Der Lüge schöner Schein - Reginald Hill - E-Book

Der Lüge schöner Schein E-Book

Reginald Hill

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Chief Inspector Peter Pascoe ist schockiert. Aus dem geruhsamen Wochenende auf dem Land, das er mit Freunden aus Studientagen verbringen wollte, ist ein Alptraum geworden. Als er wie immer verspätet ankommt, findet Pascoe nur noch die Leichen seiner Freunde in dem idyllischen Cottage. Offenbar sind sie mit einer Schrotflinte erschossen worden. Einer jedoch fehlt: Colin Hopkins ist spurlos verschwunden …

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Seitenzahl: 413

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Reginald Hill

Der Lüge schöner Schein

Roman

Aus dem Englischen von Silvia Visintini

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungMottoErster TeilEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtZweiter TeilEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtDritter TeilEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElf

Für Pat –in Liebe und Dankbarkeit

Man suche die herrschende Leidenschaft: darin alleine istder Schwankende beständig, fassbar der Mensch voll List.Der Tor zeigt sich verständig, der Heuchler spricht hier wahr,Priester, Fürsten, Weiber – aller Verstellung bar.Sobald man dies verstanden, versteht man auch den Rest …

 

Alexander Pope

[home]

Erster Teil

Eins

Brookside CottageThornton Lacey4. September

 

Sieh da, sieh da, Peter Pascoe!

Die Stimme aus dem Jenseits! Oder vielleicht eher aus der Unterwelt? Aus der Dich Ellie, zumindest vorübergehend, in die Welt der Lebenden zu geleiten hofft. (Im Übrigen war sie es, die mir die Frohe Botschaft Deiner Existenz verkündete, als ich sie letzten Monat in London traf.)

Welche Ironie, dachte Detective Superintendent Backhouse, als sein Blick den kreidebleichen Mann gegenüber streifte. Doch das sagte er nicht laut, denn er war ein gütiger Mensch. Auch wenn er den Grausamkeiten seines Berufs niemals aus dem Wege ging, sobald sie von Bedeutung waren.

Er las weiter.

Sie hat Dir sicher erzählt, dass wir dieses ländliche Elendsquartier auf Vordermann gebracht haben, damit sich bleichgesichtige Städter da erholen können. Jetzt ist also alles unter Dach und Fach, und wir würden uns riesig freuen, wenn Du und Ellie in vierzehn Tagen übers Wochenende zu uns kämt (natürlich nur, wenn’s die Polizei erlaubt!). Timmy und Carlo machen sich auf aus Metropolis, wir werden also in Nostalgie schwelgen! Es ist (hoffentlich) nicht ganz so armselig wie das Cottage in Eskdale – aber sonderbarerweise gibt es da doch gewisse Parallelen zum Leben in Thornton Lacey!

»Was meint er damit?«, fragte Backhouse.

Pascoe starrte auf den Satz, auf den der wohlmanikürte Finger des Superintendents zeigte. Erst nach Sekunden konnte er die Worte klar erkennen.

»Als Studenten«, sagte er, »waren wir im Sommer einmal ein paar Wochen in Eskdale. In Cumberland.«

»Dieselben Leute?«

Pascoe nickte. »Colin und Rose waren damals noch nicht verheiratet.«

»Was hat’s mit den Parallelen auf sich?«

»Keine Ahnung. Ich kann mich kaum mehr erinnern.«

Außer an einen Abend. Da waren sie im goldenen Schein des sich neigenden Tages in schweigender Verbundenheit zu sechst über ein schräg abfallendes Feld auf das in der Ferne liegende Dorf und dessen Pub zugewandert. Durch den Hang hatten sich ihre Wege getrennt, so dass sie sich über das mit stacheligen Grasbüscheln bestandene Gelände verstreuten und erst wieder an dem Holzgatter am untersten Ende der Natursteinmauer zusammentrafen.

Wenn Ihr’s irgendwie schafft, kommt Freitagabend, wenn nicht, dann im Frühtau am Samstag. Zögert nicht, diesem unserem Befehle zu willfahren, oder unser Zorn wird fürchterlich sein. Und Ihr wisst, wie fürchterlich ich in meinem Zorn sein kann!

Nein, im Ernst, ich kann Euch gar nicht sagen, wie entzückt ich über Euer Kommen wäre. Man sieht ja Abélard schließlich nicht jeden Tag glücklich wiedervereint mit Héloïse (und seinem wichtigsten Anhang, wie ich hoffe!).

Alles Liebe von uns beiden,

Colin (und Rose)

Als Backhouse den Brief zu Ende gelesen hatte, seufzte er, notierte sich etwas auf einem Zettel, heftete ihn an das lose blassgelbe Blatt und steckte es in eine grellgrüne Plastikmappe.

»Das behalt ich«, sagte er, »wenn ich darf.«

Nicht, dass es momentan von besonderem Wert wäre. Wahrscheinlich auch später nicht. Aber er arbeitete lieber so. Mit Vorbedacht, statt im Vertrauen auf den glücklichen Zufall.

»Möchten Sie noch Tee?«, fragte er.

Bevor Pascoe antworten konnte, ging die Tür auf. Ein altersschwacher Constable kam müde hereingeknarzt, in der Hand ein paar getippte Blätter.

»Mr. – ich meine, Sergeant – Pascoes Aussage, bitte.«

Er legte Backhouse die Blätter sorgsam hin und zog sich zurück.

»Danke, Crowther«, sagte Backhouse, drehte die Blätter um und schob sie Pascoe hin.

»Lesen Sie’s durch«, sagte er freundlich, als Pascoe einen Kugelschreiber nahm und sich anschickte, auf dem ersten Blatt unten zu unterschreiben. »Erst lesen, dann unterschreiben. So wie’s hoffentlich auch bei Ihnen der Brauch ist.«

Wortlos fing Pascoe an zu lesen.

Aussage Peter Ernest Pascoe, zu Protokoll genommen auf dem Polizeirevier Thornton Lacey, Oxfordshire, in Anwesenheit von Detective Superintendent D. S. Backhouse.

Samstag, den 18. September, fuhr ich morgens von Yorkshire nach Thornton Lacey. Ich war in Begleitung einer Freundin, Miss Eleanor Soper. Zweck unserer Reise war, das Wochenende mit unseren alten Freunden, Colin und Rose Hopkins, Brookside Cottage, Thornton Lacey, zu verbringen. Außerdem wurden noch Mr. Timothy Mansfield und Mr. Charles Rushworth erwartet, ebenfalls alte Freunde, die ich aber genau wie die Hopkins über fünf Jahre nicht mehr gesehen hatte. Ich weiß nicht, ob noch jemand eingeladen war.

Wir wollten um halb zehn da sein, kamen aber so schnell voran, dass uns klar war, wir würden bereits um neun eintreffen …

Es war ein herrlicher Morgen, nachdem es die Nacht über in Strömen geregnet hatte. Feiner Nebel lag wie ein Schleier über Wald und Feld, löste sich aber unter dem sanften Drängen der aufgehenden Sonne willig auf. Anfangs waren die Straßen noch leer. Selbst die Bauernhäuser, die doch den jungen Morgen immer als Erste begrüßten, schliefen anscheinend noch zwischen den nassglänzenden Feldern.

»Das ist schön«, sagte Ellie und schmiegte sich zufrieden in den bequem eingesessenen Beifahrersitz des alten Riley. »Es gibt Dinge, für die man sich gern wecken lässt.«

Pascoe lachte.

»Ich weiß, was du meinst«, sagte er mit unterdrückter Leidenschaft.

»Du bist sexbesessen«, antwortete sie.

»Überhaupt nicht. Ich kann bis zum nächsten Parkplatz warten.«

Ellie schloss lächelnd die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war eine Stunde vergangen und sie lehnte mit ihrem ganzen Gewicht an der Schulter ihres Reisegefährten.

»Entschuldige«, sagte sie und setzte sich gerade.

»Es geht eben nichts übers Frühaufstehen. Wir liegen übrigens gut in der Zeit. Bist du sicher, dass sie uns schon zum Frühstück dahaben wollen?«

»Absolut. Als ich mit Rose telefoniert hab, war sie ganz schön sauer, dass wir gestern Abend in letzter Minute absagen mussten. Wir sollten unbedingt ganz früh kommen. Die Arme – hatte wahrscheinlich schon das Mastkalb auf dem Rost oder so was.«

»Bestimmt. Tut mir leid. Es war eine Schande.«

Ellie machte aus ihrer Empörung kein Hehl.

