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Hoch im Norden, dort wo sich eisiges Meer und tiefverschneite Berge treffen, findet er statt - jener geheimnisvoll magische Weihnachtsmarkt, auf dem nichts ist, wie es scheint. Die Autoren der Schreibgruppe "Die Kraniche" haben sich auf die Reise gemacht, dem Weihnachtsmarkt ein paar der Geheimnisse zu entlocken: Lesen sie vom Glück in Schokolade, der Macht von Schneekugeln, von Wolle, deren Fäden mehr vermögen als zu wärmen und von vielem, vielem mehr ...
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Seitenzahl: 93
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Ragnas Wollzauber
Kerstin Radermacher
Vom Glück in Schokoladen
Katrin Bohnen
Adventszeit
Verena Hansen
Von Schnee, der sich erinnert und Melodien, die träumen
Fabienne Siegmund
Karussellträume
Kerstin Radermacher
Flyg
Christin C. Mittler
Funken aus Kerzenlicht
Ela Feyh
Das Geheimnis der Christbaumkugeln
Jörg Neuburg
Die Autoren
Kerstin Radermacher
»Haltet den Dieb!«
Bjarne hörte die Stimme noch aus der Ferne. Er versuchte, langsamer zu gehen, um möglichst nicht aufzufallen. Den ganzen Tag schon hatte er sich immer wieder Mal auf dem Weihnachtsmarkt herumgetrieben und unbedachte Besucher um die ein oder andere Brieftasche oder Uhr erleichtert. Wenn er hungrig oder durstig geworden war, hatte er heimlich etwas zu Essen oder zu Trinken von den Ständen gestohlen, ohne sich erwischen zu lassen. Der Weihnachtsmarkt in dem kleinen Ort am Ende eines Fjordes, welcher von hohen Bergen umgeben war, war schon seit der Mittagszeit gut besucht gewesen, da viele, die aus den umliegenden Ortschaften kamen, die Stunde Helligkeit, die es um diese Jahreszeit gab, nutzen wollten, so dass er der Marktaufsicht nicht weiter aufgefallen war. Zwischen seinen Besuchen hatte er sich immer wieder in sein Versteck, einen kleinen Verschlag am Rande des Dorfes, zurückgezogen, um sich aufzuwärmen oder den stärkeren Schneeschauern auszuweichen, da es ihm an wärmender Kleidung fehlte. Dort hatte er auch in Ruhe seine Ausbeute gezählt und sicher verwahrt. Es war schließlich nicht ratsam, mit zu viel Geld auf dem Markt herumzulaufen, falls er - was er natürlich nicht hoffte - gefasst wurde. Außerdem gab es genug Gauner, die einen bestehlen konnten.
Nun, am Abend, klarte der Himmel auf und zwischen den Wolkenfetzen, die noch über den Himmel zogen, war neben den Sternen auch das Polarlicht des Öfteren zu sehen. Ein Naturschauspiel, welches er immer wieder gerne ansah, obwohl er schon so lange hier oben im Norden lebte. Das besser werdende Wetter lockte nun noch mehr Menschen auf den Weihnachtsmarkt, genauso wie die Lichterprozession, die am heutigen Abend zu Ehren der Heiligen Lucia von der Kirche durch das Dorf und über den Weihnachtsmarkt zurück auf die Bühne ziehen würde, welche neben der Kirche aufgebaut worden war und auf welcher der Kirchenchor im Anschluss an die Prozession ein Konzert mit Weihnachtsliedern geben würde.
Da! Bjarne sah zwei Wachtmeister, die sich suchend durch die Menge schoben. Sie suchten nach ihm, dem Dieb. Dieses Mal war er unvorsichtig geworden, hatte gedacht, die Verkäuferin am Stand mit den Schneekugeln und den Spieluhren würde ihn nicht bemerken, da sich vor ihrem Stand eine größere Menschentraube gebildet hatte, die die filigranen Kunstwerke bewunderte und bestaunte. Eigentlich konnte er mit der Spieluhr nichts anfangen, die er gestohlen hatte, aber irgendwie hatte er nicht widerstehen können. Irgendetwas an dieser Uhr hatte ihn in den Bann gezogen, so als sei es sein Schicksal, sie in den Händen zu halten. Und falls nicht, konnte er versuchen, für sie zusammen mit den Uhren bei seinem Hehler einen guten Preis zu erhalten. Bjarne verbarg die kleine Spieluhr unter seinem dünnen Pullover und sah sich suchend nach einem Versteck um. Vielleicht konnte er sich hinter einem der Verkaufsstände eine Zeit lang verstecken, denn er wollte nicht zurück zu seinem Verschlag am Dorfrand, sondern lieber hier irgendwo versteckt abwarten, bis die Prozession begann, um dann noch einmal sein Glück zu versuchen, bevor er mit fetter Beute das Weite suchte. Er ließ sich langsam aber dennoch stetig mit der Menge treiben und gelangte dadurch an den Rand des Marktes, wo er eine schmale Lücke zwischen zwei Ständen fand, in die er hindurch auf die Rückseite der Holzhütten schlüpfte.
