Der letzte Schwur - Nalini Singh - E-Book
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Der letzte Schwur E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Die Gesellschaft, wie sie war, existiert nicht mehr. Gestaltwandler, Mediale und Menschen stehen vor schweren Entscheidungen und müssen lernen, einander zu vertrauen. Doch neue Machtansprüche drohen den jungen Frieden zu zerstören. Im Visier der Terroristen: ein kleines Mädchen, das sowohl mediale Kräfte besitzt als auch die Gestalt wandeln kann und damit das Symbol für die neue Ordnung ist. Naya, die Tochter von Sascha Duncan und Lucas Hunter, dem Alpha-Paar der DarkRiver Leoparden! Als es zu einem Anschlag auf Naya kommt, steht die Welt erneut vor dem Abgrund ...

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Inhalt

TitelZu diesem BuchAnmerkung der AutorinTesseraktTeil I12345678910111213141516171819Teil II20212223242526Teil III272829303132Teil IV333435363738Teil V39404142Teil VI434445464748Teil VII4950Teil VIII51Teil IX5253545556Alphabetisches PersonenverzeichnisDie AutorinNalini Singh bei LYXImpressum

NALINI SINGH

Der letzte Schwur

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Der Krieg ist vorüber, die Welt, wie sie war, gibt es nicht mehr. Mediale, Gestaltwandler und Menschen stehen vor schweren Entscheidungen, die die Zukunft ihrer Völker maßgeblich beeinflussen werden. Das Dreigruppenbündnis verspricht eine neue Ära der Zusammenarbeit, doch die blutige Vergangenheit und neue Machtansprüche scheinen den Frieden zu zerstören, bevor er eine Chance hat. Nicht alle sind mit der neuen Ordnung glücklich. Aus Angst und Unwissen wollen viele zu den alten Zeiten zurückkehren, wo die Rassen streng getrennt lebten. Dabei ist ihnen Naya, die kleine Tochter von Lucas Hunter, dem Alpha der DarkRiver Leoparden, und Sascha Duncan, einer E-Medialen, ein besonderer Dorn im Auge. Ein Kind, das beide Welten vereint, das sowohl mediale Kräfte besitzt als auch die Gestalt wandeln kann. Ein Kind, das für eine Zukunft steht, die die Ewiggestrigen auf jeden Fall verhindern wollen. Daher planen sie, das Mädchen zu entführen. Wird das neue Bündnis angesichts dieser Bedrohung halten oder werden Misstrauen und Angst siegen? Jeder muss seinen Platz in der neuen Welt finden und sich entscheiden: Hoffnung und ein friedliches Zusammenleben oder Misstrauen und ewige Feindschaft …

Anmerkung der Autorin

Liebe Leserin, lieber Leser,

danke, dass ihr diese Reise in die Welt der Gestaltwandler mit mir zusammen unternommen habt. Es war eine aufregende Odyssee voller Überraschungen, findet ihr nicht auch? Sie hat mir unglaublich viel Freude bereitet, und mit jeder neuen Geschichte habe ich mich mehr in diesen Kosmos und die Figuren, die ihn bevölkern, verliebt.

Der Band Scherben der Hoffnung beschließt, was ich als den primären erzählerischen Bogen betrachte und damit die erste Staffel der Reihe, während er gleichzeitig in Staffel zwei einführt. Doch bevor wir uns ganz dem neuen Handlungsstrang widmen, will ich einen Blick zurückwerfen, um festzustellen, wie sich diese Welt samt ihren Bewohnern seit Leopardenblut weiterentwickelt hat.

Darüber hinaus möchte ich die Vielzahl von Verbindungen erforschen, die diese unterschiedlichen Charaktere miteinander verketten. Die größte Herausforderung beim Schreiben dieses Buches war nicht, wie ich die Figuren einfügen sollte, sodass jede für sich glänzen kann, sondern wo. Denn es besteht niemals nur eine Verbindung; jeder einzelne Charakter ist mit vielen anderen verknüpft: durch die Bande im Rudel, durch Freundschaft, Blutsverwandtschaft, Loyalität und natürlich Liebe.

Während die Psy-Changeling-Geschichte in diesem Buch ihren Fortgang nimmt – weil es in dieser Welt keinen Stillstand gibt –, ist es zugleich ein Streifzug durch das Leben vieler der Figuren, die uns im Verlauf der früheren Bände ans Herz gewachsen sind. Bei einer derart umfangreichen Anzahl von Beteiligten können natürlich nicht sämtliche Charaktere in jedem Buch auftauchen oder Erwähnung finden (stellt euch vor, wie viele Seiten pro Band dafür erforderlich wären!), aber dieses Buch gibt uns einen aktualisierten Überblick über viele der Figuren.

Da es trotzdem nicht alles, was ich aufgreifen wollte, in diese Geschichte geschafft hat, werde ich diverse gestrichene Szenen im Lauf der nächsten Monate in meinem Newsletter veröffentlichen. Ihr könnt diesen kostenlos über meine Website abonnieren: www.nalinisingh.com.

Ich wünsche euch viel Freude mit Der letzte Schwur. Ein Hoch auf das neue Buch und Staffel zwei der Psy-Changeling-Reihe.

Nalini

Tesserakt

Keiner hätte diesen Augenblick vorhersehen können.

Das Jahr 2082 schreitet voran, doch noch weiß niemand, was die Zukunft bringen wird. Die Welt hat sich grundlegend verändert, seit eine kardinale Empathin einem Alphatier der Gestaltwandler gegenübersaß, die E-Mediale darum bemüht, ihre Gefühle zu verbergen, das Alphatier bestrebt, ebendiese auszuloten.

Es hatte Kriege gegeben, Zerstörung und wahre Liebe.

Loyalitäten waren auf die Probe gestellt worden.

Eine Daseinsform hatte einen Umsturz erfahren.

Ströme von Blut waren geflossen, als jene, die sich an der Macht festklammerten, das Leben Unschuldiger vergossen.

Soldaten waren gestorben.

Kinder geboren worden.

Bündnisse geschmiedet.

Herzen hatten zueinandergefunden.

Alte Feindschaften waren vergessen, ein zerbrechlicher Friede hat Einzug gehalten. Doch die Welt steht an einem kritischen Scheideweg.

Werden die Allianzen halten?

Oder wird das Chaos obsiegen?

TEIL I

1

Lucas Hunter, das Alphatier der DarkRiver-Leoparden, beendete den Videoanruf, indem er mit dem Zeigefinger auf den Monitor tippte. Doch sein derzeitiger Gemütszustand strafte seine äußere Gelassenheit Lügen. Ein grimmiger Zug erschien um seinen Mund, und er spürte inwendig seine Krallen, als sein schwarzer Panther fauchte.

Er kämpfte noch mit dem Bedürfnis, das Fauchen herauszulassen, als einer seiner Wächter den Kopf ins Zimmer steckte. Es war Lucas’ privates Büro im Hauptquartier des Rudels am Rand von Chinatown, von wo aus dieses seine zahlreichen Firmen leitete. Der schwarzhaarige, breitschultrige Clay, dessen grüne Augen einen lebhaften Kontrast zu seiner dunkelbraunen Haut bildeten, war offiziell der Oberbauleiter von DarkRiver Construction und eines der vertrauenswürdigsten Mitglieder des Rudels, ein Mann, von dem Lucas wusste, dass er sich blind auf ihn verlassen konnte.

Clays Kleidung – eine strapazierfähige schwarze Outdoor-Hose und ein dschungelgrünes T-Shirt mit dem weißen Aufdruck DarkRiver Construction auf dem Rücken – erweckte den Eindruck, als wolle er zu einer Baustelle, bis er dann sagte: »Jon und seine Freunde haben unten an den Piers etwas entdeckt.«

Lucas, der heute nicht in Stimmung für jugendlichen Übermut war, blickte finster. »Wieso sind sie nicht in der Schule?«

»Die Hälfte des Unterrichts entfällt. Irgendein großes, stadtweites Lehrertreffen.« Clay stützte sich mit der Hand gegen den Türrahmen. Dabei verrutschte der rechte Ärmel seines T-Shirts und gab den Blick auf seine Tätowierung frei – Kratzspuren, die den Jägermalen auf Lucas’ rechter Gesichtshälfte nachempfunden waren. Dieser war mit den gezackten, wilden Linien, die ihn als Gestaltwandlerjäger identifizierten, geboren worden und verfügte somit über die Fähigkeit, Einzelgänger, die sich komplett dem Tier in sich ergeben hatten, aufzuspüren und zur Strecke zu bringen.

Anders als wilden Tieren durfte man wild gewordenen Gestaltwandlern nicht erlauben, einsam umherzustreifen, weil es trotz ihrer äußeren Erscheinung keine Tiere waren. Einzelgänger machten ausnahmslos Jagd auf die, die sie einst geliebt hatten, als erinnerte sich ein Teil von ihnen daran, wer sie gewesen waren, und neidete den Rudelgefährten und Liebsten, dass sie dieses Leben noch immer führten. Lucas hatte seit sieben Jahren keinen wild gewordenen Leopard exekutieren müssen und hoffte, dass er diesen Rekord für viele weitere Sieben-Jahre-Blöcke würde halten können.

Kein Alphatier wollte seine eigenen Leute töten.

Clays Tätowierung sprach eine völlig andere Sprache; wie auch die anderen Leopardenwächter hatte er sie sich als stilles Symbol für seine Loyalität gegenüber Lucas stechen lassen. Es war ein Treueeid, den Lucas niemals als selbstverständlich betrachtete. Ein Alphatier, das den Respekt solch starker Männer und Frauen nicht schätzte, durfte eigentlich nicht ihr Anführer sein.

»Jedenfalls werde ich nachsehen, was dort los ist«, setzte Clay hinzu. »Die Jungs klangen besorgt.«

»Ich komme mit.« Lucas umrundete seinen Schreibtisch, dabei ließ er die Schultern kreisen, um die Verspannung zu lösen, die sich mit Beginn des Videoanrufs in ihnen festgesetzt hatte. »Die frische Luft wird mir guttun. Wollen wir laufen?« Es war nicht weit bis zum Hafen.