»Schande? Dieser sadistische Fettsack Dalziel weiß ja nicht einmal, was das heißt.«

»Es war nicht seine Schuld. Es ist diese Einbruchsserie, bei der wir jetzt eingeschaltet wurden. Das Telefon hat geklingelt, als ich gerade gehen wollte.«

»Pech aber auch«, brummte Ellie. »Total idiotische Zeit für einen Einbruch. Ich wette, Dalziel war’s.«

»Der Einbruch ist schon Anfang der Woche passiert«, erklärte Pascoe geduldig. »Die Leute haben ihn erst gestern entdeckt, als sie aus dem Urlaub zurückkamen.«

»Geschieht ihnen recht. Was müssen die auch so früh nach Hause kommen? Wären sie übers Wochenende geblieben, hätten wir unseres auch in voller Länge genießen können.«

»Ich hoffe, das werden wir trotzdem«, gab Pascoe mit einem zärtlichen Lächeln zurück. »Es wird uns gut tun, alle wiederzusehen.«

»Glaub ich auch. Besonders dir«, sagte Ellie nachdenklich. »Du warst lang genug von allem abgeschnitten.«

»Ja, vielleicht. An mir hat’s aber nicht gelegen. Auf jeden Fall ist ›abgeschnitten‹ nicht das richtige Wort. Sie waren ja immer da. Wie gut angelegtes Kapital! Ich hab nie daran gezweifelt, dass ich sie alle einmal wiedersehe.«

»Bei mir war ein Unfall nötig, um mich wieder ans Tageslicht zu befördern«, erwiderte Ellie mit leisem Tadel.

»Es gibt halt eine Macht, die unsere Zwecke formt, wie wir sie auch entwerfen«, verkündete Pascoe feierlich. »Colin ist nicht der Einzige, der mit Zitaten um sich werfen kann.«

»Hoch soll sie leben«, sagte Ellie und räkelte sich in der Wärme der Sonne, die nun unangefochten durch das Fenster schien.

Wir erreichten Thornton Lacey um 8.50 Uhr. Das weiß ich so genau, weil ich auf die Uhr schaute, um zu sehen, ob wir die Zeit eingehalten hatten, mit der wir gerechnet hatten. Ich meinte, wir sollten vielleicht noch eine halbe Stunde warten, bis wir zum Brookside Cottage fuhren. Miss Soper und ich entschieden uns aber dann doch dagegen. Es muss also zwei, drei Minuten vor neun gewesen sein, als wir hinkamen. Alle Vorhänge waren zugezogen und niemand reagierte auf unser Klopfen.

»Wir hätten doch warten sollen«, sagte Pascoe oberlehrerhaft.

»Blödsinn. Wenn die gestern so sturzbesoffen waren, dass sie das Klopfen nicht hören, dann sind sie um halb zehn auch noch nicht ansprechbar.«

Sein Berufsethos reklamierte zwar einen Verstoß gegen Logik oder Syntax dieser Behauptung, aber dieses Wochenende war er ganz entschieden und ganz bewusst außer Dienst. Also grinste er sich eins, trat einen Schritt vom Eingang zurück und verrenkte sich fast den Hals, um hinter den Schlafzimmervorhängen irgendwelche Anzeichen von Leben zu erspähen.

Es war ein bezauberndes Häuschen, hart an der Grenze zum Kitsch. Tudor, sagte er sich, Fachwerk, dazwischen zweifellos Flechtwerk mit Lehmschlag, was immer das war (oder musste es »ist« heißen?). Der Versuch, den Eingang mit einer Kletterrose zu umranken, war kein durchschlagender Erfolg gewesen. Über dem Strohdach reckten sich Fernsehantennen vielarmig in der Morgenbrise und kündeten, kühl bis ans metall’ne Herz, vom Triumph der Gegenwart über die Anmut längst vergangener Tage.

»Colin hat da überhaupt keine Skrupel«, sagte Ellie, deren Blick dem seinen gefolgt war. »Wenn schon modernisieren, dann richtig. Er hält nicht viel davon, so zu tun, als ob ein Gespann von Bauernkaten im 16. Jahrhundert mal ein repräsentativer Wohnsitz gewesen wäre.«

»Und vom bäuerlichen Ideal der goldnen Morgenstund’ offensichtlich auch nicht.« Pascoe hämmerte noch einmal gegen die Tür und rüttelte an dem abgenutzten Messinggriff.

»Obwohl sie vielleicht«, fügte er sinnend hinzu, »gewisse ländliche Sitten und Gebräuche noch pflegen, wie zum Beispiel, nicht abzuschließen.«

Er presste den Griff ganz hinunter und drückte gegen die Tür. Die Scharniere quietschten ermutigend und langsam öffnete sich die schwere Eichentür.

Nun war es Ellie, die sich zierte.

»Wir können sie doch nicht einfach aus dem Bett schmeißen.« Nur zögernd folgte sie ihm.

»Also ich werde mir sicher nicht erst einen Durchsuchungsbefehl holen«, erwiderte Pascoe. »Wir können ja schon mal das nötige Zubehör zusammentragen, um Kaffee und einen Riesenspektakel zu machen. Also, komm!«

Die Eingangstür führte direkt in ein wohlproportioniertes Wohnzimmer mit Möbeln, die, obwohl offenbar recht bequem, eher antiquiert als antik waren. Ein paar Whiskygläser standen auf einem Couchtisch in der Mitte des Raums, sie waren noch halb voll. Eine leere Flasche Teacher’s stand daneben. Eine Zigarre à la Churchill war in einem großen Kristallaschenbecher ausgegangen. Ellie schnupperte angewidert.

»Wie das hier mieft! Ich hatte recht – bei denen ist es gestern Abend anscheinend ganz schön rundgegangen.«

Sie machte sich daran, die Vorhänge aufzuziehen, um dann ein Fenster zu öffnen.

Auch Pascoe schnupperte. Verwunderung malte sich auf seinem Gesicht. Er ging zu der Tür am anderen Ende des Zimmers. Sie stand einen Spaltbreit offen. Er stieß sie ganz auf und trat in den angrenzenden Raum, unverkennbar das Esszimmer. Auf dem runden, spiegelblanken Mahagonitisch standen noch die Überreste einer Mahlzeit.

Doch nicht der Tisch fesselte Pascoes Aufmerksamkeit.

Kreidebleich wandte er sich zu Ellie um. Er wollte sie daran hindern, ihm zu folgen.

Sie stand am hinteren Fenster und öffnete dort gerade die Vorhänge.

»Ellie«, sagte er.

Wie versteinert war sie stehen geblieben. Die Hände am Fensterriegel, starrte sie ungläubig durch die Scheibe.

Ein verhaltener Aufschrei entrang sich ihrer Kehle.

Auf dem Boden des Esszimmers lagen zwei Männer, in der Stellung, die aus Polizeifoto A1 zu ersehen ist. Beide hatten schwere Schusswunden erlitten und stark geblutet. Die Art der Wunden und der starke Korditgeruch, der mir aufgefallen war, ließen darauf schließen, dass die Wunden von einer aus nächster Nähe abgefeuerten Schrotflinte stammten. Den neben dem Esstisch liegenden Mann (Position X auf dem Foto) identifizierte ich als Timothy Mansfield aus London, NW2, Grover Court. Den anderen Mann konnte ich nicht sofort erkennen, weil hauptsächlich Hals und unterer Teil des Gesichtes getroffen worden waren. Später jedoch konnte ich mit Sicherheit sagen, dass es sich um Charles Rushworth handelte, wohnhaft an derselben Adresse. Ich wollte Miss Soper daran hindern, mir ins Esszimmer zu folgen, doch offensichtlich hatte sie etwas verstört, was sie vom hinteren Fenster sehen konnte. Ich schaute hinaus in den Garten hinter dem Haus und sah am Fuß der Sonnenuhr in der Mitte des Rasens (Foto C3) eine auf dem Boden liegende Frauengestalt. Vom Fenster aus konnte ich sie nicht erkennen, weil sie mit dem Gesicht im Gras lag. Sie hatte stark am Kopf geblutet.

