musste so manchen Kampf mit den Priestern ausfechten, die Urkunden nicht herausgaben.

Die Basilica Julia, wo regelmäßig große Prozesse stattfanden, glänzte mit ihren Säulen und ihrer Marmorverkleidung im Sonnenlicht. Auf der Rostra tobte mittlerweile eine erbitterte Redeschlacht. Allerdings verstand man kein einziges Wort, weil aus der Menge unterhalb der Rednertribüne immer wieder Beschimpfungen und Zwischenrufe kamen. Julia hielt ihre Tasche fest und schützte Pollos Tafel. Ständig wurden sie angerempelt und natürlich übten Taschendiebe auch hier erfolgreich ihr Gewerbe aus. Nicht, dass es ihr erging wie neulich.

Am Lacus Curtius legten sie eine kurze Pause ein. Vor dem Brunnen mit dem ihn umgebenden Marmorgitter hatte Julia als Kind oft gestanden. Zahlreiche Legenden rankten sich um diese Stelle aus mythischer Vorzeit. Hier waren Reiter in Erdspalten verschwunden, Blitze eingeschlagen. Julia liebte diese Geschichten. Leute warfen Münzen in das Loch, um die Götter gnädig zu stimmen.

Geruch aus der nahen Cloaca Maxima trübte jedoch die historischen Betrachtungen. So setzten sie ihren Weg fort, vorbei am Tempel von Castor und Pollux. Sie kreuzten den Vicus Tuscus, der an der Westseite des Palatins vorbei zum Viehmarkt am Tiber führte. Straßenreiniger versuchten ihr Bestes, konnten aber angesichts der Massen nichts ausrichten und verschwanden Richtung Kaiserforen.

Nachdem sie den Ehrenbogen für Kaiser Augustus neben dem Tempel des Divus Julius durchquert hatten, standen sie direkt vor dem runden Schrein der Vesta. Sie galt als ursprünglichste Göttin Roms, Hüterin von Herd, Heimat und Familie. Als jungfräulichste und reinste aller Götter war ihre Verehrung Teil des Staatskults. Neben Janus wurde sie bei jeder kultischen Handlung genannt. Nur einmal im Jahr, zwischen dem 7. und 15. Juni, öffnete der Tempel seine Tore. Dann wallfahrteten die römischen Frauen barfüßig hierher, um den Segen der Göttin für ihren Haushalt zu erbitten.

Innerhalb des Heiligtums gab es keine Statuen, nur das ewig lodernde Heil spendende Feuer. Die Reinheit der Flamme war Wurzel allen Lebens. Daher sorgten die Priesterinnen dafür, dass das Feuer der Vesta niemals ausging. Lediglich am 1. März, dem ehemaligen Jahresbeginn, wurde die Flamme gelöscht, der Tempel gereinigt und das Feuer in feierlicher Zeremonie neu entzündet.

Neben dem Schrein lag das Atrium Vestae, ein heiliger Bezirk, abgeschieden von der profanen Welt. Hier lebten die Priesterinnen in strenger Klausur. Männern blieb der Zutritt verwehrt. Juba und seine Numider warteten daher vor der Tür. Das von einer Mauer umschlossene Haus der Vesta verfügte über zwei Stockwerke. Der rechteckige Innenhof, umrahmt von einem großzügigen Portikus, vermittelte mit seinen Wasserbecken und dem Rosengarten ein Gefühl kontemplativer Stille. Zwischen den Rosen gruppierten sich Marmorstatuen besonderer Vestalinnen, die sich um Rom verdient gemacht hatten.

Julia und Rhea wurden von einer Priesterin zum Besucherraum geführt. Wenige Minuten später erschien Honoria. Ihre schlanke, in eine weiße Tunika samt Schleier gehüllte Gestalt flößte Ehrfurcht ein. Das lange graumelierte Haar war in fünf Zöpfe geflochten, die seit Jahrhunderten übliche Kultfrisur der Vestalinnen.

Honorias Kleidung symbolisierte, dass sie für immer mit dem Phallus des heiligen Feuers vermählt war, der sich als Mysterium in der Flamme zeigte. Vesta galt als androgyne Gottheit, weiblich wie männlich, was sich Julia nie erschloss.