Clay schaute auf die robuste, schwarze Armbanduhr an seinem Handgelenk. »Lass uns lieber hinfahren. Ich muss innerhalb der nächsten Stunde auf der Baustelle sein.«

»Ich gehe zu Fuß zurück, dann kannst du dich sofort auf den Weg dorthin machen, nachdem wir mit den Jungen gesprochen haben.« Während sie das Gebäude verließen und in eins der Fahrzeuge des Rudels sprangen, zog Lukas sein Handy hervor und sendete eine Nachricht.

Die Antwort, die dreißig Sekunden später eintraf, linderte seine heftige Anspannung. Genau wie die zärtlichen Gefühle, die Sascha ihm über das Paarungsband schickte. Nichts konnte seinen Panther so schnell beschwichtigen wie ihre Berührung. Sie war eine Frau, die über die kostbare Gabe verfügte, seelische Wunden heilen zu können. Trotzdem wusste er, dass sie nicht versuchte, ihn zu manipulieren oder zu beeinflussen. Es war allein Saschas Liebe, die ihn beruhigte, zusammen mit dem Wissen, dass sie und ihrer beider Kind gesund und munter waren.

Clay neben ihm schwieg, als sie das Hauptquartier hinter sich zurückließen. Doch anders als früher schlummerten keine dunklen Gefühle in dem Schweigen – der große, muskelbepackte Wächter war einfach nur still.

»Ein Teich der Stille«, hatte Lucas’ Gefährtin vor nicht allzu langer Zeit bemerkt. In den weißen Sternen ihrer schwarzen Kardinalenaugen hatten farbige Funken geschillert, wie es nur denen der Empathen zu eigen war. »Aber es ist keine Leere. Clay ist einfach nur ganz bei sich und von solcher Zufriedenheit erfüllt, dass mich jedes Mal, wenn ich in seiner Nähe bin, tiefe Ruhe überkommt.«

Clay war nicht immer so gewesen. Er hatte sich den Leoparden als starker, jedoch undisziplinierter Achtzehnjähriger angeschlossen, der nie zuvor in einem Rudel gelebt oder auch nur einen anderen Leopardengestaltwandler gekannt hatte. Hinzu kam, dass er mehrere Jahre im Jugendgefängnis gewesen war. Er hatte sich verloren gefühlt, war zornig und aggressiv geworden, eine große, gefährliche Katze, ohne eine Vorstellung davon, wie sie ihre Kraft und ihre immense Wut kanalisieren sollte.

Es war Nathan gewesen, der ranghöchste Offizier der DarkRiver-Leoparden, der den einsamen Jungen gefunden und ihn ins Rudel integriert hatte. Doch es war allein Clays Verdienst, dass er mit viel harter Arbeit zum Wächter aufgestiegen war und sich seinen Platz an Lucas’ Seite verdient hatte. Auf emotionaler Ebene war er hingegen noch lange Zeit gebrochen geblieben. Allein seine Pflichten im Rudel sowie seine Loyalität gegenüber Lucas und den anderen Wächtern hatten ihn davor bewahrt, sich seinen Dämonen zu ergeben.

Dann war Talin in sein Leben getreten.

Indem er sie zur Gefährtin genommen und mit ihr Jon und Noor adoptiert hatte, war es Clay gelungen, die Einsamkeit und den Schmerz seiner Vergangenheit restlos hinter sich zu lassen.

»Beschäftigt dich das Dreigruppenbündnis?« Der Wächter sah kurz zu Lucas, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete.

Lucas ließ sein Fenster herunter und klopfte mit den Fingern auf den Türrahmen. »Ja und nein.«

Die Idee einer weltumspannenden, bahnbrechenden Zusammenarbeitsvereinbarung war in unfassbar kurzer Zeit verwirklicht worden, was allein der Existenz des sogenannten Konsortiums zu verdanken war. Das Ziel der geheimnisumwitterten Gruppe war es gewesen, die Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht zu bringen, um dann von dem nachfolgenden Chaos zu profitieren, doch am Ende hatte sie das genaue Gegenteil erreicht. Die grundverschiedenen Parteien hatten schließlich das Gespräch gesucht und dabei festgestellt, dass sie einen gemeinsamen Feind hatten. Das Dreigruppenbündnis war zwar ein wesentlicher Bestandteil für den Aufbau einer stabilen Weltordnung, nur war es leider in solchem Tempo zusammengeschustert worden, dass mehr als eine bedenkliche Lücke klaffte.

Diese Eile war unvermeidbar gewesen, doch die Probleme, die daraus resultierten, durften nicht unterschätzt werden. Die Tinte der ersten Unterzeichner war noch nicht lange getrocknet auf den Verträgen, folglich verfügte das Dreigruppenbündnis über keinen Verwaltungsapparat, was bedeutete, dass alles auf Ad-hoc-Basis geregelt wurde.

Aber das war nicht der Grund, warum in Lucas’ Kehle ein Knurren aufstieg und sich in seinem Panther erneut ein wilder Beschützerinstinkt meldete, dass sich ihm die Nackenhaare aufstellten, als er an den Videoanruf zurückdachte. »Aden hat mich kontaktiert, um einige Informationen weiterzugeben«, sagte er. Aden Kai war der Anführer der Pfeilgarde, einer Truppe von Auftragsmördern und Geheimagenten, die ihresgleichen suchte, doch zugleich waren diese todbringenden Soldaten der medialen Gattung in jüngster Zeit zu stillen Helden geworden.

Es war Aden, der das Dreigruppenbündnis ins Rollen gebracht hatte.

Clay warf ihm wieder einen flüchtigen Seitenblick zu. »Deine Krallen sind ausgefahren.«

»Verflixt.« Lucas zog sie mit äußerster Willenskraft ein, dann strich er sich die Haare aus den Augen. Die schwarze Mähne reichte ihm derzeit bis zum Nacken. Er hätte sie kürzen lassen, aber Sascha liebte es, mit den Fingern darin zu wühlen. Auch wenn er gelegentlich menschliche Gestalt annahm, war er durch und durch eine Katze und würde seine Chancen, gekrault zu werden, nicht freiwillig schmälern.

Leider waren es nicht derlei freudige Gedanken, die ihn im Moment umtrieben.

»Adens Leute haben über verborgene Kanäle im Medialnet Getuschel über Naya aufgeschnappt.« Sascha hatte ihm das geistige Netzwerk, das alle Medialen weltweit, mit Ausnahme der Abtrünnigen, verband, als einen gigantischen Wissensspeicher beschrieben. Es war nicht fest umrissen und so groß, dass niemand jemals alle Teile davon hätte kennen können.

Doch die Pfeilgardisten überwachten selbst seine dunkelsten Winkel. Ob sie nun Helden waren oder nicht, irgendjemand musste die Monster zur Strecke bringen, die im Medialnet ihr Unwesen trieben, jene verdrehten Kreaturen, die ausschließlich nach Mord und Gewalt trachteten. Selbst nach mehr als hundert Jahren kalter Emotionslosigkeit, die dazu gedacht gewesen war, geistige Labilität auszumerzen und ihre Gattung in eine Gattung ohne Makel zu verwandeln, gab es unter den Medialen noch immer eine abnorm hohe Anzahl von Serienkillern. Die Gardisten waren die Einzigen, die über die Stärke und Fähigkeit verfügten, diese Ungeheuer zu vernichten.

»Wieso reden Fremde über dein Kind?«, fragte Clay mit einem Knurren in der Stimme. »Naya geht sie einen verfluchten Scheiß an.«

»Ganz genau.« Lucas’ behütende Tendenzen waren schon immer heftig ausgeprägt gewesen, was sich wahrscheinlich einfach darauf zurückführen ließ, wer er war: ein potenzielles Alphatier von Geburt an, mit einem ihm innewohnenden aggressiven Beschützerinstinkt.

In seinem Fall war dieser Instinkt durch ein grauenvolles Erlebnis in seiner Kindheit extrem geschärft worden. Seine Mutter war bei einem Überfall umgekommen, sein Vater lebensgefährlich verletzt worden und Lucas selbst in die Hände eines verfeindeten Rudels geraten. Erfüllt von tiefer Trauer über den Tod seiner Mutter, die vor seinen Augen gestorben war, hatte er versucht, aus der Gefangenschaft zu entkommen, um seinen Vater zu retten. Vergebens.

Doch dieser Junge war er nicht lange geblieben. Lucas war zum Mann herangereift, zu einem Alphatier, mit Blut getauft. Er würde jedem, der irgendeinem seinem Schutz unterstehenden Rudelmitglied auch nur ein Haar krümmte, die Arme vom Körper reißen. Und das wäre erst der Anfang. »Aden erfuhr nicht viele Details«, sagte er. »Ihm zufolge wurde Naya zwar nicht namentlich erwähnt, aber allein die Tatsache, dass es in diesem Gespräch um ein Medialenkind mit einem Leopardenvater ging, lässt keinen anderen Schluss zu.«

Zum momentanen Zeitpunkt gab es auf der ganzen Welt nur ein einziges Kind mit einem medialen und einem Gestaltwandler-Elternteil: Nadiya Shayla Hunter. Naya. Lucas’ und Saschas schelmisches, quirliges, blitzgescheites Töchterchen, das in wenigen Wochen ein Jahr alt werden würde.

In diesem noch nicht einmal vollendeten ersten Lebensjahr hatte sie bei Lucas fundamentale Veränderungen bewirkt.

Nun verstand er, warum sein Vater bei seinem Tod mit sich im Reinen gewesen war. Carlo Hunter hatte an der Seite seiner geliebten Gefährtin Shayla gekämpft, um den gemeinsamen Sohn zu schützen, nur um sie auf herzzerreißende Weise zu verlieren und selbst grausamste Folterungen erleiden zu müssen. Doch trotz seiner massiven Verletzungen war er in Frieden aus dieser Welt geschieden. Der Tod bedeutete nichts, wenn das eigene Kind in Sicherheit war.