»Das ist Rose«, sagte Ellie, ohne es wirklich zu glauben. »Da ist was passiert.«

Sie wollte ins Esszimmer, in der Hoffnung, von dort in den Garten zu gelangen. Pascoe packte sie an den Schultern.

»Telefon«, sagte er leise, während seine Gedanken sich überschlugen. Vom Esszimmer führte eine enge Treppe in den ersten Stock. Angestrengt lauschte er, ob von oben nicht irgend etwas zu hören war.

»Ja«, antwortete Ellie. »Einen Arzt. Nein, lieber einen Krankenwagen, da war doch ein Krankenhausschild, erinnerst du dich?«

Auf dem Boden neben einem der beiden Sessel stand ein Telefon. Sie beugte sich hinunter.

»Nein«, sagte Pascoe, ergriff ihren Arm und schob sie zur Haustür. »Wir sind unten an der Straße an einer Telefonzelle vorbeigekommen. Da fährst du hin. Und ruf die Polizei an, sag, es wird ein Krankenwagen gebraucht, und ein Arzt.«

»Die Polizei?«, wiederholte Ellie.

»Beeil dich«, drängte Pascoe.

Er hörte, wie der Riley gestartet wurde. Im selben Moment setzte er den Fuß vorsichtig auf die erste Stufe. Sie knarrte, die zweite noch lauter. Da ließ er alle Behutsamkeit fahren und rannte die restlichen Stufen hoch. Auf halber Höhe entging sein Kopf nur knapp einem Zusammenstoß mit dem Deckenbalken.

Geduckt und schnell schritt er durch die nächstgelegene Tür. Ein Schlafzimmer. Leer. Bett unberührt.

Im nächsten Zimmer dasselbe. Dann ein Bad. Eine winzige Abstellkammer. Noch ein Zimmer. Er war sich jetzt zwar sicher, dass im ersten Stock niemand war, dennoch ging er kein Risiko ein und nahm auch diesen Raum im Sturm.

Als er auf das Bett hinunterblickte, blieb ihm das Herz stehen. Ein Paar Spielzeughandschellen lag quer über den beiden Kissen. In der einen Fessel lag eine rote Rose, in der anderen eine junge Brennnessel. Darüber, auf dem Kopfteil, hing ein Spruchband aus Papier, auf dem stand:

Willkommen daheim, Abélard und Héloïse.

Pascoe fühlte, wie der Panzer der Professionalität, mit dem er sich gewappnet hatte, einen Sprung bekam. Das Fenster dieses Zimmers ging nach hinten hinaus. Er sah nicht hinaus, sondern ging schnell hinunter. Unter Aufbietung all seiner Willenskraft vergewisserte er sich mit seinen Händen, wovon er sich mit seinen Augen bereits überzeugt hatte: dass die beiden Männer tot waren.

Timmy hatte früher Gitarre gespielt, und wenn er gerade bei Kasse war, schenkte er denen, die er mochte, hinreißend ausgefallene Sachen. Carlo (und dass es tatsächlich Carlo war, hatte ihm das unversehrte Auge verraten) war ein Hitzkopf, liebte Western, ging für Bürgerrechte auf die Straße, hasste Priester.

Er wollte an diese Dinge nicht erinnert werden. Noch weniger wollte er neben dieser Frau knien, sie vorsichtig umdrehen, die Zerstörung sehen, welche die Schrotladung in dem weichen Fleisch angerichtet hatte, das einmal Rose Hopkins gewesen war.

Sie trug ein langes seidenes Abendkleid. Selbst Regen und Tau hatten das Pfauenfederschillern seiner Violett- und Grüntöne nicht auslöschen können. Ihre Augen jedoch waren erloschen.

Der Sockel der Sonnenuhr, neben der sie lag, trug eine Inschrift. Er las sie, in dem verzweifelten Versuch, seinen Panzer wieder zu flicken.

Horas non numero nisi serenas.

Ich zähl die heit’ren Stunden nur.

Er hielt die Tote noch immer im Arm, als Ellie zurückkehrte und gleich darauf der erste Polizeiwagen eintraf.

Zwei

Dalziel am Apparat.«

»Hallo, Andy. Hier ist Derek Backhouse.«

»Weiß schon.« Dalziels Stimme ließ deutlich erkennen, dass seine Begeisterung sich in Grenzen hielt. »Lang, lang ist’s her. Und wahrscheinlich hast du’s bitter nötig, wenn du an einem Samstagmorgen anrufst.«

»Nötig habe ich gar nichts«, antwortete Backhouse. »Ich rufe vom Revier in Thornton Lacey an. Ich habe einen deiner Leute hier. Einen Sergeant Pascoe.«

»Pascoe!«, sagte Dalziel, schon etwas interessierter. »Hat er wieder auf den Gehsteig geschissen?«

»Wie bitte?«

»War ’n Witz«, seufzte Dalziel. »Was ist los?«

»Eigentlich nichts. Er ist hier, um ein paar alte Freunde zu besuchen.«

»Na und?«

»Na, und als er heute Morgen hier ankam, waren drei der alten Freunde tot. Schrotflinte aus nächster Nähe.«

Schweigen machte sich breit.

»Jesus«, sagte Dalziel schließlich. Wieder Schweigen.

»Das ist ein harter Schlag«, fuhr Dalziel fort. »Ich glaub nicht, dass er noch so viele alte Freunde hat, dass er auf drei davon verzichten kann.«

Backhouse schürzte ob der Gefühllosigkeit dieser Bemerkung angewidert die Lippen. Trotzdem glaubte er, eine Spur echter Besorgnis aus dem Tonfall seines Gesprächspartners herauszuhören. Er konnte sich aber auch geirrt haben.

»Wie dem auch sei«, sagte Backhouse. »Mich interessiert nur die Bestätigung, dass er und Miss Soper erst heute Morgen angekommen sind.«

»Sie ist also auch da?«, grunzte Dalziel.

»Du kennst sie?«

»Flüchtig. Hör mal, mein Junge, du glaubst doch nicht vielleicht, dass Pascoe was mit der Sache zu tun hat?«

»Ich wollte mich nur vergewissern, Andy. Er sagt, er sei gestern Abend wegen eines Falles aufgehalten worden.«

»Traurig, aber wahr. Hat ihm nicht besonders gefallen, aber der Junge hat Verantwortungsbewusstsein. Er war bis zirka halb zehn da. Dann waren wir bis zur Sperrstunde einen trinken. Reicht dir das?«

»Ich glaube schon. Wir warten noch auf das Ergebnis der Obduktion, aber der Arzt war sehr sicher, dass es gestern Abend passiert ist. Ich habe mir keine ernsthaften Gedanken wegen des Sergeants gemacht, aber ich wollte ganz sicher gehen. Er könnte uns eine große Hilfe sein.«

»Komm bloß nicht auf blöde Ideen!«, sagte Dalziel drohend. »Wir liegen hier auch nicht auf der faulen Haut. Mit so was Spektakulärem wie mehrfachem Mord können wir zwar nicht aufwarten, aber irgendjemand muss ja auch die Einbrecher fangen. Und ich brauch Pascoe. Montag sollte er wieder da sein, und Montag erwart ich ihn auch.«

»Ein paar erfahrene Kriminalbeamte haben wir schon auch«, erwiderte Backhouse kühl. »Ihn brauchen wir, weil er den Vermissten kennt.«

»Vermissten?«

»Habe ich das nicht erwähnt? Einer fehlt uns. Der Gastgeber. Der, dem das Cottage gehört. Colin Hopkins. Der Busenfreund von deinem Sergeant.«

»Aha«, sagte Dalziel. »Du glaubst also, er ist euer Mann?«

»Ich würde mich gern mit ihm unterhalten«, antwortete Backhouse vorsichtig.

»Das glaub ich dir aufs Wort!! Egal – du willst also, dass Pascoe euch hilft, seinem Kumpel das anzuhängen? ’n bisschen viel verlangt, meinst du nicht?«

»Immerhin sind Freunde von ihm ums Leben gekommen«, merkte Backhouse an.

