Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Von West nach Ost, von Baba Jaga bis Rapunzel. Entdecken Sie die Macht der Gletschergeister der Alpen, erkunden Sie mit einem verliebten Mann die japanische Unterwelt und finden Sie ein Mädchen mit langen Haaren am Great Barrier Reef. In neue Gewänder gekleidet finden Sie gewiss Ihr Lieblingsmärchen, mal eindeutig, mal versteckt. Dazu schenkt Ihnen die Illustratorin Lara Dusch noch bezaubernde kleine Einblicke und weckt die Neugier auf jede einzelne Geschichte. Die Kraniche entführen Sie in ihrem vierten Kurzgeschichtenband in die vielseitige Welt der Märchen. Mit Gastbeiträgen von Christina Löw, Diana Menschig, Katrin Minert, Bernhard Stäber, Carsten Steenbergen und Hannah Thüring
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 368
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Von West nach Ost, von Baba Jaga bis Rapunzel.
Entdecken Sie die Macht der Gletschergeister der Alpen, erkunden Sie mit einem verliebten Mann die japanische Unterwelt und finden Sie ein Mädchen mit langen Haaren am Great Barrier Reef.
In neue Gewänder gekleidet finden Sie gewiss Ihr Lieblingsmärchen, mal eindeutig, mal versteckt. Dazu schenkt Ihnen die Illustratorin Lara Dusch noch bezaubernde kleine Einblicke und weckt die Neugier auf jede einzelne Geschichte. Die Kraniche und ihre Gäste entführen Sie in ihrem vierten Kurzgeschichtenband in die vielseitige Welt der Märchen.
Die Kraniche
Was mit einem VHS-Schreibkurs begann, ist in den letzten 15 Jahren ordentlich gewachsen. Benannt sind wir nach einer der ersten Geschichten, die bei uns entstanden. Denn genau die sind es, die uns schon seit unserer ersten Begegnung verbunden haben.
Gemeinsam lassen wir einmal monatlich Geschichten voller (Alltags-)Wunder entstehen. Manche bringen uns zum Lachen, manche machen uns nachdenklich, bei anderen kämpfen wir vielleicht sogar mit den Tränen.
Wir spornen uns an, aus unseren Komfortzonen auszubrechen, lang gehegte Ideen umzusetzen oder gänzlich Neues zu erschaffen und organisieren, neben unseren eigenen Lesungen, auch Veranstaltungen mit anderen Autor/innen.
Damit weder unsere Inspiration noch wir verhungern, verbringen wir auch mal gemütliche Abende im Restaurant, in nervenaufreibenden Escape-Rooms und in den Welten anderer Autoren.
Liobas Tränen
Stefanie Bender
Ein Kästchen voller Leben
Carsten Steenbergen
Immer der Nase nach
Hannah Thüring
Yoshida
Jörg Neuburg
Happily (n)ever after
Christin C. Mittler
Sandherz
Fabienne Siegmund
Baba Yaga und das Wasser des Lebens und des Todes
Katrin Minert
Fünf gingen in den Wald
Bernhard Stäber
Midir & Etáin
Katrin Minert
Die Raben von London
Katrin Bohnen
Der blutige Schlüssel
Christina Löw
Gletschergeister
Diana Menschig
Ohne Zweifel
Carina Breuer
Herkunft der Märchen
Wir über uns & Unsere Gäste
Stefanie Bender
Melisandes Gier nach den seltenen Perlen des großen Riffs war unersättlich. Damit die Fischer bereitwillig hinausfuhren und die kostbaren Juwelen für sie sammelten, überhäufte die Zauberin sie mit Münzen. Diese waren weit weniger wert als die Perlen selbst, doch das ahnten die Männer nicht. Blauäugig begaben sie sich in die Dienste der Zauberin. Sie fuhren hinaus – oft tagelang –, um kaum mehr als eine Kinderhand voll Perlen zu Melisande zu bringen.
Nach Monaten des Perlensuchens war der Reichtum des Great Barrier Reefs beinahe ausgeschöpft und die Fischer, betört von der Schönheit der Schätze, machten sich auf den Weg zum Leuchtturm. Sie beteuerten, auf ihren letzten Lohn zu verzichten, wenn sie nur eine einzige der schimmernden Perlen, in denen sich die Sterne der Nacht spiegelten, behalten konnten. Melisande aber jagte sie davon.
Alewar, der letzte Fischer, den die Zauberin nicht vertrieben hatte, bat eines Abends, nach einer erfolgreichen Wieder-kehr zu ihrem Leuchtturm, ebenfalls um eine Perle. Er wollte sie Nerida, seiner Frau, zum Hochzeitstag schenken.
Melisande begann zu lachen. Für sein Weib, deren Schönheit niemals mit der ihren mithalten konnte, würde eine abgebrochene Koralle ausreichen. Würde er aber stattdessen bei ihr, der Herrin des Turms, verweilen und sie zur Frau nehmen, wären alle Perlen die Seinen. Alewar, der Nerida und seine kleine Tochter mehr liebte als sein eigenes Leben, verneinte und verließ Melisande.
Wenige Stunden später drang Alewar das erste Mal ungesehen in den Leuchtturm auf dem Hügel ein. Er wusste, dass die Zauberin um diese Tageszeit in einer Bucht am Meer ihre Haare mit Salzwasser wusch. Sie würde nicht zum Turm zurückkehren, bevor die Sonne gänzlich untergegangen war. So schaffte er es, nach und nach ihre Perlen zu stehlen und für ein sorgenfreies Leben seiner Familie zu sorgen.
Eines Abends trat Melisande früher durch die Tür ihres Leuchtturms, wo Alewar vor ihrer Schatztruhe kniete, in der sie die Perlen aufbewahrte. Ihr Mundwinkel zog sich hinauf. Endlich. Sie hatte den Dieb genau dort, wo sie ihn haben wollte. Überrascht von der plötzlichen Anwesenheit der Zauberin und der Angst, von ihr verhext zu werden, kroch Alewar auf allen Vieren davon. »Tu mir nichts an, Melisande, große Zauberin. Ich bitte dich, ich habe eine kleine Tochter … Bitte.«
»Oh Alewar, ich könnte dir nie etwas antun. Zu schön ist dein junges Gesicht, zu stark dein Körper und zu schwach dein Herz, das mich nicht wollte. Nein, Alewar – Perlendieb – ich nehme dir nicht dein Leben, ich nehme dir deine Tochter!«
Und so geschah es, dass die beraubte Zauberin Alewars Tochter weit fort vom Strand in eine Riffhöhle verbannte. Zwischen gläsernen Wänden würde Lioba nie wieder das Licht des Tages erblicken. Verzweifelt brachte Alewar der Zauberin die übrig gebliebenen Perlen zurück, doch nichts reichte aus, um Melisande zu besänftigen. Sie schickte den gebrochenen Fischer fort und drohte ihm, auch seine Frau zu verbannen, sollte er es wagen, noch ein einziges Mal an ihre Tür zu klopfen.