Welch ein Zufall, dachte Bjarne, als er sah, dass die Tür einer der beiden Hütten an der Rückseite offenstand. Es schien gerade niemand darin zu sein, wie er nach einem schnellen Blick ins Innere der Hütte, welche durch das Licht der Öllampen ein wenig dämmrig wirkte, feststellte. Bei der Hütte handelte es sich um die, bei der Wolle und allerlei gestrickte Waren verkauft wurden. Ragnas Wollzauber, erinnerte er sich, stand außen an der Vorderseite der Hütte. Er schlüpfte hinein und nahm sich einen der Pullover, die dort zum Verkauf auslagen. Wenn er - so dachte Bjarne - sein Äußeres veränderte, würde er sich wieder freier auf dem Weihnachtsmarkt bewegen können. Der Pullover, den er aus der Auslage stahl, war aus dunkelblauer, weicher Wolle und hatte das für diese Gegend typische Muster im Schulterbereich. Bjarne nahm sich außerdem noch eine Wollmütze, unter der er sein blondes Haar versteckte, sowie einen Schal und ein paar Handschuhe. Die angezogenen Sachen waren wunderbar warm und würden ihm bei diesem Wetter gute Dienste leisten. Als er sich den Pullover über den Kopf zog, sah Bjarne aus dem Augenwinkel unter dem Verkaufstresen in einem kleinen Regal eine Geldkassette stehen. Die Götter waren ihm gewogen, es schien, als sei jetzt schon Weihnachten. Er machte einen Schritt in Richtung Geldkassette und beugte sich vor.
»Was machst Du da?«
Bjarne schrak zusammen und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dort in der Ecke, welche er von der Tür aus nicht hatte einsehen können, saß in einem Schaukelstuhl neben einem kleinen Ofen eine alte Frau mit grauen, zu einem Dutt gebundenen Haaren, und sah ihn aus wie ihm schien trüben Augen hinter einer Brille forschend an. In der einen Hand hielt sie ihr Strickzeug, während sie mit der anderen Hand eine getigerte Katze mit langem seidigen Fell hinter den Pinselohren kraulte, die auf dem Schoß der alten Frau zusammengerollt lag und behaglich schnurrte.
»Ich kenne Dich nicht! Wer bist Du? Und was willst Du hier drinnen?«, wandte sie sich erneut an ihn.
»Ich, ähm«, stammelte Bjarne und machte schnell einen Schritt in Richtung Tür. Doch diese hatte sich zwischenzeitlich geschlossen und schien sich aus Bjarne nicht erklärbaren Gründen nicht öffnen zu lassen, wie er feststellte, als er versuchte, sie aufzudrücken.
»Bist Du ein Freund von Ylvie?«, hakte die alte Frau nach.
»Ich, ähm, ja, genau. Ich bin ein Freund von ihr«, erwiderte er, froh darüber, diese Ausrede benutzen zu können. Dabei wusste er gar nicht, wer diese Ylvie war. Er hoffte, dass es sich dabei um das junge Mädchen handelte, welches er im Laufe des Tages immer mal wieder gesehen hatte, wenn er am Stand vorbeigegangen war, und das die angebotenen Waren an interessierte Kunden verkauft hatte. »Sie bat mich, hier auf sie zu warten.« Er hoffte, dass die Frau nicht weiter nachfassen würde.
»Ich habe Dich aber noch nie hier gesehen«, machte diese ihm sogleich einen Strich durch die Rechnung.
»Oh, nun ja, ich kenne sie noch nicht so lange und bin auch erst heute hier angekommen. Deswegen sollte ich mich ja auch mit ihr hier treffen, damit wir uns nicht verpassen«, beeilte sich Bjarne zu sagen.