»Also, er ist ein anständiger Kerl. Ist er da? Lass mich mal mit ihm reden.«

Backhouse überlegte, mit was für Grobheiten Dalziel jetzt wohl sein Beileid bekunden mochte.

»Momentan ist er bei Miss Soper. Sie hat einen schweren Schock erlitten.«

»Dann eben später. Aber Montag will ich ihn wiederhaben. Klar? Ich werde vor der Glotze nach dir Ausschau halten.«

Sentimentaler Trottel, dachte Dalziel, als er auflegte. Methodisch kratzte er sich von oben bis unten die linke Wade, aber es half nichts. Ihr Juckreiz kommt von innen, hatte einmal jemand zu ihm gesagt, dessen Position ihm so viel Kühnheit gestattete. Angewidert blickte er auf den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. Plötzlich erschien er ihm völlig belanglos. Blöde Arschlöcher, die ein Vermögen für hübschen Plunder ausgaben, und sich dann nicht darum scherten, ob er sicher verwahrt war. Da steckte ein System dahinter, ein fehlerhaftes Muster. Immer war irgendwo ein Fehler drin. Hinter diesem Stapel verbarg sich ein Mann, und sie würden ihn schließlich finden. Aber heute, in diesem Augenblick, schien das belanglos.

So ein Gefühl hatte er nicht oft. Er war nicht der Typ, der seine Arbeit auf die leichte Schulter nahm. Doch jetzt stand er auf und machte sich auf die Suche nach jemandem, mit dem er eine Tasse Tee trinken und über Fußball oder Politik reden konnte.

 

Die Ungeheuerlichkeit des Geschehenen war Ellie erst richtig zu Bewusstsein gekommen, als sie schon wieder zum Cottage zurückgekehrt war. Sie war nicht hineingegangen, sondern an der weiß getünchten Garage entlang in den Garten. Am Ende des taufeuchten Rasens war ein Wasserlauf zu hören, wenn auch nicht zu sehen, tief eingeschnitten und von Erlen und Salweiden bestanden. Das murmelnde Wasser, der morgenfrische Garten, noch nicht aufgeheizt vom zitronenfarbigen Sonnenlicht, der Abflug eines Weißbrauenstärlings von einem reich tragenden Apfelbaum, all das trug dazu bei, die tote Frau am Fuß der Sonnenuhr und den neben ihr knienden Mann unwirklich erscheinen zu lassen. Allein der Stab der Sonnenuhr, der die duftende Luft wie eine Haifischflosse zerschnitt, hatte etwas Bedrohliches.

Im Gras rund um die Leiche glänzte mehr als nur der Tau. Glasscherben. Ihr erster Gedanke war intimer, ja häuslicher Natur. Pascoe könnte sich die Hose zerreißen, oder, schlimmer noch, die Knie verletzen.

Sie wusste, seit ihrem ersten Blick aus dem Fenster, dass Rose tot war. Den Rettungswagen zu rufen, war nichts weiter als eine Geste gewesen, der letzte Versuch eines Ertrinkenden, sich an den Kamm der Welle zu klammern, die ihn hinabziehen wird. Die Hässlichkeit dieser Wahrheit, die sich jetzt offenbarte, als Pascoe die Frau wieder ins Gras legte, versetzte ihr einen viel größeren Schock. Selbst den bewältigte sie vorübergehend, als sie sich auf der Suche nach den anderen zum Cottage umwandte. Pascoe hinderte sie daran, das Haus durch die offen stehende Terrassentür zu betreten.

Doch er konnte sie nicht mehr daran hindern zu sehen, was drinnen lag.

 

Das Polizeirevier in Thornton Lacey war eigentlich der zur Straße gelegene Teil des Erdgeschosses jenes hübschen frei stehenden Hauses, in dem Constable John Crowther und seine Frau wohnten. Nur sehr widerwillig würden sie es räumen, wenn Crowther in zwei, drei Jahren in Rente ginge. Weder er noch seine Frau ließen sich besonders davon beeindrucken, dass ein Kapitalverbrechen in ihrem verträumten Nest geschehen war. Für den Constable bedeutete es nichts als Ärger. So spät in seiner Berufslaufbahn konnte es ihm zu keiner Beförderung mehr verhelfen, selbst wenn er den Fall persönlich lösen und den Verbrecher verhaften würde. Aber er war ein gewissenhafter Mann und bereitete für den Superintendent schon unaufgefordert eine Zusammenfassung sämtlicher Informationen aus dem Dorf vor, die er für relevant hielt.

Mrs. Crowther, eine kantige Frau, deren Äußeres in krassem Gegensatz zu ihrer Warmherzigkeit stand, warf einen Blick auf Ellie, als sie auf dem Revier erschien, und brachte sie in die Küche, um ihr Tee und Mitgefühl zu verabreichen. Ellies Zustand hatte sich während dieser Therapie zusehends verschlechtert (ein notwendiger Prozess, den Mrs. Crowther wohl verstand), und als Pascoe sich endlich von Backhouse losmachen konnte, hatte der Arzt ihr schon ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben und sie in einem der Schlafzimmer untergebracht.

Dr. Hardisty, ein langgliedriger Mann mittleren Alters, der mit seinem widerspenstigen grauen Haar den Eindruck immerwährender Verstörtheit erweckte, kam Pascoe an der Küchentür entgegen. Sie waren sich bereits im Brookside Cottage begegnet.

»Geht’s halbwegs?«, fragte er zaghaft.

»Ja, sicher«, antwortete Pascoe.

Und es war nicht einmal richtig gelogen. Das Unterzeichnen der ganz und gar sachlich formulierten Aussage hatte eine vorübergehende Katharsis bewirkt. Im Moment waren die Entdeckungen des Morgens zu einem »Fall« geschrumpft. Er fühlte sogar den Impuls in sich aufsteigen, den Arzt über die Ergebnisse seiner Untersuchung der Leichen zu befragen, folgte ihm aber dann doch nicht. Hardisty war der Dorfarzt, wohnte und praktizierte hier. Mittlerweile waren die Leichen sicher schon auf dem Weg ins Leichenschauhaus, unter das forschende Messer des Gerichtsmediziners.

Mittlerweile waren Timmy und Carlo und Rose sicher schon auf dem Weg …

Entschlossen verdrängte er diesen Gedanken.

»Miss Soper«, fragte er. »Wie geht’s ihr?«

»Ruht sich oben aus. Ich habe ihr was gegeben.«

»Darf ich zu ihr?«

»Wenn sie wach ist. An der Treppe geradeaus.«

Pascoe wandte sich um und ging hinauf.

Ellie öffnete die Augen, als er zur Tür hereinkam. Ihr Kleid war sorgfältig über einen Stuhl gelegt, und sie lag im Slip unter einer Patchwork-Decke.

»Wie geht’s dir denn?«, fragte Pascoe und nahm ihre Hand.

»Bin vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln«, sagte sie. »Ich will nicht schlafen. Sich nach dem Aufwachen dran zu erinnern, ist noch schlimmer.«

»Du musst aber schlafen«, sagte er zärtlich. Sie so blass hier liegen zu sehen, erschütterte ihn beinahe so wie der Fund der Leichen.

Sie nickte, als habe er eine Meisterleistung subtiler Überredungskunst vollbracht, und schloss die Augen. Aber als er die Tür öffnete, um zu gehen, sprach sie wieder.

»Peter, wo ist Colin? Man muss es ihm sagen.«

»Mach dir keine Gedanken«, beruhigte er sie. »Schlaf jetzt.«

Auf der Treppe überkam ihn ein Schwindelgefühl. Er musste stehen bleiben, und lehnte sich schwer ans Geländer. Sie musste sich bestimmt keine Gedanken darüber machen, wo Colin war. Das besorgte schon jemand anders, dessen Beweggründe allerdings keineswegs von Mitgefühl bestimmt waren.

»Geht’s, Sergeant?«, fragte Backhouse vom Fuß der Treppe. In seiner Frage lag mehr Anteilnahme als in der des Arztes.

»Ja, Sir«, erwiderte Pascoe und kam herunter.

»Schläft Miss Soper?«

»Ich glaube schon.«

Backhouse sah ihn prüfend an, sein schmales Gelehrtengesicht spiegelte Besorgnis wider.