Das Mädchen Lioba wurde nie wieder gesehen, doch ab und an glaubten Fischer, einen Gesang zu hören, weit draußen, am Ende des Riffs.
Was verloren ist, kann gefunden werden.
Nur suchen darfst du nicht.
Hör auf die Stimme,
nur auf sie,
und du findest mich.
Die Sonne brannte erbarmungslos auf das kleine Fischerboot herab. Ziellos trieb es auf dem Wasser des Great Barrier Reefs. Ein Mann lag darin, dessen Gesicht durch einen löchrigen Stoffhut verdeckt war. Er schlief, schnarchte und bekam nicht mit, dass sich sein Boot immer weiter vom Großen Riff entfernte. Erst als seine Füße, die achtlos über dem Bootsrand im Wasser baumelten, an etwas hängen blieben, schlug er die Augen auf.
Gähnend schob er die Kopfbedeckung von seinem Gesicht und zog die Beine zurück ins Boot. Er holte die Angel ein, an deren Ende der Köder verschwunden war. Mal wieder kein Fang, den er mit nach Hause bringen konnte. Er sollte aufgeben und sich anderen Dinge widmen. Vielleicht … Mit runzelnder Stirn blickte er auf ein Netz, das auf der Wasser-oberfläche trieb. Ein Fischer musste es vergessen haben. Er schüttelte den Kopf über die Unachtsamkeit und griff nach dem Fanggerät, um es zu bergen. Während er versuchte, es zu greifen, ohne ins Wasser zu stürzen, wurde ihm endlich bewusst, dass er sich zu weit vom Strand entfernt hatte. Der Leuchtturm war zwar zu erkennen, doch thronte er nur noch winzig und verschwommen auf dem Hügel des kleinen Dorfs. Er musste zurück, sonst könnten unberechenbare Strömungen ihn aufs offene Meer hinaustragen.
Iluka war der Sohn eines Fischers. Schon immer lebte seine Familie in einem kleinen Haus nahe des Great Barrier Reefs, wo sie mit der Fischerei ihr Geld verdienten. Für Iluka war das Fischen eine Notwendigkeit, aber kein Vergnügen. Meist überließ er die Arbeit mit den Fangnetzen ganz seinem Vater. Wenn er hinausgeschickt wurde, dann nahm er die Angel mit und gönnte sich ein Sonnenbad. Dann kehrte er oft mit leeren Händen nach Hause zurück. Doch anstatt zu schimpfen, lachte sein Vater und schüttelte den Kopf. »Verträumter Kauz.« Daraufhin fuhr er selbst noch einmal hinaus und brachte meist ein ganzes Festessen mit. Solang es so gut ging, musste der junge Fischersohn sich um nichts sorgen.
Iluka prüfte den Himmel. Wenn er sich jetzt nicht beeilte, würde es dunkel sein, bevor er am Strand ankam. Dann lieber ohne Fang, als die Orientierung zu verlieren und an den scharfen Korallen sein Boot zu zerstören.
Er nahm die Paddel in die Hand, ruderte kräftig, da vernahm er das erste Mal die liebliche Stimme. Eine Singstimme, gedämpft, aber so wundervoll, dass er alles vergaß. Seine Hände öffneten sich. Eines der Ruder glitt davon und schlug auf das Wasser. »Mist!«, schimpfte Iluka und versuchte, das schwere Paddel aufzuhalten, doch es trieb durch die starke Strömung ab. Verzweifelt sah er dem Stück Holz hinterher, da hörte er den Gesang erneut. Konnte es denn sein, dass die Stimme aus der Tiefe heraufdrang? Immer weiter beugte sich der Fischersohn über den Rand seines kleinen Holzbootes, bis er das Gleichgewicht verlor. Mit dem Kopf voran stürzte er ins Meer.
Ilukas Lunge brannte. Sein Fuß hatte sich im Geisternetz verfangen, das ihn hinab zog. Noch immer hörte er den Gesang, der leiser wurde und schlussendlich dem Rauschen in seinen Ohren zum Opfer fiel.
Mit der letzten Kraft, die er aufbringen konnte, riss und zerrte er am Netz. Es gab nicht nach. Die einzelnen Fäden waren dünn und scharf und schnitten in seine Haut. Der Drang, tief einzuatmen, wurde immer stärker.
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Etwas hatte seine Arme gepackt. Das Salzwasser brannte in seinen Augen. Er nahm nur noch schwammige Umrisse und Farbnuancen wahr. Ein großer Fisch, nein zwei. Vielleicht auch ein Delfin. Dann auf einmal ließ der Druck auf seinen Knöchel nach und Luftblasen zogen an ihm vorbei. Und mit einem Mal brach er durch die Wasseroberfläche.
Die kühle Abendluft drang in seine Lungen und Iluka nahm sie mit einem lauten, lebensbejahenden Atemzug in sich auf. Er krallte sich an seinem Boot fest. Jemand drückte ihn von unten hinauf und er fiel in den Kahn, wo er außer Atem in den Abendhimmel starrte. Schleierwolken hatten sich gebildet und zogen über ihm hinweg.
Eine Weile lag er da und hörte auf seinen, sich langsam beruhigenden, Atem. Erst dann bemerkte er, dass sich nicht die Wolken, sondern sein Boot bewegte. Stöhnend richtete er sich auf.
Etwas zog ihn. Etwas, das aussah, wie ein riesiger Fisch, der jedoch keiner war. Vorsichtig, um nicht wieder aus dem Boot zu fallen, das sich in Windeseile Richtung Strand bewegte, kniete er sich hin und starrte hinunter auf das Wasser.
»Was …?« Iluka traute seinen Augen nicht. Was war es nur, dieses Wesen voll abstruser Schönheit? Er wusste es, er wusste ganz genau, was es war, das sein Boot mit Hilfe eines Taus Richtung Land zog, doch traute er sich nicht, den Gedanken im Kopf zu Ende zu formen. Es war unmöglich.
Kurz über ihrem Beckenknochen ragten die ersten Schuppen aus der Haut. Schillernde Nuancen nie gesehener Farbvarianten. Das Tempo zog eine wellige Flut von Haaren nach hinten und bedeckte den nackten Oberkörper.
Auf einmal schoss ein weiteres Geschöpf von der Seite heran. Iluka erschrak, verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Rücken.
Sie führten ihn über das Große Riff, als würden sie jeden Winkel von ihm kennen, jede Schneise, durch die sie das Boot ziehen konnten, bis es unbeschadet unweit des Ufers trieb. Dann zogen sich die Meerwesen zurück. Iluka sprang ins Wasser und zerrte das Boot so weit den Strand hinauf, dass es nicht abtrieb, dann drehte er sich zu den Wesen herum, die verharrten, als warteten sie auf einen Abschiedsgruß. Er sah ihre Köpfe, ihre Gesichter – ihre Schönheit. Doch als er endlich seine Stimme wieder fand und zum Dank ansetzte, tauchten sie ab und verschwanden im tiefdunklen Blau.
