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Oscar Boswell und Jack Wardle laden ein – zu besinnlichen Festtagen auf dem Landsitz Dingley Dell. Eine Dickens‘sche Weihnacht soll es geben, mit allem, was dazugehört: Gänsebraten und Pastete, Tee und Punsch am offenen Kamin, Eislaufen und Schneewandern, ein viktorianischer Kostümball ... Eine bunte Gesellschaft findet sich im alten Landhaus ein, mit dabei die junge Engländerin Arabella Allen. Als diese jedoch bei einer Erkundungstour durchs Haus auf eine Leiche stößt, wird klar, dass die besinnliche Stimmung trügt. Ein Schneesturm, der den Landsitz von der Außenwelt abschneidet, und das mysteriöse Verschwinden des Hausherrns tun ihr Übriges. Schon bald gerät die Dickens‘sche Weihnacht zum mörderischen Versteckspiel ... Mit Witz und Wärme erzählt der britische Krimiautor Reginald Hill eine tödliche Weihnachtsgeschichte – englisch wie Christmas Pudding, behaglich wie ein knisterndes Kaminfeuer und explosiv wie der Lauf eines Vorderladers. »Nur wenige Krimiautoren haben die Gaben von Hill: außergewöhnliche Intelligenz, bestechender Humor und einen Stil, der Eleganz und Anmut miteinander verbindet.« DONNA LEON
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Seitenzahl: 321
Oscar Boswell und Jack Wardle laden ein – zu besinnlichen Festtagen auf dem Landsitz Dingley Dell. Eine Dickens’sche Weihnacht soll es geben, mit allem, was dazugehört: Gänsebraten und Pastete, Tee und Punsch am offenen Kamin, Eislaufen und Schneewandern, ein viktorianischer Kostümball … Eine bunte Gesellschaft findet sich im alten Landhaus ein, mit dabei die junge Engländerin Arabella Allen. Als diese jedoch bei einer Erkundungstour durchs Haus auf eine Leiche stößt, wird klar, dass die besinnliche Stimmung trügt. Ein Schneesturm, der den Landsitz von der Außenwelt abschneidet, und das mysteriöse Verschwinden des Hausherrns tun ihr Übriges. Schon bald gerät die Dickens’sche Weihnacht zum mörderischen Versteckspiel …
Mit Witz und Wärme erzählt der britische Krimiautor Reginald Hill eine tödliche Weihnachtsgeschichte – englisch wie Christmas Pudding, behaglich wie ein knisterndes Kaminfeuer und explosiv wie der Lauf eines Vorderladers.
© Tony Davis
Reginald Hill, 1936–2012, wurde im Norden Englands geboren und ist einer der bekanntesten Krimiautoren Großbritanniens. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Karl-Heinz Ebnet arbeitet seit mehr als fünfundzwanzig Jahren als literarischer Übersetzer, u.a. der Werke von Mary Higgins Clark, Tobias Hill, Julian Gough und Ayad Akhtar.
Reginald Hill
MORD INDINGLEY DELL
Kriminalroman
Aus dem Englischenvon Karl-Heinz Ebnet
Die englische Originalausgabe erschien 1972 unter dem Titel »Red Christmas« bei John Long Ltd., London.
© Copyright 1972 Reginald Hill
© 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Karl-Heinz Ebnet
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: Landschaft © 123rf/Pavlo Kovernik; Gutshaus: © 123rf/Elena Lishanskaya
Satz: Fagott; Ffm
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-8321-7053-0
www.dumont-buchverlag.de
Wie viele alte Erinnerungen … erweckt die Zeit der Weihnachten!
Wir schreiben diese Worte viele Meilen von dem Ort entfernt, wo wir … diesen Tag in einem heiteren und fröhlichen Kreis verlebten. Manche der Herzen, die damals so freudig pochten, haben aufgehört zu schlagen. Manche der Blicke, die damals so hell strahlten, haben aufgehört zu leuchten. Die Hände, die wir drückten, sind kalt geworden. Die Augen, die wir suchten, haben ihr Licht im Grab verloren …
Charles Dickens, Die Pickwickier
1
Hierher – hierher – was ein Spaß – Bier en masse – fässerweise; Rinderstücke – ganze Ochsen; Senf – zuhauf; welch prächtiger Tag – heraus mit Ihnen – fühlen Sie sich wie zu Hause – schön, Sie zu sehen – außerordentlich.
Mr.Alfred Jingle
Eine Bewegung im Unterholz, und heraus stob ein Fasanenhahn. Unwillkürlich verfolgte der größere der beiden Wildhüter die flache Flugbahn des Vogels mit dem Lauf seines Gewehrs, eine fließende, rhythmische Bewegung, die den erstklassigen Schützen verriet.
Sein Gefährte dagegen hielt den Blick aufmerksam auf das Gehölz gerichtet. Nur der Dunst seines Atems in der frostigen Luft strafte seine vollkommene Reglosigkeit Lügen.
»Ein Fuchs?«, sagte der Größere. »Vielleicht auch nichts. Mein Gott, die Gamaschen bringen mich noch um.«
Der andere entspannte sich und zuckte mit den Schultern.
»Schon möglich. Du solltest sie nicht so eng schnüren.«
»Wardle will, dass wir schick aussehen. Hier, Lust auf einen Schluck?«
Er zog einen metallenen Flachmann aus der geräumigen Tasche seiner Tweedjacke.
»Das würde Wardle auch nicht gefallen.«
»Der dicke Sausack wird sich damit abfinden müssen.«
Er nahm einen großen Schluck, steckte den Flachmann wieder ein und sah auf seine Uhr.
»Fast zwölf. Zeit, um runter zur Straße zu gehen und das treu ergebene Gesinde zu geben. Irgendjemand Interessantes auf der Gästeliste? Kommen heute nicht die Franzosen?«
Der andere erwiderte nichts darauf, warf noch einen letzten, langen Blick auf das Gehölz, bevor er sich auf den Weg vom reifgesprenkelten Hang hinunter zur Weißdornhecke machte, die die Straße säumte.
Hinter ihm, das Gewehr nun aufgeklappt als Konzession an das tückische Gelände, folgte der Große. Er redete immer noch.
»Hoffentlich ist ein hübsches Gesicht dabei. Hast du diese deutsche Kuh gesehen? Da bebt das Euter. Einen Moment, ich muss die Gamaschen lockern. Ich bin mir sicher, Boswell, dieser Schleimscheißer, hat da was durcheinandergebracht. Ich hab auf einer Weihnachtskarte noch nie einen gesehen, der so aussieht wie wir.«
Der Kleinere blieb stehen und drehte sich um.