»Meinst du, es könnte pure Neugierde sein?«, fragte Clay. Der Wächter hatte sichtlich Mühe, seine Atemzüge zu kontrollieren. Er ballte die Fäuste um das Lenkrad und entspannte sie wieder. »Jetzt, da Silentium gefallen ist und die Medialen die Freiheit haben, zu fühlen und Beziehungen einzugehen, machen sich bestimmt viele Gedanken über die Zukunft. Naya ist ein lebendes, atmendes Symbol für diese Zukunft.«

»Nein.« Selbst wenn nur Neugierde dahintersteckte, behagte es Lucas nicht, dass seine Tochter Gesprächsthema von Unbekannten war, von denen noch immer ein gefährlich hoher Prozentsatz den Fall von Silentium und die »Verringerung« der »Perfektion« der medialen Gattung strikt ablehnte, aber das hier war weit schlimmer. »Aden sagt, seine Leute haben in dem Gespräch mehrfach das Wort ›Makellosigkeit‹ aufgeschnappt.« Nicht jeder mochte Veränderungen, vor allem dann nicht, wenn diese ihre Weltanschauung bedrohten, der zufolge ihre eigene Gattung allen anderen überlegen war.

»Scheiße«, stieß Clay rau hervor. »Ich dachte, die Makellosen Medialen seien ausgerottet?«

»Das sind sie auch.« Die gewaltbereite Pro-Silentium-Fraktion war vom Angesicht der Erde hinweggefegt worden. »Aber ihre Ideen sind noch immer im Umlauf und werden von hasserfüllten Fanatikern aufgegriffen. Es gibt keinen Beweis, doch vermutlich rührt das Konsortium in diesem fauligen Brei.« Wie könnte man die Welt besser destabilisieren als durch das Säen von Zwietracht zwischen den Gattungen?

Immerhin hatte das Konsortium es mit dieser Taktik bereits in größerem Stil versucht.

»Das musste ja so kommen«, sagte Clay. Es war eine unerwartete Feststellung. »Seit die Empathen zunehmend an Einfluss gewinnen, müssen in den Köpfen derer, die sich bis vor Kurzem als Platzhirsche betrachteten, alle möglichen Ressentiments herumschwirren. Plötzlich werden diese ›minderwertigen‹ Medialen als Helden verehrt.«

Lucas nickte. Trotz ihrer großen Gaben hatte sich seine eigene Gefährtin früher als »defekt« bezeichnet, weil man ihr eingetrichtert hatte, sich so zu sehen. »Adens Leute konnten nur Gesprächsfetzen aufschnappen, aber es wurde definitiv erwähnt, dass Nayas Mutter eine Empathin ist, und überlegt, wie man beide erwischen könnte.« Er ballte die Fäuste und zwang sich nachzudenken. »Ich werde sämtliche Sicherheitsprotokolle durchgehen, die Naya und Sascha betreffen.«

Er wusste, dass er Saschas volle Unterstützung haben würde; seine Gefährtin mochte sich über einige Vorsichtsmaßnahmen ärgern, die sie als die eine Hälfe des Alphapaares der DarkRiver-Leoparden in Kauf nehmen musste, aber was die Sicherheitsmaßnahmen für ihr Kind betraf, waren sie auf derselben Wellenlänge. Wenn überhaupt, dann war Sascha sogar noch beschützender als Lucas – er musste sie oft daran erinnern, dass Naya als eine Leopardengestaltwandlerin mehr Freiheiten brauchte als ein Menschen- oder Medialenkind gleichen Alters. Katzen mochten es nicht, eingesperrt zu sein. Noch nicht einmal die ganz kleinen, mit ihren zerbrechlichen Knochen und babyweichen Händen.

Behalte das im Hinterkopf, ermahnte er sich selbst. Gestatte dem Feind nicht, dich in eine Lage zu bringen, in der du gezwungen bist, deinem eigenen Kind Kummer zu bereiten.

Sascha hielt ihre Besorgnis mit aller Macht in Schach, nachdem Lucas’ Nachricht sie auf das gefährliche Gerede über Naya im Medialnet aufmerksam gemacht hatte. Es fiel ihr schwer, wusste sie doch nur zu genau, welch arglistige Kreaturen sich in den dunklen Ecken des geistigen Netzwerks versteckten und wie sehr einige von ihnen die Ursprünglichkeit der Gestaltwandler verabscheuten.

Für sie würde Saschas und Lucas’ Tochter eine Abnormität sein.

Ihr Bauch verkrampfte sich vor Wut.

»Mama!«

Mit ihrer ganzen Willenskraft überwand sie ihren Zorn und hielt die Hände ihrer kleinen Naya, die vor ihr hertapste, fester. Ihre und Lucas’ grünäugige Tochter war für ihr Alter schon recht sicher auf den Beinen und hatte außerdem einen starken Willen. So war sie fest entschlossen zu laufen, aber sie war noch klein und der Waldboden nicht gerade eben, darum half Sascha ihr, die Balance zu halten.

Nicht dass Naya nicht schon auszubüxen versucht hätte.

Doch im Moment umklammerten ihre winzigen Fingerchen Saschas Hände. Ihre zarte Haut hatte die Farbe von schimmerndem Karamell, eine Mischung aus Saschas dunklem Honig- und Lucas’ mattem Goldton. Naya war unter anderem anglo-indischer, japanischer, irischer und italienischer Abstammung und verfügte damit über ein ebenso kompliziertes wie wundervolles genetisches Erbe.

»Naya!«, antwortete sie mit demselben fröhlichen Ton in der Stimme, der ihre Tochter dazu animierte, ihr helles Lachen erklingen zu lassen.

Nachdem sie vom Baumhaus hierher gefahren waren, legten sie, Naya, Julian und Roman, gerade die letzten Meter bis zur Grenze des Yosemite-Territoriums der Leoparden zurück. Seit regelmäßig Treffen zwischen dem Nachwuchs des Rudels und den Kindern der Pfeilgarde stattfanden, war das Land zum Tummelplatz erkoren worden. Ursprünglich waren diese Zusammenkünfte dazu gedacht gewesen, den kleinen Pfeilgardisten beizubringen, wie man spielte. Bis Aden zum Befehlshaber aufgestiegen war, hatte man ihre kindliche Unschuld unterdrückt und sie einem Training unterzogen, welches dazu gedacht war, aus ihnen gnadenlose Killer zu machen und sonst nichts.

In sehr kurzer Zeit war ein faszinierender Austausch zustande gekommen: Die Gestaltwandler- und Menschenkinder lehrten die jungen Gardisten zu lachen, Spaß zu haben und mehr Rücksicht auf die Babys der Truppe zu nehmen, als sie es sonst getan hätten. Doch das Beste waren die Freundschaften, die sich zwischen den Kindern entwickelten, die in der übrigen Zeit über Videotelefonate Kontakt hielten.

Das Rudel hatte Klettergerüste und Schaukeln auf dem Areal installiert, zudem gab es ein offenes Feld, das zu freiem Spiel einlud. Nicht viele Menschen lebten außerhalb eines Rudels so weit hier draußen, doch die wenigen, die es taten, wussten, dass sie jederzeit willkommen waren, die Geräte zu benutzen und sich den Spielgruppen anzuschließen.

»Jungs!«

Julian und Roman, die ein Stück vorgelaufen waren, blieben abrupt stehen – zwei kleine Statuen in Jeans und T-Shirts. Um Saschas Mundwinkel zuckte es. Sie hatte eine Weile gebraucht, um diesen Tonfall zu lernen, aber er erwies sich als sehr wirksam, um die Aufmerksamkeit ihrer beiden Lieblingsplagegeister zu erringen.

Tamsyns Jungen waren die ersten Gestaltwandlerkinder, denen Sascha begegnet war. Sie hatte sie zum Fressen gern und verwöhnte sie nach Strich und Faden – aber sie hatte auch gelernt, ihnen Grenzen zu setzen, während sie heranwuchsen. Nicht, weil sie auf schlimme Art frech gewesen wären, aber sie verfügten beide über eine starke Persönlichkeit und mussten begreifen, dass Sascha der Boss war, wenn sie mit ihr zusammen waren.

Innerhalb der Hierarchie eines Rudels galten feste Regeln, und das aus gutem Grund. Sie gaben den jungen Leoparden ein Fundament, auf dem sie stehen konnten. Ohne Verwirrung, ohne Furcht. Einfach einen geschützten Bereich, wo sie ihre Stärke erproben und in ihre Persönlichkeiten hineinwachsen konnten.

Merkwürdigerweise schien der Ton auch bei der Hauskatze der beiden, Ferocious, Wirkung zu zeigen – welche sich dank Romans und Julians tüchtiger Ermutigung für eine große, mächtige Leopardin hielt. Aber heute war Ferocious zu Hause, und Sascha musste sich nur um die Zwillinge kümmern, die gerade ihr erstes Schuljahr absolvierten.

Sobald sie die beiden niedlichen »Statuen« erreichte, während Naya sich weiter an ihren Händen festhielt, sagte sie: »Ihr dürft euch jetzt rühren, aber bleibt in der Nähe.« Diese Spieltermine würden nur dann langfristig funktionieren, wenn alle sich sicher fühlten.

Jeder, der der Pfeilgarde angehörte, war von Geburt an mit gefährlichen geistigen Kräften ausgestattet.

Die erwachsenen Gardisten, die mithalfen, diese Zusammenkünfte zu überwachen, hatten ihre eigenen, undurchdringlichen Schilde um die Zöglinge ihrer Truppe gelegt, damit diese nicht versehentlich attackierten, sondern ungezwungen spielen konnten, ohne befürchten zu müssen, dass sie die Kontrolle über ihre tödlichen Fähigkeiten verloren. Unabhängig davon, errichtete Sascha jedes Mal eine zusätzliche Schicht von Schilden um jedes Menschen- und Gestaltwandlerkind in der Spielgruppe.