Seit Großvaters Tod hatte Iluka den Bretterverschlag nicht mehr betreten. Der Staub saß dicht auf den Möbeln, die nicht von dicken Laken verhangenen waren, und klebte auf dem alten Tand aus Kindertagen.
Iluka schob die grobe Gardine, die vor dem einzigen Fenster des Schuppens hing, beiseite, um ein wenig Licht hineinzulassen. Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages brachten den fliegenden Staub zum Tanzen.
Er schritt zu einem schief stehenden Schrank hinüber. Die Regalbretter im Innern waren gebrochen oder heruntergefallen, doch Iluka fand sofort, wonach er gesucht hatte. Er griff nach einem alten Lederband und zog ihn unter einem Stapel Bücher und Papieren hervor. Liebevoll strich er über den glatten Einband mit den eingebrannten Verzierungen, der mit einer Schnur verschlossen war.
Der Papyrus im Innern war schon vergilbt, doch Großvaters Schrift war deutlich zu lesen. Iluka stöberte durch die losen Blätter und wurde fündig. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht. Hier waren die Aufzeichnungen, die Geschichten von Großpapa, denen Iluka in Kindertagen gebannt gelauscht hatte. Geschichten von Mischwesen, halb Mensch, halb Tier.
Geschöpfe, schöner als der Sonnenuntergang am Horizont des Großen Riffs, sagenhafter als jegliche Geschichte des roten Kontinents. Eine Berührung ihrer Hände heilt Wunden, doch tust du ihnen ein Leid, reicht ein Blick aus ihren Augen und dein Licht wird getrübt.
Tief im Blau ist ihre Heimat und ihre Aufgabe ist es, denjenigen zu Hilfe zu kommen, die reinen Herzens in Not geraten sind. Kein Wort kommt über ihre Lippen – doch sagen sie so viel …
War es Großvaters Fantasie gewesen oder hatte er ähnliches erlebt wie Iluka heute? Er schlug die Ledertasche zu, legte sie zurück auf das schräge Regal und wandte sich zum Gehen. Er hatte schon die Tür erreicht, als ein Rascheln ihn zurückhielt. Ein Blatt segelte hinab und blieb auf dem staubigen Holzboden liegen. Iluka kniete sich hin und hob das eingerissene Papier auf. Es war eine Kohlezeichnung, die sein Großvater angefertigt hatte. Verwischt, so dass man die vielen Einzelheiten nur erahnen konnte. Aber was man erkannte, war eine Frau, die nah unter der Wasseroberfläche schwamm. Ein Mensch mit einem Fischschwanz. Es waren keine Einbildungen, keine Träumereien und keine Täuschungen. Großvater hatte es ebenfalls erlebt. Seine Zeichnung gab das wieder, was Iluka mit eigenen Augen gesehen hatte: Eine Meerjungfrau.
***
Am nächsten Tag hatte Iluka die Stelle, an der das Geisternetz im Meer trieb, schnell gefunden. Mit einem langen Stock versuchte er es aus dem Wasser zu bergen, damit kein Tier ihm zum Opfer fallen konnte. Oder gar eine Meerjungfrau. Er zog das Geflecht unter großer Anstrengung heran.
»Widerspenstiges Ding!«, schimpfte er und als er versuchte, nach ihm zu greifen, erklang die Stimme. Eine Stimme so wunderschön wie der Sonnenaufgang der ersten Frühlingstage und so weich wie die Umarmung einer Liebsten. Wieder dachte er an seinen Großvater. Den alten Mann der Geschichten hatten die Dorfbewohner ihn immer genannt. Von ihm stammten auch die Geschichten von den Sirenen, die Schiffe in ihr Unglück gelenkt hatten, indem sie ihre Mannschaft verhext hatten. Zum Glück waren es nur Geschichten aus fernen Welten, oder nicht? Sie sang ein Lied, das Iluka kannte, aber schon lange nicht mehr gehört hatte. Eines, das seine Mutter einst beim abendlichen Muschelsammeln gesungen hatte. Es handelte von der Freiheit zweier Liebenden, die diese jedoch nur finden würden, wenn sie getrennte Wege gingen. Den Inhalt des Liedes hatte Iluka nie verstanden. Es hatte ihn nie interessiert. Wichtig war nur, Mutters Gesang zu hören.
Iluka konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf die Melodie. Dabei spürte er ein leichtes Vibrieren an seinen Füßen. Waren es die Meerjungfrauen, die sangen? Sein Großvater hatte in seinen Aufzeichnungen von stummen Wesen geschrieben, also konnte er das ausschließen. Er schluckte schwer.
Waren die Geschichten der Sirenen doch keine Spinnereien? Ebenso wenig, wie die Meerjungfrauen keine Träumereien eines alten Mannes gewesen waren?
Iluka sah nach Westen. Die Sonne war schon weit gewandert und machte sich auf den Weg, dem Mond die Stellung zu überlassen. Doch er hatte Zeit, er würde es schaffen, zu Hause zu sein, bevor die Nacht hereinbrach.
Iluka zog sich Hemd und die Schuhe aus, dann holte er tief Luft und sprang mit dem Kopf voran ins Meer.
Das Salzwasser brannte in seinen Augen. Seine Neugier aber war größer als der Schmerz und er tauchte hinab, immer weiter, bis er sie erblickte. Eine Schönheit, deren liebliches Gesicht von wallendem dunklem Haar umspielt wurde. Ihre Schwanzschuppen schimmerten wie Goldstücke in der Sonne. Ihre Augen waren so tief und geheimnisvoll wie der Ozean. Er konnte ihre Farbe nicht ausmachen. Es war, als würde sie sich im Rhythmus ihres Herzschlags wandeln. Von Blau nach Grün, von Grün nach Gelb. Er starrte sie einige Wimpernschläge an. Da hob sie ihre Hand und winkte ihm zu. Nein, sie rief ihn stumm herbei. Und dann ging Iluka die Luft aus. Mit kraftvollen Armbewegungen brachte er sich an die Oberfläche. Lautstark zog er den Sauerstoff in seine Lungen. Keuchend klammerte er sich an das kleine Boot und schloss erschöpft die Lider, aus denen Tränen rannen. Er gab sich nur einige Sekunden Zeit, dann rieb er sich über die schmerzenden Augen, holte Luft und tauchte ab.
Was möchtest du mir sagen?, fragte er in Gedanken, als das Meermädchen wieder die Hand erhob, um ihn zu sich zu locken. War sie möglicherweise gar keine Meerjungfrau, sondern eine verirrte Sirene aus fernen Meeren?