»Du redest zu viel«, sagte er ganz ruhig.
»Tut mir leid, wenn es dich stört.«
»Mich stört es nicht.«
Er betonte ganz leicht das erste Wort.
Schweigend stiegen sie weiter den Hang hinab.
Der Mann im Gehölz lächelte, als er sie fortgehen sah. Er hatte auch gelächelt, als sie angerückt waren. Früher hatte es ihn eher beunruhigt, wenn das berauschende Vergnügen einer solchen Situation seine Blutbahnen zum Moussieren brachte. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, er freute sich sogar darauf.
In einem alten Leinwandsack neben ihm lagen zwei fette Kaninchen und ein noch warmer Fasan. Keine schlechte Ausbeute für eine halbe Stunde Arbeit. Schon überraschend, welch ein Vergnügen die Wilderei ihm bereitete. Flink löste er den kurzen Lauf seiner Flinte vom Schaft und schob beides in speziell angebrachte Taschen im Futter seiner alten Militärjacke. Unten waren die beiden Wildhüter nur noch streichholzgroße Männchen vor dem Weiß des reifbedeckten Grases.
Der Wilderer stieg den Hügel hinauf, immer darauf bedacht, dass das Gehölz zwischen ihm und den beiden absteigenden Männern lag. Er bewegte sich leichtfüßig und mühelos. Auf der Hügelkuppe blieb er stehen, sah wieder hinunter, sein scharfer Blick folgte der Weißdornhecke. Aus der Tasche nahm er ein kleines Teleskop, Kinderspielzeug dem Aussehen nach. Aber es erfüllte seinen Zweck. Er fokussierte die Kurve, an der die Hecke eine Lücke aufwies und wo von seinem erhöhten Standort aus die befestigte Straße sichtbar wurde.
Ein, zwei Minuten lang geschah nichts. Dann zeigte sich auf seinem Gesicht, wie so oft, ein attraktives Lächeln. Was er dort unten sah, mochte albern, künstlich, kitschig wirken. Aber der Anblick erfreute sein Herz.
Vier prächtige rotbraune Pferde trabten in sein Sichtfeld, eingespannt in eine hohe Postkutsche aus dem neunzehnten Jahrhundert, die in ihrem ganzen Prunk rot, gelb und braun funkelte.
Er sah, wie der hinten aufgesessene Beisitzer in Erwartung des baldigen Zusammentreffens mit den Wildhütern sein schimmerndes Klappenhorn an die Lippen setzte. Wenige Sekunden später schallten die ankündigenden Töne durch die stechend kalte Luft. Dann verschwand die Kutsche wieder hinter der hohen Hecke, und nur der Dreispitz des Kutschers und die höchsten Erhebungen des auf das Dach geschnallten Gepäcks zeigten die weitere Passage an.
Ein überaus herrlicher Anblick. Wer saß drin?, fragte er sich. Welche Fremden, deren Herzen zeit- wie unzeitgemäße Gelüste in sich trugen, wurden hier zu ihrem Ziel kutschiert? Ein romantischer Gedanke!
Aber so lange sie Fremde für ihn waren, konnte er ihnen alles Gute wünschen. Was er auch wirklich tat, allen, sogar den Wildhütern.
Denn immerhin war heute Heiligabend.
In Unkenntnis der weihnachtlichen Glückwünsche, die ihnen von oben entsandt wurden, reagierten die vier Passagiere in der Kutsche ganz unterschiedlich auf ihre Reise.
Fünf Meilen zuvor hatten sie sich einander bekannt gemacht, am Bahnhof (oder genauer gesagt an der etwas heruntergekommenen Haltestelle), als klar geworden war, dass sie alle beabsichtigten, mit der Kutsche zu fahren. Nun, beabsichtigen war vielleicht übertrieben.
Der dunkle, hagergesichtige, asketisch aussehende Mann hatte in schnellem Französisch auf seine Begleiterin, eine lebhafte Brünette, eingeredet, nachdem sie die Kutsche erblickt hatten, und anschließend in leicht überperfektem Englisch den Kutscher gefragt: »Bestünde nicht auch die Möglichkeit, ein Taxi zu nehmen?«
»Nein, nein, bitte, Jules!«, rief die Brünette, noch bevor der Kutscher antworten konnte. »Die Kutsche ist doch herrlich. Wir müssen mit ihr fahren, das ist so au-then-tique, n’est-ce pas? Unbedingt.«
Miss Arabella Allen, ausgestattet mit allem erdenklichen Zynismus einer dreiundzwanzigjährigen englischen Jungfer, erschien das Englisch der Madame Suzie Leclerc als leicht überfranzösisiert, zudem zielte der reizende Charme ihres Idioms wohl eher auf das Ohr des vierten Passagiers, eines jungen Manns von fast femininer Schönheit. Neben dem zarten Knochengerüst des Jünglings gemahnte Arabella ihre eigene Kieferpartie eher an die eines Bob Hope.
Sein Name schien Stephen Swinburne zu lauten, und sein nervöses Lächeln, mit dem er Suzies Flehen nach Unterstützung quittierte, wurde als positive Zustimmung aufgefasst. Dies sowie der Umstand, dass die Kutsche – vom schnell sich entfernenden Zug einmal abgesehen – das einzige Gefährt weit und breit war, bewog Monsieur Leclerc schließlich doch zum Einsteigen.
Das Vorhandensein eines kleinen Ölradiators und vieler Reisedecken hellte seine Stimmung ein wenig auf. Der Kutscher und sein Beisitzer hievten das Gepäck nach oben, kurz danach, eingeleitet mit einer furiosen Fanfare des Beisitzers und einem Peitschenknall des Kutschers, setzten sie sich in Bewegung.
»Waren Sie schon mal in Dingley Dell?«, fragte Arabella den schönen Jüngling.
»Nein«, sagte er mit seiner tiefen Upperclass-Stimme. »Die Einrichtung gibt es noch nicht sehr lange, nicht wahr? Außerdem verbringe ich Weihnachten sonst immer mit Freunden, dieses Jahr hab ich mich aber zu einer Familienzusammenkunft überreden lassen. Mummy und Daddy haben sich für hier entschieden. Sie sind seit gestern da. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich sehr darauf freue. Bis jetzt.«
Doch nicht so schüchtern, sagte sich Arabella. Zwischen dem Mann und seinen Manieriertheiten ist durchaus zu unterscheiden.