Anders als die Mehrzahl der Menschen verfügten die Gestaltwandler über starke natürliche Schilde, aber es wäre dumm gewesen, ein Risiko einzugehen.

Auch Ashaya nahm meistens teil, und zu zweit deckten sie die ganze Gruppe ab. Die seltenen Male, an denen es die Wissenschaftlerin nicht einrichten konnte, sprang Faith für sie ein. Im Gegensatz zu Sascha und Ashaya hatte die V-Mediale keine Kinder, aber sie liebte es, mit ihnen zu spielen, und freute sich immer, wenn sie aushelfen konnte. Da Faith ultrarealistische Illusionen zu erschaffen vermochte, die die Kids faszinierten, war sie ein gern gesehener Gast.

Heute waren beide Frauen anwesend, wie Sascha bei ihrer Ankunft auf dem Tummelplatz feststellte. Ashayas samtig braune Haut schimmerte im Sonnenlicht, ihre prächtigen wilden Locken waren zu einem festen Zopf geflochten. Auf den ersten Blick wirkten diese Locken dunkelbraun, doch tatsächlich wiesen sie viele verschiedene Schattierungen auf, von reinem Schwarz bis hin zu goldfarbenen Strähnen. Sie war mit Jeans und einem UC-Berkley-Sweatshirt bekleidet, welches, der Größe nach zu urteilen, ihrem Gefährten gehören musste.

Neben ihr klatschte Faith mit Ashayas sechseinhalbjährigem Sohn Keenan ab, bevor dieser davonflitzte, um zu spielen. Die Pfeilgardisten waren noch nicht eingetroffen, aber mehrere Leopardenkinder turnten bereits mit ihren keinem Rudel angehörenden Freunden aus dem Menschenvolk auf den Klettergerüsten. Wegen des halben Schultags heute blieb mehr Zeit zum Spielen, was die Kinder sichtlich entzückte. Die Pfeilgarde, die ihre eigene Schule hatte, war gern bereit gewesen, sich dem Beispiel anzuschließen und ebenfalls früher Schluss zu machen.

»Dürfen wir spielen gehen, Saschaschätzchen?«, fragte Julian mit einem lausbübischen Ausdruck im Gesicht, der sie mitten ins Herz traf.

»Aber unbedingt, Mr Ryder.«

Ihre trockene Antwort brachte die Zwillinge so heftig zum Lachen, dass ihre Augen die grün-goldene Farbe ihrer Leoparden annahmen, bevor Julian Naya ihre Hand hinstreckte und Roman es ihm nachtat. »Komm, Naya!«

Mit beeindruckend präziser Koordination für eine knapp Einjährige ergriff Naya gleichzeitig beide Hände, und sie zogen ab. »Für zwei solche Energiebündel«, sagte Sascha an Faith und Ashaya gewandt, »sind sie unglaublich geduldig mit ihr.« Sie sah zu, wie die Zwillinge das kleine Mädchen in eine für Kleinkinder geeignete Schaukel setzten und sich vergewisserten, dass sie nicht herausfallen konnte.

Naya strampelte glücklich mit den Beinen.

»Ja, das sind sie«, stimmte Ashaya lächelnd zu, während sie weiter ein Auge auf die Kinder hatte. »Zum Teil liegt es an ihrem Charakter, aber es ist auch ein Beleg dafür, wie sie aufgezogen werden, wie das Rudel an sich seine Kinder großzieht.« Sie runzelte die Stirn, als ein kleines Mädchen auszurutschen drohte – nur um sofort von einem geistesgegenwärtigen Leopardenjungen vor dem Hinfallen bewahrt zu werden.

»Maureen musste mit ihrem Baby zum Arzt«, fügte Ashaya hinzu. Die Menschenfrau war eine Nachbarin des DarkRiver-Rudels. »Sie hat darum gebeten, dass wir auf ihre beiden Töchter aufpassen.«

Aus besonderer Sorge um die Menschenkinder, die noch verletzbarer waren als die jungen Gestaltwandler, hatte Sascha ihren Schild automatisch erweitert, um Faith und Ashaya zu unterstützen. »Ich habe sie.«

»Ich liebe das hier.« Faith, die einen dünnen, königsblauen Pullover mit V-Ausschnitt trug, der ihr dunkelrotes Haar und ihre alabasterweiße Haut wunderschön zur Geltung brachte, setzte sich auf die Bank, die die Kinder benutzten, um darüber zu springen oder zu klettern, als Clubhaus, um darunter zu spielen oder was auch immer ihre Fantasie ihnen sonst eingab. »Hier ist so viel Hoffnung, so viel Licht.«

Ashayas helle, blaugraue Augen versenkten sich in Faiths kardinales Sternenlicht. »Ich weiß genau, was du meinst. Die Kinder haben keine Vorstellung von Gattungen, Kriegen oder widerstreitenden politischen Ideologien. Sie erkennen nur, wer ein guter Freund ist, und wer nicht.«

Ein Automotor war zu hören, leise zwar, aber doch so unerwartet, dass Sascha instinktiv in die Richtung blickte. Natürlich konnte sie durch die Bäume nichts erkennen, doch kurz danach nahm sie ein Klopfen an ihrem Geist wahr. Es war ein vertrautes Bewusstsein, kühl, beherrscht und machtvoll: Judd Lauren, früherer Pfeilgardist, starker TK-Medialer und derzeit Offizier der SnowDancer-Wölfe.

Verwundert darüber, dass er den weiten Weg von der tief in den Bergen der Sierra Nevada gelegenen Wolfshöhle gekommen war, antwortete Sascha auf seine telepathische Berührung mit einer Frage. Bist du hier, um zu sehen, wie so ein Spieltermin bei uns abläuft? Die Wölfe hatten bisher hauptsächlich mit älteren Jugendlichen der Pfeilgarde zu tun gehabt, doch sie wusste, dass sie darüber berieten, ebenfalls eine Spielgruppe einzuführen.

Ich habe Marlee mitgebracht, entgegnete der Offizier. Sie ist neugierig, ob es bei euch irgendwelche Medialenkinder ihres Alters gibt, mit denen sie sich bei telepathischen Spielen messen könnte. Toby spielt zwar mit ihr, aber sie weiß, dass er sie gewinnen lässt.

Sascha musste lächeln, als Judd seinen Neffen erwähnte. Der liebenswerte Dreizehnjährige verfügte über eine schwache empathische Gabe und ein großzügiges Herz. Die meisten in dieser Gruppe sind jünger als sie, aber ich habe eine Nummer, unter der ich Vasic erreichen kann. Vielleicht kennt er ein Kind, das gern eine Spielgefährtin außerhalb der Pfeilgarde hätte.

Sascha hatte ihr Gespräch mit Vasic gerade beendet, als Judd und Marlee eintrafen. Die Zehnjährige hatte ihr erdbeerfarbenes Haar zu einem Seitenzopf geflochten und trug zu ihrer schwarzen Outdoor-Drillichhose ein hellblaues T-Shirt, auf dessen Vorderseite ein fröhliches, gelb-weißes Gänseblümchen prangte.

Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie Sascha entdeckte, dann rannte sie zu ihr und fiel ihr um den Hals.

Da Sascha Toby dabei half, die empathische Komponente seiner Fähigkeiten in den Griff zu bekommen, besuchte sie die Wolfshöhle weit regelmäßiger als die meisten ihrer Rudelgefährten. Sie hatte das Gefühl, sämtliche Kinder der SnowDancer-Wölfe zu kennen. »Hallo, Herzchen.« Sie drückte das Mädchen an sich. »Mit Faith und Ashaya hast du schon Bekanntschaft gemacht, nicht wahr?«

»Hi«, sagte Marlee mit einem Lächeln, blieb jedoch dicht bei Sascha.

»Marlee!«, rief Keenan von seinem Hochsitz auf dem Klettergerüst aus.

Sie sauste hinüber, um mit dem kleinen Jungen zu plaudern. Wie alle Kinder, die in einem Rudel aufwuchsen, war sie es gewöhnt, Freunde aller Altersstufen zu haben. In wenigen Jahren würde auch von ihr erwartet, dass sie die kleinen Kinder hütete und bei Bedarf den älteren Leuten zur Hand ging, damit die Bindungen zwischen Jung und Alt weiterhin gepflegt wurden.

Es bestand eine seltsame Ähnlichkeit zu den Strukturen innerhalb von Medialenfamilien, zumindest, was das generationsübergreifende Miteinander betraf. Saschas Erziehungsberichten zufolge hatte ihre Großmutter mütterlicherseits, Reina Duncan, in Saschas Kindheit durchaus eine Rolle beim Überwachen ihrer Fortschritte gespielt.

Aufgrund von Reinas Stellung als Oberhaupt der Familie Duncan war diese Beaufsichtigung aus der Ferne erfolgt. Und sie hatte lange vor Reinas Tod ein Ende gefunden, nämlich als Nikita die Schattenmacht hinter dem Thron geworden war. Tatsächlich war Sascha sich nicht sicher, ob ihre Mutter nicht von Anfang an die Fäden in der Hand gehabt hatte, aber auf ihren frühesten Schul- und Konditionierungsberichten stand Reinas Unterschrift.

Es war nicht die Art von Familie, wie die Gestaltwandler sie kannten, aber eine Familie war es dennoch.

Sie sann gerade über weitere Ähnlichkeiten zwischen den Gattungen nach, als Vasic die Kinder der Pfeilgarde zu teleportieren begann, darunter auch ein Mädchen und einen Jungen, die etwa so alt waren wie Marlee. Mit Ausnahme dieser drei, die sich – beaufsichtigt von Judd – zaghaft unter einen Baum setzten, um geistige Spiele zu spielen, die dazu gedacht waren, ihre telepathische Flinkheit und Geschicklichkeit zu verbessern, hatten alle anderen Kinder schon bei früheren Gelegenheiten zusammen gespielt.