Iluka schwamm näher an sie heran. Das Wesen streckte ihren Arm aus und deutete nach links, hin zur kahlen Riffwand. Was willst du mir zeigen?, schrie es erneut in seinen Gedanken. Er tauchte abermals auf, um Luft zu holen, und kehrte dann zu der Meerjungfrau zurück. Noch immer im sicheren Abstand beobachtete er sie, wie sie zur Kante deutete, auf sie zu schwamm und dann in einem Loch verschwand.
Iluka riss die Augen auf. Eine Höhle? Eine Höhle im Großen Riff? Davon hatte er noch nie gehört. Auch in Großvaters Geschichtensammlungen war nie etwas von Gewölben im Korallenriff erwähnt worden.
Die Meerjungfrau wollte, dass er ihr folgte. Immer wieder rief sie ihn stumm mit ihrer Handbewegung herbei. Sie wirkte ungeduldig. War sie etwa doch eine Sirene, die seinen Tod im Sinn hatte? Dann hörte er die Stimme. Der wundervolle Gesang erklang erneut und lauter als zuvor. Ich finde dich, versprach er in Gedanken und tauchte auf.
Diesmal hievte er sich zurück ins Boot und öffnete eine kleine Truhe, die unter einer Plane versteckt war. Er griff nach den Flossen, die er dort aufbewahrte, zog sie über und sprang zurück in Meer, wo er, so schnell er konnte, zur Höhle schwamm. Die Meerjungfrau erwartete ihn, umfasste sein Handgelenk und zog ihn mit sich in die Dunkelheit.
Sein Körper, erst starr vor Unsicherheit, entspannte sich nur langsam unter dem Griff des Meerwesens. Irgendwann beschloss Iluka sich führen zu lassen. Die Höhle hatte jegliches Licht geschluckt und präsentierte dem jungen Fischersohn eine andere Seite der Dunkelheit – die Finsternis. Nichts sah er, rein gar nichts – bis auf einmal etwas funkelte. Eine Perle. Und da noch eine und noch eine. Unzählige Perlen, für die manche Fischer tagelang hinausfuhren, schmückten die karge Höhlenwand und beleuchteten ihren Weg. Ein komplexes Netzwerk aus kleineren Tunneln, die durch den Untergrund der Insel zogen, trat zum Vorschein. Plötzlich geriet Iluka in Panik. Wie weit wollte sie ihn noch mit sich ziehen? Er würde ertrinken. Seine Lunge brannte, sein Herz pochte schwer gegen seinen Brustkorb. Just in dem Moment, als er drohte ohnmächtig zu werden, stieß er durch die Wasseroberfläche und blieb auf kaltem Gestein liegen.
Iluka spuckte hustend Wasser. In seinem Kopf rauschte es, als trieb ein Wildbach in seinem Verstand sein Unwesen. Was hatte sich dieses Wesen dabei gedacht? Dass ihm Kiemen wachsen würden, wenn er nur lange genug unter Wasser blieb? Erschöpft stemmte er sich auf die Unterarme und hob seinen Kopf, um das Meermädchen zur Rede zu stellen, da bemerkte er, wo sie ihn hingeführt hatte. Der Groll war vergessen. Er befand sich in einer Höhle, die einst über dem Meeresspiegel gelegen haben musste, denn unzählige Stalaktiten säumten die Höhlendecke. Iluka stand auf, streifte sich die Flossen ab und schaute auf das Wasser, wo er dunkel weitere Tunneleingänge erahnen konnte. Das konnten Spuren eines unterirdischen Flusses sein. Möglich, dass es sich um einen ehemaligen Arm des Barron Rivers handelte, der zu frühen Zeiten über das Landesinnere ins Meer geströmt war.
Ilukas Begeisterung nahm ein abruptes Ende, als er einen kurzen Blick auf das Wasser warf. Die Meerjungfrau war verschwunden und somit seine einzige Möglichkeit, lebend aus dieser Höhle herauszukommen.
»Hallo?«, rief er und erschrak vor seiner eigenen Stimme, die in der Höhle laut und drohend wirkte. Er schluckte und rief erneut, diesmal leiser. »Hallo? Bist du noch da? Du kannst mich doch hier nicht alleine lassen. Ich komme hier nie wieder …«
»Hallo?«
Iluka fuhr herum. Die Stimme kam nicht vom Wasser her, es war, als würde jemand unweit von ihm stehen. Doch da war nichts, nur eine dunkle Steinwand, um die sich ein schmaler Weg schlängelte.
»Ich bin hier, hier drüben, kannst du mich nicht sehen?«
Iluka erkannte die Stimme. Er hatte sie gefunden. Diejenige, die das Lied gesungen hatte. »Nein. Ich sehe dich nicht. Wo bist du?«
»Nur ein Stück noch. Mich versteckt ein böser Zauber.«
Ein böser Zauber? Ilukas Unsicherheit nahm zu und er hielt inne.
»Bitte rette mich.« Es war ein flüsterndes Flehen, hilflos wie ein welkes Blatt im Wind. Sein Herz krampfte sich mitfühlend zusammen und vertrieb die Angst. Nur ein Hauch von Sorge blieb zurück. Sirenen sangen andere Melodien, nicht dieses Lied. Es gab keinen Grund sich zu fürchten.
»Wo bist du? Sprich mit mir.«
»Du bist wirklich hier. Du hast mich gefunden«, ihre Stimme war ein Schluchzen, voller Hoffnung und Traurigkeit gleichermaßen.
»Eine Meerjungfrau hat mich hierhergeführt.«
»Sie hat es getan? Die Meerjungfrauen haben mein Flehen erhört.«
»Und ich deine Stimme. Deinen Gesang. Ich sprang ins Wasser und von dort aus zeigte sie mir den Weg. Wollte sie, dass ich dich finde?«
Ein Schluchzen erklang. »Ja. Ich ... Ich habe darauf gehofft. Doch sie sind stumm. Ihre Lippen lächeln nicht, nur ihre Augen sprechen in Farben und Glanz. Ich konnte nur hoffen.«
»Warum bist du hier unten?«, fragte er weiter und versuchte auszumachen, wo sie sich befand.
»Ich bin eine Gefangene der Liebe«, flüsterte die Stimme, als könnten ihre Worte etwas Böses heraufbeschwören.
»Eine Gefangene? Was hast du getan?«
»Liebe hat mich geschaffen und Hass mich verbannt.«
Iluka eilte in den kleinen Gang. Die Hoffnung, die Gefangene zu finden, brach in sich zusammen wie eine Burg aus Sand. Der Gang endete schon wenige Meter weiter in einer Sackgasse.
Iluka rannte zurück an die Stelle, wo er aus dem Wasser aufgetaucht war, und rief nach der Fremden in der Höhle. »Wo bist du nur? Zeig dich mir doch, damit ich weiß, dass du echt bist.«
»Ich bin echt. Genauso wie du es bist. Oder die Meerjungfrauen. Sieh doch, meine Haare. Sie liegen dort im Wasser. Greif nach ihnen. Folge ihnen. So findest du mich.«
Haare?