»Ich fahre zurück zum Cottage. Die von der Spurensicherung müssten jetzt fertig sein. Wären Sie in der Lage, mich zu begleiten? Ich wäre für Ihre Mithilfe sehr dankbar.«

Bei dieser etwas förmlichen Floskel huschte unwillkürlich der Schatten eines Lächelns über Pascoes Lippen. Sein eigener Vorgesetzter, Dalziel, der Fettsack, hatte diesen Teil der Schulung für Führungskräfte offenbar verpasst.

»Ja, sicher.«

So etwas wie Gedankenübertragung musste stattgefunden haben, denn als sie ins wartende Auto stiegen, sagte Backhouse: »Ich habe mit Mr. Dalziel telefoniert.«

»Ah.«

»Er war natürlich betroffen, als er hörte, was passiert war.«

Natürlich. Aber wetten, dass ihm keines der üblichen Worte des Bedauerns über die Lippen gekommen ist. Backhouse machte den Dolmetscher.

»Er sagt, Sie seien zu wichtig, als dass er über das Wochenende hinaus auf Sie verzichten könne, aber ich wäre Ihnen für jede Unterstützung dankbar, die Sie mir inzwischen geben können.«

Hier war es wieder: dankbar. Er wurde mit Glacéhandschuhen angefasst. Man musste kein Detektiv sein, um zu verstehen, weshalb. Aber sie sollten es aussprechen. Er würde den Teufel tun und das Thema selbst anschneiden.

Sie. Überrascht stellte Pascoe fest, dass er in Gedanken die Polizei sie nannte.

»Halten Sie an«, befahl Backhouse seinem Fahrer. Der Wagen hielt vor einem Gebäude mit hohem Dach, Kieselrauputz und schmalen Fenstern, die an eine Kirche erinnerten. Ein gepflegtes Schild verkündete, dass es sich hierbei um den Bürgersaal von Thornton Lacey handelte. Unter der schwarz-goldenen Aufschrift hing eine getippte Liste der Lustbarkeiten, denen man sich im Verlauf der Woche hingeben konnte. Am vorangegangenen Abend hatte zum Beispiel eine Sitzung des Bau- und Umweltausschusses stattgefunden. Und an diesem Abend sollte die Tanzgruppe »Anno Dazumal« das Tanzbein schwingen. Eine kurzweilige Reise in die Vergangenheit im Walzer-, Foxtrott-, Twostep- und Polkatakt. Doch das fröhliche Ringelreihen müsste wohl anderswo abgehalten werden, dachte Pascoe, als er hinter Backhouse das Gebäude betrat.

In dem großen, muffigen Raum herrschte rege Betriebsamkeit. Polizisten in kurzen Ärmeln stellten Tische zusammen, und zwei Männer von der Post installierten Telefone. Alle Lampen waren an, um das spärliche Licht, das durch die Fenster drang, zu ergänzen.

»Das Revier ist nicht groß genug«, erläuterte Backhouse. »Insbesondere, wenn sich das hier zu einer größeren Sache entwickelt. Was es hoffentlich nicht tut.«

Er sah Pascoe von der Seite an und schnell wieder weg. Ein uniformierter Inspector kam ihnen entgegen.

»Gibt’s was Neues?«, begrüßte ihn Backhouse.

»Nur ein paar Dinge, Sir.«

Der Inspector sah Pascoe prüfend an und ging dann mit Backhouse ans andere Ende des Saals. Pascoe war drauf und dran, den beiden zu folgen, zu gerne hätte er gewusst, was los war. Doch er war sich auch seiner zwiespältigen Position bewusst. Schließlich war er nur ein Zeuge und nicht in offizieller Funktion hier.

»Was zum Teufel ist denn hier los?«

Der Zwischenruf kam von einem vierschrötigen Mann mit breitem Brustkorb und kräftigem Kinn. Er trug einen Pullover mit Polokragen und Reithosen. Pascoe tat das Pferd leid, das diesen Koloss tragen musste, der bestimmt weit über neunzig Kilo auf die Waage brachte. Der Mann war ein solides Modell in den Vierzigern, aber noch weit davon entfernt, Fett anzusetzen.

»Also? Los, Mann. Wer hat hier das Sagen?«

Backhouse wurde auf den Mann aufmerksam und kam herüber.

»Guten Morgen, Sir«, sagte er. »Ich bin Detective Superintendent Backhouse. Und Sie …?«

»Angus Pelman. Was treiben Sie hier eigentlich?«, fragte der Mann, nun schon in etwas gemäßigterem Ton.

»Wir ermitteln in einem Mordfall, Sir«, antwortete Backhouse. »Es wundert mich, dass Sie noch nichts davon gehört haben.«

Mich auch, dachte Pascoe. Das Verbrechen war vor über zwei Stunden gemeldet worden. Er zweifelte nicht daran, dass es demnächst – wenn nicht schon jetzt – rund um das Brookside Cottage von Fernsehkameras und Zeitungsreportern nur so wimmeln würde. Doch Angus Pelman hatte es fertig gebracht, nichts davon zu erfahren, bis er den Saal betreten hatte.

Ebenso brachte er es fertig, völlig entgeistert auszusehen, als er hörte, was passiert war. Als Backhouse ihm auch noch ein paar Einzelheiten mitteilte, ließ er sich schwer auf den nächsten Stuhl fallen.

»Die Hopkins vom Brookside Cottage?«, wiederholte er ungläubig.

»Sie kannten sie?«, fragte Backhouse.

»Sollte man meinen«, erwiderte Pelman. »Ich hab ihnen das blöde Haus ja verkauft.«

Eine Erinnerung blitzte in Pascoe auf, hell und klar. Das Cottage in Eskdale, vor sechs (oder waren es sieben?) Jahren. Es hatte einem Bauern gehört, der eine halbe Meile weiter unten im Tal wohnte. Kräftig war er gewesen und ein geiler Bock, der vor lauter Selbstgefälligkeit kaum gehen konnte. Außerdem hatte er es sich angewöhnt, immer wieder vorbeizuschauen – von seinem Inspektionsrecht Gebrauch zu machen, wie er es nannte. Dabei galten seine Inspektionen im Wesentlichen den beiden jungen Frauen, insbesondere Rose. Sie hatten auch den Verdacht gehabt, dass er ins Cottage kam, während sie wandern waren. Zum Schluss war da noch was gewesen, irgendein Streich …, doch die Erinnerung verblasste so schnell wie sie gekommen war. Er musste Ellie fragen.

»Erschossen, sagen sie? Alle beide?«, wollte Pelman wissen.

»Nicht die beiden Hopkins, Sir. Mrs. Hopkins und ihre zwei Gäste.«

»Und Colin Hopkins?«

»Wir hoffen, bald mit ihm sprechen zu können.«

»Sie meinen, er weiß es noch gar nicht? Aber gestern Abend war er da. Ich hab ihn im Ort gesehen.«

Ein Verdacht stieg in ihm auf, gefolgt von Empörung.

»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass er was damit zu tun hat. Sie sind wohl übergeschnappt. Ich kenne ihn ja noch nicht lang, aber das ist ausgeschlossen.«

Da war er Pascoe auf einmal viel sympathischer.

»Wir haben noch keine endgültigen Erkenntnisse gewonnen, Sir«, antwortete Backhouse beschwichtigend. »Übrigens, wenn Sie uns hier nicht vermutet haben, warum sind Sie denn dann hergekommen?«

Pelman wusste nicht, worauf der Superintendent hinauswollte. »Warum ich …? Ach, hierher, meinen Sie. Ganz einfach. Ich bin der Vorsitzende des Bau- und Umweltausschusses. Wir hatten gestern Abend eine Sitzung, und am Vormittag nach solchen Sitzungen kommt die Schriftführerin mit dem Protokoll her. Da ist es schon getippt. Wir gehen es gemeinsam durch und hängen es dann ans Notizbrett, damit alle wissen, was los war.«

»Schön«, sagte Backhouse beifällig. »Schön.«

Während er sprach, sah er zur Tür, und Pascoe, der seinem Blick folgte, war sich nicht sicher, ob er den demokratischen Prozess meinte, oder die Frau, die da stand.

Schön war sie, wenn man diesen Typ mochte. Anfang dreißig, gepflegtes braunes Haar, teuer aber dezent gekleidet, gute Figur, gegen all das hatte Pascoe nichts einzuwenden. Was ihn störte, war die Art, wie sie in die Runde blickte: amüsiert und gefasst.

