Der letzte Gast der Steinbachalm - René Bote - E-Book

Der letzte Gast der Steinbachalm E-Book

René Bote

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Beschreibung

Urlaub auf dem Bergbauernhof in Südtirol, und zum ersten Mal darf Paul ohne seine Eltern und seine kleine Schwester wandern gehen. Doch gleich bei der ersten Tour wird er von einem Unwetter überrascht, und nur so gerade noch erreicht er die Steinbachalm. Aber warum behauptet die Tochter des Bauern, dass er an der Alm unmöglich andere Wanderer gesehen haben kann? Als er am nächsten Tag mit Franziska noch einmal zur Alm wandert, traut er seinen Augen nicht - die Hütte ist nur noch eine Ruine! Aber er hat doch Licht hinter dem Fenster gesehen, und Leute!

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An der Gabelung setzte Pauls Vater den Blinker und steuerte den Wagen von der Staatsstraße nach links auf eine schmalere Straße. St. Peter 4 Kilometer verkündete der Pfeil an der Abzweigung, rechts waren zwei weitere Dörfer ausgeschildert. „Gleich sind wir da!“, kündigte Pauls Vater an. „Wenn man dem Navi glauben darf, sind’s noch zwölf Minuten.“

Paul beugte sich auf dem Rücksitz vor, um das Display des Navis sehen zu können. Die Karte zeigte ein langgestrecktes Tal, das die Form eines stark gedehnten S hatte, ehe es sich ganz am Ende in zwei Täler teilte. Grüntal und Schwarztal, zeigte das Navi an, und auch auf den Wegweisern hatten die Namen gestanden. St. Peter lag am Ende des Schwarztals, auf halber Strecke war noch eine kleine Siedlung eingezeichnet.

Paul war schon oft in Südtirol gewesen, denn seine Eltern liebten die Berge. Jedes Jahr ging es im Sommer für zwei Wochen über den Brenner, und wenn es sich einrichten ließ, noch einmal in den Weihnachtsferien zum Skilaufen. Das Schwarztal war allerdings Neuland für ihn, und er wusste nicht mehr über das Ziel ihrer diesjährigen Urlaubsreise als das, was er im Internet gefunden hatte. St. Peter hatte gut anderthalbtausend Einwohner, verfügte aber über drei größere Hotels, ein halbes Dutzend kleinere Pensionen und diverse einzelne Fremdenzimmer. Geworben wurde mit vielen Wandermöglichkeiten vom leichten Spazierweg bis zur anspruchsvollen Bergtour und etlichen Kilometern Langlaufloipe im Winter. Außerdem sollte es einen Klettergarten geben, und ein Bauer bot nebenbei Ponyreiten an. Das war vielleicht etwas für Pauls kleine Schwester, aber im Moment schwankte Mathilda noch. Mathilda war sieben, und sie liebte Tiere, aber als im Winter der Zirkus in der Stadt gewesen, hatte sie doch noch großen Respekt vor den Ponys gehabt.

Das Tal wurde enger, und dichter Nadelwald löste die Wiesen ab. Jetzt konnte Paul sich denken, woher das Tal seinen Namen hatte, denn obwohl es noch eine Weile hin war, bis es anfangen würde zu dämmern, wirkten die Bäume tiefdunkel.

Mathilda wurde unruhig und begann, auf dem Sitz hin- und herzurutschen. Wahrscheinlich musste sie mal, vor Aufregung und weil die letzte Rast fast zwei Stunden zurücklag. Das war noch in Österreich gewesen, und noch mal hatten Pauls Eltern nicht anhalten wollen, weil es ohnehin schon spät genug war. Pauls Vater, der bei der Stadtverwaltung arbeitete, hatte den Freitag nicht extra freinehmen wollen und war nur etwas früher gegangen als gewohnt. Pauls Mutter, die als Lektorin arbeitete, hatte noch einen Termin mit einem Kunden gehabt, so dass sie erst am Mittag hatten losfahren können. Für Paul und Mathilda war es dagegen schon die zweite Ferienwoche, sie hatten also zumindest schon mal packen können. Paul hatte Übung und wusste, was er mitnehmen musste, so dass er mit seinen eigenen Sachen schnell fertig gewesen war. Dafür zu sorgen, dass auch Mathildas Koffer bis mittags möglichst vollständig gepackt war, war dagegen ein schweres Stück Arbeit gewesen. Seine Mutter hatte ihn gebeten, sich darum zu kümmern, damit sie nicht noch später wegkamen.