Iluka suchte verwirrt den Boden ab, jedoch war das Einzige, das er fand, das Geisternetz. Wie konnte das sein? So lang die Netze der Fischer auch waren, sie würden niemals bis tief in eine Höhle reichen. Er ging in die Knie und krabbelte an das Geflecht heran, damit er auf den nassen Steinen nicht ausrutschte.
Ungläubig starrte Iluka das feine Gewebe an und erschrak, als ihm klar wurde, dass dies kein Fischer- oder gar Geisternetz war, sondern Haare.
Iluka berührte die nassen Strähnen und folgte ihnen. »Kannst du das Lied noch einmal singen? Das Lied, das mich hierhergeführt hat?«
Und die Fremde begann zu summen, eine Melodie wie Poesie, die Bilder hervorbrachte und Iluka in Gedanken zurück an den Strand entsandte. Dorthin, wo er als Kind Muscheln gesammelt und seiner Mutter beim Singen zugehört hatte.
Die nassen Haare trockneten, je weiter er mit langsamen Schritten ging. Sie glitten durch seine Finger, während sie ihm in goldenen Farbnuancen den Weg wiesen.
»Dieses Lied«, unterbrach er sie, »Ich kenne es gut. Meine Mutter sang es, als ich ein Kind war.« Die Haare führten ihn zu einer steinernen Wand, in der sie verschwanden. Von Ilukas Blickwinkel aus hatte es den Anschein, als würden sie aus dem Stein herauswachsen. »Bist du noch da?«, fragte er die Fremde, als sie nicht erneut zum Summen ansetzte. »Erzähl mir, woher du das Lied kennst.«
Ein paar Schritte trat Iluka noch näher, dann legte er sacht die flache Hand auf den feuchten Felsen, direkt neben das falsche Fischernetz. Just in diesem Moment erstarb die Illusion. Die dunkelgrauen Höhlensteine verblassten. Innerhalb weniger Wimpernschläge verloren sie ihre Farbe. Ein transparenter Raum trat zum Vorschein. Ein gläsernes Gefängnis, hinter dem das schönste Mädchen stand, das er je gesehen hatte.
Iluka erstarrte. Mit weit geöffneten Augen schaute er zu ihr hinüber. Sie lächelte zaghaft, doch lagen in ihrem Blick eine unendliche Traurigkeit sowie ein Schmerz, den Iluka nicht greifen konnte. Er spürte genau, es war kein körperliches Gebrechen. Das Leid kam aus ihrem Innern.
Seine Hand lag unbewegt auf dem Glas. »Ich habe dich gefunden«, sagte er. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Ob sie ihn überhaupt gehört hatte?
Die Fremde legte ihre Hand gegen seine – vom Glas getrennt. Sie nickte. »Du hast mich gefunden.«
Da sah Iluka eine Träne über ihre Wange rollen, die an ihrem Kinn zum Stillstand kam.
»Aber … Wen habe ich gefunden? Wer bist du? Wie bist du nur in diese Lage geraten? Unter Wasser, hinter Glas?«
»Ich bin eine Gefangene. Das Opfer der Bitterkeit. Es ist so lange her. Iluka.«
Iluka riss die Augen auf. Woher kannte sie seinen Namen? »Wie …?«, begann er, doch auf einmal drangen Bruchstücke in seine Erinnerung. Die Geschichte des Leuchtturms.
»Ein Zauber hat dich hierhergebracht?«
Sie nickte.
»Woher kennst du das Lied.«
Die junge Frau schluckte hörbar. »Deine Mutter brachte es mir bei.«
Ilukas Knie wurden weich. Er musste sich anstrengen nicht zu Boden zu gehen. Seine Stimme bebte, als er ihren Namen aussprach. »Lioba.«
Und da waren sie. Die Erinnerungen. Erst fein hinter einer von Dunst verhangenen Wand. Doch wie ein leichter Windstoß stoben die Nebelschwaden davon und dort war Lioba.
Sie waren beide noch klein. Nicht älter als sieben, suchten gemeinsam mit Großvater Muscheln für Liobas Sammlung. Ihre Eltern halfen Vater und Mutter das Picknick vorzubereiten. Sie waren glücklich gewesen. Alle. Schon damals war sie das schönste Mädchen, das Iluka je gesehen hatte. Und sein Herz hüpfte, als sie ihm ein Küsschen auf die Wange drückte, bevor die Familien nach Hause gingen.
Stand sie wirklich vor ihm?
Zwei Jahre lang hatten Liobas Eltern nach ihr gesucht und die Zauberin angefleht, ihnen ihre Tochter zurückzugeben. Sie hatten ihr bedingungslose Dienste versprochen, bis in den Tod.
Die Herrin des Leuchtturms aber verschloss ihre Tür. Wie nur sollten die Eltern ohne ihre Tochter und mit der Schuld auf ihren Schultern weiterleben? Niemand, der für sie hinausfuhr und nach ihr suchte, kehrte mit Erfolg oder einer winzigen Hoffnung nach Hause zurück. Lioba war verloren.
Alewar und Nerida machten sich auf den Weg. Sie wanderten und wanderten, bis sie auf einem hohen Hügel, einem Klippenvorsprung, ankamen, auf dem sie über das Great Barrier Reef blickten. Vielleicht ahnten sie, dass dort draußen irgendwo ihre geliebte Lioba weilte. Dann sprangen sie Hand in Hand in die felsige Tiefe.
»Ich kann kaum glauben, dass du vor mir stehst, Lioba. Wir glaubten, du seist tot. Wie konntest du nur all die Jahre überleben?«
»Es ist der Zauber der Leuchtturmhexe. Ich verspüre weder Hunger noch Durst. Mein Körper begehrt nur Gesellschaft. Die Hexe sagte, dass Einsamkeit und Verzweiflung mir den Tod bringen würden, doch da ist zu viel Hoffnung in mir, seit die Meerjungfrauen mich fanden. Nach viel zu langer Stille flehte ich sie an, mir zu helfen. Seither warte ich, hoffe ich und nun bist du hier. Iluka.« Sie lächelte ihn an.
»Als du damals plötzlich fort warst, brach etwas in mir zusammen. Ich habe unsere Nachmittage am Strand vermisst. Mutter und Vater gingen nicht mehr an die Stelle, wo wir uns immer trafen. Nur Großvater begleitete mich und dann sagte er, ich solle vergessen, sonst würde der Kummer mich auffressen.«
Dann trat Iluka zurück und suchte nach Steinen. Doch kein einziger Gegenstand, egal wie groß er auch war und mit welcher Kraft er ihn gegen das Zauberglas schlug, konnte es zerbrechen. Nicht einmal ein Kratzer blieb zurück.