»Dann komm und setz dich zu mir«, bot ihm die Frau an. »Ylvie müsste gleich wieder da sein. Sie wollte nur schnell etwas von dem Flammlachs essen gehen und auf dem Rückweg neue Wolle mitbringen. Ich bin übrigens Ragna, Ylvies Großmutter.«
Bjarne schluckte und sah erneut zur Tür, die aber immer noch verschlossen war. Er beschloss, das Risiko einzugehen und abzuwarten. Vielleicht konnte er sich durch die Tür zwängen, wenn diese Ylvie wiederkam und sie öffnete. Er zog einen Schemel, der ebenfalls unter dem Verkaufstresen stand, hervor und setzte sich zu der alten Frau an den Ofen, aus dem es leise knackte, wenn das Holz in seinem Inneren zerfiel, und der wohlige Wärme verbreitete. Er nahm den Schal wieder ab und zog die Handschuhe aus. Die Mütze behielt er zur Vorsicht auf, falls die Wachtmeister einen Blick in die Hütte werfen würden, damit sie ihn nicht sofort erkannten. Die Verkäuferin vom Schneekugelstand hatte ihn bestimmt beschrieben.
»Erzähl mir doch etwas von Dir«, forderte Ragna Bjarne auf. Dieser überlegte kurz und begann eine Geschichte zu erfinden, was er machte und wie er diese Ylvie angeblich kennengelernt hatte. Er hoffte dabei, sich nicht zu sehr in sein Lügenwerk zu verstricken, aus Angst, dass Ragna die Wahrheit herausfinden und dann doch die Wachtmeister rufen würde.
Die alte Frau hörte seinen Erzählungen aufmerksam zu, während sie ihr Strickzeug wieder in beide Hände nahm und anfing, weiter zu stricken. Es handelte sich hierbei wohl um einen Schal, wie Bjarne mit einem Blick feststellte. Sie war es also anscheinend, die die ganzen Sachen gefertigt hatte. Während Bjarne redete, sah er sich neugierig weiter in der kleinen Hütte um. Neben den Kleidungsstücken, die zum Verkauf auslagen, gab es auch Figuren, die aus Wolle gehäkelt waren. Ragna war seinem Blick gefolgt.
»Die Sachen, die ich fertige, sind keine gewöhnlichen«, unterbrach sie seine Erzählungen. »Und auch wenn es so scheint, suchen sich nicht die Menschen die Stücke aus, sondern diese suchen sich die Menschen aus, von denen sie gekauft werden möchten, wenn sie merken, dass sie dadurch den Menschen helfen können. So findet manch einer, dem es zum Beispiel an Mut fehlt, diesen wieder, wenn er einen Pullover anzieht. Oder so manch einem, der scheinbar bislang immer nur Pech hat, widerfährt etwas Glückliches, wenn er sich einen Schal umlegt. Oder eine der Mützen hilft einem bei einer schwierigen Entscheidung, wenn man sie aufsetzt. Viele der Leute, die etwas von unseren Sachen gekauft haben, kamen später noch einmal zu uns und behaupteten, es sei etwas Magisches mit ihnen geschehen.« Ragna lachte leise. »Er dort zum Beispiel«, wies sie ihn auf einen kleinen Wollhasen hin, der zwischen den Pullovern saß, »ist ebenfalls kein gewöhnliches Spielzeug. Wenn der Hase sich einen ausgesucht hat und man ein reines Herz hat und sich gut um ihn kümmert, dann - und nur dann - wird er lebendig wie ein echter Hase. Er wird ein treuer Begleiter und Beschützer, denn er passt auf einen auf, dass einem nichts Böses widerfahren wird.«
»Wirklich?« Bjarne schaute ungläubig von ihr zu dem Hasen und zurück.
»Glaube mir«, versicherte ihm Ragna, »egal wie klein etwas ist, es kann über sich hinauswachsen, wenn es nötig sein sollte. So hat alles und jedes, was Du hier in der Hütte siehst, seine Bestimmung, egal wie diese aussehen wird.«
»Und was ist mit den Puppen dort?«, fragte Bjarne mit dem Kinn in Richtung von zwei Puppen deutend, die ebenfalls in der Auslage standen und winzige Pullover und Mützen anhatten, die denen ähnelten, die Ragna verkaufte. »Hast Du die auch selber gemacht? Die sehen so täuschend echt aus, wie reale Menschen. Was können die denn?«
»Nun, nicht ganz«, zögerte Ragna. »Die Pullover sind von mir, aber die Figuren selbst habe ich nicht gemacht. Und können … nein, die können nichts. Aber zurück zu Dir. Ich hatte Dich eben unterbrochen«, lenkte Ragna ab. Bjarne seufzte und fuhr mit seinen Erzählungen fort.
Nach einer Weile legte Ragna ihr Strickzeug wieder zur Seite, setzte die Katze, die immer noch auf ihrem Schoß gelegen hatte, auf den Boden der Hütte ab und stand mühsam auf.
»Wie unhöflich von mir«, sagte sie zu Bjarne. »Jetzt sitzen wir hier schon eine Weile zusammen und ich habe Dir gar nichts angeboten. Möchtest Du vielleicht einen Tee, um Dich noch etwas aufzuwärmen?«