Jetzt ging es auf acht Uhr abends zu, und die fast siebenstündige Fahrt näherte sich endlich dem Ende. Paul freute sich darauf, sich endlich wieder bewegen zu können, denn die kurzen Pausen auf überlaufenen Autobahnraststätten waren keine echte Erholung gewesen. Vielleicht konnte er nach dem Abendessen noch ein Stück joggen gehen; zu Hause drehte er jeden Abend seine Runde, bei Wind und Wetter. In St. Peter kannte er sich aber nicht aus, er wusste nicht, ob es eine geeignete Laufstrecke gab. Außerdem war er nicht sicher, ob seine Mutter ihn noch mal rauslassen würde. Sie machte sich ständig Sorgen um ihn, obwohl er schon zwölf war. Es war schon spät, die Straßen waren vielleicht nicht ausreichend beleuchtet, sein Körper hatte sich noch nicht akklimatisiert, er kannte sich nicht aus und konnte sich leicht verirren – Paul konnte sich schon vorstellen, welche Argumente seine Mutter gegen seinen Abendsport finden würde, aber er wollte es zumindest versuchen.

Das erste Ortsschild tauchte auf, aber die Häuser dahinter gehörten erst zu der Siedlung vor St. Peter, die Paul auf dem Navi gesehen hatte. Noch zwei Kilometer, sieben Minuten, behauptete das Navi. „Ist es noch weit?“, wollte Mathilda wissen, eine Hand zwischen die Beine gepresst. „Nein, wir sind bald da“, beruhigte ihr Mutter sie. „Und dann gibt’s bestimmt auch gleich Abendessen. Hast du Hunger?“ Mathilda nickte eifrig, und Paul konnte es ihr nachfühlen. Sie hatten zwar etwas Proviant eingepackt, aber er brauchte jetzt was anderes als Müsliriegel oder Mettwürstchen. Irgendwas richtig Deftiges, und eine ordentliche Portion Nudeln oder Kartoffeln, das wäre genau das Richtige.

Der Wald wich zu beiden Seiten von der Straße zurück, und Wiesen erstreckten sich über den Talboden und ein Stück weit die Hänge hinauf. Hier und da standen ein paar Kühe, jene robusten Südtiroler Rassen, die auch oben auf den Almen ihr Auskommen fanden und sich nicht vor steilen Hängen fürchteten. Paul hatte in früheren Urlauben Kühe an Stellen herumkraxeln sehen, die er freiwillig nicht erklettert hätte, obwohl er trittsicher und schwindelfrei war.

Die Zahl unten links auf dem Display des Navis näherte sich zielstrebig der Null, und jeden Moment musste das Dorf in Sicht kommen. Die Straße machte einen leichten Schwenk nach rechts, und links davon trafen die Strahlen der Sonne auf Wasser. Das musste der See sein, an dem St. Peter lag! Auch auf der Karte auf dem Navi war es zu sehen: Links der Straße der See, länglich, vielleicht vierhundert Meter lang und an der breitesten Stelle vierzig oder fünfzig Meter breit, und rechts, etwas höher am Hang gelegen, das Dorf.

Die ersten Häuser, die Paul sah, waren im typischen Stil der Region erbaut und offenbar wirklich alt. Der Hof, der als Erstes in Sicht kam, mochte schon vier oder fünf Jahrhunderte auf dem Buckel haben und hätte gut als Filmkulisse dienen können. Aber auch in St. Peter war die Zeit nicht völlig stehen geblieben, Paul sah auch einige Häuser jüngeren Datums. Die Reihenhäuser in einer Seitenstraße fügten sich dabei wenigstens noch unauffällig ins Gesamtbild ein. Die Bausünden weiter oben am Hang fand Paul dagegen kitschig, sie passten in die Umgebung wie Pfau in einen Hühnerstall. Ein großer Klotz, mit gebogener Front und weißem Verputz mit blauen Streifen um Fenster und Türen schien ein Hotel zu sein, die anderen hielt Paul für Ferienhäuser. Solche und schlimmere geschmackliche Entgleisungen hatte er leider schon in einigen Dörfern gesehen, in denen er mit seinen Eltern Urlaub gemacht hatte; manche Leute schienen überhaupt kein Gespür dafür zu haben, was in die Umgebung passte, oder es war ihnen egal. Paul die ursprüngliche Bebauung lieber, und wohlgefühlt hätte er sich in einem Hotel wie dem dort oben garantiert nicht.