»Warte, Iluka. Es ist vergebliche Mühe. So komme ich hier nicht heraus.«
»Aber wie dann? Wenn die Meerjungfrauen mir helfen, kann ich Hilfe holen.«
»Auch das wird nicht gelingen. Die Zauberin hat das Glas errichtet. Und meine Freiheit erlange ich nur wieder, wenn die Schuld beglichen ist.«
Iluka horchte auf. »Welche Schuld?«
»Die meines Vaters. Er stahl der Zauberin die Perlen und nur Perlen können sie besänftigen. So war es schon immer. Es ist eine Chance, meine einzige Chance. Bitte Iluka, du musst zu meinem Vater gehen und ihn um die Rückgabe der Perlen bitten. Nur so kannst du mich retten.«
Iluka schluckte schwer. Er konnte nicht antworten. Lioba wusste nicht, was ihre Eltern getan hatten. Wie konnte er es ihr erklären, ohne ihr noch mehr Leid zuzufügen? »Ich …«
»Hilf mir, Iluka. Du musst mir helfen. Ich muss hier fort. Seit zehn Jahren hungere ich nach Menschen, die mit mir reden, die mich in den Arm nehmen. Ich will nach Hause«, brachte sie schluchzend hervor.
»Ich werde dich hier herausholen, Lioba. Ich werde alles dafür tun. Doch es ist viel Zeit vergangen. Viel ist geschehen und auch außerhalb dieses Käfigs wird der Schmerz dich begleiten und den kann ich dir nicht nehmen …«
Er musste es ihr sagen. Es war ihr Recht, die Wahrheit zu erfahren. Gewiss würden sie eine andere Lösung finden, um den Glaswall zu zerbrechen. »Lioba, deine Eltern, sie … sie sind nicht mehr. Sie suchten aber fanden dich nicht, sie konnten den Schmerz des Verlustes nicht ertragen und sprangen gemeinsam …«
Die restlichen Worte brachte Iluka nicht über die Lippen. Er beobachtete Lioba, wie Tränen ihre Wangen hinunter perlten. Wie ein Mädchen auf Leinwand gezeichnet stand sie da, ohne Wimmern, ohne jegliche Regung. Ihre Tränen aber sammelten und wandelten sich zu zwei zarten Wasserfällen, die auf dem Boden ein Bächlein bildeten, das sich durch feine Gesteinsrisse einen Weg in die Freiheit suchte. Der Tränenfluss gurgelte an Ilukas Füßen entlang, hin zum Wasser, wo er ins Meer mündete und es für den Bruchteil einer Sekunde zum Leuchten brachte.
Kleine Blasen legten sich auf die Wasseroberfläche, flirrten und zersprangen. Das Meer murmelte zu Ilukas Füßen und schickte gischtige Wellen über die Steine, gefolgt von zwei Meerjungfrauen, die ihren Kopf aus dem unruhig gewordenen Wasser streckten. Nur ein paar Wimpernschläge sahen sie Lioba an, dann nickten sie. Im Gleichklang führten sie ihre Hände an ihre roséfarbenen Lippen, hauchten hinein, bevor sie diese flach auf das Bächlein legten. Die Strömung des Rinnsals stoppte. Als wäre Öl darin vergossen worden, färbte sich das Wasser mit blassen Farben des Regenbogens und floss hinfort. Nur nicht weiter, um ins Meer zu münden, sondern heimwärts. Liobas Tränen kehrten zu ihr zurück.
Mit wild klopfendem Herzen folgte Iluka dem magischen Geschehen. Gewiss lag er in seinem Boot, von der Sonne außer Gefecht gesetzt. Er konnte nur hoffen, dass er schnell gefunden wurde, vielleicht von einer Meerjungfrau?
Mit den Augen folgte er dem Rinnsal, das sich zurückzog, in Tropfen, die wie von Zauberhand vom Boden in die Höhe schwebten und in Liobas traurigen Augen verschwanden. Das gefangene Mädchen schlug ihre Hände vor das Gesicht und fiel auf die Knie.
»Lioba!«, schrie Iluka und sprang zu ihr, doch er prallte gegen das Glas und konnte sie nicht halten. »Lioba!«
»Es brennt so sehr!«, weinte sie. Sie rollte sich auf dem Boden hin und her, bis der größte Schmerz vergangen war. Endlich wurde sie ruhiger und setzte sich dicht ans Glas, wo Iluka seine Hand dagegen drückte, um ihr trotz der Barrikade zu zeigen, dass er bei ihr war und sie nicht alleine ließ in all dem Leid.
Dann war sie still und ihre Tränen rannen von neuem ihre Wangen hinab. Sie sammelten sich an ihrem feinen, spitzen Kinn, wo sie sich in bunte Perlen verwandelten und auf die dunklen Steine herabfielen.
Jede Träne ein Juwel, das mit einem hellen Klang liegen blieb.
Sie saß zusammengekrümmt vor ihm, genau wie damals, als sie zu viel vom Kuchen genascht hatte, den er ihr mit zum Strand gebracht hatte. Damals aber hatte er sie in den Arm genommen und gehalten, bis die Übelkeit vergangen war. Die Erinnerungen kamen in Wellen, heiß und intensiv.
»Lioba, sieh doch! Sie sehen aus wie die Perlen der Zauberin!«
Sie richtete sich stöhnend auf und folgte seinem Blick. Erst lag ihre Stirn in Falten, doch dann erkannte sie. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie nahm eine Handvoll Perlen auf und hielt sie Iluka entgegen. »Damit kann ich die Schuld begleichen.«
»Doch wie nur komme ich an die Perlen heran, damit ich sie der Zauberin bringen kann?«
Lioba beobachtete die Perle in ihrer Hand, in deren Innern Wellen gegen die Hülle brandeten. »Meine Tränen sind verzaubert. Meerjungfrauenmagie. Diese Träne ist aus Salzwasser geboren, vielleicht kann sie wieder zu Wasser werden?«
Sie nahm eine Perle und legte sie dorthin, wo vor Sekunden das Rinnsal geflossen war. Augenblicklich schmolz die Perle, sickerte durch einen feinen Riss im Gestein und wandelte sich in Freiheit zurück in ein bernsteinfarbenes Glanzstück. Iluka hob es auf und legte es in seine Handfläche. »So kostbar, so rein, so zauberhaft.«
»Es ist der Zauber der Meerjungfrauen. Du darfst ihn nicht missbrauchen.«
Iluka blickte auf. Er runzelte die Stirn. »Warum sollte ich das tun?«
»Diese Perlen ... Reichtum und Besessenheit geben sie als Geschenk. Niemand kann mir versprechen, dass du zurückkehrst.«
»Sie werden mir weder Reichtum noch Besessenheit geben. Freiheit werden sie schenken und zwar dir.«
Sie lächelte gequält und eine weitere Träne rann über die Wange und landete als smaragdgrüne Perle in ihrer Hand. Auch diese fand ihren Weg durch das Gestein.