»Was ist mit Ihnen, Miss … Allen, haben Sie gesagt?«
»Genau. Nein. Ich bin nur auf die Reklame aufmerksam geworden. Erleben Sie eine Weihnacht ganz nach Dickens. Als sich meine anderen Pläne zerschlugen, hab ich in letzter Minute zugegriffen.«
»Dann haben Sie Glück gehabt. Meines Wissens ist es immer sehr schnell ausgebucht.«
Arabella zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht ist der Andrang von Singles nicht so groß. An Weihnachten.«
Suzie beschloss, dass es an der Zeit war, sich ebenfalls ins Gespräch einzubringen, wenngleich der von ihr verströmte, teure Duft bereits dafür sorgte, dass man sie kaum ignorieren konnte.
»Wir sind hier wegen einer richtigen englischen Weihnacht, Sie verstehen? Jules, er arbeitet seit vielen Jahren in London. Aber an Weihnachten wir fliegen immer für zwei, drei Tage nach Paris. Und dann wieder zurück. Dieses Jahr, ich sage, Jules, lass uns einmal Weihnachten hier in England verbringen. Nein, noch besser, verbringen wir es im altmodischen England, dem England auf den Weihnachtskarten. Einige meiner Freundinnen, sie haben mir von hier, von Dell, erzählt. Also sind wir hier!«
»Dingley Dell«, korrigierte sie ihr Gatte.
»Hab ich doch gesagt. Dinkley Dell. Wie in Die Pickwickier von eurem Dickens. Ich hab es gelesen. Sehen Sie!«
Triumphierend zog sie eine Taschenbuchausgabe von Die Pickwickier aus ihrem großen und teuer aussehenden Pelzmuff.
Wenn das Falzblatt, das aus dem Buch ragte, anzeigte, wo sie gerade war, dann war sie nicht sehr weit gekommen, dachte sich Arabella.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Landschaft, durch die sie fuhren. Bald waren sie von der Nebenstraße, die zur Bahnstation geführt hatte, auf eine noch schmalere Straße abgebogen, kaum mehr als ein Weg, allerdings mit festem Belag. Die Landschaft, der vom schimmernden Frost eine (in jedem Sinne) atemberaubende Schönheit verliehen wurde, war angenehm abwechslungsreich, ohne theatralisch zu wirken.
Hügel, Wälder, Senken, gepflügte Felder wie gefrorene Seelandschaften, ein paar Schafe, Kühe, ein Rappe, der zur Hecke getrabt kam, um die vorbeifahrenden Reisenden zu begrüßen, hier und da ein Pferch mit Schafen oder ein fernes Bauernhaus – es gab sehr wenig, was die Illusion hätte zerstören können, dass diese Reise tatsächlich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts stattfand. Und in Dingley Dell selbst, so die Broschüre, hatte man, um den Schein von Originalität zu wahren, sogar die Telefonleitungen (unter gewaltigen Kosten) unterirdisch verlegt.
Wahrscheinlich würde alles ganz abscheulich werden. Nichts als aufgesetzte Festtagsstimmung. Trotzdem, es war nun mal was anderes als letztes Weihnachten, als das Thermometer siebenundzwanzig Grad im Schatten angezeigt hatte. Eine willkommene Abwechslung, so war zu hoffen.
Plötzlich kamen zwei Männer in Sicht, die auf einem Feld neben dem Weg standen. Irgendwie wirkten sie seltsam. Sie hatten Gewehre unter dem Arm, ihre Gesichter waren vor Kälte gerötet. Sie lächelten, als die Kutsche vorbeifuhr, und lüpften zur Begrüßung ihren Dreispitz.
Ihre Kleidung, ja, klar, die war seltsam! Nein, nicht seltsam, sondern altertümlich. Offensichtlich gehörten sie bereits zur Dingley-Dell-Kulisse. Die Fahrt musste bald zu Ende sein.
Bestätigt wurde dies wenige Minuten später, als die Kutsche vom befestigten Weg auf einen richtigen Feldweg abbog, mit Schlaglöchern und ausgewaschenen Furchen. Die Fahrspuren waren hart gefroren, und die Passagiere in der Kutsche bekamen eine Ahnung von den Unannehmlichkeiten, denen Reisende eineinhalb Jahrhunderte zuvor ausgesetzt gewesen waren. Sie wurden durchgerüttelt und gegeneinander geworfen. Suzie schien das alles zu genießen, selbst Leclerc zeigte ein dünnes Lächeln, als er Arabella auf ihren Sitzplatz zurückschob. Das alles, entschied Arabella, war wohl nichts weiter als eine Extraportion des au-then-tique, um Leute wie Suzie zu beeindrucken.
Vermutlich war es nicht mehr weit bis Dingley Dell. Links hatte sie kurz einen Blick auf ein kleines, halb verfallenes Cottage erhaschen können, das früher vielleicht die Unterkunft des Wildhüters gewesen war. Ihre Theorie wurde sehr schnell bestätigt, als der Weg vollkommen eben wurde und anschließend in eine Kiesanfahrt mündete, die um ein Sträucherrondell herumführte, in dessen Mitte eine wunderbare, mit karmesinroten Beeren geschmückte Stechpalme stand. Als sich der Weg wieder ausrichtete, verkündete ein weiterer Fanfarenstoß ihr Kommen, und Arabella lehnte sich aus dem Fenster, um zu sehen, wohin die Anfahrt sie führte.
Direkt vor ihnen, keine Viertelmeile entfernt und in der klaren Luft deutlich zu erkennen, stand ein Haus. Ein lang gezogenes weitläufiges Gebäude, ursprünglich errichtet, um den Bedürfnissen einer Bauernfamilie aus dem achtzehnten Jahrhundert Genüge zu tun, aber weniger, um den Architekturdogmen jedweden Zeitalters zu entsprechen. Mehrere hohe Kamine schickten zur Begrüßung ihren Rauch in die mittägliche Luft.
»Wir sind da«, sagte sie und zog den Kopf zurück ins Kutscheninnere.
»Lassen Sie mich sehen! Lassen Sie mich sehen!«, rief Suzie und drängte ihren kostspielig frisierten Kopf in die frische Luft. »Magnifique! Magnifique!«
Schwer zu sagen, ob sie damit das Haus meinte oder die Gestalt, die zu ihrer Begrüßung aus der efeuumrankten Vorhalle trat. Ein Mann mittleren Alters, beleibt, aber behände, in dessen breitem, offenem Gesicht aus jeder Falte Wohlwollen und Gastfreundschaft sprachen. Eine beeindruckende Gestalt an sich, die in ihrem blauen Rock mit glänzenden Knöpfen, den Kord-Breeches und den Stulpenstiefeln in der Tat ganz magnifique aussah.