Aber sie bewunderte ihre Tante. Sie war in ihren Augen die einzige Frau, die wie ein Mann behandelt wurde, geistliche und weltliche Macht gleichermaßen besaß. Honoria verkörperte in ganzer Person die jungfräuliche Hohepriesterin der Vesta, die Virgo Vestalis Maxima.

Honoria begrüßte ihre Nichte mit einem leichten Kopfnicken und ließ sich auf eine Besucherbank gleiten.

„Ich freue mich, dass du vorbeikommst. Gestern haben wir uns ja nur von Ferne gesehen.“

Einen Tag zuvor, am 15. April, hatten sie das Fest der Fordicidien zu Ehren der Göttin Tellus, der nährenden mütterlichen Erde, begangen. Unter Beteiligung des obersten Priesters opferte man 30 trächtige Kühe. Die aus dem Mutterleib herausgeschnittenen Kälber wurden anschließend von der dienstältesten Vestalin verbrannt.

Julia dachte mit Schaudern an die Zeremonie. Aber ihre Mutter bestand darauf, dass sie die Tradition ehrte und an den altrömischen Festen teilnahm. Als Schwester der Virgo Vestalis Maxima stand ihnen ein besonderer Platz zu und Aurelia Calpurnia genoss die Aufmerksamkeit, die ihr bei diesen Gelegenheiten zuteilwurde. Die Zeremonien und anschließenden Gastmähler galten als wichtige Treffpunkte der römischen Oberschicht. Hier wurden Geschäfte getätigt und Politik betrieben. Das Entscheidende blieb jedoch der Austausch von Informationen, Gerüchten und gesellschaftlichem Klatsch.

Honoria schürzte die Lippen. „Das Fest verlief nicht so feierlich wie erwartet, ohne Kaiser. Dabei weiß er genau, wie wichtig seine Position als oberster Priester ist. Und sein senatorischer Stellvertreter bleibt ein Stümper.“

Obwohl es dafür natürlich Fachkräfte gab, bedurfte rituelles Schlachten einer gewissen Kunstfertigkeit, damit das Opfer als gültig betrachtet werden konnte. Julia verstand nicht, dass diese Opfer, das viele Blut notwendig waren, warum die Götter nur so besänftigt werden konnten, oder wie Priester den Zustand der Innereien als gute oder schlechte Omen deuteten.

„Der einzige Pontifex, den ich respektiere, war Vespasian.

Er unterstützte die Anliegen des Tempels, anders als dieser Lucius Telesinus. Dabei tut er immer so fromm.“

Julia wunderte sich, dass sie den Namen Vespasian heute bereits zum zweiten Mal hörte. Der Mann musste eine starke Ausstrahlung besitzen, um Pollo und Honoria gleichermaßen zu beeindrucken. Julia kannte ihn nur vom Hörensagen als jüngeren Bruder des Stadtpräfekten Titus Flavius Sabinus.

„Dass der Kaiser uns nicht mit seiner Anwesenheit beehrt hat, wird als schlechtes Omen gesehen. Immerhin gilt das Fest zu Ehren der Tellus nach wie vor als eines der wichtigsten Feiertage der Stadt.“ Honoria verstärkte ihre gerade Sitzhaltung.

Eigentlich ging sie gern zum Haus der Vesta. Honoria konnte Julia vieles anvertrauen. Sie hatte stets gute Ratschläge, im Gegensatz zu ihrer Mutter, die sich mehr für ihr Aussehen und ihre Reputation interessierte. Aber Julia ahnte, welchen Verlauf das Gespräch nehmen würde, wenn ihre Tante in dieser bestimmten Stimmung war. Sie biss sich auf die Lippe und Honoria deutete dies auf ihre Art.

„Opferriten sind ein Angebot an die Götter zur Reinigung von menschlicher Schuld sowie Bitten um Schutz und Hilfe.

Das ist unsere Tradition und die Götter waren Rom stets gnädig.“

„Ich finde das schlimm.“

„Mein Kind, opfern muss schmerzhaft sein. Früher gaben die Menschen den Göttern, was sie nur mühsam entbehren konnten. Hier in Rom, in unserem Überfluss, haben wir das leider vergessen.“ Sie betrachtete Julia. „Natürlich müssen wir alle Götter ehren. Aber jede Gottheit hat ihren speziellen Charakter, die es uns ermöglicht eine Wahl zu treffen.“

Julia senkte den Kopf. Sie wusste, was jetzt kam.