Gehobene Mittelschicht, sich ihrer Stellung voll bewusst, berstend vor gesundem Menschenverstand und Gemeinsinn, Ausschussmitglied, (zukünftige) Friedensrichterin, Vorzeigegattin des integren konservativen Abgeordneten oder selbst integre konservative Abgeordnete. Arrogantes Weibsstück.

Pascoe war über sein harsches Urteil selbst überrascht. Und auch über die lächerliche Geschwindigkeit und die Leidenschaftlichkeit, mit der er es gefällt hatte. Eine Quelle der Wut schlummerte in ihm, die nur mit größter Behutsamkeit zum Sprudeln gebracht werden durfte. Er versuchte, den ersten Eindruck abzuschütteln und der Frau eine zweite Chance zu geben, doch sie schien es darauf angelegt zu haben, seine Schlussfolgerungen zu bestätigen.

»Hallo, Angus«, sagte sie mit klarer, hoher, wohlmodulierter Stimme. »Du bist ja in guter Obhut. Das Protokoll ist doch hoffentlich nicht so explosiv.«

Mit einer Ledermappe in der Hand trat sie näher. Sie war also die Schriftführerin des Bau- und Umweltausschusses. Das passte zu ihr.

»Hallo, Marianne. Hast du’s nicht gehört?«

Pelman schilderte ihr kurz, was geschehen war. Während er sprach, beobachtete Pascoe die Frau scharf. Zwei wichtige Mitglieder der Dorfgemeinschaft, und keines von beiden war über den Vorfall informiert. Er musste sein Bild von der Stammesgesellschaft in einem englischen Dorf revidieren.

»Möchten Sie sich nicht setzen, Mrs. … äh …?«, erkundigte sich Backhouse höflich, als Pelman fertig war.

»Culpepper«, half Pelman aus.

»Danke«, sagte sie. In seiner Voreingenommenheit schien Pascoe die Frau nicht besonders erschüttert, aber wahrscheinlich hatte man ihr von frühester Kindheit an eingebläut, stets die Contenance zu wahren. Im Guten wie im Schlechten. Sie legte die Ledermappe auf den nächststehenden Tisch. Sie fiel dabei hinunter und lag nun aufgeschlagen auf dem Boden. Pascoe hob sie auf, behielt sie in der Hand und blickte auf die sorgfältig getippten Seiten. Was auf der obersten stand, erfasste er mit der Geläufigkeit dessen, der tausend Worte pro Minute lesen kann. Bei der Sitzung war es anscheinend recht turbulent zugegangen. Hauptthema war die angebliche Verschmutzung des Baches, der durch das Dorf floss. Die Unterbächler warfen den Oberbächlern vor, sie hätten unzulängliche, oder gar zu viele, Senkgruben. Die Oberbächler wiesen das weit von sich. Das Gewässer, um das es ging, war vermutlich der Bach hinter dem Brookside Cottage. Plötzlich hatte er die Sonnenuhr im Garten deutlich vor Augen. Die heit’ren Stunden nur …

»Ich nehm das schon«, sagte Pelman, und Pascoe überließ ihm die Mappe. »Jetzt wollen wir Sie aber nicht länger aufhalten, Superintendent. Komm, Marianne. Du kriegst erst mal einen ordentlichen Brandy im Adler.«

Abgang John Wayne mit Dame, dachte Pascoe, als der Reithosenträger Marianne Culpepper am Ellbogen Richtung Ausgang manövrierte. Behutsam entwand sie sich seinem Griff, bevor sie auf die Straße traten.

»Stellt jemanden an die Tür«, sagte Backhouse mit ruhiger Stimme, »bevor sich hier ein Wegerecht etabliert. Ich bin im Cottage.«

Er bedeutete Pascoe, vor ihm hinauszugehen, und ließ ihn am Wagen warten, während er noch ein paar Worte mit dem Inspector wechselte. Die Straße war erstaunlich leer. Die Sonne war im Lauf des Vormittags recht kräftig geworden, aber Pascoe wurde immer wieder von Kälteschauern erfasst, als er darauf wartete, dass Backhouse einstieg und sie die kurze Fahrt zum Brookside Cottage antraten.

Drei

Ihr Fahrer parkte den Wagen etwa vierzig Meter vom Cottage entfernt im Gras. Das starke Aufgebot an Fahrzeugen in der unmittelbaren Umgebung des Hauses machte es unmöglich, näher heranzufahren.

Drei, vier Zeitungsleute fingen den Superintendent ab, als er die Straße entlangkam. Hauptsächlich Lokalreporter, vermutete Pascoe. Noch war es zu früh, als dass es jemand aus dem Samstagmorgenchaos in London hierher hätte schaffen können. Aber sie würden kommen. Drei Menschen mit Schrotflinte erschossen – so etwas konnte man nicht einfach den Lokalblättchen überlassen.

Backhouse war freundlich, aber bestimmt. Nein, es gebe noch keine Neuigkeiten. Die Polizei suche einen Mann, der bei den Ermittlungen helfen könne. Mr. Colin Hopkins, ja, genau den. Ein Foto und eine Personenbeschreibung würden ausgegeben werden, sollte sich das als notwendig erweisen.

Pascoe hatte sich bei der Befragung im Hintergrund gehalten. Als Backhouse mit den Reportern vor dem Cottage stehen blieb, stand er etwas abseits und schaute, seinen Gedanken freien Lauf lassend, zwischen Garage und Mauer nach oben. Im Garten und dahinter herrschte emsige Betriebsamkeit. Bestimmt suchten sie nach der Waffe. Alles, was sie fänden, würde natürlich peinlichst genau untersucht werden, aber die Waffe war es, der ihr Bemühen galt. Es war nicht unwichtig zu wissen, ob der Mann, hinter dem man her war, eine Schrotflinte mit sich führte oder nicht.

Er zweifelte daran, dass man sie so nah am Tatort finden würde. Hätte der Mörder sie in Panik in den Wald auf der anderen Seite des Baches geschleudert, wäre sie schon gefunden worden. Wenn er jedoch einen kühlen Kopf bewahrt hatte, war er bestimmt ins Auto gestiegen und hatte die Flinte in sicherer Entfernung vom Dorf versteckt.

Der Mörder. Von der Warte unbeteiligter Objektivität, die er in den vergangenen zwei Stunden mühsam erklommen hatte, stellte er sich die Frage, ob er schon in der Lage sei, in Betracht zu ziehen, dass Colin …, warum Colin …

Nein. Er war es noch nicht. Er ging zur Garage und spähte hinein. Was er da sah, erstaunte ihn.

»Sergeant!«, rief Backhouse im Amtston. Instinktiv folgte Pascoe der Aufforderung und stand schon neben dem Superintendent an der Schwelle, bevor er sich über den Befehlston zu wundern begann. Kam hier vielleicht ein neuer psychologischer Aspekt ihrer Beziehung zum Vorschein? Ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass er hier der Untergebene war?

Aber vielleicht hatten ihn seine Erfahrungen mit Dalziel zu misstrauisch gemacht, wenn es um die Verhaltensmuster von Superintendents ging. Vielleicht benutzte Backhouse Pascoes Rang einfach nur als Ablenkungsmanöver gegenüber den Presseleuten. Denn es war klar, als das Grüppchen abzog, freundlich, ja heiter gestimmt, dass keiner auch nur vermutete, der Entdecker des Verbrechens wäre ganz nah.

Im Inneren des Hauses hatte sich viel verändert. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, nach der gründlichen Spurensuche aufzuräumen. Wozu auch, wenn nicht zu erwarten war, dass ein erboster Hausherr auftauchen und sich beschweren würde.

Backhouse sah das anders.

»Himmelherrgott, Hamblyn«, sagte er zu dem Kriminalbeamten mit dem rotblonden Schnurrbart, der ihn begrüßte. »Sehen Sie zu, dass hier aufgeräumt wird. Und die ganzen Autos da draußen. Wenn ich eine Straßensperre brauche, dann sage ich Bescheid.«

»Ja, Sir«, antwortete Hamblyn ungerührt.