»Steigen Sie aus, steigen Sie aus!«, rief er. »Seien Sie willkommen in Dingley Dell! Wardle ist mein Name, Frohsinn mein Naturell. Wo ist der Tritt? Joe! Joe! Weckt den Jungen, macht schon! Da bist du ja, Joe! Los, mein Junge, lass das Trittbrett runter.«
Aus der Tür hinter ihm kam oder eher rollte der säumige Joe. Arabella hatte selten einen so dicken Jugendlichen gesehen. Sein Umfang grenzte ans Groteske, selbst der seines runden roten Gesichts, in dem das Gewicht der drei Doppelkinne den Mund ständig nach unten klappen ließ. Arabella schauderte. Wenn das Authentizität war, konnte sie gut und gern darauf verzichten. Die Figur des dicken Jungen in Dickens’ Geschichten hatte sie noch nie gemocht, die gegenwärtige Inkarnation jedoch überstieg ihre schlimmsten Vorstellungen.
Missmutig ließ Joe das Trittbrett herunter und wurde von Wardle zur Seite geschoben, der eine bereitwillig ergriffene Hand anbot, um Suzie beim Aussteigen behilflich zu sein. Stephen Swinburne sprang als Nächster hinunter und half in der Folge Arabella. Der schmächtige Leclerc kam zum Schluss.
»Ladys, Gentlemen. Willkommen. Treten Sie ins Haus, wir haben ein Feuer im Kamin, eine Bowle mit heißem Punsch wartet schon auf Sie, um die Kälte der Reise zu vertreiben. Dann zum Mittagstisch. Wir halten uns auf dem Land an die Zeiten, Mittagessen um zwölf, pünktlichst. Aber wir pflegen auch die Vergnügungen des Landes, also keine Sorge um Ihren Appetit!«
Ist der immer so?, fragte sich Arabella.
An der alten eichenen Tür blieb sie stehen und sah zurück zur Kutsche, auf der der Kutscher das Gepäck dem lustlosen Joe nach unten reichte. Es war wirklich schön. Als sie sich wieder dem Haus zuwandte, wurde sie von einem kurzen Lichtblitz geblendet, als hätte oben auf dem niedrigen bewaldeten Kamm, der sich halbmondförmig östlich um das Haus herumzog, ein Stück Glas die wenig wärmenden Strahlen der frostig roten Sonne reflektiert.
Wardle war es ebenfalls aufgefallen, dessen war sie sich sicher, auch wenn sein Willkommensschwall keine Unterbrechung erfuhr. Aber nachdem sie im Haus waren, vor dem versprochenen Feuer saßen und ein hübsches, rotwangiges Dienstmädchen (jemand hatte ein glückliches Händchen beim Casting) einen dampfenden Gewürzpunsch kredenzte, ließ sich Wardle entschuldigen und ging wieder hinaus, vorgeblich, um das Abladen des Gepäcks zu überwachen.
Arabella erhob sich und schlenderte an das niedrige Nischenfenster. Draußen, sah sie, redete ihr Gastgeber eindringlich auf einen kleinen dunkelhäutigen Mann im Kostüm eines Stallburschen ein.
»Ist es nicht wundervoll, Miss Allen!«, rief Suzie, die zu ihr getreten war. »Eigentlich genau so, wie ich es mir vorgestellt habe, ja?«
Arabella lächelte. »Eigentlich«, antwortete sie.
Als sie wieder nach draußen sah, war der Stallbursche verschwunden, und Wardle kam zurück ins Zimmer.
»Ihr Gepäck ist sicher verstaut und wartet in Ihrem Zimmer auf Sie«, rief er. »Trinken Sie Ihren Punsch bis zum letzten Tropfen, dann haben Sie ein wenig Zeit, um sich fürs Dinner fertig zu machen.«
»Ich glaube nicht, dass ich so früh schon was esse«, murmelte Leclerc mit einem Anflug von Widerwillen. »Die Reise hat mich geschlaucht. Ich würde mich lieber hinlegen.«
»Hinlegen! Was soll das?«, sagte Suzie. »Leg du dich hin, ich werde essen.«
»Und was ist mit Ihnen, Miss Allen?«, erkundigte sich Stephen Swinburne.
»Oh, ich werde essen. Mir wurde beigebracht, nie eine Mahlzeit ausfallen zu lassen«, sagte Arabella.
Die Authentizität, wie sie erleichtert feststellte, erstreckte sich nicht auf die sanitären Anlagen. Die Inneneinrichter hatten klugerweise nicht versucht, eine zeitgemäße Atmosphäre in ihrem Badezimmer zu schaffen. Sie nahm Wardle beim Wort und stellte sich nur kurz unter die Dusche. Trotzdem erklang der große Gong, den sie am Fuß der Treppe gesehen hatte, als sie noch nicht einmal halb angezogen war.
»Da sind Sie ja, Miss Allen!«, sagte Wardle, als sie die Treppe hinunterging. »Ich dachte schon, Sie hätten sich verlaufen. Das Haus ist alt und verwinkelter, als es von außen aussieht.«
»Das glaube ich gern. Jedenfalls ist es sehr schön.«
»Ja, das ist es. Hier entlang.«
Er führte sie von der Eingangshalle durch einen langen steinernen Korridor, der von kleinen quadratischen, in Abständen von jeweils einem Meter angebrachten Fenstern erhellt wurde.
An einem von ihnen, mit einer zersprungenen Scheibe, blieb sie stehen und sah hinaus. Dunkel vor dem kaltblauen Himmel setzte sich die Erhebung des halbmondförmigen Höhenzugs ab, der ihr bei der Anfahrt aufgefallen war. Von dieser Hausseite sah er noch näher, bedrohlicher aus.
»Man möchte nicht meinen, dass wir kaum mehr als fünfzig Meilen von London entfernt sind«, sagte Wardle hinter ihr.
»Nein«, antwortete sie.
In der Ferne erklang ein dumpfer Knall, als wäre eine Papiertüte geplatzt, nein, eher zwei Schläge, und so schnell hintereinander, dass sie kaum voneinander zu unterscheiden waren. Saatkrähen erhoben sich von den Bäumen auf dem Kamm und krächzten zum Protest.
»Was war das denn?«, fragte sie.