Infolgedessen beteiligten sie sich ohne Zögern an den Spielen, die bereits im Gang waren.

In der Truppe gab es derzeit kein Kind, das so jung war wie Naya, und ihr gewohnter, zweijähriger Spielgefährte hatte heute einen Untersuchungstermin bei der Heilerin, aber trotzdem war Saschas Kleine keine Sekunde allein. Die Kinder wechselten sich dabei ab, sie anzuschubsen, und ein niedlicher, dreijähriger Mini-Pfeilgardist mit roten Pausbacken und hellbraunen Locken kletterte mit Vasics Hilfe in die Schaukel neben Nayas’, um, wie es schien, ein ernsthaftes Gespräch mit ihr zu führen.

Ihr kleines Mädchen war glückselig, das spürte Sascha. Kurz darauf versuchte Naya, ihre telepathischen Fühler nach ihrem neuen Freund auszustrecken, aber Sascha erinnerte sie sanft daran, dass sie zuerst um Erlaubnis fragen müsse, dann zeigte sie ihr, wie das ging. Währenddessen behielt sie weiter die anderen Kinder in ihrer Obhut im Auge und achtete auf irgendwelche Anzeichen von Stress. Dieser konnte durch einen versehentlichen telepathischen Schlag ausgelöst werden, doch Sascha war eine Empathin, daher lag ihr das emotionale Wohlergehen ihrer Schutzbefohlenen ebenso am Herzen wie ihr physischer Zustand.

Zehn Minuten später erregte ein Tumult während der Fußballpartie auf dem Feld neben dem Spielplatz ihre Aufmerksamkeit.

Ein Junge in Leopardengestalt hatte offenbar einen kleinen Pfeilgardisten mit den Zähnen ins Gesäß gezwickt, woraufhin dieser ihn mit seinen geistigen Kräften attackiert zu haben schien. Darauf ließ zumindest die Tatsache schließen, dass er wie erstarrt und mit blassem Gesicht zu dem jungen Gardisten hinübersah, der den Schlag abgefangen haben musste, bevor er Schaden anrichten konnte.

Abbots blaue Augen glitten von Sascha zu Ashaya. Was soll ich jetzt tun?, schienen sie zu fragen.

»Ich kümmere mich darum.« Ashaya ging zu den beiden Missetätern, dann deutete sie auf eine Stelle unter einem Baum.

Beide Kinder trotteten mit gesenkten Köpfen dorthin. Ashaya wies sie an, sich zu setzen und fernab der Spielaktivitäten eine Viertelstunde nur in der Gesellschaft des anderen dort auszuharren.

Anschließend nötigte sie den kleinen Leoparden, sich für den Biss zu entschuldigen – nachdem er sich gewandelt hatte, damit der Pfeilgardist ihn verstehen konnte.

»Ist schon okay«, meinte der Junge voller Großmut, was der Leopard mit einem Lächeln quittierte. »Ich hätte erst denken und dann handeln müssen. Das hämmert unser Lehrer uns ständig ein. Ich hätte dich verletzen können.«

»Und ich darf nicht beißen«, bekannte der Leopard in beschämtem Flüsterton. »Meine Zähne sind sehr kräftig.«

Der Pfeilgardist, der die Parallele offenbar erkannte, nickte.

»Gut gemacht, Jungs.« Ashaya umarmte beide, bevor sie sie zu ihrem Spiel zurückkehren ließ – was sie gemeinsam taten.

Naya amüsierte sich unterdessen damit, ihrem stimmgewaltigen neuen Freund zu telepathieren, während Faith und Vasic beide auf ihren Schaukeln anschubsten. Der Teleporter, der nach einem misslungenen Biofusionsexperiment seinen linken Arm verloren hatte, schien derzeit eine neue Prothese zu testen. Deren glänzendes Metall faszinierte die Kinder, und Vasic ging immer wieder vor ihnen in die Hocke, damit sie es mit ihren kleinen Händen neugierig betasten konnten, während sie ihn mit Fragen bestürmten.

Die wievielte ist das jetzt?, erkundigte sich Sascha, als er sich zu einem vorwitzigen Leopardenjungen vorbeugte. Sie wusste, dass der brillante Ingenieur, der die Prothese entwickelt hatte, davon besessen war, ein Modell zu konstruieren, das sich erfolgreich mit Vasics defektem System verbinden ließ.

Diese hier zählt nicht – Samuel will mit ihr nur verschiedene Komponenten testen, erklärte der TK-R-Mediale, während er sich aufrichtete, um Naya, die noch immer nicht genug davon hatte, hin- und herzuschaukeln, weiter anzuschubsen. Dieses Mal überprüft er einen computergesteuerten Mechanismus, von dem er hofft, dass er den Wärmestau in Schach hält.

Und, funktioniert es?

Vasic schüttelte den Kopf, sein attraktives Gesicht war ausdruckslos, aber ohne Kälte. Ich merke schon jetzt, wie die Hitze an der Verbindungsstelle ansteigt. Tatsächlich würde ich die Prothese gern ablegen. Könntest du zusammen mit den anderen die Schilde übernehmen, während ich kurz weg bin?

Ja, natürlich. Außer ihr waren Judd, Faith, Ashaya und Abbot anwesend, damit standen ihnen reichlich geistige Kräfte zur Verfügung.

Vasic war gerade eine Minute weg, als Sascha einem durstigen Kind einen Becher Wasser aus den Vorräten, die Faith mitgebracht hatte, gab und ihr Blick auf Roman fiel, der vom höchsten Punkt eines Klettergerüsts sprang.

»Nein!« Sie wusste, dass er falsch aufkommen und sich vermutlich den Arm brechen würde … aber er wandelte sich mitten im Fall und landete mit einer Rolle, die ihm die Luft aus den Lungen presste, doch er verletzte sich nicht.

Obwohl ihr Herz wild klopfte, hielt Sascha sich davon ab, zu ihm zu rennen. Leopardenjunge brauchten Unabhängigkeit, rief sie sich zum tausendsten Mal ins Gedächtnis. Trotzdem beobachtete sie ihn, bis sie ganz sicher war, dass er sich wirklich nichts getan hatte – wofür er den Beweis lieferte, indem er mit stolz aufgerichtetem Schwanz und einem selbstgefälligen Ausdruck in seinem süßen kleinen Gesicht davonsprang.

In diesem Moment bemerkte sie, dass Naya ihrem älteren Rudelgefährten ganz gebannt nachsah.

Sascha unterdrückte ein Stöhnen, bis das Kind fertig getrunken hatte und zurück zu seinen Spielkameraden lief. »Naya wird auch bald damit anfangen, aus großer Höhe zu springen, oder?«

Ashaya tätschelte ihr die Hand. »Sie wird es überleben. Sogar Keenan macht das prima, dabei ist er noch nicht mal eine Katze. Um ganz ehrlich zu sein, hat er sich beim ersten Mal, als seine Freunde ihm beizubringen versuchten, den Weg über die Bäume zu nehmen, den Arm gebrochen, aber das war ein einmaliger Ausrutscher.«

»Ich finde das nicht sehr tröstlich«, kommentierte Sascha verdrossen.

Mit einem Lachen, dessen Wärme die vielen Jahre, die sie in eisigem Silentium verbracht hatte, Lügen strafte, krempelte die Wissenschaftlerin die Ärmel ihres Sweatshirts hoch, obwohl es trotz des nahenden Sommers im Wald relativ kühl war. »Ich bin schon ganz gespannt, welche Tricks sich ein mediales Gestaltwandlerkind einfallen lassen wird.«

Ein mediales Gestaltwandlerkind.

Genau das war Naya. Einzigartig … und dadurch in Gefahr.

2

Da sie von einem Verkehrsstau, verursacht von einem Lieferwagen, der seine Ladung auf der Straße verloren hatte, aufgehalten worden waren, würden noch einmal zehn Minuten vergehen, bis Lucas und Clay die Piers erreichten. Das war frustrierend, nachdem sie den Wagen nur genommen hatten, um schneller ans Ziel zu kommen, aber Jon und seine Freunde hatten versprochen, sich bis zu ihrer Ankunft nicht vom Fleck zu rühren.

»Kannst du mit Teijan sprechen?«, fragte Lucas, als ihm der salzige Geruch der See verriet, dass sie fast am Wasser angelangt waren. »Instruiere die Ratten, die Ohren nach auch wirklich jeder Erwähnung von Naya außerhalb unseres Rudels und dem der SnowDancer-Wölfe offen zu halten. Selbst wenn sie harmlos scheint.«

Die Ratten, von denen nur vier – drei Erwachsene und ein Kind – echte Gestaltwandler waren, lebten in den alten U-Bahn-Tunneln von San Francisco, aber sie besaßen die Fähigkeit, sich praktisch unsichtbar überall in der Stadt zu bewegen. Das machte sie zu äußerst wirksamen Spionen, und obwohl sie nicht direkt für die DarkRiver-Leoparden arbeiteten, hatte das Rudel eine Vereinbarung mit den Ratten getroffen, der zufolge Teijan alle wichtigen Informationen an dieses weitergeben würde.

Als Gegenleistung für diese Loyalität hatten die weit weniger mächtigen Ratten von den Leoparden die Zusage, in ihrem Territorium leben zu dürfen, obwohl Letztere, als die dominanten Raubtiere in der Region, jedes Recht gehabt hätten, die Ratten zu vertreiben. Notfalls mit brutaler Gewalt. Es war ein brutales Gesetz, doch es wahrte den Frieden zwischen den Raubtieren.

Teijan und seine kleine Gruppe hatten dem DarkRiver-Rudel Treue gelobt, und die Informationen, die sie lieferten, waren von unschätzbarem Wert. Wann immer sie in einem Geschäftsabschluss resultierten, traten die Leoparden einen bestimmten Prozentsatz des Gewinns an die Ratten ab. Im Lauf der Zeit hatte sich aus dieser Art eines Handelsabkommens etwas anderes entwickelt, das nicht ganz eine Allianz war, einer solchen aber vermutlich so nahe kam, wie es zwischen zwei Gruppen, zwischen denen ein derartiges Machtgefälle bestand, möglich war.