Iluka sammelte sie auf und steckte sie in den ledernen Beutel, der an seinem Gürtel hing.
»Es sind mehr, als mein Vater damals mit sich genommen hat. Sie kann sie alle haben.«
Iluka nickte.
»Ich werde wiederkehren, wunderschöne Lioba, und dich aus dem Käfig aus Glas befreien. Und wenn du mich lässt, werde ich dich halten, wo kein Halt war. Wenn du mich lässt, werde ich dich lieben, wo keine Liebe war und sie dir schenken.«
Er sah sie an, saugte mit Blicken ihr schwaches Lächeln in sich auf, dann sprang er ins Meer. Sofort nahmen die Meerjungfrauen den Fischersohn in ihre Mitte. Es gab keine Zweifel mehr in ihm und so vertraute er auf die stummen Wesen, die ihn in Windeseile durch die dunkle Höhle zogen.
Der Weg hinauf zum Leuchtturm verlangte Iluka alles ab. Seit keine Fischer mehr für die boshafte Zauberin hinausfuhren, war eine Festung aus dem Turm geworden. Wenige hatten erwartet, dass die Zauberin fortgehen würde, an einen Ort, wo noch Perlen zu entdecken waren und wo sie neue Knechte finden konnte, die für sie hinausfuhren. Doch die Hoffnung rieselte wie Sand durch Finger. Die Zauberin hatte sich eingeschlossen und dafür gesorgt, dass die, die ihr Böses wollten, es schwer hatten, den Hügel zu erklimmen. Der Turm, einst aus Stein und mit Schweiß erbaut, war nun mit schwarzer Magie beschmutzt.
Steine bröckelten unter seinen Füßen. Immer stärker wurde der Wind, der um seine Ohren pfiff. Böen, aus dunklem Hexenwerk geflochten, versuchten, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gräser, die den Trampelpfad begrenzten, streckten sich wie giftige Nattern nach seinen Knöcheln aus. Doch Iluka dachte nur an Lioba. Er musste sie aus ihrem gläsernen Gefängnis befreien. Außer Atem und mit zahlreichen Blessuren erreichte er den Eingang des Turms, wo die Zauberin schon auf ihn wartete.
Melisande war eine hochgewachsene Frau. Schwarze Haare, in denen graue Strähnen glänzten, wellten sich bis knapp unter ihr Kinn. Dunkle, geschwungene Augenbrauen und giftgrüne Augen prägten das Gesicht. Bedrohlich stand sie mit ihren knochigen Händen und langen Fingern, die sie aneinandergelegt hatte, vor ihm. Und doch war sie eine Schönheit, auf eine ganz andere Weise als sein Mädchen hinter dem Glas. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden und stolperte über eine Wurzel. Melisande ging in die Knie und legte ihre Hände auf seine Arme, um ihm aufzuhelfen. Ihre Haut war eisig – wie ihr Herz.
»Seit langer Zeit besuchte mich kein Mann mehr«, sagte sie und sah ihm in die Augen. »Sie rannten davon, als die Steine zu rollen begannen. Du nicht. Du bist weiter und weiter gelaufen. Hm, kein Mann, eher ein Jüngling … Warum hast du den Weg zum Leuchtturm auf dich genommen?«
Iluka schluckte schwer. Sein Hals war wie zugeschnürt. Für Sekunden schloss er die Augen und betrachtete Lioba in seinen Gedanken. Er hörte ihre Stimme. Hörte sie singen und weinen in der Einsamkeit. Dann öffnete er wieder die Augen, räusperte sich bevor er sprach. »Zauberin des Leuchtturms, ich bin hier, um eine Schuld zu begleichen.«
Melisande legte den Kopf schief.
»Eine Schuld?«, fragte sie. »Wessen Schuld willst du begleichen?«
Iluka wagte es nicht mehr in ihre Augen zu blicken aus Angst, sie könnte ihm allen Mut rauben. »Die Schuld eines Mannes, der euch einst bestahl. Er nahm euren Schatz mit sich.«
»Meinen Schatz?«
Iluka griff nach dem Beutel an seinem Gürtel, öffnete die Lederschnüre und holte flimmernde Perlen hervor.
»Meine Perlen!«, rief Melisande und schlug die Hände vor ihren Mund. Tränen glitzerten in ihren Augen. »Woher hast du sie?«
»Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ihr sie annehmt und vergebt. Lasst Lioba frei.«
»Lioba.« Sie sprach den Namen langsam aus, als hätte sie dieses Wort, diesen Namen, nie zuvor gehört. Hatte sie überhaupt gewusst, wie das Mädchen hieß, das sie in die Einsamkeit geschickt hatte?
»Lasst die Tochter des Fischers frei, die ihr hinter Glas unter das Wasser verbannt habt. Als Strafe für einen Vater, der einen Fehler beging.«
Wieder legte sie den Kopf schief und sah ihn an. Ganz langsam bewegte sie ihn auf die andere Seite, dann kam sie näher. Ihre linken Finger strichen über seine Wange, ihre grünen Augen fraßen sich in seine Seele. »Du bist verliebt«, flüsterte sie, dann drehte sie sich um und ging in den Turm hinein. »Folge mir.«
Im Innern war es dunkel. Wenige Kerzen brachten etwas gedämpftes Licht in den Vorraum. Von hier aus ragte die schmale Wendeltreppe in die Höhe, bis hin zum Leuchtturmsignal, das seit Jahren nicht mehr entzündet worden war. Melisande ging auf eine Wand zu, an der eine alte Holztruhe stand. Sie öffnete den Deckel. Knarrend gab er den leuchtenden Inhalt preis. Bunte Farben und ein leiser Klang benebelten Ilukas Sinne. So viele Perlen, so viel Reichtum.
»Ich habe einst auch Liebe empfunden. Doch nahm er diese nicht an. Er hätte mich haben können. Er hätte eine Zauberin haben können, doch nahm er stattdessen meine Perlen. Der, den ich liebte, bestahl mich, um seiner Frau und seinem Kind ein besseres Leben bieten zu können. Wie konnte er nur? Wie konnte er es wagen, mir so etwas anzutun?«
»Eine unerwiderte Liebe schmerzt das Herz und zerreißt den Verstand.«
»Und deine Liebe, mein Junge, wird sie erwidert?«
Iluka hielt inne. Er dachte an sein Mädchen im Meer. Er hatte sich verliebt, just in dem Moment, als er sie erblickt hatte. Doch war es ihr ebenso so ergangen? Er konnte es nicht wissen.
»Ja«, sagte er, »Lioba und ich gehören zusammen. Schon immer. Schon als Kinder. Wir waren Freunde, bevor du sie mir weggenommen hast. Und nun bin ich hier, um die Schuld ihres Vaters zu begleichen und um ihre Befreiung zu bitten.«
Er kramte die restlichen Perlen hervor, legte sie in seine Handflächen und streckte die Arme aus, sodass die Zauberin Liobas Tränen sehen konnte.