»Gibt’s was Neues?«

»Nichts, was uns weiterhilft, Sir. Zumindest, soweit ich das sehen kann. Wie sieht’s mit dem Auto aus?«

»Leider auch nicht besser.«

Pascoe sprach leise und zögernd.

»In der Garage steht ein Wagen«, sagte er. Es klang blöd, als er es aussprach, aber, zum Kuckuck, er musste es loswerden. Nicht, dass sie es tatsächlich übersehen haben konnten, oder doch?

»Ja, ja. Sieht so aus«, sagte Backhouse. Dann lachte er.

»Oh, jetzt weiß ich, was Sie meinen. Ja, es stimmt, das Auto der Hopkins steht in der Garage. Aber uns interessiert das andere. Königsblauer Mini-Cooper, nach allem, was wir wissen. Mit dem Mr. Rushworth und Mr. Mansfield gekommen sind.«

Pascoe war beschämt. Hamblyn sah ihn geringschätzig an.

»Gehen wir doch in den Garten«, schlug Backhouse vor, wie ein liebenswürdiger Gastgeber, der die Verdauungssäfte seiner Gäste vor dem Mittagessen anregen möchte.

Sie gingen durch das Esszimmer, an den Kreideumrissen der Körper und eingeringelten Blutflecken vorbei, traten durch die Glastür in den Garten und blieben neben der Sonnenuhr stehen.

Der wird mich noch in die Mangel nehmen, dachte Pascoe. Was verspricht er sich davon? Dass ich ihm Colins derzeitige Adresse verrate?

»Das Auto der Hopkins’ stand in der Garage, das der Gäste in der Einfahrt«, sagte Backhouse. »Etwas anderes würde man nicht erwarten, und das ist es auch, was die paar Leute gesehen haben, die gestern am frühen Abend hier vorbeikamen und die wir ausfindig machen konnten.«

»Die konnten aber nicht in die Garage hineinsehen«, wandte Pascoe ein.

»Stimmt«, gab Backhouse zu. »Also, zu dem, was passiert ist, oder möglicherweise passiert ist, gestützt auf ein tragfähiges Gerüst dessen, was tatsächlich passiert ist. Hier lagen jede Menge Glasscherben herum. Ist Ihnen das aufgefallen? Von einer Whiskyflasche, das war leicht zu ermitteln. Haben Ihre Freunde viel getrunken?«

»Nur gelegentlich«, erwiderte Pascoe, dem klar war, dass das Verhör jetzt begonnen hatte. »Und diese Gelegenheiten rechtfertigten selten die Investition in Scotch. Aber das ist schon Jahre her. Die Dinge ändern sich.«

»Ja, natürlich. Egal, wir führen jetzt eine richtige Befragung von Haus zu Haus durch, aber als Erstes waren meine Leute im Eagle and Child und dann im Queen Anne. Da hat sie ihn gekauft.«

»Den Whisky?«

»Genau«, sagte Backhouse nachdenklich. »Gestern Abend, ungefähr Viertel vor neun. Irgendwie seltsam. Das Eagle and Child ist näher. Sei’s drum. Die Frau des Wirts, die ihn ihr verkauft hat, hat den Wagen zwar nicht gesehen, aber wegfahren hören. Sie meint, es hätte eher wie ein Mini-Cooper geklungen als wie der Cortina der Hopkins’.«

»Feines Gehör«, bemerkte Pascoe, und sah einem Drosselpärchen zu, das sich von der Harmlosigkeit der Polizisten überzeugt hatte und nun nach Würmern bohrte.

»Wir finden bestimmt jemanden, der das bestätigen kann«, sagte Backhouse. »Wie es im Moment aussieht, ging’s nach dem Essen mit dem Trinken los. Als der Scotch langsam knapp wurde, bot sich Mrs. Hopkins an, für Nachschub zu sorgen, und nahm das Auto ihrer Gäste, weil es ohnehin wegmusste, wenn sie ihr eigenes aus der Garage holen würde. Bei ihrer Rückkehr ging sie entweder direkt in den Garten oder durch die Eingangstür ins Wohnzimmer, dann ins Esszimmer und bei der Terrassentür hinaus.«

»Und dann wurde sie erschossen«, ergänzte Pascoe.

»Scheint so. Sehr bald nach ihrer Rückkehr. Sie hatte nämlich noch immer die volle Flasche in der Hand. Wir haben den Verschluss gefunden, das Siegel war unberührt. Sie hat wahrscheinlich die Flasche vor sich gehalten, entweder, um den Schuss abzuwehren, oder als Waffe. Der Schuss aus der Schrotflinte ist glatt durchgegangen. Tief in der Wunde steckten Glassplitter. Könnte einer Ihrer Freunde eventuell eine Schrotflinte besessen haben?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es einfach nicht«, sagte Pascoe gereizt. »Ich hab Ihnen doch gesagt, Superintendent, das war eine Art Klassentreffen. Ich hatte die Leute Jahre nicht mehr gesehen. Woher soll ich wissen, was sie jetzt tun oder haben?«

»Verändern Menschen sich so sehr?«

»Natürlich verändern sie sich. Wenn einem jemand eine Ladung Blei ins Gesicht bläst, dann sieht man anders aus als vorher!«

Pascoe merkte, dass er fast schrie. Himmel, ich sollte eigentlich auch mit ein paar von Dr. Hardistys tröstlichen Pillen in einem von Constable Crowthers tröstlichen Betten liegen.

»Sir!« Es war Hamblyn, von der Terrassentür. Hinter ihm standen zwei Männer.

»Mr. French ist da, der Coroner.«

»Hallo, Superintendent«, grüßte der größere der beiden Männer, die nun in den Garten kamen. Er war über eins achtzig groß, mit eher abgezehrten Gesichtszügen, braun gebrannt, und auf seiner Nase waren die hellen Abdrücke zu sehen, die vom häufigen Tragen einer Brille zeugten. Sein Begleiter war gut zwanzig Zentimeter kleiner, in jeder Hinsicht weniger auffällig, doch sein blasses ovales Gesicht verriet Intelligenz und Charakter. Beide waren sportlich-leger gekleidet, der Untersuchungsrichter French eher in leuchtenden Farben, während der andere gedämpftere Farben trug.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Man sollte meinen, ich wäre der Erste vor Ort, wo ich doch sozusagen Tür an Tür wohne. Aber ich war mitten auf dem Golfplatz, mit Culpepper. Furchtbare Sache. Entsetzlich. Erzählen Sie mir doch gleich alles, was ich wissen muss.«

Culpepper, dachte Pascoe, als Backhouse und der Coroner gemeinsam ins Haus zurückgingen. Die Schriftführerin des Ausschusses hieß doch Marianne Culpepper. War das ihr Mann?

Der Mann sagte etwas zu ihm, und seine Worte klangen wie eine Bestätigung. Nichts entging seinen Augen. Er strahlte ruhige Autorität aus, dennoch hatte er das Bedürfnis, seine Anwesenheit zu erklären.

»Verzeihen Sie, könnten Sie … Sie sind doch von der Polizei, nicht?«

»Pascoe, Sir. Sergeant Pascoe.«

»Es ist nicht nur krankhafte Neugier, die mich hierher bringt, Sergeant. Ich wohne ganz in der Nähe. Ich kannte die Leute. Die Hopkins, meine ich. Als Mr. French mir sagte, warum er zurückmüsse, konnte ich’s gar nicht glauben.«

Er verstummte.

»Wie nahe wohnen Sie?«, fragte Pascoe. Es fiel ihm leichter, den Polizisten zu spielen, als seine wahre Rolle zu erklären.

»Ungefähr eine halbe Meile von hier. Da drüben, hinter dem Berg.« Er zeigte in Richtung der Anhöhe, die südlich des Dorfes zu erkennen war.

»Was ist denn passiert, Sergeant? Stimmt es, dass alle tot sind?«

»Mrs. Hopkins ist tot, Sir«, erwiderte Pascoe ruhig. »Und Mr. Mansfield und Mr. Rushworth, zwei Gäste, die hier übernachteten.«

»Mein Gott. Was ist mit Colin, Mr. Hopkins? Und den anderen Gästen?«

»Den anderen Gästen?«, fragte Pascoe in scharfem Ton.