„Glaubst du, ich weiß nicht, dass immer weniger Römer den alten Göttern huldigen? Ihre und damit auch meine Macht als Hüterin des ewigen Feuers befinden sich im Sinken.

Immer neue Götter aus den letzten Winkeln des Imperiums werden in Rom verehrt. Man baut ihnen Tempel, während die alten Kulte in Vergessenheit geraten.“

Jetzt bloß nicht Falsches sagen, dachte Julia. Honoria blickte sie durchdringend an. Wie immer hatte Julia das Gefühl von ihr durchschaut zu werden. „Auch du verehrst lieber Isis.“

Es gab nichts zu leugnen. Julia hatte Wochen im Isis-Tempel auf dem Marsfeld zugebracht und sich mit Fasten und Beten auf das Ritual der Reinigung vorbereitet, das kultische Bad.

Untertauchen symbolisierte den Tod, Auftauchen Auferstehung und Wiedergeburt. In feierlicher Initiation erfuhr man die mystische Schau der Gottheit. Die Ehrfurcht, die farbenprächtigen Liturgien und Prozessionen faszinierten Julia. Ihr Vater hatte Julia aus dem Tempel zurückholen lassen. Aber sie blieb der Göttin treu.

„Bereits der große Caesar verehrte Isis und Kaiser Caligula hat die Isismysterien zu einem öffentlichen Kult ernannt. Er selbst nahm an ihren Festen teil.“

„In Frauenkleidern, soweit mir bekannt ist.“ Honoria schaute streng. „Wenn du einer Göttin dienen willst, versuche es mit Venus, wie deine Mutter. Letztlich ist doch alles das Gleiche. Oder Vesta, die du als Kind so geliebt hast?“

Honorias Blick ließ Julia schweigen. „Wir sind Römer! Wir knien nicht vor fremden Gottheiten aus dem Osten und küssen ihre Füße. Wir brauchen keine neuen Götter, sondern einen besseren Staatskult.“ Sie schüttelte den Kopf. „Diese Haltung hast du von deinem Vater und seinen stoisch ungläubigen Ansichten. Er ist viel zu nachsichtig mit dir.“

„Der Kaiser befindet sich noch in Neapolis. Angeblich fürchtet er sich vor Aufständen“, versuchte Julia abzulenken.

Honoria ging bereitwillig darauf ein. „Zu Recht! In Gallien tut sich etwas. Und in Rom gärt es. Durch die grausamen Säuberungsaktionen der letzten Jahre hat der Kaiser den Senat und Teile der Oberschicht gegen sich aufgebracht.“ Sie blickte besorgt drein. „Eine schwierige Situation! Die Konsuln, Senatoren und Beamten, auch ich als oberste Vestalin, sind auf den Kaiser vereidigt und damit ist jede Aktion gegen ihn Hochverrat.“

Erschrocken blickte Julia auf. Offenbar dachten gewisse Kreise erneut an Umsturz, denn Honoria hatte so ihre Kontakte.

„Nun, sprechen wir nicht länger von Politik. Deine Mutter hat mich wissen lassen, dass du wieder heiratest. Lass uns deine Juno befragen, was dir die Zukunft bringt.“

Dieser weibliche Schutzgeist wachte über alle Frauen. Julia beschlich ein mulmiges Gefühl. Sie wollte nichts über ihr Schicksal wissen, schon gar nichts über eine Ehe.

Eine junge Vestalin brachte einen frischen Lorbeerzweig sowie ein Kupfergefäß mit Weihrauch. Gehorsam stand Julia auf und kniete nieder. Honoria trat vor sie, hielt den Zweig in den Weihrauchdampf und sprach dabei leise murmelnd Gebete. Dann strich sie mit dem Lorbeer über Julias Kopf, ihr Gesicht, ihre Schultern und ihren Oberkörper, besonders die Herzgegend. Sie schloss die Augen, als wenn sie etwas in sich aufnehmen würde.

„Ich spüre starken Widerstand, mein Kind. Deine Juno will sich nicht zeigen. Das bedeutet in jedem Fall große Veränderungen, vielleicht auch, dass dein Schicksal anders verläuft, als deine Eltern es planen.“

Erleichtert seufzte Julia auf. Fortuna war mit ihr. Vielleicht konnte sie ihr Schicksal ändern und ihr Vater überlegte es sich noch mal mit der Heirat.