»Jemand scheint sich einen Spaß mit den Krähen zu machen, vielleicht auch einer meiner Wildhüter, der ein Fasanenpaar zum Abendessen erlegt hat«, sagte Wardle lachend. »Kommen Sie, meine Liebe. In der Küche brät den ganzen Morgen schon ein wunderbares Stück Rind, aber bei dem Appetit in Dingley Dell könnte alles bereits verputzt sein, bis Sie zum Essen Platz nehmen!«
Als sich Arabella vom Fenster abwandte, kehrten die kreisenden Krähen wieder zu ihren Plätzen zurück. Unerwartete Störungen wie diese sorgten in ihrem Leben nur für sehr kurzweilige Ablenkung.
Während Arabella das Speisezimmer betrat und in den Kreis der neugierigen Gesichter lächelte, die sich ihr zuwandten, wünschte sie sich, sie könnte das von sich und ihrem Leben ebenfalls behaupten.
2
Ich lass mich nicht, bloßer Formalitäten wegen, in einer Schubkarre erschießen.
Mr.Samuel Pickwick
»Und last but not least mit dem Tranchiermesser in der Hand, steht hier vor Ihnen der Mann, der für unser leibliches Wohl sorgt, unser Mr.Boswell, völlig zutreffend Boz genannt!«
»Schön, Sie kennenzulernen, Mr.Boswell«, sagte Arabella.
»Boz. In meinem Vertrag steht, dass mich alle Boz nennen. Darf ich Ihnen eine Scheibe Roastbeef reichen?«
»Sie dürfen mir zwei reichen. Die Reise hat mir Appetit gemacht.«
Klasse Kundin, dachte sich Boswell. Ganz passabel anzusehen. Jung, unerfahren, scheint allerdings auf Zack zu sein. Konnte man sie nicht innerhalb einer Viertelstunde ins Bett lotsen, dürfte man sich schwertun, sie überhaupt ins Bett zu bekommen. Wenn er sie also nicht zwischen dem Syllabub und dem Käse rumkriegte, konnte er sich die Mühe ganz sparen.
»Für mich auch noch eine Scheibe«, befahl die kolossale Frau zu seiner Rechten.
»Gewiss, Frau Himmelstor.«
Frau Kuh, die fette Schachtel. Es war ihr dritter Nachschlag. Sie hatte sogar weitergekaut, als Arabella am Tisch vorgestellt wurde. Herr Himmelstor, der es sich beinahe ebenso schmecken ließ, hatte dagegen die ganze teutonische Höflichkeitsnummer durchexerziert, hatte sich erhoben, den Diener gemacht und die Hacken zusammengeschlagen. Die Swinburnes, denen es schwererzufallen schien, sich mit ihrem frisch eingetroffenen Sohn zu unterhalten als mit einem Fremden im Zug, hatten die kleine Ablenkung sichtlich begrüßt. Die Stimmung des jungen Stephen (jung? neunzehn? einundzwanzig?) hatte sich erkennbar aufgehellt.
Die anderen Gäste am langen Tisch, an dem notfalls auch zwei Dutzend Platz gefunden hätten, hatten gelächelt und genickt. Die Burtons, ein nettes, pausbäckiges Paar mit Yorkshire-Akzent, hatten sie besonders freundlich angesehen, waren aber am anderen Ende des Tisches zu weit weg, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Nach der Vorstellungsrunde, nachdem die Unterhaltungen wieder aufgenommen wurden, registrierte Arabellas scharfes Gehör, dass durchaus einige Ausländer zugegen waren. Es gab keine feste Sitzordnung, aber Wardle hatte sie neben dem Roastbeef und Boswell platziert.
»Mir gefällt Ihr Kostüm«, sagte Arabella.
»Danke, sehr nett von Ihnen«, sagte Boswell und ließ sich nach den Strapazen des Fleischzerteilens bei ihr nieder. »Hier gilt die Regel, dass sich jeder für die Party heute Abend in Schale wirft und den gesamten Weihnachtstag in zeitgemäßer Kleidung erscheint. Wir haben eine große Auswahl passender Kleidungsstücke, eines der Dienstmädchen versteht sich auch auf den Umgang mit Nadel und Faden, falls Änderungen nötig sind.«
»Ich hab was dabei, was für heute Abend ganz gut passt«, sagte Arabella.
»Ja? Ich muss auf eine vorherige Begutachtung bestehen. Wir können es uns nicht erlauben, dass hier ein falscher Ton reinkommt.«
Sie musterte ihn streng.
»Dann darf ich Sie daran erinnern, dass die Pickwickier in den Dreißigern erschienen sind und die Geschichte etwa zehn Jahre vorher angesiedelt ist. Aber die Aufschläge, die Sie tragen, kamen erst nach 1840 auf. Bis dahin hat man sie hochgerollt.«
O nein, stöhnte Boswell im Stillen. Doch nicht etwa eine Klugscheißerin? Es war hier auch ohne Hobbyexperten schon schlimm genug.
»Man kann sich auch in Kleinigkeiten verlieren«, sagte er. »Meinen Sie nicht auch?«
»Finde ich keineswegs. Nicht wenn Sie Oscar Boswell sind, der designierte Präsident des Dickens-Kreises und zweitjüngster Fellow in der neueren Geschichte des St.Sepulchre’s College.«
»Großer Gott! Sie sind ja eine Polizistin!«
Arabella schmunzelte.
»Ich lese immer die Klappentexte. Ihr letztes Buch fand ich ausgezeichnet.«
Immerhin eine ausgesprochen liebenswürdige Klugscheißerin!, dachte sich Boswell. Gib uns einen Kuss, und ich kröne dich zur Maikönigin.
Wardle, der einen schwermütigen Lakai ermahnte, ihnen schleunigst den Wein und Porter zu bringen, nahm gegenüber Platz.
»Aus diesem Grunde ist er bei uns, Miss Allen. Wir brauchen einen Experten, und wenn wir etwas brauchen, holen wir uns immer das Beste. Nur so kommt man im Leben zu was! Essen Sie, Miss Allen, essen Sie. Boz, mein Guter, noch eine Scheibe für die Lady.«
»Nein danke«, sagte Arabella, aber Wardle hatte sich bereits erhoben und seine Aufmerksamkeit auf den nächsten Gast gerichtet.
»Madame Leclerc! Wie haben Sie uns gefehlt!«
Suzie betrat den Raum. Sie trug einen eng anliegenden stahlblauen Catsuit.
Volltreffer!, dachte Boswell.
»Komme ich zu spät? Nein? Entschuldigen Sie. Mein Mann ist müde geworden und will sich hinlegen.«
»Der Arme«, murmelte Arabella. Boswell sah sie scharf an.