»Ja. Gestern Nachmittag, als ich aus dem Büro kam, habe ich Mrs. Hopkins getroffen. So gegen fünf. Ich kann mir nicht vorstellen … Sei’s drum, ich habe sie für heute Abend auf einen Drink eingeladen, aber sie sagte, dass sie das Haus voller Gäste haben würden. Vier, hat sie gesagt. Mindestens.«

Es war halb sechs gewesen, als Pascoe angerufen hatte, um zu sagen, dass er und Ellie es Freitagabend nicht mehr schaffen würden. Wenn nur dieser Fall nicht dazwischen gekommen wäre … oder Dalziel nicht darauf bestanden hätte … Zwei Leute mehr, und wer auch immer etwas mit einer Doppelflinte hätte anstellen wollen, hätte sehr viel schlechtere Karten gehabt. Wie sich die Frage nach der Schuld doch je nach Bedarf anpassen ließ: so leicht zu übertragen oder zu übernehmen.

»Kannten Sie Mr. und Mrs. Hopkins schon lange, Sir?«, fragte Pascoe und vermied die Frage nach den Gästen.

»Nein, zwei, drei Monate erst, eben seit sie Brookside gekauft haben. Sie haben sich so damit geplagt. Das Haus war nämlich in einem miserablen Zustand, als sie es erwarben. Und sie haben Wunder vollbracht, wahre Wunder.«

Wieder versank er in Schweigen.

»Mr. Pelman hat ihnen, glaube ich, das Cottage verkauft«, sagte Pascoe.

»Das stimmt.«

Etwas in seiner Stimme veranlasste Pascoe, in dieser Richtung weiterzumachen.

»Hat er selbst hier gewohnt, bevor er das Haus verkauft hat?«

Culpepper lächelte ein freudloses Lächeln.

»Nein. Es steht an der Grenze des Grundstücks, das er gekauft hat, als er vor fünf Jahren hergezogen ist. Sein Haus steht auf der anderen Seite des Waldes, seines Waldes. Hinter dem war er nämlich in Wirklichkeit her. Eine Arena, in der er seinen Verstand mit dem von allerlei Kleinvieh und Geflügel messen konnte. Wohl leider ein höchst ungleiches Kräftemessen.«

Hält er mich für zu blöd, um den doppelten Sinn zu erfassen?, fragte sich Pascoe. »Es ist doch seltsam, dass der Vorsitzende des örtlichen Bau- und Umweltausschusses so einen Besitz einfach verfallen lässt?«, murmelte er vor sich hin.

Culpepper zog die Augenbrauen hoch.

»Sie picken Ihre Informationen aber ganz schön flott auf, Sergeant.«

»Unsere Arbeit ist ein einziges Picken im fremden Kornfeld, Sir.«

Plötzlich nickte Culpepper zweimal, als hätte er eine Bestätigung erhalten. »Sie sind also der Freund der Hopkins, der bei der Polizei ist? Einer ihrer Wochenendgäste.«

Schlauer Kerl, dieser Culpepper.

»Ja, stimmt. Woher wissen Sie das?«

»Mrs. Hopkins, Rose, hat Sie erwähnt, als ich gestern mit ihr gesprochen habe.«

Ich war also ein Kuriosum, einer besonderen Erwähnung wert. Eine Art Berühmtheit. Oder ein Mann mit zwei Köpfen. Und jetzt, Mr. Culpepper? Empört über mein kleines Täuschungsmanöver?

»Entschuldigen Sie, jetzt wird’s mir erst klar. Sie befinden sich ja in einer unerträglichen Situation«, sagte Culpepper mit anscheinend aufrichtigem Mitgefühl. »Waren Sie auch da, als es passierte?«

»Nein«, erwiderte Pascoe kurz. »Ich habe sie heute Morgen gefunden, als wir ankamen.«

»Entsetzlich. Sie sagten wir?«

»Eine Freundin. Sie erholt sich gerade von dem Schock.«

»Entsetzlich. Ganz furchtbar. Solche Dinge sind eine Pein für Geist und Seele.«

Backhouse und French kamen heraus.

»Können wir, Hartley?«, rief der Coroner. »Also dann, heute Nachmittag um halb drei, Superintendent. Hoffentlich finden Sie Ihren Mann schnell.«

Er sah Pascoe von der Seite an und schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Culpepper streckte ihm die Hand entgegen.

»Auf Wiedersehen, Mr. Pascoe. Schade, dass wir uns unter solchen Umständen kennen lernen mussten. Ihre Freunde waren reizende Leute. Wir hier im Dorf haben uns glücklich geschätzt, dass sie herkamen.«

Pascoe schüttelte ihm die Hand. Darauf war nichts weiter zu sagen, außer vielleicht, dass Rose sich wohl kaum glücklich geschätzt hätte, hierher gekommen zu sein, und Colin genauso wenig, egal wo er jetzt war.

Das war wirklich das Einzige, worüber zu sprechen sich lohnte. Wo Colin war. Und warum. Backhouse wartete wahrscheinlich schon darauf, das Thema anzuschneiden.

Und so war es auch. Kaum hatten French und Culpepper den Garten verlassen, stellte Backhouse die große Frage.

»Sie hatten jetzt Zeit zum Nachdenken, Sergeant. Sagen Sie mir also: Warum sollte ein Mann wie Colin Hopkins eine Schrotflinte nehmen und seine Frau und zwei enge Freunde erschießen?«

Vier

Die Frage kam nicht überraschend, und er hatte sich ein ganzes Depot an Zorn und Entrüstung zugelegt, das nur darauf wartete, im geeigneten Moment zu explodieren. Doch irgendwie zündete der Funke nicht.

»Wir wissen nicht, ob er das getan hat«, protestierte er schwach.

»Sie sind Polizist«, erwiderte Backhouse. »Angenommen, es wäre Ihr Fall. Wovon würden Sie ausgehen?«

»Wir haben nur Indizien. Wenn Sie Colin kennen würden, wüssten Sie, dass es ausgeschlossen ist.«

»Ich habe schon eine ganze Menge Mörder gesehen«, sagte Backhouse geduldig. »Und ich wage zu behaupten, auch Sie haben schon den einen oder anderen vor sich gehabt. Eines hatten sie alle gemeinsam, nämlich eine Handvoll enger Freunde, die auf das Entschiedenste versicherten, dass der Beschuldigte eines solchen Verbrechens ganz und gar unfähig sei. Habe ich recht?«

»Ich glaube schon.«

»Gut. Wie dem auch sei, Sie haben es vorhin selbst gesagt, manches ändert sich mit den Jahren. Situationen ganz bestimmt. Menschen genauso, wenn auch in geringerem Maße. Erzählen Sie mir also, was Sie wissen, woran Sie sich erinnern. Ist er leicht aufbrausend?«

»Was zum Teufel spielt das für eine Rolle?«, fragte Pascoe. Wenn er wie ein gewöhnlicher Zeuge befragt werden sollte, würde er auch ein paar von den Privilegien eines gewöhnlichen Zeugen in Anspruch nehmen. Wie zum Beispiel, sich überflüssige Höflichkeit gegenüber dem ermittelnden Polizisten zu sparen. »Sie werden ihn ohnehin nicht in Ruhe lassen. Sie werden ihn zur Strecke bringen und ihn verhören. Wenn es genügend Beweise gibt, werden Sie ihn vor Gericht bringen. Warum verschwenden Sie dann eigentlich Ihre Zeit mit mir?«

»Das wissen Sie«, erwiderte Backhouse kühl. »Natürlich lassen wir ihn nicht in Ruhe. Natürlich gehen meine Männer – Ihre Kollegen – davon aus, dass er einen dreifachen Mord begangen hat. Sie gehen auch davon aus, dass er eine Doppelflinte hat, von der er Gebrauch machen wird. Ich will Informationen, alles, was ich kriegen kann. Ich möchte wissen, wie man am besten mit ihm umgeht, wie er wahrscheinlich reagieren wird. Ich dachte, was für ein Glück, als ich hörte, Sie seien bei der Polizei. Ein Profi als Erster am Tatort. Für Sie war’s Pech. Ich dachte, für mich wär’s ein Glück.«

»Ist mir alles klar«, sagte Pascoe zähneknirschend. »Ich kann nur einfach nicht glauben, dass er’s war.«