»Gibt es dort, wo du die Perlen gefunden hast, noch mehr davon?«
»Nein«, log Iluka. »Ich war für Wochen auf der Suche, es sind die Einzigen, die das Meer hervorgerbacht hat.«
»Ein Jammer«, bedauerte Melisande. Sie deutete in die Truhe. »Lege die Perlen zu den anderen und ich werde Alewars Schuld als beglichen ansehen. Doch die Freiheit seiner Tochter ist nicht umsonst.«
Sofort schloss Iluka die Hände um die Tränen. »Was für ein Leid wirst du ihr für die Freiheit wieder antun?«
Melisande schüttelte beschwichtigend den Kopf.
»Leid?« wiederholte die Zauberin, »Niemand sagte etwas von Leid. Deine Lioba wird frei sein, frei wie die Fische im Meer.«
»Was wird sie das kosten?«
»Sie wird eine neue Heimat finden müssen.«
»Frei sein ist das, was sie sich am meisten wünscht. Es zählt nicht, wo man lebt, sondern mit wem. Ich werde sie begleiten, wo auch immer sie Heimat finden wird.«
Melisande hob die Augenbrauen, doch blieb sie nun stumm. Mit einer ausholenden Geste ihrer Hand zeigte sie Iluka an, wo er die Tränen ablegen sollte.
Mit dem Ablegen der Perlen in der Truhe, flackerte das Licht auf, schickte bunte Strahlen hinauf in den Leuchtturm, dann schloss Melisande den Deckel und die Finsternis erwachte erneut.
Das alte Holzboot wankte bedenklich. Etwas streifte den Rumpf immer und immer wieder. Die Unruhe weckte Iluka. Seine Lider flackerten, als er die Augen öffnete und in den wolkenlosen Himmel sah.
»Was?«, rief er aus und stemmte sich auf. Er war auf dem Riff – weit vom Strand entfernt. Soeben war er noch im Turm von der Dunkelheit umschlossen gewesen und nun auf seinem Boot. Er griff an seinen Gürtel und öffnete den Lederbeutel. Die Perlen waren fort.
»Lioba!«, hauchte er, dann stellte er sich auf und schrie so laut, er konnte. »Ich schwöre dir, Zauberin, wenn du dein Wort gebrochen hast, komme ich und töte dich!«
Iluka packte das Ruder und steuerte in die Richtung, wo er die Höhle unter dem Riff vermutete. Schnell zog er sein Hemd und die Schuhe aus, dann sprang er ins Wasser.
»Lioba!«, rief er. »Lass dein Haar heraus!« Und tatsächlich, nur wenige Meter vor ihm ragte das Geisternetz aus dem Wasser. Schnell schwamm er hinüber, tauchte daran herab.
Eine Meerjungfrau erwartete ihn. Aufgeregt winkte sie ihn herbei. War Lioba etwas Schlimmes widerfahren?
Die Meerjungfrau streckte ihren Arm aus und packte Ilukas Handgelenk. Schnell zog sie ihn durch das Wasser, hinein in die Höhle und hinauf in den Gesteinsraum.
Iluka hustete und rang lautstark nach Luft, als er endlich aus dem Wasser war.
Dann sah er seine Lioba. Der Glaskäfig war fort, sie war frei, doch lag sie bewegungslos und zusammengekauert auf den dunklen Steinen.
»Nein! Nein! Nein!«, schrie Iluka und kroch zu ihr. »Lioba, bitte verlass mich nicht.«
Er drehte sie auf die Seite und merkte, dass sie atmete. Lioba lebte und doch krampfte sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Das also war der Preis für ihre Freiheit. Vorsichtig, als könne er ihr Schmerzen zufügen, strich er über ihre Arme hinunter zu ihren Hüften bis er auf die erste Schuppe traf. Dort hielt er inne.
»Ich habe der Zauberin gesagt, dass ich mit dir gehe. Egal wohin dein Weg dich führen wird. Doch dort, wo du hin musst …«
»Dorthin kannst du mir nicht folgen«, beendete Lioba Ilukas durch Schluchzen unterbrochenen Satz.
Und dann tat Iluka das, was er ebenfalls versprochen hatte, er hielt sie fest und gab ihr all seine Liebe. Ihre Tränen vermischten sich und ihre Seelen wurden eins, doch wussten sie, dass sie niemals würden zusammen sein können – jetzt, wo keine Glaswand mehr zwischen ihnen war, sondern ganze Welten.
»Du musst ins Wasser«, flüsterte er ihr ins Ohr, »sonst wirst du sterben.«
»Vielleicht will ich das auch.«
»Sag so etwas nicht. Du bist endlich frei.«
»Und gefangen zugleich.«
»Nein«, wisperte Iluka und strich ihr eine tränennasse Strähne aus dem Gesicht. »Du bist jetzt frei wie die Fische im Meer. Du bist eine Meerjungfrau.«
»Ich zweifelte, ob du zurückkommen würdest. Und dann, als ich zu Boden stürzte, weil meine Beine mich nicht mehr trugen, wusste ich, dass du dein Wort gehalten hast.«
Er nahm ihr blasses Gesicht in seine Hände und küsste sie zärtlich. Dann hob er sie hoch und brachte sie zum Wasser, wo ihre Schwestern schon auf sie warteten. »Passt gut auf sie auf«, sagte er zu ihnen.
Natürlich bekam er keine Antwort, aber er wusste, dass sie dort, wo sie jetzt hingehen würde, in Sicherheit war.
Liobas Schuppen schimmerten grün und gelb. Schwamm sie nahe unter der Wasseroberfläche, konnte Iluka winzige Perlen erkennen, die ihren Fischschwanz schmückten. Ihr Haar, das so lang war, dass Iluka sie immer wieder fand, ähnelte keinem Geisternetz mehr. Es war ein Zeichen ihres Überlebenswillens und ihres Triumphs über die Zauberin. Es verband sie auf ewig. Er hatte im Mädchen, das hinter Glas gefangen war und für die Freiheit ihre Beine verloren hatte, seine Liebe gefunden. Eine Herausforderung. Jeden Tag waren sie zusammen, doch würde er je um ihre Hand anhalten können?
Iluka beobachtete sie, wie sie glücklich mit ihren Schwestern um sein Boot schwamm. Dann kam sie ein Stück aus dem Wasser heraus, legte ihre Arme auf den Rand des kleinen Holzbootes und küsste ihn. Ein Kuss voller Dankbarkeit, salzig und bitter …
Iluka spürte, dass es kein Kuss aus Liebe geboren war. In seiner Brust brannte es. War es der Schmerz über eine erneut verlorene Kindheitsliebe oder die Erkenntnis, dass es so keine Zukunft für sie gab. War es denn Liebe, die er verspürte oder die innige Verbundenheit zweier kleiner Seelen, deren Zeit längst vergangen war?
Lioba