„Nun, meine Kleine, es steht mir ja nicht zu mit dir über die Ehe zu sprechen. Aber du weißt, was die Familie von dir erwartet. In dieser schwierigen Lage müssen sich die alten Familien gegenseitig stärken. Eine Heirat ist das zuverlässigste Band. Die Macht des Senats schwindet mit jedem Imperator mehr. Wir als römische Elite haben eine Verpflichtung gegenüber Rom, jeder an seinem Platz. Wir können nicht immer an uns denken.“

Julia wusste, dass Honoria diese Pflicht ihr Leben lang erfüllt hatte, seit an ihrem sechsten Geburtstag das Los des Pontifex auf sie gefallen war und sich die Türen des Vesta- Schreins für immer hinter ihr geschlossen hatten.

„Wenn du es geschickt anstellst, kannst du als Ehefrau großen Einfluss gewinnen. Deine Mutter ist dafür allerdings nicht das beste Beispiel.“ Ihre Schwester war in Honorias Augen schon immer etwas oberflächlich gewesen. „Was macht übrigens diese Sklavin, die ich dir neulich mitgegeben habe?“

„Tia? Sie ist sehr geschickt mit Kleidung und Frisuren. Rhea meint, sie macht eine Matrone aus mir.“

„Dann war es richtig, sie zu euch zu geben. Hier konnte sie nicht bleiben. Verkaufen schien mir riskant, sie kam immerhin aus den kaiserlichen Gemächern. Irgendjemand im Palast wünscht, dass sie weiterlebt. Sonst hätte man sie längst beseitigt.“

„Sie diente den Kaiserinnen als Ornatrix.“

„Dann ist es umso verwunderlicher. Poppea Sabina war zugegeben eine Schönheit mit Geschmack. Sie wusste ihre Reize geschickt einzusetzen. Aber ihre Schönheit wurde von ihrer Skrupellosigkeit bei Weitem übertroffen. Allerdings hatte sie es nicht verdient, dass Nero ihr in den schwangeren Leib trat vor sinnloser Wut, so dass sie starb.“

Julia erinnerte sich an diese schreckliche Geschichte, die sich vor drei Jahren ereignet hatte, zu dem Zeitpunkt des Putschversuchs.

„Ihre Nachfolgerin Statilia Messalina wirkt gewöhnlich, steht aber in gesellschaftlicher Geschicklichkeit Poppea in nichts nach. Und auch sie hat Blut an den Händen. Nero ist ihr fünfter Ehemann. Ihr letzter musste auf Wunsch des Kaisers Selbstmord begehen. Du siehst, in welchen Zeiten wir leben.“

Honoria erhob sich und beendete damit das Gespräch. „Es wird wohl schlimmer, bevor es besser werden kann.“

Heute sollte der große Tag sein – Julias Verlobung. Die Auspizien schienen günstig für den 20. April.

Rhea und Tia bereiteten Julia sorgsam vor. Sie wurde gebadet, geölt und parfümiert, ihre Scham rasiert, die Haare in Form gebracht. Tia rieb ihr mit einem feuchten Tuch, das eine Paste enthielt, die Zähne ab. Sonst benutzte Julia eine Paste aus Asche und Muschelschalen, mit Natron und Myrrhe versetzt, die ihr griechischer Arzt nach einem alten Rezept herstellte. Heute aber schmeckte alles fad. Tia schien jedoch sehr stolz auf ihr Pulver, das aus reinem Hirschhorn bestand.

„Wie bei Kaiserin Messalina“, klärte sie Julia auf.

Anschließend gab es Urin zum Gurgeln. Offenbar schwor die Kaiserin auf pure Kraft. Julia wusste, dass auch ihre Mutter dergleichen benutzte. Aber es durfte nur portugiesischer Urin sein. Niemand wusste warum. Er war jedoch in der Oberschicht als Gurgelwasser so beliebt, dass Nero darauf eine Luxussteuer erheben ließ. Julius Calpurnius spöttelte oft, dass sich der dortige Statthalter mit Urin eine goldene Nase verdiente. Aber man fand es gerecht, dass Otho, Exmann von Kaiserin Poppea Sabina, mit der Statthalterschaft entschädigt worden war. Schließlich musste er seine Frau an Nero abtreten.