Anstatt sich in ihren Tunneln zu verstecken, hatten die Ratten für ihre Stadt gekämpft, als San Francisco angegriffen worden war.

Lucas würde ihnen das niemals vergessen.

»Ist schon erledigt.« Clay verlangsamte, damit ein Fußgänger, der das Umschalten der Ampel falsch eingeschätzt hatte, sicher auf den Gehsteig gelangen konnte. »Willst du außerdem bei deinen Kontaktleuten vom Dreigruppenbündnis vorfühlen und sie bitten, ihre Lauscher aufzustellen?«

Lucas blickte finster, während er, den Arm im Fensterrahmen aufgestützt, die pulsierende Metropole an sich vorüberziehen ließ. »Ich werde darüber nachdenken, aber im Moment vertraue ich nur einer winzigen Minderheit derer, die das Abkommen unterzeichnet haben.« Jeden von ihnen hatte er schon vor dem Zustandekommen der ambitionierten Zusammenarbeitsvereinbarung gekannt und geschätzt.

Lucas wünschte sich, dass das Dreigruppenbündnis Erfolg hätte, stärker wahrscheinlich als jeder andere auf der Welt, mit Ausnahme von Sascha, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt war es noch zu neu und unerprobt. »Dieses Bündnis geht mit zwei grundlegenden Problemen einher«, ergriff er wieder das Wort. »Erstens: Wie soll man die Aufrichtigkeit jener feststellen, die es unterzeichnen und bei sämtlichen Entscheidungen mit einbezogen werden wollen? Man darf mit Sicherheit davon ausgehen, dass es sowohl dem Konsortium als auch anderen, aus Gründen, die nur sie kennen, ein Anliegen ist, das Bündnis scheitern zu sehen.«

Der Friede war nicht für jeden gut; darunter befanden sich auch jene, die Waffen herstellten und sich am Elend anderer bereicherten. Seit das Dreigruppenbündnis geschmiedet worden war, hatten die Leute aufgehört, einander zu bekämpfen, sogar im Medialnet war der Bürgerkrieg einem Waffenstillstand gewichen, der zu halten schien. Die Pro-Silentium-Fraktion war nicht gänzlich verschwunden, aber denen zufolge, die die komplexe politische Situation innerhalb des geistigen Netzwerks verstanden, hatte der Aufstieg der Empathen die fanatische Splittergruppe bis ins Mark erschüttert.

Unter Silentium waren die E-Medialen grausam unterdrückt worden, man hatte ihre Fähigkeit, Wunden des Herzens und des Geistes zu heilen, als überflüssig innerhalb einer Gattung erachtet, die Gefühle per Gesetz verbot und jede Abweichung vom Status quo mit brutaler Rehabilitation bestrafte. Doch vergangenen Winter hatten die Empathen auf eindrucksvolle Weise bewiesen, dass sie zwingend erforderlich waren.

Ohne sie wäre das Medialnet kollabiert – das würde es noch immer, wenn man sie aus der Gleichung herausnähme.

Und ohne das Biofeedback, welches das geistige Netzwerk bereithielt, würden die Medialen binnen Sekunden einen qualvollen Tod sterben.

Das stellte die bekanntesten Pro-Silentium-Gruppen vor ein Dilemma: Wie sollten sie von Neuem eine Gesellschaft ohne Gefühle erschaffen, wenn das Herzstück dieser Gesellschaft in weiten Teilen aus Empathen bestand, für die Emotionen das Lebenselixier waren? Das hatte zur Folge, dass sie nicht mehr lautstark Protest erhoben, während sie unter sich weiter über dieses Problem debattierten. Sogar die labilen Splittergruppen hatten ihren Bomben- und Kugelhagel eingestellt, wenngleich niemand wusste, für wie lange.

Natürlich war keine dieser Reaktionen auf das Dreigruppenbündnis zurückzuführen, dennoch stand dieses weltweit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Inklusive dem der Unzufriedenen aller drei Gattungen – jeder wartete darauf, was als Nächstes geschehen, ob sich das Dreigruppenbündnis als Machtzentrum bewähren oder scheitern würde.

Doch es waren nicht nur die Waffenproduzenten, die über die Auswirkungen des Dreigruppenbündnisses nicht glücklich sein dürften. Zweifelsohne war auch mancher Firmeninhaber – aus dem Volk der Medialen, der Menschen wie der Gestaltwandler – vergrätzt, weil das Abkommen eine explosionsartige Ausweitung geschäftlicher Netzwerke zwischen den drei Gattungen unterstützte. Das war fantastisch für gewiefte Unternehmer, die gute Leistungen erbrachten, aber nicht so gut für jene, die sich mit minderwertiger Arbeit über Wasser hielten, weil der Wettbewerb für ihre Auftraggeber nicht genauso zugänglich war.

Selbst einflussreiche Familien mit Verbindungen zu großen Pharmaunternehmen mussten mit Argwohn beäugt werden, weil in Friedenszeiten bestimmte Medikamente nicht gebraucht wurden, oder nicht länger profitabel waren. »Es ist reine Glückssache, wem man vertrauen kann und wem nicht«, fügte Lucas hinzu. »Das wird eine langfristige Herausforderung.«

Clays Hände glitten geschmeidig über die manuelle Steuerung. »Hat Ming LeBon wirklich darum gebeten, die Vereinbarung zu unterzeichnen?«

»Ja, wenn auch nur, um die Dinge weiter zu verkomplizieren.« Dieses Mal machte Lucas sich nicht die Mühe, sein Fauchen zu unterdrücken. »Auch wenn Hawke noch immer zögert, diesen Hurensohn zu liquidieren, werden sich die Wölfe aus dem Bündnis zurückziehen, sollte man Ming erlauben, seine Unterschrift darunterzusetzen. Und wir werden dasselbe tun.« Das SnowDancer-Rudel und die DarkRiver-Leoparden einte ein Blutband, und Ming LeBon hatte, neben seinen zahlreichen anderen Schwerverbrechen, das Leben von Hawkes Gefährtin bedroht.

»Die Vergessenen werden ebenfalls austreten.« Die Gemeinschaft der Vergessenen, gegründet von Rebellen, die sich mit der Einführung von Silentium vor über einhundert Jahren vom Medialnet abgekehrt hatten, hatte sich im Lauf der Zeit mit Menschen und Gestaltwandlern vermischt und dabei einzigartige neue Fähigkeiten entwickelt, wie sie die »reinblütige« mediale Bevölkerung nie gekannt hatte.

Ming LeBon wollte Zugriff auf diese Kräfte und hatte zu diesem Zweck eine ganze Reihe von Kindern der Vergessenen entführen lassen, was viele mit dem Tod bezahlt hatten.

»Die Pfeilgardisten ebenso.«

»Keine Frage.« Ming war lange Zeit der Führer der Truppe gewesen, aber nach allem, was Lucas gehört hatte, hatte das ehemalige Mitglied des Rats der Medialen die seinem Befehl unterstehenden Männer und Frauen als leicht zu ersetzendes Werkzeug missbraucht, die Pfeilgardisten als sein persönliches Todesgeschwader benutzt und Hinrichtungsbefehle für »defekte« Gardisten unterzeichnet.

Aden hatte das Bündnis initiiert, aber das Gefühl sagte Lucas, dass dieser – samt seiner Truppe – eher von Grund auf neue Allianzen schmieden würde, als in irgendeiner Weise noch einmal mit Ming LeBon in Beziehung zu stehen, und sei es nur über das hauchzarte Gespinst des Dreigruppenbündnisses. »Und sobald die Wölfe und die Leoparden aussteigen, wird eine Vielzahl anderer Rudel unserem Beispiel folgen.« Nicht zwingend Verbündete, aber doch Freunde oder einfach nur Gestaltwandler, die weit mehr darauf vertrauten, dass die beiden Rudel ihnen im Ernstfall beistehen würden als Fremde in einem im Entstehen begriffenen Bündnis.

In Clays Stimme schwang ein unerwartetes Lächeln mit, als er vorschlug: »Vielleicht sollte der Nachweis einer Mitgliedschaft im ›Ming-muss-sterben-Club‹ Grundvoraussetzung für die Unterzeichnung der Vereinbarung sein.«

»Sehr witzig.« Lucas schüttelte den Kopf, den Blick geradeaus gerichtet, seine Gedanken ganz bei diesem Schlamassel. »Das Problem ist, dass gewisse, zur Minderheit zählende Mitglieder Ming dabeihaben wollen – und ich kann sogar nachvollziehen, warum.« Der frühere Ratsherr war derzeit die herrschende Macht in weiten Teilen Europas. »Um ihn aus größerer Nähe überwachen zu können, wäre es vielleicht wirklich das Beste, ihn teilhaben zu lassen.«

Clay ließ ein Knurren hören. »Er wäre trotzdem Gift.«

»Ja, das stimmt.« Lucas besaß das Talent, sich in die Gegenseite hineinzuversetzen, und war wegen seines disziplinierten Temperaments zum Sprecher unzähliger Rudel bei allem, was das Dreigruppenbündnis betraf, erkoren worden, aber in Bezug auf Ming würde er ganz bestimmt niemals einlenken. »Ich würde keinem Beschluss, an dem er beteiligt ist, über den Weg trauen, sondern immer darauf warten, dass er uns und allen anderen von hinten ein Messer in den Rücken sticht. Ming interessiert sich nur für Ming.«

Bei dem Gedanken an den früheren Ratsherrn kniff er die Augen zusammen, dann streckte er seine in Jeans steckenden Beine aus, als sein Blick zwei Männer auf dem Bürgersteig erfasste. »Sieht aus, als habe Jamie seinen Jetlag überwunden.« Der ranghohe Soldat war auf direktem Weg von den Salomonen eingeflogen, der weit entlegene Inselstaat die letzte Etappe auf seinem Streifzug durch die Welt.