»Dann nehmen Sie neben mir Platz«, sagte Wardle und setzte sich in Bewegung, wurde allerdings von einem Diener aufgehalten, der ihm etwas ins Ohr flüsterte. Kurz schwand sein Lächeln.
»Bitte entschuldigen Sie mich für eine Sekunde. Setzen Sie sich. Boz, kümmere dich um unseren neuen Gast. Das beste englische Beef für die schönste französische Lilie.«
Aber er schien nur halb bei der Sache zu sein und eilte aus dem Raum.
»’allo«, begrüßte Suzie Arabella und bezog auch Boswell in ihr freundliches Lächeln mit ein.
»’allo auch«, begrüßte Boswell sie.
Mrs.Burton, die Frau aus Yorkshire, schob ihren Stuhl zurück und ging ans Fenster.
»Was ist da los, meine Liebe?«, rief ihr Mann.
»Keine Ahnung. Eine Art Unfall, scheint mir.«
Boswell verharrte mitten im Abschneiden und eilte ans Fenster, das Tranchiermesser ließ er im Braten stecken. Arabella folgte ihm.
Vom Fenster waren die Hauptzufahrten zum Haus zu sehen. Die vierspännige Kutsche war verschwunden. Dem Haus näherten sich die beiden Wildhüter, die grüßend an der Straße gestanden hatten. Sie schoben etwas vor sich her.
In der Haustür tauchte Wardle auf und eilte ihnen entgegen, worauf sie alle stehen blieben und sich unterhielten, bevor sie ihren Weg fortsetzten. Erst als sie sich dem Eingang näherten, war zu sehen, dass sie sich mit einer klapprigen Schubkarre abmühten, wie Gärtner sie für Laub und Gartenabfälle benutzten.
Nur war der Abfall in dieser Karre ein Mensch.
Wardle trat vorsichtig rückwärts ins Haus und half mit, das Rad der Karre über die Schwelle zu heben. Der Mann in der Schubkarre hatte alle viere von sich gestreckt wie eine Guy-Fawkes-Puppe in der Bonfire Night. Das Gefährt geriet etwas ins Kippen, und sein Kopf fiel langsam in Richtung des Speisezimmerfensters. Fast sah es aus wie eine gewollte Bewegung.
Aber es war klar, dass diese Augen nichts mehr sahen.
»Wer ist das?«, flüsterte Mrs.Burton aufgeschreckt. Keiner antwortete zunächst.
»Ich hab ihn bei der Ankunft gesehen«, sagte Arabella, die plötzlich durch die blässliche Starre hindurch den Mann erkannte.
Es war der dunkelhäutige Stallbursche, mit dem Wardle vor dem Haus gesprochen hatte.
Die düstere Prozession war mittlerweile im Haus verschwunden, worauf alle zum Tisch zurückkehrten. Die meisten der etwa ein Dutzend anwesenden Gäste hatten sich erhoben oder anderweitig ihre Anteilnahme, ihre Neugier oder Besorgnis zum Ausdruck gebracht. Nur der ältere Swinburne war mit der unbestimmbaren Miene desjenigen sitzen geblieben, der sich nicht selbst ein Bild der Lage machte, sondern darauf wartete, dass seine Subalternen ihm berichteten. Seine Gattin, eine hübsche, aber mürrisch aussehende Frau, die um einiges jünger war als ihr silberhaariger Mann, übernahm die Berichterstattung, während sich Stephen mit unvermindertem Appetit wieder über sein Essen hermachte.
Dies tat auch Arabella, wie Boswell interessiert zur Kenntnis nahm. Und was auch Suzie beabsichtigte, wie sie ihm mit einem Lächeln zu verstehen gab, sofern er ihr eine Scheibe abschnitt.
Die Tür ging auf, Wardle erschien und beeilte sich, alle zu beruhigen. Selbst wenn er die Schaulustigen am Fenster nicht bemerkt gehabt hätte, was keineswegs der Fall war, so hätte er als Gastgeber die veränderte Atmosphäre im Raum natürlich registriert.
Er gab sich ernst und beschwichtigend.
»Ein Unfall, bedauerlicherweise. Aus der Dienerschaft. Ein übler Sturz.«
»Wie bedrückend!«, seufzte Suzie.
»Nicht schwer verletzt, hoffe ich«, sagte Swinburne verbindlich.
»O nein. Angeknackste Rippen womöglich. Und Schock. Wir schaffen ihn zum Cottage Hospital hinter der Bahnstation. Er wird sein Weihnachtsessen ebenso genießen können wie Sie, Sir.«
Wardle klang überzeugend. Die allgemeine Feststimmung kehrte zurück. Boswell erhaschte flüchtig Arabellas Blick. Doch dieser Moment genügte schon, um zu erkennen, dass ihr derselbe Gedanke durch den Kopf ging wie ihm.
Der Mann in der Schubkarre würde mehr als eine Nacht im Krankenhaus zubringen müssen, um seinen Appetit wiederzufinden.
»Wo ist er denn hinuntergefallen?«, fragte Arabella.
»Ach, der dumme Bursche ist den Hügel seitlich am Haus hinaufgeschlendert«, antwortete Wardle leichthin. »Es gibt dort einen kleinen Steinbruch, kurz vor dem Waldrand, er muss den Weg verlassen haben, um hinunterzuspähen. Der Reif hat ein Übriges getan. Also seien Sie vorsichtig, meine Freunde, wenn Sie sich auf einen Verdauungsspaziergang begeben! Wenn Ihnen nach Rutschen zumute ist, dann nur zu, aber in schönster Ordnung und bester Gesellschaft. Das Wetter hat es gut mit uns gemeint, wir haben eine fünf Zentimeter dicke Eisdecke auf dem Jockey Pond, eine halbe Achtelmeile hinter dem Haus gelegen, und wir haben Kufen für alle Größen und für jeden Geschmack.«
»Können Sie Schlittschuh laufen, Miss Allen?«, erkundigte sich Boswell.
»Ich kann. Aber ich glaube, ich werde davon absehen. Zumindest heute. Ich ziehe einen leichten Spaziergang nach einem schweren Essen vor.«
»Wenn Sie das für schwer halten, dann warten Sie erst bis morgen. Vielleicht kann ich Ihnen ja die policies zeigen.«
»Policies?«
»Schottisch für das Anwesen. Nur weil ich einen großen englischen Schriftsteller verehre, werde ich meine Herkunft nicht verleugnen.«
Arabella nickte nachdenklich.