Seine Eltern mochten auch keine Bettenburgen und hatten dazu einen guten Grund, sie zu meiden. Selbst wenn das Hotel auf Kinder eingerichtet war, es genügte ein Gast, der keine Kinder mochte, um einer Familie den ganzen Urlaub zu verderben. Gerade von Mathilda mit ihren sieben Jahren konnte man zwar schon Benehmen erwarten, aber nicht, dass sie sich nur auf Zehenspitzen bewegte und flüsterte. Deshalb buchten Pauls Eltern lieber Zimmer oder Apartments in Häusern, in denen keine Konflikte mit anderen Gästen zu befürchten waren.

Pauls Vater steuerte den Wagen am Dorfzentrum vorbei, das sich um die Kirche gruppierte und aus dem Friedhof, dem Rathaus und einem Gebäude bestand, das Kindergarten, Grundschule und Mittelschule beherbergte. Schilder am Straßenrand wiesen auf verschiedene Hotels, Pensionen und Restaurants hin, auch der Klettergarten war ausgeschildert.

„Da hinten ist es!“, sagte Pauls Vater und deutete auf ein Haus, das am taleinwärtigen Dorfrand stand. Oberseehof stand in brauner Schrift auf der weißen Wand. Noch zweihundert Meter, behauptete das Navi, und gleich darauf sagte die weibliche Computerstimme auch schon: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“

Der Oberseehof bestand aus dem Haupthaus, einer Scheune und einem offenen Unterstand, in dem ein Traktor mit Anhängern und ein Kleinbus geparkt waren. Haupthaus und Scheune waren im Erdgeschoss gemauert, der obere Teil war aus Holz oder mit Holz verkleidet, das war von außen nicht zu unterscheiden. Der Hof wirkte altertümlich, aber gepflegt.

Weil kein spezieller Parkplatz für Gäste ausgewiesen war, brachte Pauls Vater den Wagen zunächst vor dem Unterstand zum Stehen, wobei er darauf achtete, weder den Traktor, noch den Kleinbus zuzuparken. Auch wenn der Bauer nur einen kleinen Teil seines Lebensunterhalts mit dem Hof verdiente, musste die Arbeit doch gemacht werden, und als guter Gast wollte Pauls Vater nicht im Wege sein.

Aufatmend kletterte Paul aus dem Wagen und streckte sich. Tat das gut, die Beine wieder ausstrecken zu können! Er hatte sich bewusst nicht hinter seinen Vater gesetzt, der groß gewachsen war und den Sitz entsprechend weit nach hinten schieben musste, und auch den Platz mit Mathilda getauscht, wenn die Eltern sich beim Fahren abgewechselt hatten, aber viel Platz für seine Beine hatte er trotzdem nicht gehabt.

Mathilda hopste auf der anderen Seite auf den Asphalt und presste gleich wieder beide Hände zwischen die Beine. Pauls Mutter sah es und erkannte auch, dass ein Malheur drohte, wenn Mathilda nicht schnell zur Toilette konnte. Sie machte sich sofort auf den Weg zum Haupthaus, um ihre Ankunft zu melden und darum zu bitten, dass Mathilda vor allem anderen erst mal aufs Klo konnte.

Doch sie war noch keine zwei Schritte weit gekommen, als die Eingangstür geöffnet wurde. Eine Frau, die etwa so alt sein musste wie Pauls Eltern, kam nach draußen, um die neuen Gäste zu begrüßen. Sie machte auf Anhieb einen netten Eindruck, war mittelgroß, kräftig und rotbackig. Das blonde Haar trug sie zum Pferdeschwanz gebunden, die Kleidung war mit Jeans, T-Shirt und festen Turnschuhen zweckmäßig. Man sah ihr an, dass sie zupacken konnte, was sie als Bäuerin sicherlich auch musste, und hatte irgendwie sofort das Gefühl, bei ihr gut aufgehoben zu sein.

Sie erkannte auf den ersten Blick, wo die Lunte brannte, und hielt die Begrüßung kurz. „Ich zeige Ihnen sofort die Zimmer“, versprach sie, nachdem sie sich vorgestellt hatte. „Aber vorher zeige ich dir, wo die Toilette ist.“ Sie lächelte in Mathildas Richtung und machte eine einladende Geste mit dem Kopf. Mathilda nickte und lief hinter ihr her ins Haus. Die Tür blieb offen, was eine mollige Katze zu einem Ausflug nach draußen nutzte. Der Stubentiger machte ein paar Schritte auf Paul und seine Eltern zu, entschied dann aber wohl, dass die drei sich nicht nennenswert von allen Touristen vor und nach ihnen unterschieden, und drehte ab, um im Wagenschuppen hinter dem Traktor zu verschwinden. Vielleicht gab es dort Mäuse zu jagen, oder einfach einen gemütlichen Platz, an dem man in Ruhe abwarten konnte, bis die neuen Gäste sich eingerichtet hatten und der Trubel im Haus aufhörte.