Fast jede Katze ging im Lauf ihres Lebens irgendwann einmal auf Tour. Manche für Wochen, andere für Monate, ein paar wenige für Jahre. Es war Teil ihres Wesens, der Raubkatze in ihnen geschuldet, die ebenso stark ausgeprägt war wie ihre menschliche Seite. Diese Erkundungstour half ihnen, sich zu entwickeln, in ihre Haut hineinzuwachsen. So gut wie alle kehrten nach Hause zurück, denn ihre menschliche Seite mäßigte die einzelgängerischen Neigungen ihres Leoparden.

In seinen dreizehn Jahren als Alphatier hatte Lucas nur drei derer, die auf Streifzug gegangen waren, verloren. Einen durch einen Unfall, der überall auf der Welt hätte passieren können, zwei durch weit glücklichere Umstände: Sie hatten Gefährten in anderen Regionen der Erde gefunden und beschlossen, dort zu bleiben. Auf diese Weise hatten sie die DarkRiver-Leoparden mit einem Rudel in Indien und einem in Botswana vernetzt.

»Ich habe ihn heute Morgen gesehen«, entgegnete Clay. »Er hat Nate gebeten, ihn ganz in den aktiven Dienst zurückzuversetzen, und jetzt bekleidet er wieder seinen Posten als Techniker bei CTX.«

»Techniker« war ein weit gefasster Begriff für alle möglichen Spezialisten. Tatsächlich war Jamie ein hoch qualifizierter Experte für Tontechnik und Holografie. Doch in erster Linie war er ein dominantes Rudelmitglied und ein vertrauenswürdiger, ranghoher Soldat, der kurz davor stand, zum Wächter befördert zu werden. Neben ihm ging ein jüngerer Kollege, auch dieser unglaublich viel versprechend.

Lucas hielt es nicht für einen Zufall, dass Kit mit Jamie sprach.

»Noch mal zurück zu Ming.« Clay bleckte die Zähne, weil vor ihnen ein Wagen in zweiter Reihe parkte, dann fuhr er in einem Schlenker um ihn herum. »Wird die Frage nach dem Mehrheitsprinzip entschieden?«

»Das Dreigruppenbündnis verfügt nicht über ein offizielles Abstimmungssystem.« Dies war einer der Punkte, die man in dem eiligen Bestreben, eine geeinte Front gegen das Konsortium zu bilden, übersprungen hatte. »Denjenigen unter uns, die Aden von Anfang an miteinbezogen hat, ist nie in den Sinn gekommen, dass wir womöglich Leute aus dem Abkommen würden heraushalten wollen. Es ging immer nur darum, wie wir sie überzeugen könnten, an die Sache zu glauben.«

Lucas fragte sich häufig, warum er sich freiwillig erboten hatte, für über fünfundzwanzig Rudel – Tendenz steigend – als erste Anlaufstelle für sämtliche Belange das Dreigruppenbündnis betreffend zu fungieren. Bis ihm dann Naya einfiel. Seine und Saschas kluge, lustige kleine Tochter, die sein Gesicht mit dicken Küssen übersät hatte, bevor er das Baumhaus heute verlassen hatte, und die sich in ein kicherndes Bündel verwandelte, wenn er sie kitzelte. Halb Mediale, halb Gestaltwandlerin und zu hundert Prozent ein kleiner Wildfang – und, wie Adens Informationen heute mit aller Deutlichkeit bewiesen hatten, eine Bedrohung für all jene, die Veränderungen verabscheuten und den Lauf der Welt anhalten wollten.

Wieder spannte sich sein Bauch an, seine Krallen kratzten an seiner Haut. Er würde niemandem erlauben, Nayas Licht zu verdunkeln.

Er wollte, dass sie in einer vereinigten Welt groß wurde, nicht in einer gespaltenen. Seine Tochter sollte sich niemals für eine Seite ihres genetischen Erbes entscheiden müssen.

Lucas würde bis zum letzten Atemzug kämpfen, um das sicherzustellen.

»Was ist das zweite Problem?« Clay hielt vor einem an The Embarcadero gelegenen Lagerhaus, das den DarkRiver-Leoparden gehörte. »Du sagtest, es gibt zwei.«

»Lass uns ein wenig gehen und dabei weiterreden«, schlug Lucas vor. »Noch kannst du es rechtzeitig auf die Baustelle schaffen.«

Er ließ das Beifahrerfenster hochfahren, stieg aus und schloss die Tür, bevor er die salzige Luft der Küste einatmete und Clay folgte, der bereits auf die wartenden Jungs zusteuerte. Es wehte ein laues Lüftchen, und die Sonne strahlte aus einem wolkenlosen Himmel herab. Lucas hörte leises Stimmengewirr in der Ferne, fühlte die Vibrationen der Fahrzeuge auf der Straße, roch den Duft von Meerwassertoffees, die in einem nahe gelegenen Süßwarenladen frisch zubereitet wurden.

Das warme Licht animierte seinen Panther dazu, sich wohlig zu räkeln, und er musste der plötzlichen Versuchung widerstehen, sich zu wandeln und ein Sonnenbad auf dem Pier zu nehmen. Solches Benehmen geziemte sich nicht für ein Alphatier – andererseits wäre es interessant, wie die Leute auf einen schwarzen Panther in ihrer Mitte reagieren würden, vor allem, wenn er in eine Metzgerei ginge und auf ein Filetstück zeigte.

Da Gestaltwandlerkatzen größer waren als ihre wilden Artgenossen, würde er einen ziemlichen Eindruck hinterlassen.

»Mann, ich liebe diese Sonne«, seufzte Clay just in diesem Moment. »Am liebsten würde ich mich behaglich zusammenrollen wie diese getigerte Katze dort drüben.«

Grinsend erzählte Lucas dem Wächter, woran er gerade gedacht hatte. Ein breites Lächeln erschien auf Clays Gesicht. »Lass uns das an Halloween machen. Um die Touristen in Schrecken zu versetzen. Wir können die jagen, die gemein zu den Ladenbesitzern sind.«

Tief belustigt auf eine Weise, wie nur eine Raubkatze es sein konnte, wich Lucas einem kleinen, angeleinten Kläffer aus, der sich für einen Mastiff hielt. Er hätte ihn mit einem einzigen harten Blick zum Schweigen bringen können, aber wozu einem Hündchen seinen Traum vom Ruhm nehmen?

»Das zweite Problem hängt mit den Abstimmungen zusammen«, sagte er, während sie ihren Weg fortsetzten. »Ursache allen Übels ist das Fehlen einer Satzung oder Verfassung.« Die dringend notwendig gewesen wäre, um den Erfolg einer solch bunt gemischten Körperschaft, deren Mitglieder über die ganze Welt verstreut waren, zu gewährleisten.

Derzeit war das Bündnis kaum mehr als die Übereinkunft, miteinander zu kommunizieren; dafür waren die Wege geebnet. Aber um wirklich eine stabilisierende Macht zu werden, aus der das Vereinigte Bündnis aller Nationen entspringen sollte, mussten die Bindungen wesentlich enger werden. Vor allem, da Vertrauen ein großes Fragezeichen für die ganze Mitgliedergemeinschaft blieb.

»Da drüben sind die Jungs.«

Lucas, der sie bereits gewittert und als Rudelgefährten identifiziert hatte, nickte. Die vier Teenager standen dicht zusammen und wippten mit hochgezogenen Schultern und ungewohnt ernsten Gesichtern nervös auf ihren Füßen.

Als Jon Clay und Lucas entdeckte, sagte er etwas zu seinen Kumpels, und alle sprinteten los, bis sie in der Mitte des Piers mit ihnen zusammentrafen. Die sechzehnjährigen Teenager waren so gekleidet, wie es bei Jungen ihres Alters gerade angesagt war: weiße T-Shirts unter offenen Hemden unterschiedlicher Farbgebung und Machart, dazu weite Shorts, die bis über die Knie reichten, und individuell gestaltete knallbunte Sneaker.

Obwohl sie Shorts trugen, die zum Wellenreiten gedacht waren, hatte jeder von ihnen ein Hoverboard dabei. Alles in allem ein völlig alltäglicher Anblick.

»Wir haben hier gechillt, und da sind sie plötzlich aufgetaucht«, erklärte Jon. Sein außergewöhnlich schönes Gesicht war vom Schirm eines ramponierten grauen Käppis beschattet und seine unverwechselbaren veilchenfarbenen Augen verbargen sich hinter haselnussbraunen Kontaktlinsen.

Gewisse gefährliche Leute wussten, dass der Teenager existierte und zum DarkRiver-Rudel gehörte, doch es bestand kein Grund, ihn zu einem gut sichtbaren Ziel zu machen. Im Moment wirkte er wie tausend andere Jungs in der Stadt. Aber das war er nicht. Jon war einer der Vergessenen, er entstammte jener jungen Generation, die atemberaubende neue geistige Fähigkeiten zum Vorschein brachte.

Die Leoparden hatten dem Jungen Rückendeckung zugesagt, falls er die alten Kontakte abbrechen und aufhören wollte, sein weißgoldenes Haar zu färben, aber Jon hatte entschieden, dass es für seine Kumpels und seine kleine Schwester sicherer wäre, wenn er unter dem Radarschirm bliebe, bis er älter und stärker war. »Außerdem hält es die Leute davon ab, mich anzustarren«, hatte er zu Lucas gesagt und dabei über die Stelle an seinem Hals gerieben, wo er früher ein Gang-Tattoo gehabt hatte. »Ich möchte einfach nur ein normaler Jugendlicher sein, verstehst du?«

Lucas verstand das sogar besser als Jon ahnte. Clay, Talin, Noor und die Leoparden waren die erste Familie, die er als Junge gehabt hatte, Leute, auf die er sich blind verlassen konnte. Er hasste es, daran erinnert zu werden, dass er sich in irgendeiner Weise von seinen Rudelgefährten unterschied.