»Gut. Wenn Sie wollen.«
Boswell, der schon leidenschaftlichere Antworten auf sein Angebot erhalten hatte, sah ein, dass ihm das fürs Erste genügen musste. Lächelnd nahm er sich einen Syllabub.
Eine halbe Stunde später verabschiedeten sie sich von der Schlittschuhgruppe, die sich auf der anderen Seite des Hauses in Bewegung setzte. Sie bestand aus sieben oder acht Frauen und nur drei Männern.
»So viel zum stärkeren Geschlecht«, sagte Arabella und wandte sich nach rechts.
»Das stärkere Geschlecht hat vielleicht Besseres zu tun«, sagte Boswell und zog die linke Augenbraue hoch, ein Trick, den Arabella damit konterte, dass sie ihre rechte Braue noch höher zog.
Schweigend stapften sie eine Weile vor sich hin, folgten einem gewundenen Pfad, der zu den dunklen Bäumen oben auf dem halbmondförmigen Kamm anstieg. Auf halber Höhe legte Arabella eine Pause ein. Boswell blieb neben ihr stehen, und gemeinsam sahen sie zum Haus. Sie waren bereits höher als die Fenster im ersten Stock.
»Jemand hat hier gerodet«, sagte Arabella. Boswell ließ den Blick über die Hügelseite schweifen. Unter dem weißen Reif war zu erkennen, dass Feuer und Sägen ihr Werk verrichtet hatten. Nur noch die Stümpfe von einst mächtigen Bäumen ragten wie verwitterte Grabsteine aus dem Boden.
»Ja«, sagte er. »Vielleicht gefiel es hier den Spannern zu gut. Von hier hat man nämlich einen netten Blick in die Schlafzimmer auf dieser Seite. Voyeure haben in Dingley Dell nichts verloren!«
»Eigentlich ist es doch die Manor Farm, oder?«, fragte Arabella und marschierte wieder los.
»Richtig«, sagte Boswell, den ihre Kenntnisse mittlerweile nicht mehr überraschten. »Dingley Dell war das Dorf. Aber Manor Farm sagt den meisten nichts. Nur uns Experten.«
Die leichte Ironie in seinem Ton überhörte sie.
»Was genau macht ein Experte wie Sie hier, Mr.Boswell?«, fragte sie.
Jetzt war er doch überrascht.
»Nun, ich gebe Ratschläge, spreche Empfehlungen aus, sorge dafür, dass alles stimmt, was mit Dickens zu tun hat.«
»Tranchieren das Roastbeef, warten zu Tisch auf und nehmen Befehle von Mr.Wardle entgegen«, fügte Arabella an.
»Er bezahlt mich gut dafür«, antwortete Boswell achselzuckend. »Mein Stipendium trägt nicht viel ein, und selbst mit herausragenden Büchern über Dickens verdient man kein Vermögen.«
Sie waren fast am Waldrand angekommen. Das mit roten Ziegeln gedeckte Dach des Hauses lag nun unter ihnen. Aus der Ferne hörten sie Gelächter, das von den Schlittschuhläufern kommen musste, die nicht zu sehen waren. Mit Wohlgefallen betrachtete Boswell die junge Frau vor ihm, die sich umblickte. Die Anstrengung schien ihr nichts auszumachen, aber die kalte Luft hatte ihre Wangen zum Glühen gebracht, und ihr kondensierter Atem verlieh ihren Lippen etwas Warmes und Feuchtes.
»Dort drüben muss der Steinbruch sein«, sagte sie plötzlich und verließ den Pfad. Boswell fühlte sich überrumpelt.
»Vorsicht!«, rief er. »Wir brauchen keinen weiteren Unfall.«
Sprach’s und verließ ebenfalls den Pfad, blieb mit dem Fuß an einem Grasbüschel hängen und geriet ins Straucheln. Bis er sich wieder gefangen hatte, stand die junge Frau bereits am Rand des Steinbruchs und spähte hinunter.
Verglichen mit sonstigen Steinbrüchen machte dieser nicht viel her, er war kaum mehr als eine Ausschabung an der Hangseite. Irgendwann in früheren Zeiten, in den Anfängen des Bauernhofs, hatte er vielleicht nützliches Material für Mauern und Kuhställe und andere kleine Bauten geliefert, aber offensichtlich war er schon lange nicht mehr genutzt worden. Die Spur, die der Stallbursche bei seinem Sturz durch die Farne gezogen hatte, die an der steilen (aber keineswegs senkrechten) Wand wucherten, war deutlich zu erkennen.
Doch zwischen dem Grün der Pflanzen und dem Weiß des Reifs gab es dunklere Flecken.
»Er muss sich bei seinem Sturz geschnitten haben«, sagte Boswell. »Mir wäre es lieber, wenn Sie nicht so nah an der Kante stehen würden.«
Arabella trat zurück, als würde sie Folge leisten, und deutete auf den Boden zu ihren Füßen.
»Sieht so aus, als hätte er sich schon vor dem Sturz geschnitten«, sagte sie. »Ziemlich schlimm sogar.«
»Nasenbluten«, schlug Boswell nicht sehr überzeugend vor. Sie ging nicht darauf ein, sondern sah zum Waldrand, der nur wenige Meter vor ihnen den Hügelkamm säumte.
»Vielleicht sollten wir wieder zurück«, sagte Boswell.
»Was? Sie werden das hier doch nicht schon als Spaziergang bezeichnen wollen?«, entgegnete die junge Frau und schritt auf die Bäume zu.
Der Boden unter den knorrigen alten Buchen, deren Äste auch ohne Laub so dicht miteinander verwoben waren, dass sie ein nahezu undurchdringliches Dach bildeten, war vor dem Reif geschützt. Boswell schritt nun weiter aus und überholte die junge Frau, die, den Blick auf den Boden gerichtet, langsam vor sich hin ging. Vor einem Baum blieb er stehen, lehnte sich dagegen und blies in die gewölbten Hände.
»Ist nicht so warm heute«, sagte er.
»Entschuldigen Sie«, sagte Arabella.
»Wie bitte?«
»Entschuldigen Sie. Könnten Sie zur Seite treten? Ihr Fuß. Da haben wir es ja.«
Sie bückte sich und hob eine kleine Papphülse mit einer Bodenkappe aus Messing auf, die immer noch schimmerte, obwohl sie im Boden gesteckt hatte. Boswell betrachtete sie ohne jedes Interesse.
»Na, Sie sind mir eine kleine Dohle, was? Sollen wir weiter? Oder umkehren?«
»Wenn Sie wollen. Ich hab hier oben genug gesehen«, erwiderte Arabella und wandte sich mit geradezu aufreizender Beiläufigkeit von ihm ab.