Zwei oder drei Minuten mussten Paul und seine Eltern sich gedulden, dann kamen Mathilda und die Bäuerin zurück. Mathilda wirkte ganz so, als hätte sie schon Freundschaft geschlossen mit der Frau, die darauf bestand, nicht als Frau Durlacher angesprochen zu werden, sondern schlicht als Christine. Für Mathilda war das absolut normal, obwohl sie gelernt hatte, fremde Erwachsene zu siezen, bis die ihr das Du anboten. Auch Paul schaltete nahtlos um; nur seine Eltern taten sich etwas schwer damit. Beide hatten beruflich häufig Kundenkontakt, und da lief grundsätzlich alles per Sie, das hatte sich im Lauf der Jahre eingeschliffen und färbte aufs Privatleben ab.

Christine führte die neuen Gäste ins Haus, das drinnen urgemütlich aussah. Weißer Gipsbewurf an den Wänden, viel Holz, wuchtige Möbel, die von der Sonne, die durch die Fenster hereinfiel, in eines warmes Licht getaucht wurden, das wirkte urig, ohne kitschig zu sein.

Weil sie zu Recht annahm, dass die Gäste sich erst mal frisch machen wollten, brachte Christine Paul, Mathilda und ihre Eltern direkt nach oben in den ersten Stock und zeigte ihnen ihre Zimmer. Nur im Vorbeigehen deutete sie auf eine Tür zur Linken und erwähnte, dass dort der Frühstücksraum war.

Die Zimmer waren hell und geräumig. Insgesamt verfügte der Hof über drei Doppelzimmer, aber Christine erzählte, dass das dritte Zimmer in der Zeit, in der Paul und seine Familie da waren, nicht belegt sein würde.

Paul hatte ein Zimmer für sich, seine Eltern hatten ihm nicht zumuten wollen, das Zimmer mit Mathilda zu teilen. Stattdessen hatten sie darum gebeten, ein zusätzliches Bett in ihrem Zimmer aufzustellen. Paul war ihnen dankbar dafür, denn zumindest abends wäre er eingeschränkt gewesen, weil Mathilda viel früher ins Bett musste als er. Außerdem wäre seine Mutter bestimmt auch ständig reingekommen, um nach Mathilda zu sehen.

Christine fragte, ob eine halbe Stunde genügen würde, um sich einzurichten und frischzumachen. Für Paul war das mehr als genug Zeit, zumal seine Eltern ihm mit Sicherheit nicht erlauben würden, sich vor dem Abendessen noch draußen umzusehen. Er musste nicht unbedingt den Koffer komplett auspacken, und ansonsten klatschte er sich nur zwei, drei Hände voll kaltes Wasser ins Gesicht.

Eigentlich gab es am Oberseehof nur Frühstück, aber wegen der späten Ankunft hatten Pauls Eltern mit der Bäuerin vereinbart, dass sie am ersten Abend für die Gäste mitkochen würde. In den nächsten Tagen würden Paul, seine Eltern und Mathilda im Restaurant essen oder sich etwas zu essen holen.

Beim Essen, das im Frühstücksraum serviert wurde, lernte Paul den Rest der Bauersfamilie kennen: Arnold, Christines Mann, und ihre Tochter Franziska. Arnold schien ein paar Jahre älter zu sein als seine Frau, vielleicht schon an die fünfzig, und hatte ein strenges Gesicht. Erst auf den zweiten Blick wurde Paul klar, dass es wohl die Kombination aus einer schmalen Nase und kurz geschnittenem, dunklem Haar war, die ihn so wirken ließ. Arnold redete nicht viel, aber wenn, dann mit einer tiefen, ruhigen Stimme, und das wirkte kein bisschen griesgrämig.

Franziska war ungefähr so alt wie Paul, schlank und nett anzusehen. Sie hatte das dunkle Haar ihres Vaters geerbt und trug es schulterlang. Im Moment hatte sie es zu einem praktischen Pferdeschwanz gebunden, aber Paul konnte sich gut vorstellen, dass sie es auch gern offen trug und damit mindestens genauso hübsch aussah. Ihre Haut war leicht gebräunt, und die Augen von einem dunklen Braun; wenn sie es darauf angelegt hätte, wäre sie sicherlich auch als Süditalienerin durchgegangen.