Weiße Zähne waren ein Statussymbol. Dafür musste man Opfer bringen. Das gleiche galt für Julias Frisur. Tia platzierte voluminöse Haarteile aus dem Fundus ihrer Mutter zwischen Julias kurzen Locken, türmte sie auf und befestigte sie mit Seidenbändern, damit nichts verrutschen konnte. So erweckte man wenigstens die Illusion von Julia als angepasster Matrone. Dann wartete sie auf ihren Auftritt.

Marcus Servilius Saturnius und seine Frau Flora waren mit ihren Sklaven angekommen und belegten die Gästezimmer.

Die Familie wohnte derzeit nicht in Rom, sondern im südlichen Neapolis. Die Servilier gehörten zu den ältesten konsularischen Patrizierfamilien, die seit mehr als 500 Jahren Roms Geschicke mitgestalteten. Derzeit verfügten sie jedoch über wenig Vermögen und Einfluss. Von der Heirat mit einer Calpurnia versprachen sie sich daher neuen gesellschaftspolitischen Aufschwung.

Während ihr Vater mit Marcus Servilius im Arbeitszimmer die letzten Absprachen traf, wurde Julia, im Beisein ihrer Mutter, ihrer zukünftigen Schwiegermutter vorgeführt. Flora Servilia begutachtete sie genau, kontrollierte Julias Gang, ihre Füße, Hände und Zähne. Alle Frauen der höheren Kreise mussten diese Brautschau über sich ergehen lassen, bevor sie an den Mann gebracht wurden. Lediglich Julias erster Mann hatte, wegen ihrer engen Verwandtschaft, darauf verzichtet.

Natürlich bestand Flora Servilia auf einer Untersuchung der Braut durch ihren syrischen Arzt. Julia wurde auf ihre Gebährfähigkeit hin abgetastet und fühlte sich zutiefst gedemütigt. War sie eine Zuchtstute? Sobald der Arzt nickte, sprang sie auf, schob die Tunika über die Knie und rannte aus dem Zimmer. Rhea und Tia hatten Mühe, ihre Wuttränen zu trocknen und sie erneut herzurichten.

Gegen Abend trafen sich alle festlich gewandet im Atrium.

Zu diesem feierlichen Anlass hatte Aurelia Calpurnia die Säulen des Portikus mit Girlanden aus Efeu und Frühlingsblumen schmücken lassen. Es duftete nach Myrthen, Veilchen und Weihrauch. Als Gäste erschienen Pollo, Flavius Sabinus und diverse Calpurnier. Sabinus’ Anwesenheit erstaunte Julia. Sie bedeutete eine hohe Ehre. Immerhin war er der mächtigste Mann Roms und in Neros Abwesenheit kaiserlicher Stellvertreter. Auch Verwandte ihrer Mutter und Schwiegereltern ließen es sich nicht nehmen, der Feier beizuwohnen.

Julia trug eine orangegelbe Tunika mit passender Stola und Goldschmuck ihrer Mutter. Irgendwie kam sie sich verkleidet vor.

Nach einer Prozession durch das Atrium opferten sie den Göttern. Vor dem Hausaltar tauschten die Väter die Verträge aus und besiegelten die Transaktion per Handschlag. Pollo fungierte als Zeuge. Julia fühlte sich mehr denn je als Ware.

Wie es die Tradition verlangte, küsste Julia Marcus Servilius und seine Frau Flora ehrerbietig auf die Wange und akzeptierte sie als Eltern ihres zukünftigen Mannes. Von ihrer Schwiegermutter erhielt sie den Verlobungsring, einen Rubin in goldener Fassung, sowie eine Gemme mit dem Bildnis ihres abwesenden Verlobten. Julia betrachtete den abgebildeten Kopf. Es könnte jeder Mann unter 30 sein.

Anschließend folgte ein kleines Konzert, bei dem Julia ihre Künste als Lyraspielerin unter Beweis stellen durfte. Dabei hatte sie dieses Instrument nur erlernt, weil ihre Mutter es verlangt hatte. Entsprechend dankbar war sie, als der Gong zum Abendessen ertönte. Flötenspieler geleiteten die Gäste ins Esszimmer.