3
Lasst den Gong ertönen, zieht den Vorhang hoch, dann: Auftritt der zwei Verschwörer!
Mr.Sam Weller
»Oh, Sie sind es, Mr.Boswell«, sagte der lange Wildhüter mit den zu engen Gamaschen. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, Miss.«
Er schwenkte das Gewehr an die zwei Grad zur Seite, sodass es ihr, wäre es losgegangen, lediglich den Großteil des linken Brustkorbs weggepustet hätte. Ein kleiner Gnadenakt, der allerdings dafür sorgte, dass Arabella ihre Sprache wiederfand.
»Was zum Teufel treiben Sie hier? Schleichen sich an wie ein Indianer!«, rüffelte sie ihn empört.
»Tut mir leid, Miss«, wiederholte er, »aber das gehört zu meinem Beruf. Treibt sich Gesindel herum, geht man auf leisen Sohlen. Ich dachte mir, ich leg auf ein paar Krähen an. Ach, ich sehe, Sie haben eine meiner Patronenhülsen gefunden. Danke. Ich bin immer bemüht, die Landschaft sauber zu halten.«
Mit einem Lächeln pflückte er sie von Arabellas Fingern, tippte sich an die Stirn und entfernte sich leise und schnell.
»Verdammt!«, entfuhr es Arabella. Sie wollte ihm schon hinterher.
Boswell bekam sie am Arm zu fassen.
»Was ist los?«, fragte er amüsiert. »Hat er Ihnen Ihr kleines Souvenir gestohlen? Keine Sorge, wir suchen Ihnen ein neues.«
»Aber nicht so eins«, erwiderte Arabella.
»Was war denn so besonders daran?«
Sie musterte ihn einen Moment, bevor sie antwortete.
»Es können nicht so viele .410er-Patronen aus einer Zwölfer-Flinte abgefeuert werden.«
Wieder lachte Boswell.
»Noch mehr Fachkenntnisse! Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, aber es klingt sehr beeindruckend. Kommen Sie. Wer als Erster unten am Hügel ist, kriegt ein gebrochenes Bein!«
Er war entzückt, mit welcher Mühelosigkeit sie ihre ernste Stimmung abschüttelte, ihn zur Seite schob und rief: »Gut! Los!«
Sie schoss davon, hatte sofort fünf Meter Vorsprung, bewegte sich gewandt, mit sicherem Tritt, bis sie der Versuchung erlag, auf dem glitzernden Gras bergabwärts zu schlittern, und nach einigen Metern rücklings auf den harten Boden schlug.
Besorgt beugte er sich über sie. Ihre Augen waren geschlossen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er und war sich nur allzu bewusst, wie dämlich der abgedroschene Satz klang.
Sie schlug die Augen auf und sah ihm in sein banges Gesicht. Dann hob sie leicht den Kopf, legte ihm die Hand in den Nacken, zog sein Gesicht zu sich heran und küsste ihn. Ein richtig guter Kuss, sie ließ sich auch Zeit dafür.
Als sie fertig war, schob sie ihn sacht zur Seite, stand auf und begann, sich den Schmutz von der Kleidung zu klopfen.
»Wofür war das?«, fragte er höflich.
»Wie Lizzie Borden zu den Geschworenen gesagt hat: Unter den gegebenen Umständen war es das einzig Mögliche.« Sie grinste. »Aber kommen Sie jetzt nicht auf irgendwelche Ideen. Lassen Sie uns runtergehen.«
Zu spät, dachte Boswell, als er ihr nachsah, während sie gesetzten Schritts vor ihm den Pfad hinunterstieg. Er war schon jetzt auf alle möglichen Ideen gekommen. Die Brombeigaben im Portwein der Fellows musste sein Organismus längst ausgeschieden haben.
Als sie am Haus eintrafen, wurde die ländliche Stille vom Dröhnen eines Traktors empfindlich gestört.
»Das ist aber nicht sehr dickensianisch«, sagte Arabella grinsend.
»Nein. Ich werde mit denen ein Wörtchen reden. Entschuldigen Sie mich. Bis später.«
Er eilte um die Ecke zur Vorderfront des Hauses und sah einen großen Traktor den Hügel heruntertuckern und die Scheune ansteuern, die sich an die fünfzig Meter vom Hauptgebäude entfernt an die Ställe und die Remise anschloss. Am Ende einer zehn Meter langen Kette zog das Gefährt einen gefällten Baumstamm hinter sich her.
Vor der Scheune kam der Traktor zum Stehen. Boswell ging auf ihn zu.
»Nicht heute, Harry«, schrie er dem Fahrer zu, einem missmutig dreinblickenden Kerl mit verdreckter Stoffmütze. »Doch nicht, wenn Gäste da sind.«
»Sie wollten doch den Hang gerodet haben«, grummelte der Fahrer.
»Ja. Aber jetzt ist Schluss, okay? Und pass auf, wenn du den Traktor wegfährst, lass ein bisschen Platz. Heute Abend kommt eine Band, die will ihren Bus in der Scheune unterstellen. Verstanden?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, kehrte Boswell zum Haus zurück. Harry sah ihm hinterher, dann spuckte er aus. Umständlich löste er den angeketteten Baum vom Traktor, saß aber nicht wieder auf.
»Die können meinetwegen allen Platz der Welt haben«, murmelte er nur, stieg auf sein Rad und fuhr mit grimmiger Miene davon.
Boswell hatte den Vorfall schon wieder vergessen, als er Dingley Dell betrat. Die Schlittschuhpartie war noch nicht wieder eingetroffen, im Hotel war es ruhig. Er eilte die Treppe hinauf, ging durch einen schmalen Gang, der an einer vermeintlich klobigen Eichentür endete. Nur ein kundiger Tischler, der die Muße besaß, das Stück näher in Augenschein zu nehmen, hätte entdeckt, dass das Holz keineswegs so altehrwürdig war wie der Rest des Hauses. Tatsächlich handelte es sich lediglich um die Verblendung einer massiven Stahltür.
Boswell betätigte nicht den Handgriff, er klopfte auch nicht an, sondern strich lediglich mit dem Zeigefinger über den oberen Rand der unteren Paneele. Kurz darauf wurde die Tür von einer korpulenten Gestalt geöffnet, die keinerlei Anstalten machte, ihn einzulassen.
»Alles in Ordnung, Joe?«, fragte Boswell.
Der dicke Junge nickte.
»Ist Colley bei dir?«
Wieder ein Nicken.