»Ist dieser Gegenstand, den ihr gesehen habt, noch im Wasser, oder hat er sich unter dem Pier verfangen?«, fragte Clay den Jungen, den er adoptiert hatte. In Anbetracht von Jons Vergangenheit hätte das mit Problemen verbunden sein können, aber von allen Männern im Rudel wusste niemand besser als Clay, was es hieß, ein verlorenes Kind zu sein.

Er und Jon hatten auf Anhieb zusammengepasst wie zwei Teile eines Puzzles.

Der Teenager schüttelte den Kopf, während seine Kumpane überall hinguckten, nur nicht zu Lucas oder Clay. »Wir haben hier abgehangen, und das Ding sah interessant aus, darum, äh …« Ein rötlicher Schimmer überzog seine goldene Haut. »Na ja, die Jungs haben mich an den Füßen vom Pier baumeln lassen, und ich hab es rausgefischt.«

Sein Panther war beeindruckt von der Findigkeit der Jugendlichen und zugleich amüsiert über ihr doch leicht unreifes Verhalten, als Lucas die Flasche entgegennahm, die ihm einer der Jungen hinstreckte. Er begriff, wieso sie ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Das lindgrüne Glas war teilweise von Seepocken bedeckt, und als die Flasche im gleißenden Sonnenlicht auf den Wellen tanzte, musste sie wie ein Edelstein gefunkelt haben. »Habt ihr sie geöffnet?«

Wieder war es Jon, der antwortete. Er war schon jetzt dominant und würde mit Sicherheit zu einem Eckpfeiler in der Struktur des Rudels heranwachsen. Lucas würde Naya ohne Zögern in Jons Obhut lassen, was alles über sein Vertrauen in und seinen Glauben an den Jungen sagte.

»Ja, Sir.« Jons Stimme war glockenrein. »Wir haben den Korken gesehen und darüber gewitzelt, dass es eine Flaschenpost sein könnte. Und dann …« Er reichte Clay ein dünnes, zusammengerolltes Papier. »Aus Angst, es zu zerreißen, habe ich nicht versucht, es wieder hineinzustecken.«

»Du hast genau das Richtige getan.« Vorsichtig rollte Clay das fragile Schriftstück auseinander, dann hielt er es so, dass er es gleichzeitig mit Lucas lesen konnte.

Mein Name ist Leila Savea. Ich bin Meeresbiologin und wurde gekidnappt, als ich allein eine Meile vor der samoanischen Küste im Pazifik gearbeitet habe. Seither hält man mich in einem kalten, grauen Gefängnis fest. Sie haben meinem Gesicht Narben beigebracht, es zerschnitten, damit mich kein Teleporter, der Gesichter als Portschlüssel benutzt, finden kann. Ich weiß nicht, ob das die Wahrheit ist oder ob sie mich nur verletzen wollten.

Meistens betäuben sie mich, aber heute sind sie spät dran mit meiner Dosis. Darum bin ich in der Lage zu schreiben.

Vor einer Woche, es könnten auch zehn Tage sein, holten sie mich aus diesem Raum, um Drogen an mir zu testen, und als sie nicht hinsahen, stahl ich eine Flasche aus einem der Regale draußen. Es stehen dort jede Menge, so als hätte sie früher jemand gesammelt, aber inzwischen sind sie mit Staub bedeckt.

Das Papier und den Stift habe ich zu einem anderen Zeitpunkt an mich genommen, als einer meiner Entführer seinen Laborkittel in meiner Zelle vergaß.

Ich werde diesen Brief in der Flasche verstecken, und sollten sie mich je von diesem Ort wegbringen, werde ich nach Wasser Ausschau halten. Es wird die Flasche irgendwo hintragen. Zu meinen Leuten.

Meine Kidnapper werden meinen Verstand nicht brechen.

Die leicht unterschiedliche Tinte in der nächsten Zeile deutete darauf hin, dass der nachfolgende Teil später als der erste verfasst worden war. Auch die Worte und der Tonfall besagten, dass einige Zeit dazwischen vergangen sein musste, weil die trotzige Haltung der Schreiberin zu bröckeln begann.

Miane, bitte, hilf mir. Ich bin so weit weg von zu Hause, und ich leide Schmerzen. Es ist kalt hier. Überall ist Schnee, aber nirgendwo ein Ozean, um meine Seele zu nähren. Ich lausche mit allen Sinnen danach, aber das Einzige, das ich höre, sind der Wind, die Bäume und meine Kidnapper. Hier spricht die See nicht zu mir.

Selbst wenn ich diesem Gefängnis entrinnen sollte, werde ich nicht weit kommen, bis mein Körper aufgibt. Für diese Art von Kälte bin ich nicht geschaffen. Sie wollen, dass ich zu bestimmten Orten schwimme, um dort Böses zu tun. Sie denken, dass niemand mich vermissen wird, weil ich am liebsten allein unterwegs bin.

Bitte, vermisse mich. Ich vermisse dich.

Sie versuchen, meinen Verstand zu brechen, einen Roboter aus mir zu machen, eine Sklavin.

Ich weiß nicht, wo ich hier bin. Aber ich habe ein paar Dinge gesehen, als sie mich hierher brachten. Sie haben die Droge falsch bemessen, dadurch war ich fast nicht betäubt. Es ist ein rechteckiges Betongebäude inmitten eines verschneiten Waldes. Der viele Schnee tut meinen Augen weh, wenn ich aus dem schmalen Fenster hoch oben in meiner Zelle spähe.

An der Seite des Gebäudes befindet sich dieses alte, verblasste Symbol.

Sie hatte es sorgfältig mit der Hand gezeichnet. Ein Dreieck, darin in blockartiger Schrift die Buchstaben CCE.

Manchmal höre ich Enten. Als wäre ein Fluss, ein Strom oder ein See in der Nähe. Ich kann sie nicht sehen, aber ich höre sie. Und –

Damit endete der Brief, so als wäre der Verfasserin die Zeit ausgegangen oder als hätte jemand sie unterbrochen. Aber das, was Leila Savea geschrieben hatte, war auch so schon schaurig genug.

Lucas sah kurz zu Clay, bevor beide die Flasche in seiner Hand betrachteten. Die Seepocken überwucherten mehr als ein Viertel der Oberfläche, was auf einen langen Aufenthalt im Meer hinwies. Die Chance, dass Leila Savea noch lebte, war gering bis nicht vorhanden.

Es spielte keine Rolle.

Eiskalte Wut brodelte in ihm, als Lucas sich den Jugendlichen zuwandte, die über die Intelligenz und den Spürsinn verfügten, um zu verstehen, was sie da gefunden hatten. »Ich bin stolz auf euch«, sagte er. Leopardenjungen mussten das immer wieder von ihrem Alphatier hören. »Ab jetzt kümmern wir uns darum.« Er würde die Flasche und die Nachricht an die BlackSea-Gemeinschaft weiterleiten, jene Wassergestaltwandler, die Leila Savea zu erreichen gehofft hatte.

»Werden wir sie finden?« Mit weißen Fingern umklammerte Jon sein Hoverboard.

Lucas umfing den Nacken des Jungen, erdete ihn durch die Körperprivilegien des Rudels. Jon mochte als Vergessener geboren worden sein, doch jetzt gehörte er zu ihnen. Und Lucas belog seine Gefährten nicht. »Ich weiß es nicht, aber wir werden es verdammt noch mal versuchen.«

Niemand verdiente es, Marterqualen in den Fängen des Konsortiums zu erleiden.

3

Miane Levèque, das Oberhaupt der BlackSea-Gestaltwandler, beendete ihr Videotelefonat mit Lucas Hunter voll zorniger Entschlossenheit. Leila, die süße glücklich-absonderliche Leila, die die Sonne und den Ozean liebte und am zufriedensten war, wenn sie mit den tropischen Fischen, die sie erforschte, schwimmen konnte, saß betäubt und leidend in einem kalten Betonklotz fest.

Dem Tode nah.

Sie fuhr zusammen, als Malachai ihr die Hand auf die Schulter legte und sie sanft drückte. Der Hüne war außer Sichtweite des Monitors geblieben, trotzdem hatte er ihr Gespräch mit dem Alphatier der Leoparden mitgehört. »Leila hat uns Hinweise geliefert«, erinnerte er sie. »Selbst die Flasche könnte einer sein.«

Miane hatte darum gebeten, dass das DarkRiver-Rudel die Flasche einem vertrauenswürdigen Mitglied der BlackSea-Gemeinschaft übergab, um Tests durchzuführen, auf die die Raubkatzen nicht einmal kommen würden. Sie verstanden das Wasser nicht, kannten nicht seine vielen Launen und Aromen. Es war mehr als nur salzig und frisch. Jeder Ozean verfügte über seine eigene Komplexität, selbst jeder Teil von ihm über eine eigene Persönlichkeit.

»Leila war schon immer klug.« Aber selbst die klügste junge Frau konnte nicht weitergeben, was sie nicht wusste.

Die Kommunikationskonsole piepste, um einen Datentransfer seitens der Leoparden anzukündigen.

Nachdem sie die Daten heruntergeladen hatte, stellte sie fest, dass Lucas Informationen über das dreieckige Symbol, das Leila gezeichnet hatte, mitgeschickt hatte. Die Recherche war schon während ihres Telefonats in die Wege geleitet worden. »Es ist das Logo eines seit langem stillgelegten Unternehmens namens Canadian Cheap Electric. Hunderte Niederlassungen sind über ganz Kanada verteilt.«

»Warte mal.« Malachai scrollte, dann fluchte er mit ungewohnter Schärfe.

Normalerweise hatte Mianes rechte Hand seine Gefühle fast so gut unter Kontrolle wie ein Medialer.

»Hier steht, dass die historischen Dokumente vor fünfundvierzig Jahren beschädigt wurden«, teilte er ihr mit. »Die Standorte der Dependancen und damit jenes Segment der Infrastruktur von CCE, das am ehesten mit Leilas Beschreibung übereinstimmt, lassen sich nicht mehr rekonstruieren.«